OGH 7Ob196/22g

OGH7Ob196/22g25.1.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S* S*, vertreten durch Brauneis Klauser Prändl Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei A*-Aktiengesellschaft, *, vertreten durch Dr. Andreas A. Lintl, Rechtsanwalt in Wien, wegen Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgerichtvom 30. August 2022, GZ 2 R 86/22i‑29, womit das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 28. März 2022, GZ 63 Cg 93/21b‑24, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00196.22G.0125.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.961,82 EUR (darin 326,97 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Zwischen den Streitteilen besteht ein Rechtsschutzversicherungsvertrag, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutz-Versicherung der Beklagten (ARB 2013) zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise:

„Artikel 7

Was ist vom Versicherungsschutz ausgeschlossen?

1. Kein Versicherungsschutz besteht für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen

1.1. in ursächlichem Zusammenhang

[…]

1.1.2 mit hoheitsrechtlichen Anordnungen, die aufgrund einer Ausnahmesituation an eine Personenmehrheit gerichtet sind, sowie mit Katastrofen; Eine Katastrofe liegt vor, wenn durch ein Naturereignis oder ein sonstiges Ereignis dem Umfang nach eine außergewöhnliche Schädigung von Menschen oder Sachen eingetreten ist oder unmittelbar bevorsteht.“

[2] Mit Amtshaftungsklage vom 21. September 2020, begehrt (unter anderem) die Klägerin von der Republik Österreich Zahlung von 95.881,77 EUR sA sowie die Feststellung der Haftung für zukünftige Schäden (in der Folge Amtshaftungsverfahren). Sie macht geltend, dass ihr Ehegatte aufgrund des mangelhaften behördlichen Pandemie‑Managements im Zeitraum Ende Februar/Anfang März 2020 in T*, insbesondere in I* gestorben sei, weshalb der Rechtsträger für die ihr erwachsenen Schäden zu haften habe.

[3] Die Klägerin begehrt die Feststellung der Versicherungsdeckung für das Amtshaftungsverfahren.

[4] Die Beklagte beantragt Klagsabweisung. Sie wendet – soweit für das Revisionsverfahren relevant – ein, sie sei aufgrund des Risikoausschlusses für Ausnahmesituationen und Katastrophen (Art 7.1.1.2 ARB 2013) leistungsfrei.

[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der erste Fall des Art 7.1.1.2 ARB 2013 genüge nicht den Anforderungen des Transparenzgebots, weil unter anderem der Begriff „Ausnahmesituation“ zu unbestimmt sei. Darüber hinaus fehle es am ursächlichen Zusammenhang mit hoheitsrechtlichen Anordnungen, weil die Klägerin in ihrer Amtshaftungsklage gerade das Fehlen von hoheitsrechtlichen Anordnungen geltend mache. Hingegen müsse dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer klar sein, dass es sich bei COVID-19 um eine Katastrophe handle. Der Ausschluss sei daher auch nicht intransparent im Sinn von § 6 Abs 3 KSchG. Da ein typisches Kumulrisiko ausgeschlossen werde, sei die Regelung sachlich gerechtfertigt, sodass keine gröbliche Benachteiligung gemäß § 879 Abs 3 ABGB vorliege. Auch der von der Klausel verlangte ursächliche Zusammenhang zwischen der Katastrophe und der Wahrnehmung rechtlicher Interessen bestehe offensichtlich, weil die Klägerin Ansprüche wegen des Todes ihres an COVID-19 verstorbenen Mannes geltend mache und dies mit dem mangelhaften Pandemie‑Management der österreichischen Behörden begründe.

[6] Das Berufungsgericht gab der von der Klägerin dagegen erhobenen Berufung keine Folge. Primär sei nicht der Katastrophenbegriff nach dem allgemeinen Sprachverständnis, sondern die gemäß der Klausel vereinbarte Definition maßgeblich. Das hier verwirklichte Ereignis sei der Anfang März 2020 bekannt gewordene Virus‑Ausbruch. Die damit verbundene lebensbedrohliche Gefahrensituation für alle in der Region aufhältigen Personen erfülle zwanglos den Begriff einer dem Umfang nach außergewöhnlichen Schädigung von Menschen, die bei einem grassierenden Virus eingetreten sei oder unmittelbar bevorstehe. Der Risikoausschluss sei sachlich gerechtfertigt und verständlich. Auch der erforderliche adäquate Zusammenhang zwischen der Amtshaftungsklage und der Katastrophe sei zu bejahen. Katastrophen im Sinn der Klausel hätten typischerweise behördliches Handelnzur Vermeidung, Eingrenzung oder Beseitigung eines Schadens zur Folge. Der behauptete fehlerhafte Umgang der Behörden habe sich beim Gatten der Klägerin verwirklicht, weil er sich Anfang März in jener Region mit COVID‑19 infiziert habe. Da es um zwei unterschiedliche Risikoausschlüsse gehe, die einer isolierten Betrachtung unterliegen würden, sei eine allfällige Intransparenz der eigenständigen Klausel „Hoheitsausschluss“ nicht relevant. Die Beklagte sei daher aufgrund des „Katastrophenausschlusses“ leistungsfrei.

[7] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinn einer Klagsstattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.

[10] 1. Der behauptete Mangel des Berufungsverfahrens wurde geprüft, liegt jedoch nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

[11] 2. In der Entscheidung 7 Ob 160/22p hatte der Oberste Gerichtshof im Rahmen eines Verbandsverfahrens gegen dieselbe Beklagte eine gleichlautende Klausel (dort Art 7.1.1.2 ARB 2018 = Klausel 1) zu beurteilen. Der Fachsenat erachtete die zwei der Klausel inhärenten Regelungsbereiche, nämlich einerseits den Risikoausschluss für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen in ursächlichem Zusammenhang mit hoheitsrechtlichen Anordnungen, die aufgrund einer Ausnahmesituation an eine Personenmehrheit gerichtet sind („Hoheitsausschluss“) und andererseits den Risikoausschluss für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen in ursächlichem Zusammenhang mit Katastrophen („Katastrophenausschluss“), als materiell eigenständig. Den Katastrophenausschluss beurteilte der Senat auch weder als intransparent gemäß § 6 Abs 3 KSchG noch als gröblich benachteiligend im Sinn von § 879 Abs 3 ABGB (7 Ob 160/22p). Ebenso hat der Fachsenat bereits in mehreren Entscheidungen dargelegt, dass die Begriffsfolge „in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang“ nicht intransparent ist (7 Ob 160/22p; 7 Ob 169/22m). Dies gilt gleichermaßen für die hier verwendeten Begriffe „in ursächlichem Zusammenhang“: Der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer versteht darunter, dass die Katastrophe eine typische Folge für die Wahrnehmung der entsprechenden rechtlichen Interessen sein muss, also eine adäquat-kausale Verknüpfung zwischen der Katastrophe und der Wahrnehmung rechtlicher Interessen bestehen muss. Die Revision zeigt somit insgesamt keine Argumente auf, die der Oberste Gerichtshof nicht bereits bedacht hätte oder die ihn zu einem Abgehen von seiner Rechtsansicht veranlassen könnten.

[12] 3. Es ist daher zu prüfen, ob das von der Klägerin angestrengte Amtshaftungsverfahren in ursächlichem Zusammenhang mit einer Katastrophe steht:

[13] 3.1. Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).

[14] 3.2. Die allgemeine Umschreibung des versicherten Risikos erfolgt durch die primäre Risikobegrenzung. Durch sie wird in grundsätzlicher Weise festgelegt, welche Interessen gegen welche Gefahr und für welchen Bedarf versichert sind. Auf der zweiten Ebene (sekundäre Risikobegrenzung) kann durch einen Risikoausschluss ein Stück des von der primären Risikoabgrenzung erfassten Deckungsumfangs ausgenommen und für nicht versichert erklärt werden. Der Zweck liegt darin, dass ein für den Versicherer nicht überschaubares und kalkulierbares Teilrisiko ausgenommen und eine sichere Kalkulation der Prämie ermöglicht werden soll. Mit dem Risikoausschluss begrenzt also der Versicherer von vornherein den Versicherungsschutz, ein bestimmter Gefahrenumstand wird von Anfang an von der versicherten Gefahr ausgenommen (RS0080166 [T10]). Als Ausnahmetatbestände, die die vom Versicherer übernommenen Gefahren einschränken oder ausschließen, dürfen Ausschlüsse nicht weiter ausgelegt werden, als es ihr Sinn unter Betrachtung ihres wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten Ausdrucksweise sowie des Regelungszusammenhangs erfordert (RS0107031).

[15] 3.3. In der Klausel wird der Begriff der Katastrophe als ein Naturereignis oder ein sonstiges Ereignis definiert, durch das dem Umfang nach eine außergewöhnliche Schädigung von Menschen oder Sachen eingetreten ist oder unmittelbar bevorsteht. Im allgemeinen Sprachgebrauch charakterisiert der Begriff Katastrophe ein besonders schweres Schadensereignis (vgl 7 Ob 243/08y = RS0124406).

[16] Nach Lehre und Schrifttum ist die COVID‑19‑Pandemie aufgrund der weiten Definition in den ARB unter den Begriff der Katastrophe zu subsumieren (Figl/Perner in Resch, Corona-HB1.06 Kap 20 Rz 57; Kudra, Rechtsschutzversicherungsdeckung für COVID-19 bedingte Schadensfälle?, ecolex 2020, 464 [465]; Gisch/Weinrauch, Fragen der Rechtsschutzversicherung bei COVID-19-bedingten Deckungsablehnungen des Betriebsunterbrechungsversicherers, RdW 2020, 669 [671]; Karauschek/Pillwein, Maßnahmen zur Verhinderung von COVID-19 und Rechtsschutzversicherungen, immo aktuell 2/2020, 90 [92]; Figl, COVID-19: Hoheits‑ und Katastrophenklausel in der Rechtsschutzversicherung, ecolex 2021, 618 [619]).

[17] Der Fachsenat ist der Ansicht, dass der Katastrophenbegriff im vorliegenden Fall verwirklicht ist, weil die COVID-19-Pandemie im März 2020 eine weltweite, praktisch alle Lebensbereiche erfassende Krise war, die wegen der damals nicht verfügbaren wirksamen Medikation und Impfung eine enorme Zahl an Erkrankten und Toten forderte und überdies massive soziale sowie wirtschaftliche Schäden verursachte. Das „Ereignis“ war der Ausbruch des Virus und die darauf folgende unaufhaltsame weltweite Verbreitung. Dass die Pandemie auch ein zeitlich begrenzter Vorgang ist, zeigt die derzeitige Situation in Europa aber auch die Erfahrung mit früheren Pandemien. Dass ein jahrelang dauernder Vorgang kein „Ereignis“ im Sinne der Bedingungen sein könnte, ergibt sich aus dem Begriff nicht.

[18] Der Oberste Gerichtshof hat zwar die COVID‑19‑Pandemie bislang als Ausnahmesituation im Sinn des Hoheitsausschlusses gewertet (vgl 7 Ob 42/21h). Dies schließt aber die Beurteilung auch als Katastrophe nicht aus, weil der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer im vorliegenden Zusammenhang eine Pandemie sowohl als „Ausnahmesituation“ als auch als „Katastrophe“ ansehen wird. Die COVID-19-Pandemie ist daher im hier relevanten Zeitraum (Frühjahr 2020) als Katastrophe im Sinn von Art 7.1.1.2 ARB 2013 zu werten.

[19] 3.4. Darüber hinaus muss nach der Klausel ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Katastrophe und der Wahrnehmung rechtlicher Interessen bestehen. Dafür ist zunächst eine (reine) Kausalverknüpfung im Sinn der conditio sine qua non erforderlich. Zudem muss das rechtliche Interesse des Versicherungsnehmers in einem – adäquaten – Zusammenhang mit einer „Katastrophe“ stehen. Der Risikoausschluss kann nur dann zur Anwendung kommen, wenn sich das typische Risiko, das zur Aufnahme gerade dieses Ausschlusses geführt hat, verwirklicht. Es bedarf – wie im Schadenersatzrecht zur Haftungsbegründung – eines adäquaten Zusammenhangs zwischen dem Rechtsstreit und der „Katastrophe“ (vgl 7 Ob 169/22m; Figl/Perner in Resch, Corona-HB1.06 Kap 20 Rz 61 f [insb Rz 63] mwN; vgl auch RS0126927 zur Baurisikoausschlussklausel).

[20] Dieser adäquat-ursächliche Zusammenhang ist im vorliegenden Fall gegebenen: Ein Coronavirus-Ausbruch führte im Frühjahr 2020 regelmäßig zu behördlichem Handeln zum Zweck der Vermeidung, Eingrenzung und Beseitigung der pandemiebedingten Schäden, sodass die dabei behaupteten Sorgfaltsverstöße typische Folgen gerade jenes Risikos sind, das ausgeschlossen werden soll. Wenn die Klägerin meint, nicht die COVID‑19‑Pandemie, sondern das rechtswidrige Verhalten der handelnden Beamten sei die wahre Ursache des Rechtsstreits, ist ihr zu entgegnen, dass bei diesem Verständnis jegliches menschliche Fehlverhalten in Zusammenhang mit einer Katastrophe den Risikoausschluss nicht verwirklichen würde, was jedoch zu dessen praktischer Entwertung führen würde. Das Amtshaftungsverfahren steht somit im ursächlichen Zusammenhang mit der COVID‑19‑Pandemie, weil die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen der Klägerin eine typische Folge der im Frühjahr 2020 bestehenden Pandemie und des dadurch bewirkten behördlichen Handelns waren.

[21] 3.5. Zusammengefasst steht somit der auf den Vorwurf des mangelhaften behördlichen Pandemie‑Managements im Zeitraum Ende Februar/Anfang März 2020 gestützte Amtshaftungsanspruch der Klägerin in ursächlichem Zusammenhang mit der damals als Katastrophe zu wertenden COVID‑19‑Pandemie, sodass der Katastrophenausschluss des Art 7.1.1.2 ARB 2013 greift. Damit erübrigt sich ein Eingehen auf die weiteren Einwände der Beklagten.

[22] 3.6. Die von der Klägerin geltend gemachten sekundären Feststellungsmängel liegen nicht vor, weil die begehrten Feststellungen rechtlich nicht relevant sind.

[23] 4. Die Revision der Klägerin ist daher erfolglos.

[24] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.

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