AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
FPG §59 Abs4
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:W226.2233016.2.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. WINDHAGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen Gesellschaft mit beschränkter Haftung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.09.2021, Zl. 770590504-190540155, zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., VI. und VII. wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass die Spruchpunkte zu lauten haben:
„I. Der Ihnen mit Bescheid vom 17.09.2008, Zahl 07 05.905-BA, zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten wird Ihnen gemäß § 9 Absatz 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, von Amts wegen aberkannt“;
„VI. Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG iVm § 59 Abs. 4 FPG beträgt die Frist für Ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Enthaftung“;
„VII. Gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, wird gegen Sie ein auf die Dauer von 6 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen“.
II. Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
I.1.1. Dem damals minderjährigen, zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt volljährigen, Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), einem Staatsangehörigen der Russischen Föderation, wurde nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet im Familienverband mit seiner Mutter und seinem Bruder mit Bescheid des damaligen Bundesasylamtes (im Folgenden: BAA) vom 17.09.2008, ZI. 07 05.905-BAS, der Status des subsidiär Schutzberechtigten abgeleitet von seiner Mutter im Familienverfahren gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 erteilt (zuletzt verlängert bis 17.09.2020 mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.10.2018). Eigene Gründe wurden für den BF im Verfahren über seinen Antrag auf internationalen Schutz nicht vorgebracht. Das BAA gewährte der Mutter des BF mit Bescheid vom 17.09.2008, ZI. 07 05.904-BAS, den Status der subsidiär Schutzberechtigten und erteilte ihr eine (in weiterer Folge regelmäßig verlängerte) befristete Aufenthaltsberechtigung, wobei es feststellte, dass sie an Multipler Sklerose leide und dauerhafter ärztlicher Betreuung bedürfe. Auf Basis allgemeiner Feststellungen zur damals aktuellen Versorgungslage in der Russischen Föderation kam das BAA zu dem Schluss, dass nach einem Abbruch der Behandlung ihrer Krankheit in Österreich eine ausreichende ärztliche Versorgung in ihrem Herkunftsstaat nicht sichergestellt sei und eine menschenwürdige Existenz ebenso gefährdet sei wie die Versorgung ihrer Kinder. Da sie hinsichtlich ihrer Kinder auch nicht auf die Unterstützung durch ihren Ehemann zählen könne, sei die Schwelle der Unzumutbarkeit im Licht der einschlägigen Regelungen der EMRK im Falle ihrer Rückkehr zum Entscheidungszeitpunkt überschritten.
I.1.2. Am XXXX erging vom LG XXXX , betreffend den BF ein Schuldspruch unter Vorbehalt der Strafe wegen § 12 3. Fall StGB, § 15 StGB §§ 127, 129 (1) Z 3 StGB, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren.
I.1.3. Am XXXX erging vom BG XXXX , betreffend den BF ein Schuldspruch unter Vorbehalt der Strafe wegen § 83 (1) StGB unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren.
I.1.4. Am XXXX sollte mit dem BF ein „Normverdeutlichungsgespräch“ geführt werden, wobei der BF allerdings nicht erschien.
I.1.5. Am XXXX wurde der BF vom LG XXXX , wegen §§ 83 (1), 84 (5) Z 2 StGB, § 15 StGB § 105 (1) StGB, § 50 (1) Z 2 WaffG zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten, bedingt, unter Setzung einer Probezeit von 5 Jahren verurteilt.
I.1.6. Am XXXX wurde der BF vom LG XXXX , wegen § 15 StGB § 142 (1) StGB § 12 3. Fall StGB, § 164 (1 u 2) StGB, § 15 StGB § 84 (4) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 21 Monaten unter Einbeziehung des Schuldspruches des BG XXXX ) und des LG XXXX sowie als Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf das Urteil des LG XXXX verurteilt.
I.2.1. Gegen den BF wurde in weiterer Folge ein Verfahren zur Aberkennung des ihm zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten eingeleitet. Am 10.02.2020 wurde der BF im Aberkennungsverfahren niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) einvernommen und gab dabei zusammengefasst an, sehr gut Deutsch zu sprechen. Russisch könne er gar nicht; Tschetschenisch könne er auch nicht richtig und müsse ein bisschen Deutsch „reinreden“. Er sei gesund, nehme keine Medikamente und stehe nicht in ärztlicher Behandlung. In Österreich habe er seine Mutter und seine zwei Brüder, eine Freundin und weitere Verwandte. Zuletzt habe er mit seiner Großmutter mütterlicherseits und seinem großen Bruder zusammengewohnt, aber wenn er „rauskomme“ (aus der Justizanstalt) sei der Plan, dass er bei seiner Großmutter väterlicherseits wohne. Er habe in Österreich die Schule besucht, zuletzt im Jahr 2018 eine polytechnische Schule; eine Lehre habe er bisher nicht begonnen, es sei aber in Planung, dass er eine Produktionsschule besuche. In der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien lebe sein Vater, der Ende 2018 oder Anfang 2019 abgeschoben worden sei und zu dem er ab und zu Kontakt habe, weiters eine Tante mütterlicherseits und vielleicht ein Cousin, das wisse er nicht. Der BF sei nur als Baby in der Russischen Föderation oder Tschetschenien gewesen, die tschetschenische Sprache könne er brüchig und hinsichtlich der tschetschenischen Bräuche sei er ein Außenseiter. Er wisse nicht, was er zum Vorhalt, dass er subsidiären Schutz nur aufgrund der Krankheit seiner Mutter erhalten habe und eine Verfolgung seiner Familie nie gegeben gewesen sei, sagen solle. Im Fall einer Rückkehr hätte er Angst und wisse nicht, was er dort machen sollte. Gegen eine Aufnahme des Kontaktes zu seinem Vater im Fall einer Rückkehr würde nichts sprechen. Auf Vorhalt seiner strafrechtlichen Verurteilungen sowie zahlreicher polizeilicher, staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Schreiben erklärte BF, viele schlechte Freunde gehabt zu haben. Briefe und Termine habe er nicht ernst genommen. In Zukunft würde er nicht mehr straffällig werden, weil er in der Strafhaft angefangen habe, über alles nachzudenken und wolle sich ändern, er habe eine Sozialnetzkonferenz angefragt und einen Plan für die Zukunft gemacht. Er wolle unbedingt in Österreich bleiben.
I.2.2. Mit Schreiben vom 16.03.2020 erstattete die zuständige Bewährungshelferin des BF eine schriftliche Stellungnahme an das BFA, in welcher im Wesentlichen dargelegt wird, dass der BF nach seiner Enthaftung bei seiner Großmutter wohnen könne. Seine Mutter sei schwer erkrankt und könne sich nicht aktiv um ihn kümmern, es gebe im dortigen Haushalt aber nach wie vor eine Wohnmöglichkeit. In der stattgefundenen Sozialnetzkonferenz sei der Aufbau einer Tagesstruktur mit Unterstützung diverser Fachkräfte geregelt worden. Der BF würde auch unterstützt werden, einen geeigneten Platz in einer Produktionsschule zu finden. Der BF habe angegeben, durch seinen Vater massiv Gewalt erfahren zu haben, womit der Vater daher gegenüber ihm keine Betreuungspflichten wahrnehmen könne bzw. würde dies eine Gefährdung des Jugendlichen darstellen.
I.2.3. Mit Schreiben vom 26.03.2020 erstattete die Kinder- und Jugendstaatsanwaltschaft XXXX eine schriftliche Stellungnahme an das BFA, in der zusammengefasst erörtert wird, dass der BF zweimal monatlich von einer externen Vertrauensperson der Kinder- und Jugendstaatsanwaltschaft in der Justizanstalt besucht werde. Laut seinen eigenen Angaben seien der BF und sein Bruder aktiv für die Pflege ihrer Mutter verantwortlich gewesen, bis sie durch die Großmutter entlastet worden seien; parallel dazu sei die Familie bis zur Abschiebung des Vaters des BF massiver psychischer und physischer Gewalt durch diesen ausgesetzt gewesen. Der BF sei etwa regelmäßig von seinem Vater geschlagen worden und habe einen Vorfall geschildert, bei dem sein Vater seine Mutter aus dem Rollstuhl herausgeprügelt habe. Im Fall einer Abschiebung des BF sei von seinem Vater eine erhebliche Kindeswohlgefährdung zu erwarten.
I.2.4. Mit Schreiben vom 18.05.2020 erstattete die Rechtsvertretung des BF eine schriftliche Stellungnahme zum übermittelten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Russischen Föderation, zuletzt aktualisiert am 27.03.2020, wobei insbesondere vorgebracht wurde, dass die allgemeine Lage in der Russischen Föderation zurzeit sehr ungünstig sei. In Österreich sei der BF sprachlich und gesellschaftlich integriert. Jedenfalls greife für den BF keine negative Prognose. Der Aufenthalt des BF sei mehrmals verfestigt und abgesehen von seinem Vater, dessen Aufenthaltsort unbekannt sei, lebe die gesamte Familie in Österreich. Der Schutz des Privat- und Familienlebens des BF überwiege das öffentliche Interesse deutlich. Es könne zudem nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der BF im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation nicht einer realen Gefahr iSd Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre.
1.2.5. Mit Bescheid des BFA vom 09.06.2020 wurde dem BF der ihm „mit Bescheid vom 19.09.2008, ZI. 07 05.905-BAS“ (gemeint wohl 17.09.2008) zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und die mit Bescheid vom 12.10.2018, ZI. 770590504-3095367, erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, erlassen (Spruchpunkt IV.) und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von sieben Jahren und sechs Monaten befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
Begründend wird zusammengefasst ausgeführt, dass dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Weg der Erstreckung über seine Mutter zuerkannt worden sei, welcher ihrerseits der Schutzstatus ausschließlich aufgrund ihrer schweren Erkrankung an Multipler Sklerose gewährt worden sei, da zum Entscheidungszeitpunkt nicht sichergestellt gewesen sei, dass die Mutter des BF in der Russischen Föderation eine medizinische Behandlung im erforderlichen Ausmaß erhalten hätte. Der BF selbst sei einerseits niemals Opfer von Verfolgungshandlungen gewesen und habe keine eigenen Schutzgründe (gehabt), weshalb ihm eine Rückkehr in die Russische Föderation möglich und zumutbar sei. Andererseits sei der BF von österreichischen Strafgerichten wiederholt wegen Verbrechenstatbeständen verurteilt worden. Der Status des subsidiär Schutzberechtigten sei dem BF sowohl gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 als auch gemäß § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 abzuerkennen. Der BF sei ein junger gesunder Mann und in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Er sei mit den Gepflogenheiten der russischen bzw. tschetschenischen Gesellschaft vertraut, im Stande, auf Tschetschenisch zu kommunizieren und verfüge zwar über keine Kenntnisse der russischen Sprache, wäre jedoch in der Lage, seine bestehenden Sprachkenntnisse zu optimieren bzw. neue Sprachkenntnisse zu erwerben. In der Russischen Föderation verfüge der BF über Angehörige, nämlich seinen Vater, seinen Onkel, seine Tanten sowie Cousins und Cousinen. Zumindest zu seinem Vater habe der BF Kontakt. Eine Fortsetzung des Aufenthaltes des BF würde eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen. Der BF verfüge zwar über Angehörige und private Anknüpfungspunkte in Österreich, ein schutzwürdiges Familienleben liege jedoch nicht vor und ein Eingriff in die durch Art. 8 EMRK garantierten Rechte des BF sei aufgrund der Verurteilungen des BF zwingend erforderlich und rechtskonform. Aufgrund der besonderes brutalen Vorgangsweise und des Verhaltens des BF in Österreich sei ein künftiges Wohlverhalten ausgeschlossen. Das Einreiseverbot in der angeführten Dauer sei jedenfalls notwendig.
I.1.2.6. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht am 13.07.2020 Beschwerde in vollem Umfang an das Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) erhoben.
Begründend wird im Wesentlichen vorgebracht, dass der BF seit dem Jahr 2007 ununterbrochen in Österreich lebe und deutlich mehr Bindungen zu seiner Heimat Österreich als zu seinem Ursprungsland Russische Föderation, welches er nur wenige Monate aus seiner Kindheit kenne, habe. In der Russischen Föderation habe der BF nur seinen Vater, welcher den BF negativ beeinflusst habe. Die sozialen und familiären Hintergründe seien nicht berücksichtigt worden. Es werde beantragt, die Mutter und die Großmutter des BF einzuvernehmen, eine Einvernahme dieser Zeugen sowie der Freundin des BF wäre notwendig gewesen, um festzustellen, dass die Abschiebung und die Erlassung eines Einreiseverbotes massiv in das Familienleben des BF eingreifen würden. Seine Straftaten bereue er zutiefst. Es sei von einem positiven Gesinnungswandel auszugehen und stelle der BF keine gegenwärtige bzw. zukünftige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Bei Zweifeln an diesem Gesinnungswandel werde die Einholung eines entsprechenden Gutachtens beantragt. Im Fall des BF seien die Aufenthaltsverfestigungstatbestände gemäß §§ 52 Abs. 5 iVm 66 Abs. 3 und 67 Abs. 1 FPG iVm § 9 Abs. 5 und 6 BFA-VG erfüllt.
I.2.7. Die Beschwerdevorlage durch das BFA an das BVwG erfolgte samt Abgabe einer Stellungnahme zur Beschwerde am 13.07.2020, wobei das BFA insbesondere ausführte, dass der behauptete Gesinnungswandel des BF angesichts seines beschriebenen Verhaltens nicht ersichtlich sei und vom BF unverändert eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgehe. Zur in Aussicht gestellten Unterkunftnahme des BF bei seiner Großmutter sei darauf hinzuweisen, dass der BF nach wie vor an seiner alten Adresse Unterkunft genommen habe und auch ein Umzug des BF zur Herauslösung aus kriminellen Kreisen ungeeignet wäre. Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten habe im Fall einer gerichtlichen Verurteilung wegen eines Verbrechens zwingend zu erfolgen.
I.2.8. Nachdem das BVwG für den 06.05.2021 eine Verhandlung ausgeschrieben hatte, bei welcher sowohl der BF als auch dessen Mutter als Zeugin niederschriftlich einvernommen werden hätten sollen, langte beim BVwG am 22.04.2021 eine Mitteilung der rechtlichen Vertretung des BF ein, in welcher diese mitteilte, dass die Kinder- und Jugendhilfe nunmehr die Vertretung für den BF sei. Die Obsorge komme grundsätzlich der Mutter des BF alleine zu, diese habe aber mit 09.03.2021 die Großmutter mütterlicherseits mit der Obsorge ermächtigt, welche wiederum mit Erklärung vom 15.04.2021 die Zustimmung erteilt habe, dass der BF im gegenständlichen Beschwerdeverfahren von der Kinder- und Jugendhilfe vertreten werde. Die Mutter des BF sei an Multipler Sklerose (MS) erkrankt und habe bereits bei der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten im September 2008 daran gelitten. Seit damals habe sich ihr Zustand massiv verschlechtert. Sie sei nunmehr bettlägerig und bedürfe durchgehender Betreuung (24-Stunden-Pflege), weswegen es dieser auch nicht möglich sei, zu der für 06.05.2021 anberaumten Verhandlung vor dem BVwG zu erscheinen, um dort einvernommen zu werden. Auch ein persönliches Erscheinen vor dem Bundesamt wäre ihr nicht möglich. Die Verschlechterung ihrer Erkrankung sei zum Beispiel auch anhand ihres Behindertenausweises erkennbar: Der im Mai 2010 ausgestellte Behindertenpass sei ursprünglich bis April 2011 befristet gewesen. Diese Befristung sei gestrichen worden und sei der Grad der Behinderung von 60% auf 80% amtlich korrigiert worden. Aus dem als Beilage mitübermittelten Entlassungsbrief des LKH vom 27.11.2020 gehe zudem hervor, dass die Mutter des BF Pflegestufe 6 beziehe und auf einen Platz in einem MS Haus warte. Weiters gehe aus dem Entlassungsbrief hervor, dass die Mutter an einer sekundär progredienten Form der MS leide, EDSS 9.0, bei welcher es zu einer kontinuierlichen funktionellen Verschlechterung komme, wobei es auch gelegentliche Schübe und kleinere Remissionen geben könne. Der Begriff EDSS gebe Auskunft über den Grad der Behinderung von Menschen mit Multipler Sklerose. Der Wert 9.0 bedeute: „Kombination meist Grad 4 und mehr, hilflos auf Bett angewiesen, Essen und verbale Kommunikation möglich“. Auch die Kinder- und Jugendhilfe könne durch eigene Wahrnehmung der Sozialarbeit bestätigen, dass die Mutter des BF bettlägerig sei und es ihr zum Beispiel kaum mehr möglich sei, eine eigenhändige Unterschrift zu leisten. Dies sei auch der Grund gewesen, dass der Großmutter die Vertretungsermächtigung erteilt worden sei, da die Mutter kaum mehr in der Lage gewesen sei, die zur Vertretung des BF notwendigen Unterschriften zu leisten. Aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe seien daher die Voraussetzungen der Gewährung des subsidiären Schutzes im Falle der Mutter des BF nach wie vorgegeben.
Die für den 06.05.2021 anberaumte mündliche Beschwerdeverhandlung wurde auf Grundlage dieser Mitteilung in weiterer Folge abberaumt.
I.2.9. Mit Erkenntnis des BVwG vom 07.05.2021 wurde der Beschwerde gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013, stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben. Begründend führte das BVwG aus, dass die Voraussetzungen für die Aberkennung des subsidiären Schutzes betreffend den BF nicht gegeben seien:
„[…]
Die Bestimmung des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 betrifft Konstellationen, in denen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nachträglich weggefallen sind (vgl. VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153, Rn 77). Im Falle des Vorliegens von Verlängerungen der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 ist für die Anwendung des genannten Aberkennungstatbestands zu beurteilen, ob sich die maßgeblichen Umstände seit der letzten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung geändert haben, weil mit einer solchen Entscheidung – auch wenn die Ermittlungspflichten einer Behörde dabei nicht überspannt werden dürfen (17.10.2019, Ra 2019/18/0353; 27.05.2019, Ra 2019/14/0153) – vor dem Hintergrund der dafür nach dem Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen zum Ausdruck gebracht wird, dass weiterhin jene Umstände gegeben sind, die für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz maßgeblich waren (vgl. VwGH 08.04.2020, Ra 2020/20/0052; 17.10.2019, Ra 2019/18/0353). Für die Beurteilung, ob maßgebliche Sachverhaltsänderungen vorliegen, sind allerdings nicht nur isoliert jene Umstände zu berücksichtigen, die nach dem Zeitpunkt der zuletzt erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung eingetreten sind, sondern auch davor liegende Ereignisse, um die Situation des Fremden ganzheitlich bewerten zu können (dies ist z.B. für Fälle relevant, in denen die maßgebliche Änderung in einer bestimmten Entwicklung des Fremden liegt).
Damit bleibt die Frage, wie § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 auf Fälle anzuwenden ist, in denen der Status des subsidiär Schutzberechtigten ursprünglich allein im Wege des asylrechtlichen Familienverfahrens von einer Bezugsperson abgeleitet worden war. Bezüglich des Asylaberkennungsgrunds des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK (im Folgenden auch als „Wegfall der Umstände“-Klausel bezeichnet; vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0059) hat der Verwaltungsgerichtshof diese Frage in Bezug auf den Status des Asylberechtigten bereits beantwortet: Zu einer Sachverhaltskonstellation, in der ein Fremder den Asylstatus (nur) im Wege des Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005 von einer Bezugsperson erhalten hatte, sprach der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 23.10.2019, Ra 2019/19/0059, grundlegend aus, dass im Unterschied zu allen anderen Aberkennungstatbeständen des § 7 Abs. 1 AsylG 2005 die in Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK vorgesehene „Wegfall der Umstände“-Klausel nicht gesondert für einen Familienangehörigen, der seinen Asylstatus von einer Bezugsperson abgeleitet hat, geprüft werden könne. Es sei nämlich bei einer Person, welcher die Flüchtlingseigenschaft unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK zukomme, der Wegfall solcher Umstände von vornherein nicht denkbar. Unter Verweis auf sowohl den Telos der Beendigungsklauseln des Art. 1 Abschnitt C GFK als auch den Zweck der Regelungen über das Familienverfahren nach dem AsylG2005 kam der Verwaltungsgerichtshof zum Ergebnis, dass für die Aberkennung des einem Familienangehörigen im Familienverfahren (bzw. durch Asylerstreckung) zuerkannten Status des Asylberechtigten wegen Wegfalls der fluchtauslösenden Umstände es darauf ankommt, ob die Umstände, auf Grund deren die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und es diese daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Herkunftsstaates zu stellen. Diese Frage ist ohne Bindung an eine allfällige diesbezügliche Entscheidung im Verfahren über die Aberkennung des Asylstatus des Familienangehörigen selbstständig zu beurteilen.
Diese Rechtsprechung erachtet die zuständige Richterin des Bundesverwaltungsgerichtes auch für die Anwendung des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 auf Fälle, in denen der subsidiär Schutzberechtigte seinen Status allein durch Ableitung im Familienverfahren von einer Bezugsperson erhielt, für maßgeblich: Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK stellt nämlich ebenso wie der in Rede stehende Tatbestand auf eine Änderung der für die Schutzgewährung maßgeblichen Umstände seit Rechtskraft der (letzten) inhaltlichen Entscheidung ab. Gleichermaßen kommen die Überlegungen des Verwaltungsgerichtshofes im angeführten Erkenntnis betreffend den Zweck der Regelungen über das Familienverfahren nach dem AsylG 2005 auch in der Konstellation einer Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten zum Tragen.
Dem minderjährigen Beschwerdeführer wurde als minderjährigem Sohn seiner Mutter mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.09.2008 allein im Rahmen des Familienverfahrens nach § 34 Abs. 3 AsylG 2005 (in der damaligen Fassung) subsidiärer Schutz gewährt; eigene Schutzgewährungsgründe lagen im Fall des minderjährigen Beschwerdeführers nicht vor.
Nach der dargelegten – aus Sicht der zuständigen Richterin auch auf den vorliegenden Fall übertragbaren – Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liegt die entscheidungswesentliche Frage für die Anwendung § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 auf den minderjährigen Beschwerdeführer darin, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten an seine Mutter als Bezugsperson nicht mehr vorliegen.
Der Mutter des minderjährigen Beschwerdeführers wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.09.2008 der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, weil sie an Multipler Sklerose erkrankt ist und eine ausreichende ärztliche Versorgung sowie ein menschenwürdiges Leben in ihrem Herkunftsstaat nicht sichergestellt waren. Der Mutter des minderjährigen Beschwerdeführers kommt nach wie vor der Status der subsidiär Schutzberechtigten zu. Es wurde kein Aberkennungsverfahren eingeleitet; die erteilte Aufenthaltsberechtigung wurde regelmäßig verlängert. Wie bereits oben festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt, leidet die Mutter des minderjährigen Beschwerdeführers an einer sekundär progredienten Form der Multiplen Sklerose, EDSS 9.0, bei welcher es zu einer kontinuierlichen funktionellen Verschlechterung kommt, wobei es auch gelegentliche Schübe und kleinere Remissionen geben kann. Die Mutter des minderjährigen Beschwerdeführers ist bettlägerig, 24 Stunden auf Betreuung angewiesen, zu 80% behindert und bezieht Pflegestufe 6. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Mutter des minderjährigen Beschwerdeführers der Status der subsidiär Schutzberechtigten aberkannt werden kann, da sich an deren Situation seit Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht nur nichts verbessert, sondern sich deren Zustand in den letzten Jahren sogar massiv verschlechtert hat.
Es sind keine Hinweise ersichtlich, aus denen zu schließen wäre, dass die Umstände, auf Grund deren der Mutter des minderjährigen Beschwerdeführers der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sind, nicht mehr bestehen würden.
Auch der Aberkennungstatbestand des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 ist somit nicht erfüllt.
[…]
Da dem minderjährigen Beschwerdeführer somit der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon aus den Gründen des § 9 Abs. 1 AsylG 2005 abzuerkennen ist, ist in weiterer Folge zu prüfen, ob eine der in § 9 Abs. 2 AsylG 2005 genannten Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten vorliegt:
[…]
Wie oben dargelegt, sind im gegenständlichen Fall weder die einzelnen Verbrechen noch die kumulierten Straftaten des Beschwerdeführers in einer Gesamtbetrachtung der Umstände des konkreten Einzelfalles als „schwere Straftat“ im Sinn des Art. 17 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie zu werten. Es handelt sich dabei somit auch nicht um besonders qualifizierte strafrechtliche Verstöße im Sinn der oben zitierten Judikatur. Der Beschwerdeführer ist zudem seit seiner bedingten Entlassung aus der Strafhaft am 06.07.2020 nicht mehr straffällig geworden, was zwar noch nicht als langer Zeitraum des Wohlverhaltens zu werten ist. Da seine letzte Straftat jedoch fast zwei Jahre zurückliegt und er davor nahezu im Dreimonatsrhythmus Straftaten setzte, kann hier durchaus ein Gesinnungswandel erkannt werden. Unter Berücksichtigung obiger Erwägungen ist aktuell nicht zu erkennen, dass der Beschwerdeführer eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich im Sinn der oben wiedergegebenen Judikatur darstellen würde. Der Aberkennungstatbestand des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 ist daher nicht gegeben.
3.2.3. Im Fall des Beschwerdeführers liegt sohin kein Aberkennungsgrund vor, weder gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 bis 3 AsylG 2005 noch gemäß § 9 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005“.
I.2.10. Am XXXX wurde der BF vom LG XXXX wegen § 12 3. Fall StGB § 142 (1) StGB, § 15 StGB § 105 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt.
I.3.1. Mit Schreiben vom 26.07.2021 teilte das BFA dem BF mit, dass eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot beabsichtigt sei und verständigte ihn, mit der Möglichkeit innerhalb von 14 Tagen eine Stellungnahme dazu einzubringen, vom Ergebnis der Beweisaufnahme.
I.3.2. Am 04.08.2021 erstattete der BF dazu eine schriftliche Stellungnahme, in welcher er ua vorbrachte, in der Türkei geboren worden zu sein und in Tschetschenien noch nie gelebt zu haben. Ihm seien keine Verwandten in der Russischen Föderation bekannt, alle würden in Österreich leben. Der Aufenthalt seines Vaters sei ihm nicht bekannt, er habe keinen Kontakt mehr zu ihm. Er habe einen sehr großen Freundeskreis in Österreich, so viele, dass er sie gar nicht aufzählen könne. Er lebe mit seiner Mutter zusammen und habe nicht vor auszuziehen, da diese Betreuung brauche. Diese sei von ihm bzw seiner Betreuung abhängig aufgrund ihrer Krankheit, der BF sei wiederum abhängig von ihr betreffend Wohnung und Essen. Die Großmutter pflege die Mutter des BF derzeit, ihr falle aufgrund ihres Alters die Arbeit aber schwer. Er nehme an „Heroes“ vom Verein XXXX teil und habe 4 Jahre lang MMA in einem Verein gekämpft. Vor seiner Haft sei er Schüler beim BFI gewesen. Der Verein XXXX habe ihm eine Wohnung mit Betreuung zur Verfügung gestellt. Auf die Frage, ob er im Falle einer Rückkehrentscheidung an einer freiwilligen Ausreise interessiert sei, antwortete der BF er wäre zu 100% dagegen, da er hier sein ganzes Leben habe, seine Verwandten und seine Freundin. Er könne die deutsche Sprache besser als seine eigene. Er sei in seinem Heimatland nicht strafrechtlich oder politisch verfolgt worden, habe aber dort nichts, zu seinem Vater habe er auch keinen Kontakt. Auf die Frage, warum er drei Wochen nach Behebung des Aberkennungsbescheides wieder straffällig wurde antwortete der BF, dass er mit den falschen Leuten zu der Zeit unterwegs gewesen sei und das Gericht ihm aufgrund seiner Vorstrafen nicht geglaubt habe, dass er an der Sache nicht beteiligt gewesen sei. Er bereue es mit den Komplizen unterwegs gewesen zu sein. Es tue ihm leid und er zerbreche sich den Kopf in der Haft.
I.3.3. Mit Bescheid vom 01.09.2021 wurde dem BF der ihm „mit Bescheid vom 19.09.2008, ZI. 07 05.905-BAS“ (gemeint wohl 17.09.2008) zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und die mit Bescheid vom 12.10.2018, ZI. 770590504-3095367, erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, erlassen (Spruchpunkt IV.) und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von acht Jahren und sechs Monaten befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
Begründend wurde zur Aberkennung des subsidiären Schutzes ausgeführt, dass wie auch schon der AsylGH in seinem Erkenntnis vom 12.08.2010, Zl. E2 264.543-2/2010/3E, in einem vergleichbaren Fall (Aberkennung subsidiären Schutzes nach Zuerkennung im Familienverfahren) zutreffend judiziert habe, sei in Fallkonstellationen, in denen der Bezugsperson eines Schutzberechtigten (in beiden Fällen jeweils der Mutter) eine Rückkehr in den Herkunftsstaat aus in der Person der jeweiligen Bezugsperson gelegenen Gründen (im Falle der Mutter des BF: Krankheit, im zitierten Judikat: Sorgepflichten für mehrere Kinder, keine formelle Ausbildung, daher keine Jobaussichten sowie ein unzureichendes Sozialsystem) nicht zumutbar sei, nach dem Ausscheiden aus dem Familienverband zu prüfen, inwiefern die konkrete Verfahrenspartei selbst im Falle der Rückkehr mit schutzrelevanten Schwierigkeiten konfrontiert sein werde. Im Gegensatz zu seiner Mutter handle es sich beim BF um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann, welcher in 14 Monaten das 18. Lebensjahr vollenden werde. Da er einerseits auf die Unterstützung naher Angehöriger (insbesondere seines Vaters) bauen werden könne, andererseits auch im Stande sein werde, sich fortgeschrittene Kenntnisse der russischen sowie der tschetschenischen Sprache anzueignen, werde ihm das Führen eines menschenwürdigen Lebens jedenfalls möglich sein.
Der BF sei gegenständlich mit den Urteilen des Landesgerichts XXXX vom XXXX vom XXXX und vom XXXX , jeweils wegen Verbrechenstatbeständen verurteilt worden. Die Voraussetzungen des § 9 Abs 2 Z 3 AsylG seien daher zweifelsfrei als erfüllt anzusehen und sei auch nicht die Übung von behördlichem Ermessen vorgesehen, weshalb sich weitere Erwägungen von vornherein erübrigen würden. Die Ausführungen in der anwaltlichen Stellungnahme hinsichtlich des (Nicht)Vorliegens eines besonders schweren Verbrechens sowie zur Zukunftsprognose seien ausschließlich bei der Aberkennung des Status des Asylberechtigten gem. §§ 7 Abs 1 Z 1, 6 Abs 1 Z 4 AsylG von Relevanz, würden sich aber nicht auf die (gegenständliche) Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten beziehen, weshalb eine besondere inhaltliche Auseinandersetzung mit der anwaltlichen Argumentation an dieser Stelle nicht erforderlich sei.
Ziel des Refoulementschutzes sei es nicht, Menschen vor unangenehmen Lebenssituationen, wie es beispielsweise der Neuaufbau einer Lebensgrundlage im Herkunftsland sein werde, zu beschützen, sondern einzig und allein Schutz vor Lebenssituationen, die ua Art. 3 EMRK widersprechen würden, zu gewähren (AsylGH 12.1.2009, D11 227593-0/20008/8E). Angesichts der sich in Russland befindlichen Familienangehörigen des BF, seines potenziellen sozialen Umfelds und Erwerbsfähigkeit sowie seiner Anpassungsfähigkeit sei die Befürchtung, der BF würde in eine ausweglose wirtschaftliche Notlage geraten, keinesfalls indiziert. Auch betone der Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung die erforderliche Exzeptionalität der Umstände und die hohe Schwelle die auch in Fällen schlechter wirtschaftlicher Existenzgrundlage vorliegen müsse, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK darzustellen (VwGH 23.09.2009, Zl. 2007/01/0515; VwGH 06.11.2009, Zl. 2008/19/0174). Die Behörde sei somit zur Ansicht gelangt, dass vor dem Hintergrund der Angaben des BF und der getroffenen, unbedenklichen Feststellungen zu Russland keine stichhaltigen Gründe für die Annahme bestehen würden, dass er im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Gefahr laufen würde, im russischen Staatsgebiet einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Zur Rückkehrentscheidung hielt das BFA fest, dass es unbestritten sei, dass der BF in Österreich über Angehörige verfüge. Jedoch sei die Familieneinheit aufgrund seiner Verurteilung zu einer nicht bloß kurzfristigen Haftstrafe getrennt worden und der BF als aus dem Familienverband ausgeschieden zu erachten. Auch aus der krankheitsbedingten Hilfsbedürftigkeit seiner Mutter sei für ihn nichts zu gewinnen, da diese auch im Falle seiner Abschiebung über ein familiäres Netzwerk in Österreich verfüge, welches in weiterer Folge die Betreuung übernehmen könne, die Hauptlast der Betreuung auch jetzt schon seine Großmutter trage und darüber hinaus der österreichische Staat über ein funktionierendes Sozial- und Fürsorgesystem verfüge. Auch könne nicht übersehen werden, dass der BF, würde ihm etwas an der Aufrechterhaltung der Familieneinheit liegen, sich von kriminellen Milieus ferngehalten und nicht durch die Begehung schwerer Straftaten sein Aufenthaltsrecht aufs Spiel gesetzt hätte. Auch seine mangelnden Bande zu seinem Herkunftsstaat sowie die (derzeit) fehlenden bzw. unzureichend ausgebildeten Sprachkenntnisse habe das BFA nicht unberücksichtigt gelassen, jedoch verfüge er über Angehörige und vor allem seinen Vater in der Russischen Föderation und könnten ihm diese Personen daher hinreichende Unterstützung bieten. Auch auf das vor dem BVwG anhängige Aberkennungsverfahren gegen seinen Bruder Said Emir, hinsichtlich dessen es im Rückkehrfall zur wechselseitigen Unterstützung kommen könne, sei hingewiesen. Angesichts der Gesamtumstände (kein objektivierbarer österreichischer Freundeskreis außerhalb des kriminellen Milieus, schwere eigene Kriminalität) sei keine Integration in die österreichische Gesellschaft feststellbar. Vielmehr widerlege das dargelegte Verhalten jegliche Verfestigung in der österreichischen Gesellschaft.
Fallbezogen sei aufgrund obiger Erwägungen, nämlich, dass das Privat- und Familienleben des BF durch seine schwere Kriminalität erheblich getrübt worden sei, und in Anbetracht seiner festgestellten und gewürdigten Verstöße gegen die Rechtsordnung der Republik Österreich sowie der schwerwiegenden Gefahr, welche von ihm für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgehe, nicht davon auszugehen, dass sein Interesse an einem Verbleib in Österreich das öffentliche Interesse an einer Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung überwiege.
Zum Einreiseverbot und der verhängten Dauer wurde ausgeführt, dass aufgrund der besonders brutalten Vorgangsweise und des in Österreich verwirklichten Verhaltens des BF, welches ein künftiges Wohlverhalten ausgeschlossen erscheinen lasse, seien seine persönlichen Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet als in höchstem Ausmaß relativiert anzusehen, wobei diesbezüglich anzumerken sei, dass für den BF lediglich die familiäre Vernetzung sowie sein langjähriger Aufenthalt spreche, während er offenbar über keine nennenswerte soziale Integration in straffreien Milieus verfüge und fallbezogen das Beherrschen der deutschen Sprache eine Selbstverständlichkeit und keine besondere Integrationsleistung darstelle. Auch die geäußerte Tateinsicht sei verfahrenstaktisch motiviert (und daher nicht aufrichtig). Anzumerken sei, dass die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von 30 Monaten lediglich relativ geringfügig unter jener Haftstrafe zu verorten sei, welche das BFA zur Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes ermächtigt hätte, weshalb das Einreiseverbot unter Berücksichtigung seines Verhaltens auch höher ausfallen hätte können. Die relativ moderate Befristung von acht Jahren und sechs Monaten sei ausschließlich dem jungen Alter und der daraus resultierenden (theoretisch denkmöglichen, jedoch vom ho. Amt erheblich in Zweifel gezogenen) Prägbarkeit des BF im Sinne einer Hinwendung zu den rechtlich geschützten Werten bei Einbindung in ein entsprechendes Umfeld zu verdanken. Insofern der BF darauf verweise, dass er zu seiner Großmutter ziehen möchte, sei auszuführen, dass diese einerseits ebenfalls in XXXX wohnhaft sei, weshalb von einer langfristigen und nachhaltigen Desintegration aus dem destruktiven Umfeld keinesfalls ausgegangen werden könne, und angesichts des sehr fortgeschrittenen Alters der Großmutter andererseits auch nicht davon auszugehen sei, dass es dieser gelingen wird, den BF zu bändigen. Im Übrigen habe der BF die damals ins Treffen geführten Absichten zur Unterkunftnahme bei seiner Großmutter auch bis dato nie realisiert, worin zu erblicken sei, dass der BF gegenüber Behörden angebliche Reintegrationspläne präsentiere, ohne diese jedoch jemals umzusetzen. Das Einreiseverbot in der angeführten Dauer sei jedoch jedenfalls notwendig, um die hiesige Bevölkerung vor dem eskalierenden und schwerkriminellen Verhalten des BF zu schützen, ihm jedoch dennoch die Möglichkeit zu bieten, sich außerhalb des Schengenraumes den rechtlich geschützten Werten zuzuwenden, sein Verhalten konstruktiv zu reflektieren und danach bei Erfüllung der Voraussetzungen des NAG neuerlich nach Österreich einzureisen, um hier einen Wohnsitz zu begründen und ein straffreies Leben zu führen.
I.3.4. Die vom BF dagegen erhobene rechtzeitige Beschwerde monierte insbesondere ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren und eine mangelhafte Beweiswürdigung, da die Behörde es verabsäumt habe, den BF nach Erreichen seiner Volljährigkeit im gegenständlichen Verfahren niederschriftlich einzuvernehmen. Außerdem habe die Behörde es unterlassen, konkret zu begründen, aufgrund welcher Umstände sie annehme, dass eine „schwere Straftat“ vorliege. Die Behörde habe auch verkannt, dass der BF in Österreich sowohl über ein Privat- als auch ein Familienleben verfüge und der BF die prägenden Jahre seines Lebens in Österreich verbracht habe und sein Heimatland nie kennen gelernt habe. Das BFA habe auch die Durchführung einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterlassen. Der EuGH führe in einem Urteil die zentrale Bedeutung der vom UNHCR herausgegebenen Dokumente bei der Auslegung von Art. 19 der Richtlinie 2011/95 ins Treffen. Nach der „Note on Cancellation of Refugee Status“ des UNHCR seien die Prinzipien des Vertrauensschutzes, der Rechtskraft und des Legalitätsprinzips im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abzuwägen. Innerstaatlich sei der Vertrauensschutz durch den Gleichheitssatz garantiert, wonach schwerwiegende und plötzliche Eingriffe in wohlerworbene Rechtspositionen, auf deren Bestand der Betroffene mit guten Gründen vertrauen konnte, verfassungswidrig. Es seien außerdem keine Ausführungen über etwaige Orte der Neuansiedlung bzw. wie der gerade volljährig gewordene BF, der nie das Land kennengelernt habe und zudem ADHS erkrankt ist, überhaupt eine Lebensgrundlage erwirtschaften könne, gemacht worden. Der BF habe aufgrund der Nichtdurchführung einer erneuten Einvernahme nie mehr angeben können, dass er keinen Kontakt mehr mit seinem Vater habe. Außerdem könne sein Vater nicht einmal auf sich selbst schauen, habe keine Wohnung und auch sonst keine Lebensgrundlage, sodass er den BF nicht unterstützen könne. Zudem verfügt der BF nicht über ausreichende Sprachkenntnisse und finde man in Tschetschenien keine Arbeit. Lediglich reiche Bürger bzw. erfolgreiche Sportler würden dort eine legale Beschäftigung finden.
Vor dem Hintergrund der für den BF beschriebenen Lage und der fehlenden sozialen Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation könne im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung der Biografie des BF nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er im Fall der Rückkehr einer realen Gefahr im Sinne der Art. 2 und Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Aufgrund der dargelegten persönlichen Verhältnisse wäre eine grundlegende Existenzsicherung in seinem Heimatland nicht möglich, was eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde.
Die Entscheidung sei außerdem inhaltlich rechtswidrig, da bei der Anwendung des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG eine Einzelfallprüfung durchzuführen sei, ob eine „schwere Straftat“ im Sinne des Art. 17 Abs. 1 lit. b der Statusrichtlinie vorliege. Eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten könne nicht allein darauf gestützt werden, dass der Fremde rechtskräftig verurteilt worden ist.
Die belangte Behörde gäbe nicht an, aufgrund welcher Umstände sich die Lage im Vergleich zum Zeitpunkt der Gewährung des subsidiären Schutzes bedeutsam und endgültig geändert haben solle. Um die Voraussetzungen der Aberkennung des Status des subsidiären Schutzes gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 objektiv zu erfüllen, müsse eine entsprechende Nachhaltigkeit der positiven Veränderungen im Herkunftsland des Fremden gewährleistet sein. Der Verfassungsgerichtshof habe in Hinblick auf Begründungsanforderungen in Aberkennungsbescheiden als Grundsatz festgehalten, dass ein „rechtskräftig entschiedener Sachverhalt nicht grundlos neuerlich untersucht und anders entschieden werden darf“. Um den grundlegenden Begründungsanforderungen gerecht zu werden, hätte das BFA darzulegen gehabt, inwiefern sich die Situation des BF bezogen auf die Gründe, die zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten bzw. zur Verlängerung gem. § 8 Abs. 4 AsylG 2005 konkret geändert habe und inwiefern diese Änderungen dazu führen, dass die Voraussetzungen für die Schutzzuerkennung nicht mehr gegeben seien. Hierbei komme es regelmäßig nicht alleine auf den Eintritt eines Ereignisses an, sondern könne sich eine wesentliche und dauerhafte Änderung der Umstände auch als Ergebnis unterschiedlicher Entwicklungen ergeben. Lediglich eine andere rechtliche Beurteilung oder Würdigung eines im Wesentlichen unveränderten Sachverhalts vermöge die Aberkennung eines rechtkräftig zuerkannten subsidiären Schutzes nicht zu rechtfertigen.
Der angefochtene Bescheid sei zudem inhaltlich rechtswidrig, weil die belangte Behörde verkannt habe, dass durch eine Rückkehrentscheidung der BF in seinem Recht auf Privatleben gem Art. 8 EMRK und seinem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gem Art. 2 und 3 EMRK verletzt würde. Das BFA habe eine mangelhafte Interessensabwägung vorgenommen und sei daher zu Unrecht zu dem Schluss gelangt, dass die Verhängung einer Rückkehrentscheidung zulässig wäre.
Der BF beantrage zudem, das gegen ihn ausgesprochene Einreiseverbot gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG aufzuheben; in eventu zu verkürzen. Diese Dauer treffe den BF sehr hart und bedeute einen Eingriff in sein Privat- und Familienleben. Der BF bereue seine Straftaten, die er aus Gruppenzwang heraus verübt habe. Er werde derzeit intensiv von einer Sozialarbeiterin des betreuten Wohnens und von einem Sozialarbeiter vom Verein XXXX betreut. Es sei davon auszugehen, dass bereits das erstmalige Erleben des Haftübels einen Gesinnungswandel beim BF hervorrufen würde.
I.3.5. Am 28.09.2021 verständigte die Staatsanwaltschaft XXXX von der erneuten Anklageerhebung gegen den BF wegen §§ 15, 105, 142 StGB, §§ 15, 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 StGB.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
II.1.1. Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der tschetschenischen Volksgruppe und dem muslimischen Glauben zugehörig. Er ist XXXX geboren und lebte ab 2004 in Tschetschenien. Er spricht Deutsch und kann auch auf Tschetschenisch kommunizieren.
II.1.2. Dem damals minderjährigen BF wurde nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet im Jahr 2007 im Familienverband mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder mit Bescheid des BAA vom 17.09.2008 der Status des subsidiär Schutzberechtigten abgeleitet von seiner Mutter im Familienverfahren zuerkannt, wobei hinsichtlich der Mutter des BF festgestellt wurde, dass sie an Multipler Sklerose leide und dauerhafter ärztlicher Betreuung bedürfe. Auf Basis allgemeiner Feststellungen zur damals aktuellen Versorgungslage in der Russischen Föderation kam das BAA zu dem Schluss, dass nach einem Abbruch der Behandlung ihrer Krankheit in Österreich eine ausreichende ärztliche Versorgung in ihrem Herkunftsstaat nicht sichergestellt sei und eine menschenwürdige Existenz ebenso gefährdet sei wie die Versorgung ihrer damals noch sehr jungen Kinder. Da sie hinsichtlich ihrer Kinder auch nicht auf die Unterstützung durch ihren Ehemann zählen könne, sei insgesamt die Schwelle der Unzumutbarkeit im Licht der einschlägigen Regelungen der EMRK im Falle ihrer Rückkehr zum Entscheidungszeitpunkt überschritten.
II.1.3. Der BF wurde mit seinen kürzlich erreichten 18 Jahren in Österreich bereits fünfmal rechtskräftig strafrechtlich verurteilt und zwar:
1. mit Urteil des LG XXXX , wegen des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch oder mit Waffen gemäß §§ 12 3. Fall, 15 Abs. 1, 127 und 129 Abs. 1 Z 3 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974, wobei der BF „Schmiere stand“, während ein anderer versuchte, das Schloss eines Fahrrades aufzubrechen und mit Bereicherungsvorsatz wegzunehmen. Gemäß § 13 Jugendgerichtsgesetz 1988 (JGG), BGBl. Nr. 599/1988, wurde der Ausspruch der wegen dieser Jugendstraftat zu verhängenden Strafe für eine Probezeit von drei Jahren vorbehalten;
2. Mit Urteil des BG XXXX , wegen des Vergehens der Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB, wobei der BF einer Person zumindest einen Faustschlag in das Gesicht versetzte, was eine starke Schwellung im Stirnbereich in Form einer Beule zur Folge hatte. Gemäß § 13 JGG wurde der Ausspruch der wegen dieser Jugendstraftat zu verhängenden Strafe für eine Probezeit von drei Jahren vorbehalten;
3. Mit Urteil des LG XXXX , wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 5 Z 2 StGB, des Vergehens der Nötigung gemäß §§ 15 Abs. 1, 105 Abs. 1 StGB und des Vergehens des Besitzes einer verbotenen Waffe gemäß § 50 Abs. 1 Z 2 Waffengesetz 1996 (WaffG), BGBl. I Nr. 12/1997, unter Anwendung des § 28 StGB und des § 5 Z 4 JGG nach dem Strafsatz des § 84 Abs. 5 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren. Bei der Strafbemessung wurden mildernd das Geständnis, erschwerend die einschlägige Vorstrafe und das Zusammentreffen mehrerer Vergehen und eines Verbrechens gewertet.
Dem Urteil liegt zugrunde, dass der BF gemeinsam mit anderen eine Person durch einen Faustschlag und einen Schlag mit der flachen Hand, jeweils in das Gesicht, in Form einer Blutung am Innenohr und einer Schwellung am Ohr am Körper verletzte. Der BF verlangte weiters von einer Person sie solle zugeben, hinter einem Instagram-Account zu stehen oder „stecken“, wobei er zuvor mit geballten Fäusten und einem auf der rechten Faust ersichtlichen Schlagring auf diese Person zuging, etwa einen Meter vor ihr stehenblieb und seine geballten Fäuste nach unten vom Körper weghielt;
4. Mit Urteil des LG XXXX , wegen des Verbrechens des Raubes gemäß §§ 15 Abs. 1, 142 Abs. 1 als Beteiligter im Sinn des § 12 3. Fall, des Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß §§ 15 Abs. 1, 84 Abs. 4 StGB und des Vergehens der Hehlerei gemäß § 164 Abs. 1 und 2 StGB unter Einbeziehung der Schuldsprüche des LG XXXX , und des BG XXXX , unter Bedachtnahme gemäß § 31 Abs. 1 StGB auf das Urteil des LG XXXX , unter Anwendung der §§ 28 Abs. 1 und 40 StGB und des § 5 Z 4 JGG nach § 142 Abs. 1 StGB zu einer zusätzlichen Freiheitsstrafe von einundzwanzig Monaten. Bei der Strafbemessung wurden mildernd das teilweise Geständnis und der Umstand, dass es überwiegend beim Versuch geblieben ist, erschwerend das Zusammentreffen von insgesamt sechs Verbrechen mit fünf Vergehen, die (leichten) Verletzungen von insgesamt drei Raubopfern und die Tatbegehung während Anhängigkeit eines Verfahrens gewertet.
Dem Urteil liegt zugrunde, dass der BF bei drei Gelegenheiten beigetragen hat, mit Gewalt gegen die Opfer fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wegzunehmen, indem er sich der vorherigen Absprache entsprechend in unmittelbarer Nähe des Tatgeschehens positioniere, um einerseits die Umgebung zu beobachten und Aufpasserdienste zu leisten, andererseits bei Bedarf einzuschreiten, in das Tatgeschehen einzugreifen und entweder selbst tätlich zu werden oder die Tatausführung des unmittelbaren Täters sonst wie zu fördern. Der BF versuchte weiters im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit zwei Mittätern durch Versetzen von Faustschlägen und Fußtritten gegen den gesamten Körper, auch nachdem dieser bereits zu Boden gestürzt war, sowie durch Versetzen von Faustschlägen gegen das Gesicht an sich schwer am Körper zu verletzen. Der BF kaufte schließlich ein Mobiltelefon, das einer der Täter einer mit Strafe bedrohten Handlung gegen fremdes Vermögen erlangt hatte;
5. Mit Urteil des LG XXXX , wegen des Verbrechens des Raubes nach § 12 3. Fall, 142 Abs. 1 StGB, wobei der BF als Mittäter mit dem Vorsatz, sich durch Sachzueignung unrechtmäßig zu bereichern einem anderen durch gefährliche Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben Sachen abgenötigt, dadurch beigetragen hat, dass er den anderen aufforderte mitzukommen, seine Tasche vorzuzeigen und sich so positionierte, dass dessen Flucht erschwert wurde und er bei Bedarf eingegriffen hätte und des Vergehens der Nötigung nach den § 15 Abs. 1, 105 Abs. 1 StGB, wobei der BF versuchte, das Opfer durch die mündliche Aufforderung „du rufst keine Polizei, wenn du die Polizei rufst, dann ficken wir dich“, demnach durch gefährliche Drohung mit zumindest einer Körperverletzung zur Unterlassung einer Anzeige bei der Polizei wegen der oben angeführten Tat zu nötigen unter Anwendung der §§ 28 Abs. 1 StGB und des § 5 Z 4 JGG zu einer Freiheitstrafe in der Dauer von 2 Jahren. Bei der Strafbemessung wurden mildernd die Sicherstellung bzw Rückgabe der Beute, der teilweise Versuch sowie das Geständnis, erschwerend die Begehung während offener Probezeiten, vier auf der gleichen schädlichen Neigung beruhende vorhergehende Verurteilungen sowie das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen gewertet. Zu LG XXXX , wurde die bedingte Entlassung aus der Freiheitsstrafe widerrufen.
Der BF befindet sich derzeit in Haft und wurde insgesamt zu Haftstrafen im Ausmaß von 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt. Selbst die Verbüßung einer Strafhaft von 22.07.2019 bis 06.07.2020 (bedingt entlassen auf eine Probezeit von drei Jahren) wegen ua Raub konnte den BF nicht davon abhalten, im Mai 2021 erneut wegen ua eines Raubes straffällig zu werden und den BF nicht zur Einsicht seines Fehlverhaltens bewegen. Außerdem wurde gegen den BF vor Kurzem erneut wegen ua eines Raubes Anklage erhoben.
II.1.4. Der BF leidet an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten. Die Mutter des BF leidet an einer sekundär progredienten Form der Multiplen Sklerose, bei welcher es (im Gegensatz zu akuten Schüben) zu einer kontinuierlichen funktionellen Verschlechterung kommt, wobei es auch gelegentliche Schübe und kleinere Remissionen geben kann. Sie bezieht Pflegestufe (und –geld) 6, bedarf einer 24h Pflege und wartet auf einen Platz in einem MS Haus der XXXX . Sie wird hauptsächlich von ihrer Mutter betreut und zum Teil von ihren Söhnen. Die sekundär progrediente Form der Multiplen Sklerose wird mit Medikamenten behandelt. Die Mutter des BF erfordert keinen ununterbrochenen stationären Aufenthalt und wäre ihr der Transport in die Russische Föderation mit ausreichenden medizinischen Begleitmaßnahmen und unter möglichster Schonung ihrer Person zumutbar.
Aufgrund der Qualität der medizinischen Versorgung und Betreuung in der Russischen Föderation und Tschetschenien ist Multiple Sklerose mittlerweile auch in der Russischen Föderation und Tschetschenien behandelbar. Die Mutter des BF kann heutzutage auch (mit nur mehr einem nicht selbsterhaltungsfähigen, fast 14-jährigen Sohn) unter Zuhilfenahme des Sozialversicherungssystems der Russischen Föderation und gegebenenfalls familiärer (finanzieller) Unterstützung ohne in eine existenzbedrohende bzw aussichtslose Lage zu geraten leben und behandelt werden.
II.1.5. Der BF besuchte mehrere Schulen in XXXX , machte aber keinen Pflichtschulabschluss und absolvierte bisher keine Lehre oder andere Ausbildung. Aufgrund seiner Straffälligkeit hat der BF Kontakt zu mehreren Vereinen, weiters verfügt er über einen Freundeskreis. Er wohnte bis März 2021 bei seinen Eltern bzw seiner Mutter und seiner Großmutter mütterlicherseits und danach in einer geförderten Wohnung mit Betreuung ( XXXX ). Er ist nicht selbsterhaltungsfähig.
II.1.6. In Österreich verfügt der BF über seine Mutter, seine zwei Brüder, die Großmutter väterlicherseits und mütterlicherseits sowie weitere Verwandte. Sein älterer Bruder ist ebenfalls von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen. Der BF hat keine Kinder; er hat eine Freundin in Österreich, mit welcher aber kein gemeinsamer Haushalt besteht und deren Beziehung durch die Haftaufenthalte des BF nur sehr eingeschränkt möglich ist. In der Russischen Föderation befinden sich der Vater des BF, eine Tante und ein Onkel mütterlicherseits sowie die Geschwister des Vaters des BF. Zu diesen Personen kann der BF (über seine Mutter, seinen Vater) Kontakt aufnehmen.
II.1.7. Unter Zugrundelegung der im Folgenden dargestellten Länderberichte liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass der BF bei einer Rückkehr ins Herkunftsland mit hinreichender Wahrscheinlichkeit konkret Gefahr liefe, dort aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden oder aufgrund der allgemeinen Versorgungslage in eine aussichtslose Lage (Nahrung, Unterkunft) zu geraten. Auch die aktuell vorherrschende COVID-19 Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis.
Es ist dem BF jedenfalls möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation, entweder in Tschetschenien selbst oder – nach Erwerb russischer Sprachkenntnisse - auch in anderen Landesteilen niederzulassen und anzumelden sowie durch eigene Erwerbstätigkeit – notfalls durch Hilfstätigkeiten - seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele russische Städte verfügen über eine große tschetschenische Diaspora und bieten die stärkeren Metropolen und Regionen Russlands bei vorhandener Arbeitswilligkeit auch Chancen für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken. Der BF hat auch Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung.
II.1.8. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung in seinem Herkunftsstaat verfolgt wird.
II.1.9. Zur Situation in der Russischen Föderation/Tschetschenien:
Länderspezifische Anmerkungen
Letzte Änderung: 18.05.2021
Hinweis:
Die Länderinformationen gehen nur eingeschränkt auf die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sowie auf eventuelle Maßnahmen gegen diese ein - wie etwa Einstellungen des Reiseverkehrs in oder aus einem Land oder Bewegungseinschränkungen im Land. Dies betrifft insbesondere auch Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung, die Möglichkeiten zur Selbst-Quarantäne, die Versorgungslage, wirtschaftliche, politische und andere Folgen, die derzeit immer noch schwer einschätzbar sind. Diesbezüglich darf jedoch auf das COVID-Kapitel der Staatendokumentation zur aktuellen COVID-19-Lage hingewiesen werden.
Zur aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Websites der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports
oder der Johns-Hopkins-Universität:
https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6
mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Da es sich bei den Nordkaukasus-Republiken (z.B. Tschetschenien, Dagestan) um Subjekte der Russischen Föderation handelt, werden diese nicht mehr in eigenständigen Länderinformationen abgehandelt, sondern in diese Länderinformation zur Russischen Föderation (RUSS COI-CMS) integriert. Wo es Unterschiede gibt, wurden Unterkapitel zu den einzelnen Subjekten bzw. in zusammenfassender Form zum Nordkaukasus geschaffen.
Zu Inguschetien werden – auch nach Absprache mit dem BVwG – keine Informationen mehr ins RUSS COI-CMS übernommen, da die Anzahl an Asylwerbern zu gering ist. Sollten Sie Informationen zu Inguschetien benötigen, ist eine konkrete Anfrage an die Staatendokumentation zu stellen.
In Bezug auf das Kaukasus-Emirat ist zu sagen, dass es momentan nicht ganz klar ist, ob es in der Praxis überhaupt noch existiert und falls ja, ob es einen neuen Anführer hat oder nicht. Dies scheint aber auch nicht das Wichtigste zu sein, da Kadyrows Kräfte und die russischen Sicherheitsbehörden jegliche dschihadistische Anhänger ins Visier nehmen und sie keinen Unterschied machen, unter welcher Flagge ein Islamist kämpft.
Covid-19-Situation
Letzte Änderung: 18.05.2021
Russland ist von Covid-19 landesweit stark betroffen. Regionale Schwerpunkte sind Moskau und St. Petersburg (AA 15.2.2021). Aktuelle und detaillierte Zahlen bietet unter anderem die Weltgesundheitsorganisation WHO (https://covid19.who.int/region/euro/country/ru ). Die Regionalbehörden in der Russischen Föderation sind für Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zuständig, beispielsweise betreffend Mobilitätseinschränkungen, medizinische Versorgung und soziale Maßnahmen (RAD 15.2.2021; vgl. CHRR 12.3.2021). Die Maßnahmen der Regionen sind unterschiedlich, richten sich nach der epidemiologischen Situation in der jeweiligen Region und ändern sich laufend (WKO 9.3.2021; vgl. AA 15.2.2021). Es herrscht eine soziale Distanzierungspflicht für öffentliche Plätze und öffentliche Verkehrsmittel. Der verpflichtende Mindestabstand zwischen Personen beträgt 1,5 Meter (WKO 9.3.2021).
Die regierungseigene Covid-19-Homepage gibt Auskunft über die vom russischen Gesundheitsministerium empfohlenen Covid-19-Medikamente, nämlich Favipiravir, Hydroxychloroquin, Mefloquin, Azithromycin, Lopinavir/Ritonavir, rekombinantes Interferon-beta-1b und Interferon-alpha, Umifenovir, Tocilizumab, Sarilumab, Olokizumab, Canakinumab, Baricitinib und Tofacitinib. Der in Moskau entwickelte Covid-19-Krankenhausbehandlungsstandard umfasst folgende vier Komponenten: Antivirale Therapie, Antithrombose-Medikation, Sauerstoffmangelbehebung und Prävention/Behandlung von Komplikationen. Auf Anordnung des Arztes wird Patienten ein Pulsoxymeter ausgehändigt (Gerät zur Messung des Blutsauerstoffsättigungsgrades). Die medizinische Covid-Versorgung erfolgt für die Bevölkerung kostenlos (CHRR o.D.a).
Folgende Impfstoffe wurden in der Russischen Föderation entwickelt: Gam-COVID-Vac ('Sputnik V'), EpiVacCorona, CoviVac und Ad5-nCoV (CHRR o.D.b). Mittlerweile sind in der Russischen Föderation drei heimische Impfstoffe zugelassen (Sputnik V, EpiVacCorona und CoviVac). Groß angelegte klinische Studien gibt es bisher nicht (DS 20.2.2021; vgl. RFE/RL 21.2.2021). Impfungen erfolgen kostenlos (Mos.ru o.D.). In Moskau wurden bisher mehr als 700.000 Personen geimpft (Mos.ru 8.3.2021). Obwohl Russland als weltweit erstes Land seinen Covid-Impfstoff Sputnik V registrierte, haben die Impfungen effizient gerade erst begonnen (DS 12.2.2021). Bisher wurden in der Russischen Föderation in etwa 2,2 Millionen Personen (ca. 1,5% der Bevölkerung) geimpft bzw. erhielten zumindest eine der zwei Teilimpfungen (RFE/RL 21.2.2021).
Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger müssen bei der Grenzkontrolle keinen COVID-Test vorlegen, dieser muss jedoch spätestens drei Tage nach der Einreise nachgeholt werden. Russische Staatsbürger, die nach der Einreise ein positives Testergebnis erhalten, müssen sich in Quarantäne begeben. Die Ausreise aus Russland ist bis auf unbestimmte Zeit eingeschränkt und nur in bestimmten Ausnahmefällen möglich. Die internationalen Flugverbindungen wurden teilweise wieder aufgenommen. Direktflüge zwischen Österreich und Russland werden derzeit ein- bis zweimal wöchentlich von Austrian Airlines und Aeroflot angeboten. Russische Inlandsflüge wurden während der ganzen Pandemiezeit aufrecht erhalten (WKO 9.3.2021). Der internationale Zugverkehr – mit Ausnahme der Strecke zwischen Russland und Belarus - und der Fährverkehr sind eingestellt (AA 15.2.2021).
Staatliche Unterstützungsmaßnahmen für die russische Wirtschaft sind unterschiedlich und an viele Bedingungen gebunden. Zu den ersten staatlichen Hilfsmaßnahmen zählten Kredit-, Miet- und Steuerstundungen (ausgenommen Mehrwertsteuer), Sozialabgabenreduktion sowie Kreditgarantien und zinslose Kredite. Später kamen Steuererleichterungen sowie direkte Zuschüsse dazu. Viele der Maßnahmen sind nur für kleine und mittlere Unternehmen oder bestimmte Branchen zugänglich und haben einen zweckgebundenen Charakter (beispielsweise gebunden an Gehaltszahlungen oder Arbeitsplatzerhalt) (WKO 9.3.2021). Die Regierung bietet Exporteuren Hilfe an, die Möglichkeit eines Konkursmoratoriums, zinslose Kredite für Gehaltsauszahlungen usw. (CHRR o.D.c). Jänner bis Oktober 2020 ist die Industrieproduktion pandemiebedingt um 3,1% zurückgegangen. Besonders die Rohstoffproduktion ist um 6,6% gefallen, während die verarbeitende Industrie mit 0,3% praktisch stagnierte. Die im Jahr 2020 sehr stark fallenden Ölpreise waren unter anderem eine Auswirkung der Covid-19-Pandemie und mit einem globalen Nachfragerückgang verbunden und führten zu einer Rubelabwertung von 25%. Nach leichter Erholung verlor der Rubel unter anderem wegen der anhaltenden geringen Rohstoffnachfrage Mitte 2020 erneut an Wert und lag Anfang Dezember bei ca. 90 Rubel je Euro (WKO 12.2020). Das Realwachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug im Jahr 2020 -3,1%. Im Vergleich dazu betrug der entsprechende Wert im Jahr 2019 2%. Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2020 17,8% des Bruttoinlandsprodukts (2019: 12,4%) (WIIW o.D.).
Moskau:
In Moskau herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Das Tragen von Masken auf Straßen wird empfohlen. Kultur- und Bildungsveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 50% der Zuschauerplätze belegt sind. Bürgern über 65 Jahren und chronisch Kranken wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021; vgl. WKO 9.3.2021, AA 15.2.2021). Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Am Arbeitsplatz sind vorgeschriebene Hygienevorschriften (unter anderem Temperaturmessungen, Mund- und Handschutz, Desinfektionsmittel, Mindestabstand etc.) einzuhalten (WKO 9.3.2021). Gemäß dem Moskauer Bürgermeister verbessert sich die Pandemielage in Moskau. Ein Großteil der Einschränkungen wurde aufgehoben. Gastronomiebetriebe sind wieder geöffnet. Für Schüler höherer Klassen und Studierende findet nun wieder Präsenzunterricht statt (Mos.ru 7.3.2021; vgl. Mos.ru 8.3.2021, LM 8.2.2021, Russland Analysen 19.2.2021). In der Oblast [Gebiet] Moskau wurde die Mehrzahl der wegen Covid geltenden Einschränkungen zurückgenommen. Einzig Massenveranstaltungen bleiben fast ausnahmslos verboten (Russland Analysen 19.2.2021).
St. Petersburg:
Auch in St. Petersburg herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Die für gastronomische Betriebe geltenden Beschränkungen der Öffnungszeiten wurden aufgehoben. Kulturveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 75% der Zuschauerplätze belegt sind. Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke sind Selbstisolierung und Fernarbeit verpflichtend (CHRR 12.3.2021; vgl. Gov.spb 5.3.2021, WKO 9.3.2021, Russland Analysen 8.2.2021).
Tschetschenien:
An öffentlichen Orten wird das Tragen von Masken empfohlen. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke ist Selbstisolierung vorgesehen (CHRR 12.3.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, Ria.ru 10.2.2021, KMS 10.2.2021). Bisher wurden mehr als 19.000 Personen geimpft (Chechnya.gov 26.2.2021). Mitarbeitern staatlich finanzierter Organisationen in Tschetschenien wurde mit Entlassung gedroht, sollten sie die Covid-Impfung verweigern. Bewohner in Tschetschenien berichten, ihnen seien Sanktionen angedroht worden, sollten sie sich nicht impfen lassen (CK 23.1.2021). Reisebeschränkungen wurden aufgehoben (Ria.ru 10.2.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, KMS 10.2.2021).
Dagestan:
An öffentlichen Orten herrscht Maskenpflicht. Einstweilen dürfen keine Massenveranstaltungen stattfinden. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021). Es finden Massenimpfungen statt, und verwendet wird der Impfstoff Sputnik V (E-dag.ru 23.2.2021). Bisher wurden mehr als 18.000 Personen (2,4%) geimpft (E-dag.ru 12.3.2021).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (15.2.2021): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536 , Zugriff 16.3.2021
Chechnya.gov – Глава Чеченской Республики [Oberhaupt der Tschetschenischen Republik] [Russische Föderation] (10.2.2021): Р Кадыров: «Мы снимаем в Чеченской Республике обязательное ношение масок в общественных местах» [R Kadyrow: „Wir heben die Maskenpflicht an öffentlichen Orten in der Tschetschenischen Republik auf“], http://chechnya.gov.ru/novosti/r-kadyrov-my-snimaem-v-chechenskoj-respublike-obyazatelnoe-noshenie-masok-v-obshhestvennyh-mestah/ , Zugriff 12.3.2021
Chechnya.gov – Глава Чеченской Республики [Oberhaupt der Tschetschenischen Republik] [Russische Föderation] (26.2.2021): Отмена обязательного масочного режима в Чеченской Республике не спровоцировала роста числа заболевших [Aufhebung der Maskenpflicht in der Tschetschenischen Republik provozierte nicht steigende Krankheitszahlen], http://chechnya.gov.ru/novosti/otmena-obyazatelnogo-masochnogo-rezhima-v-chechenskoj-respublike-ne-sprovotsirovala-rosta-chisla-zabolevshih/ , Zugriff 12.3.2021
CHRR – Covid-19-Webseite der russischen Regierung [Russische Föderation] (12.3.2021): Карта действующих ограничений в связи с COVID-19 [Landkarte bzgl. geltender Einschränkungen in Verbindung mit Covid-19], https://стопкоронавирус.рф/information/, Zugriff 12.3.2021
CHRR – Covid-19-Webseite der russischen Regierung [Russische Föderation] (o.D.a): Часто задаваемые вопросы [FAQ], https://стопкоронавирус.рф/faq/, Zugriff 12.3.2021
CHRR – Covid-19-Webseite der russischen Regierung [Russische Föderation] (o.D.b): Все о вакцинации против COVID-19 [Alles über die Covid-19-Impfung], https://вакцина.стопкоронавирус.рф/, Zugriff 12.3.2021
CHRR – Covid-19-Webseite der russischen Regierung [Russische Föderation] (o.D.c): Меры поддержки бизнеса [Unternehmensunterstützungsmaßnahmen], https://стопкоронавирус.рф/what-to-do/business/, Zugriff 24.3.2021
CK – Caucasian Knot (23.1.2021): Budget-funded Chechen employees complain about enforcement to vaccination, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53468 , Zugriff 12.3.2021
DS – Der Standard (12.2.2021): Russland könnte sich der Herdenimmunität nähern, https://www.derstandard.at/story/2000124129778/russland-waehnt-sich-nahe-an-der-herdenimmunitaet , Zugriff 12.3.2021
DS – Der Standard (20.2.2021): Russland bringt dritten Covid-Impfstoff auf den Markt, https://www.derstandard.at/jetzt/livebericht/2000124341360/redcontent/1000220229?responsive=false , Zugriff 12.3.2021
E-dag.ru – Moj Dagestan [Mein Dagestan] / Offizielle Website Dagestans [Russische Föderation] (23.2.2021): В Дагестане впервые за долгое время меньше 50 человек, заболевших коронавирусом за сутки [In Dagestan zum ersten Mal seit langer Zeit weniger als 50 am Coronavirus erkrankte Personen innerhalb 24 Stunden], https://mydagestan.e-dag.ru/coronavirus/v-dagestane-vpervye-za-dolgoe-vremya-menshe-50-chelovek-zabolevshikh-koronavirusom-za-sutki/ , Zugriff 12.3.2021
E-dag.ru – Moj Dagestan [Mein Dagestan] / Offizielle Website Dagestans [Russische Föderation] (12.3.2021): Информация о проведении вакцинации населения Республики Дагестан против COVID-19 [Information über COVID-19-Impfung der Bevölkerung der Republik Dagestan], https://mydagestan.e-dag.ru/vaccination-against-covid-19/ , Zugriff 12.3.2021
Gov.spb – Администрация Санкт-Петербурга [St. Petersburger Verwaltung] [Russische Föderation] (5.3.2021): Отдельные ограничения продлеваются до 28 марта [Einzelne Einschränkungen bis 28.3. verlängert], https://www.gov.spb.ru/press/governor/208547/ , Zugriff 12.3.2021
KMS – Kommersant (10.2.2021): Кадыров отменил обязательный масочный режим в Чечне [Kadyrow hob die Maskenpflicht in Tschetschenien auf], https://www.kommersant.ru/doc/4683493 , Zugriff 15.3.2021
LM – Le Monde (8.2.2021): En Russie, le Covid-19 a alimenté une hausse brutale de la mortalité en 2020 [In Russland hat Covid-19 für einen brutalen Anstieg der Sterberaten im Jahr 2020 gesorgt], https://www.lemonde.fr/international/article/2021/02/08/en-russie-le-covid-19-a-alimente-une-hausse-brutale-de-la-mortalite-en-2020_6069228_3210.html , Zugriff 12.3.2021
Mos.ru – Offizielle Webseite des Moskauer Bürgermeisters [Russische Föderation] (7.3.2021): Сергей Собянин рассказал о ситуации с коронавирусом в Москве [Sergei Sobjanin sprach über die Coronavirussituation in Moskau], https://www.mos.ru/mayor/themes/18299/7190050/?onsite_molding=2 , Zugriff 15.3.2021
Mos.ru – Offizielle Webseite des Moskauer Bürgermeisters [Russische Föderation] (8.3.2021): Более 700 тысяч человек уже сделали прививку от коронавируса в Москве [Schon mehr als 700.000 Personen wurden in Moskau gegen Coronavirus geimpft], https://www.mos.ru/news/item/87519073/ , Zugriff 12.3.2021
Mos.ru – Offizielle Webseite des Moskauer Bürgermeisters [Russische Föderation] (o.D.): Бесплатная вакцинация [Gratis-Impfung], https://www.mos.ru/city/projects/covid-19/privivka/ , Zugriff 12.3.2021
Russland Analysen (8.2.2021): Covid-19-Chronik (11.-31.1.2021), (Nr. 397), https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/397/RusslandAnalysen397.pdf , Zugriff 12.3.2021
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RAD – Russian Analytical Digest / Anna Tarasenko (Nr. 263) (15.2.2021): Mitigating the Social Consequences of the COVID-19 Pandemic: Russia’s Social Policy Response, https://css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/RAD263.pdf#page=12 , Zugriff 16.3.2021
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WIIW – Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (o.D.): Russia – Overview, https://wiiw.ac.at/russia-overview-ce-10.html , Zugriff 24.3.2021
WKO – Wirtschaftskammer Österreich [Österreich] (12.2020): Wirtschaftsbericht Russische Föderation, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/russische-foederation-wirtschaftsbericht.pdf , Zugriff 24.3.2021
WKO – Wirtschaftskammer Österreich [Österreich] (9.3.2021): Coronavirus: Situation in Russland, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-info-russland.html , Zugriff 16.3.2021
Politische Lage
Letzte Änderung: 26.05.2021
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vgl. CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vgl. FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016, FH 3.3.2021). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die nächste Duma-Wahl steht im Herbst 2021 an (Standard.at 1.1.2021).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 1.2021a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 1.2021a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürgersollten Jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
Neben den bis Juli 2021 verlängerten wirtschaftlichen Sanktionen wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes (Presse.com 10.12.2020) haben sich die EU-Außenminister wegen der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf neue Russland-Sanktionen geeinigt. Die Strafmaßnahmen umfassen Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Verantwortliche für die Inhaftierung Nawalnys (Cicero 22.2.2021).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.10.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710 , Zugriff 16.2.2021
BTI - Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report, Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf , Zugriff 17.2.2021
CIA – Central Intelligence Agency [USA] (5.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/russia/ , Zugriff 16.2.2021
Cicero (22.2.2021): EU bringt wegen Nawalny neue Russland-Sanktionen auf den Weg, https://www.cicero.de/aussenpolitik/vermoegenssperren-einreiseverbote-eu-alexej-nawalny-russland-sanktionen , Zugriff 24.2.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 10.3.2020
FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html , Zugriff 16.2.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 5.3.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 16.2.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/ , Zugriff 16.2.2021
Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm , Zugriff 10.3.2020
Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau , Zugriff 10.3.2020
MDR - Mitteldeutscher Rundfunk (16.7.2020): Mehr als 140 Demonstranten in Moskau festgenommen, https://www.mdr.de/nachrichten/politik/ausland/festnahme-moskau-putin-kritiker-bei-protest-100.html , Zugriff 21.7.2020
ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/ , Zugriff 10.3.2020
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true , Zugriff 10.3.2020
Presse.com (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen , Zugriff 10.3.2020
Presse.com (10.12.2020): EU verlängerte Wirtschaftssanktionen gegen Russland, https://www.diepresse.com/5909916/eu-verlangerte-wirtschaftssanktionen-gegen-russland , Zugriff 24.2.2021
RIA Nowosti (23.9.2016): ЦИК утвердил результаты выборов в Госдуму, https://ria.ru/20160923/1477668197.html , Zugriff 10.3.2020
Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident , Zugriff 10.3.2020
Standard.at (1.1.2021): Was 2021 außenpolitisch auf uns zukommt, https://www.derstandard.at/story/2000122723655/was-2021-aussenpolitisch-auf-uns-zukommt , Zugriff 5.3.2021
Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html , Zugriff 10.3.2020
Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau , Zugriff 10.3.2020
Tschetschenien
Letzte Änderung: 26.05.2021
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – die Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil von ihnenTschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2020).
In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Ramsan Kadyrow wurde bei den Wahlen vom 18. September 2016 laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 6.2020). In Tschetschenien regiert Kadyrow unangefochten autoritär. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 3.3.2021; vgl. AA 2.2.2021). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 3.3.2021).
Während der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramsan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute 'föderale Machtvertikale' dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum 'inneren Ausland' Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 23.2.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 5.3.2021
HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html , Zugriff 3.3.2020
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435?reduced=true , Zugriff 11.3.2020
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf , Zugriff 10.3.2020
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 17.2.2021
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf , Zugriff 10.3.2020
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 26.05.2021
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 7.4.2021a; vgl. GIZ 1.2021d, EDA 7.4.2021). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 7.4.2021a; vgl. EDA 7.4.2021). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 7.4.2021).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 4.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 4.2017; vgl. Deutschlandfunk 29.9.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.9.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 8.2.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.9.2020).
In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (7.4.2021a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536#content_0 , Zugriff 7.4.2021
BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (8.2.2021): Analyse: Söldner im Dienst autoritärer Staaten: Russland und China im Vergleich, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/327198/soeldner-im-dienst-autoritaerer-staaten , Zugriff 8.4.2021
Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824 , Zugriff 7.4.2021
Deutschlandfunk (29.9.2020): An Russland kommt im Nahen Osten niemand mehr vorbei, https://www.deutschlandfunk.de/fuenf-jahre-russischer-militaereinsatz-in-syrien-an.724.de.html?dram:article_id=484951 , Zugriff 8.4.2021
DW - Deutsche Welle (29.9.2020): Russland im Syrien-Krieg: Gekommen, um zu bleiben, https://www.dw.com/de/russland-im-syrien-krieg-gekommen-um-zu-bleiben/a-55096554 , Zugriff 8.4.2021
EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (7.4.2021): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html#par_textimage , Zugriff 7.4.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170 , Zugriff 7.4.2021
SN - Salzburger Nachrichten (15.10.2020): Terrorzelle in Russland ausgeschaltet, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/terrorzelle-in-russland-ausgeschaltet-94250941 , Zugriff 8.4.2021
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf , Zugriff 7.4.2021
Nordkaukasus
Letzte Änderung: 26.05.2021
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020).
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2020). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).
[Anmerkung Staatendokumentation:] Bitte vergleichen Sie hierzu auch alle Kapitel zur Allgemeinen Menschenrechtslage (einschließlich der Kapitel zu Tschetschenien, Dagestan und Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein).
Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (Caucasian Knot 2.7.2020a, Caucasian Knot 2.7.2020b, Caucasian Knot 27.10.2020, Caucasian Knot 24.12.2020, Caucasian Knot 20.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 8.4.2021
ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (19.6.2019): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/#Toc489358424 , Zugriff 9.4.2021
Caucasian Knot (2.7.2020a): In January 2020, there were no victims of armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51356/ , Zugriff 8.4.2021
Caucasian Knot (2.7.2020b): In February and March 2020, four people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51357/ , Zugriff 8.4.2021
Caucasian Knot (27.10.2020): In Quarter 2 of 2020, 11 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/52582/ , Zugriff 8.4.2021
Caucasian Knot (24.12.2020): 15 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus in Q3 2020, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53177/ , Zugriff 8.4.2021
Caucasian Knot (20.2.2021): In Quarter 4 of 2020, 26 persons fell victim to armed conflict in North Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53738/ , Zugriff 8.4.2021
Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824 , Zugriff 9.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 8.4.2021
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf , Zugriff 9.4.2021
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf , Zugriff 8.4.2021
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 26.05.2021
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte für Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsperson, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 6.2020). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 3.3.2021). Auch Korruption ist im Justizsystem ein Problem (EASO 3.2017, BTI 2020)
Das russische Justizsystem ist institutionell abhängig von den Untersuchungsbeamten, die häufig die Urteile bestimmen. Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genug Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB Moskau 6.2020). Die Personalkommission des Präsidenten und die Vorsitzenden des Gerichts kontrollieren die Ernennung und Wiederernennung der Richter des Landes, die eher aus dem Justizsystem befördert werden, als unabhängige Erfahrungen als Anwälte zu sammeln. Änderungen der Verfassung, die im Jahr 2020 verabschiedet wurden, geben dem Präsidenten die Befugnis, mit Unterstützung des Föderationsrates, Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gerichtshof zu entfernen, was die ohnehin mangelnde Unabhängigkeit der Justiz weiter schädigt (FH 3.3.2021).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen von Ende 2018, rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen, und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen. Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 6.2020).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das zur Untergrabung der Souveränität Russlands missbraucht werde (ÖB Moskau 6.2020). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, USDOS 11.3.2020). Im Juli 2020 wurde diese Rechtsposition auch in der Verfassung verankert und dem russischen Verfassungsgerichtshof das Recht eingeräumt, Urteile zwischenstaatlicher Organe nicht umzusetzen, wenn diese in ihrer Auslegung der Bestimmungen zwischenstaatlicher Verträge nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Die Venedig-Kommission des Europarates gab eine Stellungnahme zu den damaligen Entwürfen für Verfassungsänderungen ab. Die Kommission bekräftigte ihre Ansicht, dass die Befugnis des Verfassungsgerichts, ein Urteil des EGMR für nicht vollstreckbar zu erklären, den Verpflichtungen Russlands aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht (HRW 13.1.2021). Mit Ende 2019 waren beim EGMR 15.050 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2019 wurde die Russische Föderation in 186 Fällen wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (ÖB Moskau 6.2020).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer nicht genehmigten friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die 'Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen'. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 2.2.2021).
Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die vonseiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 2.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 23.3.2021
AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 23.3.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 23.3.2021
BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report – Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf , Zugriff 17.5.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 23.3.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 23.3.2021
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 23.3.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 23.3.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 23.3.2021
Tschetschenien und Dagestan
Letzte Änderung: 26.05.2021
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).
Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Die Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternative Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für die Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 2.2.2021). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechtssysteme einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien 'Ramsan sagt' lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).
Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben. Er kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 6.2020). Nach wie vor gibt es Clans, die Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021).
In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 6.2020). Die föderalen Behörden haben nur begrenzte Möglichkeiten, politische Entscheidungen in Tschetschenien zu treffen, wo das tschetschenische Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow im Gegenzug für das Halten der Republik in der Russischen Föderation unkontrollierte Macht erlangt hat (FH 3.3.2021).
Die Bekämpfung von Extremisten geht laut Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 6.2020). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 2.2.2021), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 6.2020) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinschaft und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan überworfen haben. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Elena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021). Kritik und Dissens werden nicht geduldet (HRW 13.1.2021).
In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige werden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).
Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 1990er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 2.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 8.4.2021
CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-website-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX , Zugriff 8.4.2021
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 8.4.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), https://www.ecoi.net/en/file/local/1154982/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf , Zugriff 8.4.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, https://www.ecoi.net/en/file/local/1394622/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 8.4.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 8.4.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 8.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 8.4.2021
ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf , Zugriff 8.4.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 8.4.2021
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 28.05.2021
Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamte, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führte (US DOS 11.3.2020), ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 3.3.2021; vgl. AI 16.4.2020, HRW 13.1.2021).
Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden gegen Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antrag mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haft zu verlängern. Der Angeklagte und sein Anwalt müssen bei der Gerichtsverhandlung entweder persönlich oder über einen Videolink anwesend sein. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 11.3.2020).
Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 2.2.2021). Am 13.5.2020 wurde von der Regierung der Russischen Föderation ein Antrag auf Änderung des Polizeigesetzes in die russische Duma eingebracht, welche zu einer erheblichen Ausweitung von Polizeibefugnissen führt (Gebrauch der Schusswaffe bei einer Festnahme, Aufbrechen von Fahrzeugen, Absperren von Bereichen, etc.) (ÖB Moskau 6.2020).
Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Rebellenkämpfern. Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Aufseiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Gründung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Bedienstete. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramsan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch 'ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben' (EASO 3.2017).
Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem 'langen Arm' des Regimes von Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von NGOs etwa auch in Moskau präsent. Sie berichten von Einzelfällen aus Tschetschenien, in denen entweder die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden (welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme haben) Flüchtende in andere Landesteile verfolgen, sowie von LGBTI-Personen, die gegen ihren Willen nach Tschetschenien zurückgeholt worden sind (AA 2.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.3.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html , Zugriff 24.3.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, https://www.ecoi.net/en/file/local/1394622/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 24.3.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 24.3.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 24.3.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 24.3.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 24.3.2021
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 28.05.2021
Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Art. 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt (ÖB Moskau 6.2020; vgl. EASO 3.2017). Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugsbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 6.2020; vgl. EASO 3.2017, AA 2.2.2021). Folter ist jedoch noch immer allgegenwärtig, und die Täter bleiben häufig straffrei (AI 16.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AA 2.2.2021, US DOS 11.3.2020).
Immer wieder gibt es auch Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 16.4.2020). Laut Amnesty International und dem russischen 'Komitee gegen Folter' kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 2.2.2021). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Tagen nach der Inhaftierung (USDOS 11.3.2020). Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtlichen Tötungen. Ramsan Kadyrow lässt solche Formen von Gewalt anwenden, um die Kontrolle über die Republik Tschetschenien zu behalten. Diese Aktivitäten finden manchmal über die Grenzen Russlands hinaus statt (FH 3.3.2021).
Im August 2018 veröffentlichte die unabhängige Zeitung Nowaja Gaseta Videos von Wachen, die in Jaroslawl Gefangene organisiert prügelten. Die Behörden verhafteten nach einem öffentlichen Aufschrei mindestens 12 Gefängniswachen, aber die NGO Public Verdict berichtete schon im Dezember 2018 über systematische Misshandlung in einem anderen Gefängnis in der Region. Im Juli 2019 veröffentlichte Public Verdict ein weiteres Video, das anhaltende Misshandlungen in Jaroslawl zeigt. Im November 2020 verurteilten Gerichte elf Gefängniswärter wegen Folter und verurteilten sie zu drei bis vier Jahren Haft. Die Gefängnisdirektoren wurden freigesprochen (FH 3.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 23.3.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 23.3.2021
EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 23.3.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 23.3.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 23.3.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 23.3.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 23.3.2021
Korruption
Letzte Änderung: 28.05.2021
Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen, genauso wie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).
Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet, und ein zunehmender Mangel an Rechenschaftspflicht ermöglicht es Bürokraten, ungestraft Straftaten zu begehen. Analysten bezeichnen das politische System als Kleptokratie, in der die regierende Elite das öffentliche Vermögen plündert (FH 3.3.2021). Obwohl das Gesetz Strafen für Behördenkorruption vorsieht, bestätigt die Regierung, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017, BTI 2020). Korruption ist sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative und Judikative auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017, BTI 2020). Die meisten Bemühungen zur Korruptionsbekämpfung sind oft nur symbolischer Natur. Korruptionsvorwürfe der politischen Elite gelten als Instrumente in Machtkämpfen (BTI 2020). Zu den Formen von Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Behördenkorruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen (USDOS 11.3.2020).
Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. BTI 2020). Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny dokumentiert regelmäßig Korruptionsfälle auf höchster politischer Ebene, ohne dass die staatlichen Strukturen darauf reagieren (BTI 2020). Eines der zentralen Themen der Modernisierungsagenda ist die Bekämpfung der Korruption und des Rechtsnihilismus. Im Zeichen des Rechtsstaats durchgeführte Reformen, wie die Einsetzung eines Richterrats, um die Selbstverwaltung der Richter zu fördern, die Verabschiedung neuer Prozessordnungen und die deutliche Erhöhung der Gehälter hatten jedoch wenig Wirkung auf die Abhängigkeit der Justiz von Weisungen der Exekutive und die dort herrschende Korruption. Im Februar 2012 erfolgte der Beitritt Russlands zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung. 2020 nimmt Russland im Ranking des Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International den 129. Platz von 179 ein (GIZ 1.2021a).
Korruption ist auch in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet, und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Öffentliche Bedienstete müssen einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrows Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrows und der ihm nahestehenden Gruppen diene. So bezeichnete die Zeitung 'Kommersant' den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes. Der Fond soll Ende 2017 über 2,2 Mrd. Rubel (über 30 Mio. €) verfügt haben. Allein vom 30.11. bis 5.12.2019 berichteten tschetschenische Beamte über mindestens 12 Initiativen, die aus den Mitteln des Fonds finanziert wurden (ÖB Moskau 6.2020). Die Situation in Tschetschenien zeichnet sich dadurch aus, dass korrupte Praktiken erstens stärker verbreitet sind und zweitens offener ablaufen als im restlichen Russland (SEM 15.7.2016).
Dagestan ist eine der ärmsten Regionen Russlands, bis zu 70% des Budgets stammen aus Subventionen aus Moskau. Auch in Dagestan ist die Gesellschaft in Clans aufgebaut. Nirgendwo sonst in Russland ist der Clan so stark wie in Dagestan, weshalb systemische Korruption in dieser Republik nicht überrascht (WI 25.2.2018). Das staatliche Justizwesen ist in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt (AA 2.2.2021). Zum ersten Mal in der Geschichte der Russischen Föderation wurden Anfang 2018 der Premierminister Dagestans, seine Stellvertreter und der ehemalige Bildungsminister wegen schwerer Korruptionsvorwürfe festgenommen und sofort nach Moskau ausgeflogen. Alle vier standen im Verdacht, Haushaltsmittel aus Sozialprogrammen in großem Umfang veruntreut zu haben (WI 25.2.2018). Wladimir Wassilews Ernennung [zum Republiksoberhaupt von 2018-2020] bekräftigt die Bedeutung von Dagestan für den russischen Staat und die Tatsache, dass Putin nicht länger bereit ist, die von den Subventionen abgezogenen Mittel zu ignorieren (PONARS Eurasia 11.2018). Der Nachfolger Wassilews ist Sergej Melikow. Dieser war davor Vertreter der Region Stawropol im Föderationsrat (BPB 26.10.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 16.3.2021
BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (26.10.2020): Chronik: 28. September – 10. Oktober 2020, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/317747/chronik-28-september-10-oktober-2020 , Zugriff 16.3.2021
BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report – Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf , Zugriff 16.3.2021
EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 16.3.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 16.3.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17 6, Zugriff 16.3.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 16.3.2021
PONARS Eurasia (11.2018): The Kremlin’s New Man in Dagestan. Corruption Supplants Security as Moscow's Chief Concern, PONARS Eurasia Policy Memo No. 549, https://www.researchgate.net/publication/337674069_The_Kremlin%27s_New_Man_in_Dagestan_Corruption_Supplants_Security_as_Moscow%27s_Chief_Concern , Zugriff 16.3.2021
SEM – Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (15.7.2016): Focus Russland. Korruption im Alltag, insbesondere in Tschetschenien, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/europa-gus/rus/RUS-korruption-d.pdf , Zugriff 16.3.2021
USDOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 16.3.2021
WI – Warsaw Institute (25.2.2019): Federal clean-up in Dagestan, https://warsawinstitute.org/federal-clean-dagestan/ , Zugriff 16.3.2021
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Letzte Änderung: 28.05.2021
Der russische Staat wünscht sich, dass NGOs vor allem im sozialen Bereich tätig sind. Das Engagement in Bezug auf andere, politische Aktivitäten, wird mit Misstrauen betrachtet (BTI 2020). Somit geraten inländische und ausländische NGOs zunehmend unter Druck. Auf Basis des sog. NGO-Gesetzes aus 2012 werden russische NGOs, die politisch aktiv sind und aus dem Ausland Finanzmittel erhalten, in ein vom Justizministerium geführtes Register 'ausländischer Agenten' eingetragen. Die davon betroffenen NGOs haben verstärkte Berichtspflichten gegenüber dem Justizministerium und müssen alle Publikationen mit der Kennzeichnung 'ausländischer Agent' markieren (ÖB Moskau 6.2020; vgl. GIZ 1.2021a, AA 2.2.2021, FH 3.3.2021, BTI 2020). Die Bezeichnung als 'Agent' provoziert unter der russischen Bevölkerung eine negative Konnotation mit den Tätigkeiten dieser NGOs im Sinne von Spionagetätigkeiten (ÖB Moskau 6.2020; vgl. FH 3.3.2021). Organisationen, die sich nicht eintragen lassen, haben mit hohen Geldstrafen zu rechnen bzw. können aufgelöst werden. 2016 wurde die NGO Agora, eine Vereinigung von Menschenrechtsanwälten, als erste Organisation aufgrund von Nichtbefolgung des NGO-Gesetzes aufgelöst. Im Herbst 2019 wurden zwei NGOs ('Für Menschenrechte' und 'Centre of Support for Indigenous Peoples of the North') auf Antrag des Justizministeriums aufgelöst (ÖB Moskau 6.2020). Derzeit ist die NGO Memorial, eine der ältesten NGOs in Russland, die sich vor allem mit der geschichtlichen Aufarbeitung der politischen Repressionen in der Sowjetunion befasst sowie der aktuellen Menschenrechtsarbeit widmet, mit Strafen von über 66.000 Euro konfrontiert (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AI 16.4.2020, HRW 13.1.2021). Dies, nachdem bei einer Überprüfung festgestellt wurde, dass der Hinweis darauf, dass Memorial seit 2016 vom russischen Justizministerium in das Register jener Organisationen eingetragen ist, welche die Funktion eines 'ausländischen Agenten' erfüllen, nicht auf allen Webseiten/Kanälen der Organisation aufscheint. Seit März 2015 ist zudem eine Streichung aus dem Register gesetzlich möglich (ÖB Moskau 6.2020). Mit Ende 2020 waren beim Justizministerium 75 NGOs als ausländische Agenten registriert (FH 3.3.2021). Ende 2019 wurde zudem die gesetzliche Möglichkeit geschaffen, auch natürliche Personen als 'ausländische Agenten' zu listen, sofern diese Medieninhalte von solchen verbreiten oder erarbeiten und dafür Geld erhalten (AA 2.2.2021; vgl. Standard Online 3.12.2019).
Um der ausländischen Finanzierung russischer NGOs entgegenzuwirken, werden seit einigen Jahren sogenannte präsidentielle Subventionen vergeben. 2017 - 2019 wurden auf diesem Weg rund 22 Mrd. Rubel (ca. 308 Mio. Euro) für 10.558 Projekte an Organisationen verteilt, größtenteils an jene mit patriotischer bzw. sozialer Ausrichtung, in einigen Fällen erhielten auch als 'ausländische Agenten' deklarierte Einrichtungen staatliche Zuwendungen. Die Kehrseite der staatlichen Unterstützung ist, dass die Empfänger sich im Gegenzug einer intensiven behördlichen Kontrolle ihrer Geschäftstätigkeit unterwerfen müssen (ÖB Moskau 6.2020). In einem Bereich hat der Staat Interesse an Zusammenarbeit und Beratung gezeigt, insbesondere in ländlichen Regionen: Wenn Aktivitäten auf Sozialpolitik ausgerichtet sind, nicht auf politisches Engagement (BTI 2020).
Im Mai 2015 wurde ein Gesetz angenommen, um die Tätigkeit von ausländischen oder internationalen Nichtregierungsorganisationen, die eine Bedrohung für die verfassungsmäßigen Grundlagen, für die Verteidigungsfähigkeit des Landes oder die Sicherheit des Staates darstellen, auf dem Territorium der Russischen Föderation für unerwünscht zu erklären (ÖB Moskau 6.2020; vgl. BTI 2020, FH 3.3.2021). Die Klassifizierung als unerwünschte Organisation zieht ein Verbot der Gründung bzw. die Liquidierung bereits bestehender Strukturen der ausländischen NGO in Russland nach sich, sowie ein Verbot der Verteilung von Informationsmaterialien bzw. der Durchführung von Projekten. Weiters ist es russischen Banken verboten, Finanzoperationen durchzuführen, wenn ein Kunde als unerwünschte NGO eingestuft wurde (ÖB Moskau 6.2020). Die Verbote betreffen nicht nur die NGO selbst, sondern auch Personen, die sich an ihrer Tätigkeit beteiligen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. FH 3.3.2021). Das Gesetz sieht Geldstrafen sowie bei wiederholter Verletzung auch Freiheitsstrafen von mehreren Jahren vor (ÖB Moskau 6.2020). Mit Ende 2020 gelten 29 ausländische NGOs als unerwünschte Organisationen, da sie die nationale Sicherheit gefährden würden. Die Bezeichnung gibt den Behörden die Möglichkeit, eine Bandbreite an Sanktionen gegen diese Gruppierungen zu verhängen (FH 3.3.2021). Die erste Verurteilung gegen eine Person auf Basis des Gesetzes zu unerwünschten Organisationen traf im Februar 2020 den Journalisten Maksim Wernikow. Er wurde zu 300 Stunden Arbeitsleistung verurteilt (ÖB 6.2020; vgl. HRW 13.1.2021)
Menschenrechtler beklagen staatlichen Druck auf zivilgesellschaftliche Akteure. Im Rahmen der Terrorismusbekämpfung sind autoritäre, die Grundrechte einschränkende Tendenzen zu beobachten. Jedoch entstehen an vielen Orten neue Formen zivilgesellschaftlichen Agierens: Autofahrer protestieren gegen die Willkür der Verkehrspolizei, 'Strategie 31' setzt sich für die Versammlungsfreiheit ein, Umweltschützer verhindern Atommülltransporte, die Künstlergruppe 'Wojna' setzt auf spektakuläre Protestaktionen. Die Verbindungen zwischen diesen 'Initiativen von unten' und den etablierten russischen NGOs sind aber noch gering (GIZ 1.2021a).
Die Gesetzeslage zu NGOs hat sich in den vergangenen Jahren signifikant verändert, mit dem Ergebnis, dass derzeit unpolitische bzw. Pro-Regierungs-NGOs, die etwa im sozialen Bereich tätig sind, eher unterstützt werden und im Gegensatz dazu kritische NGOs und Think Tanks, v.a. jene, die in den Bereichen Menschenrechte, Umweltschutz und dergleichen tätig sind, mit Einschränkungen konfrontiert sind. Mitunter wird in den Medien auch über konstruierte Kriminalfälle berichtet, die gegen regimekritische Dissidenten, Journalisten oder Aktivisten gerichtet sind (ÖB Moskau 6.2020). In Dagestan können NGOs tätig werden, sich mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen treffen, vor Ort recherchieren und sogar Verfahren gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte wegen Foltervorwürfen anstrengen. Die NGO 'Komitee zur Verhinderung von Folter' arbeitet mit den Sicherheitsbehörden in Dagestan im Rahmen des Strafvollzugs zusammen (AA 2.2.2021). Gemeinnützige Stiftungen sind in Dagestan der am weitesten entwickelte Teil der Zivilgesellschaft. Dies sind die stärksten, stabilsten und zahlreichsten NGOs in der Republik und umfassen Stiftungen wie 'Hope and Pure Heart'. Diese Organisationen sind äußerst professionell, verfügen über gut entwickelte IT-Plattformen und verwenden eine gemeinsam nutzbare Datenbank aller Bedürftigen in Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien. Die Zielgruppen ihrer Aktivitäten sind alleinerziehende Mütter, Waisen und Senioren, die alleine leben. Da sie sich nicht mit politischen und bürgerrechtlichenThemen befassen, passt ihre Tätigkeit in den aktuellen politischen Kontext und die konservative Wertebasis und wird von den Behörden nicht kontrolliert. Dagestan hat die am weitesten entwickelte, vielfältigste und unabhängigste Zivilgesellschaft der drei nordkaukasischen Republiken (Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan). Dagestan unterliegt nicht der erhöhten staatlichen Kontrolle und dem Druck Tschetscheniens oder dem Konservativismus und der traditionellen Lebensweise Inguschetiens. Stattdessen gibt es viele verschiedene Gruppen, die sich aktiv für ihre zivilgesellschaftlichen Positionen einsetzen. Dagestan ist auch die erste Region, die die Umwelt aktiv auf die öffentliche Tagesordnung setzt. Aufgrund regelmäßiger Machtwechsel auf Republiks- und lokaler Ebene hat sich in Dagestan kein ausschließliches Zentrum gebildet, das Unterdrückung und Kontrolle über NGOs und Basisinitiativen ausüben würde (CSIS 1.2020).
Unbestrafte und nicht untersuchte, grobe Menschenrechtsverletzungen und Druck auf Menschenrechtsorganisationen haben die Möglichkeiten für die Zivilgesellschaft in Tschetschenien stark eingeschränkt. Trotzdem konnten viele lokale NGOs dem Druck standhalten und sich an die neuen Regeln anpassen. Die Popularität von gemeinnützigen Aktivitäten und sozialen Projekten zur Unterstützung von einkommensschwachen und schutzbedürftigen Gruppen wächst, ebenso die Anzahl sozialer Initiativen für Kinder und Jugendliche. Auch das Thema Menschen mit Beeinträchtigungen wird de-stigmatisiert. Ein weiterer wichtiger positiver Trend ist, dass immer mehr junge Menschen an Freiwilligenarbeit interessiert sind. Die Reduzierung der Auslandsfinanzierung (nach Angaben des Justizministeriums erhalten derzeit nur 16 NGOs in Tschetschenien Geld aus dem Ausland) wird teilweise durch das Programm der Präsidentenzuschüsse kompensiert, von dem mehrere lokale NGOs profitieren. Insbesondere die Abteilungen für öffentliche Angelegenheiten und religiöse Organisationen arbeiten im Rahmen des Zuschussprogramms des Präsidenten eng zusammen (CSIS 1.2020).
Memorial zählte Ende 2020 349 Menschen als politische (61) oder religiöse Gefangene (288). Darunter waren Teilnehmer der Moskauer Wahlproteste 2019, Menschenrechtsaktivisten und Anwälte ethnischer Minderheiten (FH 3.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation,https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 12.4.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html , Zugriff 12.4.2021
BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report – Russia, https://bti-project.org/de/berichte/country-dashboard-RUS.html , Zugriff 12.4.2021
CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX , Zugriff 12.4.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 12.4.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 12.4.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 12.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 12.4.2021
Standard Online (3.12.2019): Putin billigt Gesetz zu Journalisten als 'ausländische Agenten', https://apps.derstandard.at/privacywall/story/2000111799282/putin-billigt-gesetz-zu-journalisten-als-auslaendische-agenten , Zugriff 12.4.2021
Ombudsperson
Letzte Änderung: 28.05.2021
Für die Russische Föderation gibt es wie für jedes der Föderationssubjekte einen Menschenrechtsbeauftragten [Ombudsperson]. Die Amtsinhaberin Tatjana Moskalkowa (seit 2016), ehemalige Generalmajorin der Polizei, geht nicht ausreichend gegen die wichtigsten Fälle der Verletzung von Menschenrechten, insbesondere den Missbrauch staatlicher Macht, vor. In ihrem Jahresbericht vom April 2020 gibt sie gleichwohl an, dass die meisten Beschwerden das Verhalten von Polizei und Justiz betreffen. Andere wichtige Beschwerdegründe waren die Nicht-Genehmigung von Versammlungen und – mit großem Abstand – die Behandlung von Häftlingen (AA 2.2.2021). Die Effektivität der regionalen Ombudspersonen variiert erheblich, und lokale Behörden unterminieren manchmal die Unabhängigkeit (US DOS 11.3.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 26.3.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 26.3.2021
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 28.05.2021
Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegende Zahl der anhängigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Stärkung des Gerichtshofs (GIZ 1.2021a). Die Verfassung postuliert die Russische Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Für die Russische Föderation gibt es, wie für jedes der Föderationssubjekte, einen Menschenrechtsbeauftragten. Die Amtsinhaberin Moskalkowa (seit 2016), ehemalige Generalmajorin der Polizei, geht nicht ausreichend gegen die wichtigsten Fälle der Verletzung von Menschenrechten, insbesondere den Missbrauch staatlicher Macht, vor. Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland hat folgende UN-Übereinkommen ratifiziert (AA 2.2.2021):
Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)
Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)
Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)
Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)
Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)
Behindertenrechtskonvention (AA 2.2.2021).
Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 309 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat 94 dieser Empfehlugen nicht angenommen und weitere 34 lediglich teilweise angenommen. Die nächste Sitzung für Russland im UPR-Verfahren wird im Mai 2023 stattfinden. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert. Finanzielle Entschädigungen werden üblicherweise gewährt, dem vom EGMR monierten Umstand aber nicht abgeholfen [Anm.: Zur mangelhaften Umsetzung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 2.2.2021). Besorgnis wurde u.a. auch hinsichtlich der Missachtung der Urteile von internationalen Menschenrechtseinrichtungen (v.a. des EGMR), des fehlenden Zugangs von Menschenrechtsmechanismen zur Krim, der Medienfreiheit und des Schutzes von Journalisten, der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft geäußert (ÖB Moskau 6.2020).
Durch eine zunehmende Einschränkung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Gesetzgebung und Praxis wurde die Menschenrechtsbilanz Russlands weiter verschlechtert. Wer versuchte, diese Rechte wahrzunehmen, musste mit Repressalien rechnen, die von Schikanierung bis hin zu Misshandlungen durch die Polizei, willkürlicher Festnahme, hohen Geldstrafen und in einigen Fällen auch Strafverfolgung und Inhaftierung reichten (AI 16.4.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden, aber gleichzeitig steigt der öffentliche Aktivismus deutlich. Hinzu kommt, dass sich mehr und mehr Menschen für wohltätige Projekte engagieren und Freiwilligenarbeit leisten. Zivile Kammern wurden als Dialogplattform zwischen der Bevölkerung und dem Staat eingerichtet (ÖB Moskau 6.2020). Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in Bezug auf die Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt (ÖB Moskau 6.2020) und sehen sich in manchen Fällen sogar Bedrohungen oder tätlichen Angriffen bzw. strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt (ÖB Moskau 6.2020; vgl. FH 3.3.2021, HRW 13.1.2021). Der Einfluss des konsultativen 'Rats beim Präsidenten der Russischen Föderation für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte' unter dem Vorsitz von Waleri Fadejew ist begrenzt. Er befasst sich in der Regel nicht mit Einzelfällen, sondern mit grundsätzlichen Fragen wie Gesetzesentwürfen, und seine Stellungnahmen zu dem Verlauf von Demonstrationen im Sommer 2019 in Moskau blieben ohne Folge (AA 2.2.2021).
Die Annexion der Krim 2014 sowie das aus Moskauer Sicht erforderliche Eintreten für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine führten vorübergehend zu einem starken Anstieg der patriotischen Gesinnung innerhalb der russischen Bevölkerung. In den vergangenen Jahren gingen die Behörden jedoch verstärkt gegen radikale Nationalisten vor. Dementsprechend sank die öffentliche Aktivität derartiger Gruppen seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine deutlich, wie die NGO Sova bestätigt. Gestiegen ist auch die Anzahl von Verurteilungen gegen nationalistische bzw. neofaschistische Gruppierungen. Vor diesem Hintergrund berichtete die NGO Sova in den vergangenen Jahren auch über sinkende Zahlen rassistischer Übergriffe. Die meisten Vorfälle gab es, wie in den Vorjahren, in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg. Migranten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus und dunkelhäutige Personen sind üblicherweise das Hauptziel dieser Übergriffe. Gleichzeitig ist aber im Vergleich zu den Jahren 2014-2017 ein gewisser Anstieg der fremdenfeindlichen Stimmung zu bemerken, der in Zusammenhang mit sozialen Problemen (Unzufriedenheit mit der Pensionsreform und sinkenden Reallöhnen) zu sehen ist. Wenngleich der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland seit 2013 weiterhin ausgesetzt bleibt, unterstützt die EU-Delegation in Moskau den Dialog zwischen den EU-Botschaften, mit NGOs, der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidigern (ÖB Moskau 6.2020).
Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Den Hintergrund bilden in ihrem Ausmaß weiter rückläufige bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien (AA 2.2.2021). Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend 'Aufständische' und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten, soweit dies angesichts der bestehenden Einschränkungen möglich ist, aufmerksam beobachtet (ÖB Moskau 6.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf , Zugriff 12.3.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 12.3.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 12.3.2021
FH – Freedom House (3.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 12.3.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 12.3.2021
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 12.3.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 12.3.2021
Tschetschenien
Letzte Änderung: 28.05.2021
NGOs beklagen regelmäßig schwere Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen mitunter Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten, aber auch Einzelpersonen, die das Regime kritisieren (ÖB Moskau 6.2020). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Das Republiksoberhaupt von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Jelena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021).
Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Es herrscht ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen. Nach wie vor gibt es Clans, welche Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. BAMF 11.2019).
2017 und laut der NGO LGBTI Network in geringem Ausmaß bis 2019 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2020, HRW 17.1.2019). Es gibt Berichte über Personen, die nach Folterungen gestorben sind [vgl. Kapitel Homosexuelle] (FH 3.3.2021). Die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angeblichen außergerichtlichen Tötungen von 27 Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten (ÖB Moskau 6.2020), die nicht im Zusammenhang mit der Verfolgung von LGBTI-Personen stehen sollen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AI 22.2.2018). Seitens Amnesty International wurde eine umfassende Untersuchung der Vorwürfe durch die russischen Behörden gefordert. Die russische Menschenrechtsombudsperson wurde Berichten zufolge bei der Untersuchung dieser Vorgänge in Tschetschenien bewusst getäuscht (ÖB Moskau 6.2020).
Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Caucasian Knot auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von der unabhängigen Tageszeitung Nowaja Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen homosexuelle Männer berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Nowaja Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht (AI 22.2.2018). Auch 2019 blieben frühere gewalttätige Übergriffe gegen Menschenrechtsverteidiger ungeahndet (AI 16.4.2020). Im Februar 2020 wurden die bekannte Journalistin der Nowaja Gazeta, Jelena Milaschina, und eine Menschenrechtsanwältin angegriffen und mit Schlägen traktiert. Die Nowaja Gazeta verlangte eine Entschuldigung des Republiksoberhauptes von Tschetschenien. Die Union der russischen Journalisten und das Helsinki Komitee verurteilten diesen Vorfall aufs Schärfste. Auch die OSZE und die russische Menschenrechtsorganisation Komitee gegen Folter verlangen von den russischen Behörden eine Aufklärung des Vorfalls (Moscow Times 7.2.2020). In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte über Personen, die bloß aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 6.2020). [Bezüglich Morde bzw. Vorfälle gegen tschetschenische Kritiker in Europa und Russland siehe Kapitel Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein].
Die Sicherheitslage hat sich deutlich verbessert und kann als stabil, wenn auch volatil, bezeichnet werden. Die Stabilisierung erfolgte jedoch um den Preis gravierender Menschenrechtsverletzungen, das heißt menschen- und rechtsstaatswidriges Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige und äußerst engmaschige Kontrolle der Zivilgesellschaft. Regimekritiker und Menschenrechtler müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 2.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 12.3.2021
AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 11.3.2020
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 12.3.2021
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (11.2019): Länderreport 21 Russische Föderation, LGBTI in Tschetschenien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/684671/685623/685628/6029277/21602088/Deutschland___Bundesamt_f%C3%Bcr_Migration_und_Fl%C3%Bcchtlinge%2C_L%C3%A4nderreport_21_%2D_Russische_F%C3%B6deration_%28Stand_November_2019%29%2C__November_2019.pdf?nodeid=21601757&vernum=-2 , Zugriff 12.3.2020
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 12.3.2021
HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html , Zugriff 11.3.2020
Moscow Times (7.2.2020): Prominent Russian Journalist, Lawyer Attacked in Chechnya, https://www.themoscowtimes.com/2020/02/07/prominent-russian-journalist-lawyer-attacked-in-chechnya-a69199 , Zugriff 26.3.2020
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (ÖB Moskau 12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf , Zugriff 12.3.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 12.3.2021
Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein
Letzte Änderung: 28.05.2021
Die tschetschenische Führung setzt ihren Angriff auf alle Formen von abweichender Meinung und Kritik fort (HRW 13.1.2021). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen Kritiker und Journalisten, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020). Ramsan Kadyrow versucht, dem Terrorismus und möglicher Rebellion in Tschetschenien unter anderem durch Methoden der Kollektivverantwortung zu begegnen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher (AA 2.2.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021). Auch Familienangehörige, Freunde und Bekannte oder andere mutmaßliche Unterstützer von Untergrundkämpfern können zur Verantwortung gezogen und bestraft werden (ÖB Moskau 6.2020). Verwandte von terroristischen Kämpfern stehen häufig unter dem Verdacht, diese zu unterstützen, und sind daher von Grund auf eher der Gefahr öffentlicher Demütigungen, Entführungen, Misshandlungen und Folter ausgesetzt (sog. Sippenhaft). Die Mitverantwortung wurde sogar durch Bundesgesetze festgelegt, so z.B. ein 2013 verabschiedetes Gesetz, das Familienangehörige von Terrorverdächtigen verpflichtet, für Schäden, die durch einen Anschlag entstanden sind, aufzukommen, und die Behörden in diesem Zusammenhang auch zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten der Familien ermächtigt. Es kommt vor, dass Personen, welchen die Unterstützung von Terroristen vorgeworfen wird, von Sicherheitskräften drangsaliert werden. Familienangehörige von mutmaßlichen Terroristen können ihre Arbeitsstelle verlieren, Kinder können Schwierigkeiten bei der Aufnahme in die Schule haben, jugendliche und erwachsene Söhne können Schwierigkeiten mit den tschetschenischen Sicherheitsorganen bekommen (inkl. unrechtmäßiger Festnahmen, Prügel, etc.) (ÖB Moskau 6.2020). Weiters hat Ramsan Kadyrow im Jänner 2017 die Sicherheitskräfte angewiesen, ohne Vorwarnung auf Rebellen zu schießen, um Verluste in den Reihen der Sicherheitskräfte zu vermeiden, und auch denen gegenüber keine Nachsicht zu zeigen, die von den Rebellen in 'die Irre geführt wurden' (Caucasian Knot 25.1.2017).
Angehörigen von Aufständischen bleiben laut Tanja Lokschina von Human Rights Watch in Russland nicht viele Möglichkeiten, um Kontrollen oder Druckausübung durch Behörden zu entkommen. Eine Möglichkeit ist es, die Republik Tschetschenien zu verlassen, was sich jedoch nicht jeder leisten kann, oder man sagt sich öffentlich vom aufständischen Familienmitglied los. Vertreibungen von Familien von Aufständischen kommen vor (Meduza 31.10.2017). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken. Die freie Wahl des Wohnorts gilt für alle Einwohner der Russischen Föderation, auch für jene des Nordkaukasus. Wird jemand allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es den Sicherheitsorganen möglich, diesen zu finden. Dies gilt nach Einschätzung von Experten auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können. Auf das Potential zur Instrumentalisierung dieser im Einzelfall bestehenden Gefährdungslage wird allerdings auch dann zurückgegriffen, wenn sozio-ökonomische Motive hinter dem Versuch der Migration nach Westeuropa stehen, wie auch von menschenrechtlicher Seite eingeräumt wird. Analysten weisen überdies auf den dynamischen Wandel des politischen Machtgefüges in Tschetschenien sowie gegenüber dem Kreml hin. Prominentes Beispiel dafür ist der Kadyrow-Clan selbst, der im Zuge der Tschetschenienkriege vom Rebellen- zum Vasallentum wechselte (ÖB Moskau 6.2020).
Salafisten werden als aktive oder potenzielle Extremisten und Terroristen wahrgenommen. Die Verfolgung von Salafisten passiert zu einem großen Teil über außergesetzliche Mechanismen, vor allem in Tschetschenien, wo seit Anfang der 2000er Jahre zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen und außergerichtlichen Hinrichtungen von Vertretern eines 'nicht traditionellen Islam' stattfanden, der jedoch oft keine Verbindung zum terroristischen Untergrund hatte (Memorial 10.2020). Die Anzahl der Rebellen in Tschetschenien ist schwer zu konkretisieren. Die Anzahl der tschetschenischen Rebellen ist sicherlich geringer als jene z.B. in Dagestan, wo der islamistische Widerstand sein Zentrum hat. Sie verstecken sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten Tschetscheniens und bewegen sich hauptsächlich zwischen Tschetschenien und Dagestan, weniger oft auch zwischen Tschetschenien und Inguschetien. Von tschetschenischen Sicherheitskräften werden Entführungen begangen. In Tschetschenien selbst ist der Widerstand nicht sehr aktiv, sondern hauptsächlich in Dagestan. Die Kämpfer würden im Allgemeinen auch nie einen Fremden um Vorräte, Nahrung, Medizin oder Unterstützung bitten, sondern immer nur Personen fragen, denen sie auch wirklich vertrauen, so beispielsweise Verwandte, Freunde oder Bekannte (DIS 1.2015).
Nach dem terroristischen Anschlag auf Grosny am 4.12.2014 nahm Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow die Verwandten der Attentäter in Sippenhaft. Kadyrow verlautbarte auf Instagram kurz nach der Tat, dass, wenn ein Kämpfer in Tschetschenien einen Mitarbeiter der Polizei oder einen anderen Menschen töte, die Familie des Kämpfers sofort ohne Rückkehrrecht aus Tschetschenien ausgewiesen werde. Ihr Haus werde zugleich bis auf das Fundament abgerissen. Tatsächlich beklagte einige Tage später der Leiter der tschetschenischen Filiale des 'Komitees gegen Folter', dass den Angehörigen der mutmaßlichen Täter die Häuser niedergebrannt worden sind (Standard.at 14.12.2014; vgl. Meduza 31.10.2017). Es handelte sich um 15 niedergebrannte Häuser (The Telegraph 17.1.2015; vgl. Meduza 31.10.2017). Ein weiterer Fall ist das 2016 niedergebrannte Haus von Ramasan Dschalaldinow. Er hatte sich in einem Internetvideo bei Präsident Putin über Behördenkorruption und Bestechungsgelder beschwert (RFE/RL 18.5.2016; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Ebenso wurden im Jahr 2016 nach einem Angriff von zwei Aufständischen auf einen Checkpoint in der Nähe von Grosny die Häuser ihrer Familien niedergebrannt (US DOS 3.3.2017). Auch Human Rights Watch berichtet im Jahresbericht 2016, dass Häuser niedergebrannt wurden [damit sind wohl die eben angeführten Fälle gemeint] (HRW 12.1.2017). Die Jahresberichte für das Jahr 2014 von Amnesty International (AI), US Department of States (US DOS), Human Rights Watch (HRW) und Freedom House (FH) berichten vom Niederbrennen von Häusern als Vergeltung für die oben genannte Terrorattacke auf Grosny vom Dezember 2014. 2017, 2018, 2019 und 2020 gab es in den einschlägigen Berichten keine Hinweise auf das Niederbrennen von Häusern (AI 22.2.2018, US DOS 20.4.2018, HRW 18.1.2018, FH 1.2018, US DOS 13.3.2019, HRW 17.1.2019, FH 4.2.2019, HRW 14.1.2020, FH 4.3.2020, US DOS 11.3.2020, HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, AA 2.2.2021).
Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen. Laut einer Analyse des Journalisten Vadim Dubow aus dem Jahr 2016 emigrierten die meisten Tschetschenen aus rein ökonomischen Gründen: Tschetschenien ist zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht erstreckt sich allerdings nicht über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Dieser Analyse wird von anderen Experten widersprochen. Wirtschaftliche Gründe spielten demnach eine untergeordnete Rolle bei der Entscheidung, Tschetschenien zu verlassen. Andere Kommentatoren verweisen wiederum auf die Rivalität zwischen verschiedenen islamischen Strömungen in Tschetschenien, insbesondere zwischen dem traditionellen Sufismus und dem als Fremdkörper kritisierten Salafismus. Menschenrechtsaktivisten wiederum sehen in der Darstellung von Asylwerbern aus Tschetschenien als Wirtschaftsflüchtlinge eine Strategie des regionalen Oberhaupts Kadyrow (ÖB Moskau 6.2020). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene Selimchan Changoschwili aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Der sehr prominente tschetschenische Separatistenpolitiker im Exil, Achmad Sakaew [Ministerpräsident der tschetschenischen Exilregierung und Vertreter von Itschkeria], gab 2020 eine Erklärung ab, in der er Folterungen in Tschetschenien verurteilte. Die tschetschenischen Behörden zwangen Sakaews Verwandte sofort, sich öffentlich von ihm loszusagen (HRW 13.1.2021).
Ramsan Kadyrow droht öffentlich und ungestraft damit, Bloggerwegen der Verbreitung von 'Zwietracht und Klatsch' einzuschüchtern, ins Gefängnis zu stecken und zu töten (AI 16.4.2020). Ein Beispiel hierfür ist der wohl populärste Kritiker Kadyrows. Der Blogger Tumso Abdurachmanow wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019). Mitte 2019 erklärte der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments und enger Vertrauter von Ramsan Kadyrow, Magomed Daudov (auch bekannt als 'Lord'), dem Blogger die Blutfehde (BBC 27.2.2020), nachdem Abdurachmanow den verstorbenen Vater von Ramsan Kadyrow, Achmad Kadyrow, als Verräter bezeichnet hatte (RFE/RL 27.2.2020). Im Februar 2020 wurde Abdurachmanow in seiner Wohnung von einem mit einem Hammer bewaffneten Mann angegriffen. Er konnte den Angreifer abwehren und hat überlebt (BBC 27.2.2020; vgl. RFE/RL 27.2.2020). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 mit 135 Stichwunden tot in einem Hotel im französischen Lille gefunden (SZ 4.2.2020; vgl. Zeit.de 5.7.2020). Der aus Tschetschenien stammende Imran Aliew war als Blogger unter dem Namen 'Mansur Stary' bekannt (Caucasian Knot 28.5.2020). Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Caucasian Knot hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Auf Youtube hatte der Tschetschene Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020). Im Juli 2020 wurde in Gerasdorf bei Wien ein weiterer politischer Blogger getötet. Der Mann, der sich Ansur aus Wien nannte, hat auf Youtube mehrere Videos veröffentlicht, in denen er den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow kritisierte. Die Angehörigen in Tschetschenien haben sich - vermutlich unter Druck - in einem Video von ihrem Verwandten distanziert. Gleichzeitig haben sie die Verantwortung für seine Tötung übernommen (Kurier.at 23.7.2020). Im September 2020 wurde Salman Tepsurkaew, Moderator eines Tschetschenien-kritischen Telegram-Kanals aus der Region Krasnodar vermutlich gewaltsam nach Tschetschenien verbracht. Anschließend wurde im Internet ein Video zirkuliert, auf dem er sich – offenbar unter Zwang – selbst sexuell erniedrigt. Er ist seitdem verschwunden, und tschetschenische Behörden verweigern bislang eine Aufklärung des Falls (AA 2.2.2021). Ein weiteres Beispiel ist der prominente Menschenrechtsaktivist und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien, Ojub Titiew, der nach Protesten aus dem In- und Ausland inzwischen unter Auflagen aus der Haft entlassen wurde. Er war wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes im März 2019 zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Er selbst und Familienangehörige haben nach Angaben von Memorial Tschetschenien verlassen (AA 2.2.2021).
Ein Sicherheitsrisiko für Russland stellt die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen. Der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB informierte im Dezember 2019, dass ca. 5.500 russische Bürger sich im Ausland einer terroristischen Organisation angeschlossen und an Kriegshandlungen teilgenommen haben und dass gegenüber 4.000 in Russland eine Strafverfolgung eingeleitet wurde. Von 337 zurückgekehrten Kämpfern sind 224 bereits verurteilt und 32 festgenommen worden. Etwa 3.000 der insgesamt 5.000 Kämpfer stammten aus dem Nordkaukasus. Laut einem Bericht des Conflict Analysis & Prevention Center vom März 2020 wurde von den Tausenden Kämpfern, die aus dem Nordkaukasus nach Syrien oder in den Irak zogen, der Großteil getötet. In den letzten Jahren repatriiert Russland aktiv die Kinder und zum Teil auch die Ehefrauen dieser Kämpfer zurück nach Russland. Laut einer Pressemeldung vom August 2020 wurden bisher 122 russische Kinder aus dem Irak und 35 aus Syrien nach Russland zurückgebracht, die Rückholung weiterer Kinder ist geplant. Der Umgang mit Familienangehörigen von (ehemaligen) Kämpfern variiert von Region zu Region. Die Maßnahmen reichen von Beobachtung, über soziale Diskriminierung bis zu strafrechtlichen Verurteilungen (ÖB Moskau 6.2020).
Laut einem Experten für den Kaukasus kehren nur sehr wenige IS-Anhänger nach Russland zurück. Bei einer Rückkehr aus Gebieten, die unter Kontrolle des sogenannten IS stehen, werden sie strafrechtlich verfolgt. Nachdem der sogenannte IS im Nahen Osten weitgehend bezwungen wurde, besteht die Möglichkeit, dass überlebende IS-Kämpfer nordkaukasischer Provenienz abgesehen von einer Rückkehr nach Russland entweder in andere Konfliktgebiete weiterziehen oder sich der Diaspora in Drittländern anschließen könnten. Daraus kann sich auch ein entsprechendes Sicherheitsrisiko für Länder mit umfangreichen tschetschenischen Bevölkerungsanteilen ergeben (ÖB Moskau 6.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 15.3.2021
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Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Letzte Änderung: 08.06.2021
Artikel 19 der russischen Verfassung garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau (ÖB Moskau 6.2020; vgl. GIZ 1.2021c). Zudem hat die Russische Föderation mehrere internationale und regionale Konventionen ratifiziert, die diese Gleichstellung festschreiben, darunter die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und ihr Zusatzprotokoll. Grundsätzlich gibt es in der Russischen Föderation keine systematische Diskriminierung von Frauen (ÖB Moskau 6.2020).
Frauen stellen in Russland traditionell die Mehrheit der Bevölkerung. Der weibliche Bevölkerungsanteil beträgt seit den 1920er Jahren zwischen 53% und 55% der Gesamtbevölkerung. Durch die Transformationsprozesse und den Übergang zur Marktwirtschaft sind die Frauen in besonderer Weise betroffen. Davon zeugt der erhebliche Rückgang der Geburtenrate. Die Veränderungen in den Lebensverhältnissen von Frauen betreffen auch den Arbeitsmarkt, denn das Risiko von Ausfallzeiten durch Schwangerschaft, Erziehungsurlaub und Pflege von Angehörigen führt oft dazu, dass Frauen trotz besserer Ausbildung seltener als Männer eingestellt werden. Das im Durchschnitt deutlich geringere Einkommen von Frauen bedeutet niedrigere Pensionen für ältere Frauen, die damit ein hohes Risiko der Altersarmut tragen (GIZ 1.2021c). Frauen mit kleinen Kindern gehören einer sozialen Gruppe an, die besonders von sozialer Unterstützung wie Lohnfortzahlung während des Mutterschutzes und dem sogenannten 'Mutterschaftskapital' Nutzen ziehen (vgl. Kapitel Sozialbeihilfen) (Russland Analysen 21.2.2020a).
Die politische Sphäre in Russland ist von Männern dominiert (GIZ 1.2021c). Frauen sind in Politik und Regierung unterrepräsentiert. Sie halten weniger als ein Fünftel der Sitze in der Duma und im Föderationsrat. Nur drei von 31 Kabinettsmitgliedern sind Frauen (FH 3.3.2021). In Russland herrscht noch immer ein konservatives Familienbild vor – die Frau als Hausfrau und Mutter. Jedoch sind Frauen in der Realität gezwungen, auch (Vollzeit) erwerbstätig zu sein, schon allein aufgrund der hohen Scheidungsrate. Daraus folgt logischerweise auch eine große Anzahl von alleinerziehenden Frauen (Russland Analysen 21.2.2020b).
Ein ernstes Problem, das von Politik und Gesellschaft weitgehend ausgeblendet wird, stellt die häusliche Gewalt dar (ÖB Moskau 6.2020; vgl. FH 3.3.2021, HRW 10.2018). Häusliche Gewalt wird von den Behörden kaum beachtet, stattdessen werden Opfer häuslicher Gewalt, die zur Selbstverteidigung den Täter töten, häufig inhaftiert. Bis zu 80% der in Russland inhaftierten Frauen dürften unter diese Kategorie fallen (FH 3.3.2021). Es gibt in Russland sowohl staatliche Krisenzentren (Frauenhäuser) als auch gesellschaftliche Organisationen und Privatinitiativen zur Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt. Das Zentrum ANNA etwa koordiniert ein informelles Netzwerk von Organisationen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und Kinder. Darin sind über 150 regionale und lokale NGOs aktiv. Es wurde auch eine interaktive Karte mit Zentren, die betroffene Frauen in den meisten Regionen Russlands unterstützen, erstellt (ÖB Moskau 6.2020). Offizielle Studien legen nahe, dass mindestens jede fünfte Frau in Russland irgendwann in ihrem Leben körperliche Gewalt durch ihren Ehemann oder Partner erlebt hat (HRW 10.2018). Nach offiziellen Statistiken ereignen sich 40% aller schweren Gewaltdelikte innerhalb der Familien. Es gibt kein System zur Prävention und es gibt zu wenig Einrichtungen, in denen Frauen mit Kindern vorübergehend Zuflucht suchen können. Die Polizei bleibt oft passiv und geht z.B. Anzeigen nicht mit genügend Nachdruck oder zuweilen gar nicht nach (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2020, US DOS 11.3.2020, HRW 10.2018). Experten schätzen, dass 60% bis 70% der Fälle von häuslicher Gewalt nicht gemeldet werden (US DOS 11.3.2020). Trotz der weiten Verbreitung des Problems gibt es grobe Mängel bei der Bewusstseinsbildung darüber, auch innerhalb der politischen Elite. Durch eine Gesetzesänderung im Jänner 2017, wurde häusliche Gewalt im Erstfall zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021), wenn sie zu keinen dauerhaften körperlichen Schäden führt (FH 3.3.2021). 2017 wurde die Kampagne 'We demand to adopt the domestic violence law' gestartet, die über 900.000 Unterstützer fand. Ende 2019 wurde ein neuer Gesetzesentwurf zur Vorbeugung von häuslicher Gewalt ins russische Parlament eingebracht, dessen Behandlung bis zum Ende der Coronavirus-Epidemie aber ausgesetzt wurde. Im Jänner 2019 wurde ein EU-finanziertes Projekt des Europarats und der Russischen Föderation zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen lanciert, das auch von der russischen Ombudsfrau für Menschenrechte begrüßt wurde (ÖB Moskau 6.2020). Häusliche Gewalt bleibt lückenhaft dokumentiert und die Dienste für Überlebende sind unzureichend (HRW 13.1.2021). Mehrere Politiker und Experten, die sich für ein robustes Gesetz gegen häusliche Gewalt einsetzen, berichteten von Drohungen gegen sie und ihre Familien, unter anderem durch diejenigen, die behaupten, 'traditionelle' oder 'familiäre' Werte zu fördern (HRW 13.1.2021; vgl. AI 16.4.2020). Russlands Ombudsperson stellte fest, dass die häusliche Gewalt während der Covid-19-Pandemie zugenommen hat und sich die gemeldeten Fälle während des Lockdowns im Frühjahr 2020 mehr als verdoppelt haben (HRW 13.1.2021).
Vergewaltigung ist illegal und das Gesetz sieht dieselbe Strafe für einen Täter vor, egal ob er aus der Familie stammt oder nicht. Das Strafmaß für Vergewaltigung sind drei bis sechs Jahre Haft für einen Einzeltäter mit zusätzlicher Haft bei erschwerenden Umständen. Laut NGOs würden Exekutivbeamte und Staatsanwälte Vergewaltigung durch Ehemänner bzw. durch Bekannte keine Priorität einräumen (US DOS 11.3.2020). NGOs berichten außerdem, dass lokale Polizisten sich weigern würden, auf Anrufe in Bezug auf Vergewaltigung und häusliche Gewalt zu reagieren, solange sich das Opfer nicht in einer lebensbedrohlichen Situation befindet (US DOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017).
NGOs stellten fest, dass der Zugang zu Notunterkünften oft kompliziert ist, da sie einen Wohnsitznachweis in dieser bestimmten Gemeinde sowie einen Nachweis über den Status eines Niedrigeinkommens benötigen. In vielen Fällen werden diese Dokumente von den Tätern verwaltet und stehen den Opfern deshalb nicht zur Verfügung (US DOS 11.3.2020). Krisenzentren und Notunterkünfte von NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Erbringung von Dienstleistungen für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen. Diese sind auf staatlicher Ebene oft nicht verfügbar und es gibt Fälle, in denen Frauen, bevor sie in NGO-Einrichtungen kamen, von staatlichen Einrichtungen abgewiesen wurden (HRW 10.2018). Aufgrund finanzieller Engpässe und staatlicher Beschränkungen bei der Beschaffung ausländischer Mittel haben NGOs Schwierigkeiten, ausreichend viele Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. In Großstädten gibt es staatliche Unterkünfte, die dringende Hilfe, wie zum Beispiel 'Krisenwohnungen' zur Verfügung stellen können. Neben staatlichen und NGO-Einrichtungen gibt es auch religiöse Einrichtungen der Russisch-Orthodoxen, der Katholischen und der Baptisten-Kirche, die Opfern von häuslicher Gewalt Hilfe bereitstellen. Um in eine staatliche Einrichtung aufgenommen zu werden, müssen Frauen oft eine ganze Reihe von Dokumenten mitbringen, wie beispielsweise Meldezettel, Reisepass, eine Überweisung von Sozial- oder Kinderschutzdiensten, eine persönliche schriftliche Erklärung, warum die Person Hilfe benötigt, ärztliche Atteste mit Angaben zu allen Impfungen und in einigen Fällen sogar Röntgenaufnahmen. Wenn eine Frau Kinder hat, muss sie auch für jedes ihrer Kinder Gesundheitsunterlagen vorlegen. Der Prozess der Beschaffung all dieser Dokumente kann bis zu zwei Wochen dauern, in einigen Fällen auch länger (HRW 10.2018).
Quellen:
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GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 19.2.2021
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HRW – Human Rights Watch (10.2018): 'I Could Kill You and No One Would Stop Me' Weak State Response to Domestic Violence in Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1447924/3175_1540546740_russia1018-web3.pdf , Zugriff 5.3.2021
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Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 5.3.2021
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Frauen im Nordkaukasus, insbesondere in Tschetschenien
Letzte Änderung: 28.05.2021
Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich zum Teil von der in anderen Regionen Russlands. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind laut NGOs nach wie vor ein Problem in Tschetschenien (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021), aber auch in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan. Verlässliche Statistiken dazu gibt es kaum. Die Gewalt gegen Frauen bleibt in der Region ein Thema, dem von Seiten der Regional- und Zentralbehörden zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Erschwert wird die Situation durch die Koexistenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, dem Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt, lokale Behörden richten sich mehr nach Traditionen als nach den russischen Rechtsvorschriften. Insbesondere der Fokus auf traditionelle Werte und Moralvorstellungen, die in der Republik Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow propagiert werden, schränkt die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. Das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sprach im Rahmen seiner Empfehlungen an die Russische Föderation in diesem Zusammenhang von einer 'Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit' (ÖB Moskau 6.2020). Die Heirat einer 17-jährigen Tschetschenin mit einem 47-jährigen örtlichen Polizeichef im Frühjahr 2015 gilt als Beispiel für die verbreitete Praxis von Zwangsehen. Außerdem weist sie auf eine Form der Polygamie hin, die zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich ist (AA 13.2.2019).
Unter sowjetischer Herrschaft waren tschetschenische Frauen durch die russische Gesetzgebung geschützt. Polygamie, Brautentführungen und Ehrenmorde wurden bestraft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion löste sich der Schutz durch russisches Recht für Frauen allmählich auf, gleichzeitig kam es zu einem stärkeren Einfluss von Adat und Scharia. Unter Republiksoberhaupt Kadyrow ist die tschetschenische Gesellschaft traditioneller geworden. Nach Aussagen eines tschetschenischen Rechtsanwalts werden Frauen sowohl nach islamischem als auch nach dem Adatrecht hoch geschätzt. Die Wirklichkeit im Tschetschenien von heute sieht jedoch so aus, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet ist und sich die Lage für Frauen äußerst schwierig gestaltet (EASO 9.2014; vgl. Welt.de 14.2.2017, openDemocracy 7.8.2020). Gewalttätige Ehemänner werden selten bestraft, die Schuld wird üblicherweise der Frau zugeschoben (openDemocracy 7.8.2020). Auch die Religion ist ein Rückschlag für die Frauen und stellt sie in eine den Männern untergeordnete Position (EASO 9.2014; vgl. Welt.de 14.2.2017). Es ist nicht klar, ob Scharia oder Adat wichtiger für die tschetschenische Gesellschaft sind. Jedoch kann nur das russische Recht Frauen effektiv schützen. Es wird berichtet, dass die Scharia immer wichtiger wird, und auch Kadyrow selbst – obwohl er sowohl Adat als auch Scharia betont – sich eher auf die Scharia bezieht. Das Adat-Recht dürfte aber besonders bei Hochzeitstraditionen eine dominante Rolle spielen (EASO 9.2014).
Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstellt, gehört in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag (Welt.de 14.2.2017; vgl. openDemocracy 7.8.2020). Zivilgesellschaftliche Initiativen widmen sich der Unterstützung nordkaukasischer Frauen und bieten etwa psychologische, rechtliche und medizinische Hilfe an: z.B. die Organisationen 'Women for Development' und 'SINTEM' in Tschetschenien und 'Mat‘ i Ditja' (Mutter und Kind) in Dagestan (ÖB Moskau 6.2020). Im Jahr 2019 eröffnete in Tschetschenien die Organisation Women for Development - eine der ältesten und angesehensten Organisationen in Tschetschenien - mit Unterstützung des Zuschussprogramms für NGOs ein Krisenzentrum für Frauen. Es gab auch Pläne, ein Frauenhaus zu eröffnen; aufgrund der engen familiären Bindungen, die in der Republik herrschen, wäre es aber schwierig gewesen, die Einrichtung vor Männern und ihren Familien geheim zu halten, darum scheiterte dieses Vorhaben. Beamte haben das hohe Maß an Scheidung und häuslicher Gewalt anerkannt und ein Komitee zur Verhütung von Familienkonflikten unter dem Spirituellen Ausschuss der Muslime der Republik Tschetschenien eingerichtet. Mehrere NGOs, die Teil der Koalition der Frauen-NGOs im Nordkaukasus sind, arbeiten an den Themen häusliche Gewalt und Unterstützung für Frauen. 'Zulässige' Themen müssen jedoch in die allgemeine Logik traditioneller, kultureller, spiritueller, religiöser und nationaler Bräuche und Werte passen. Es ist auch wichtig anzumerken, dass die Mehrheit der NGO-Direktoren und Mitarbeiter in Tschetschenien Frauen sind. Der Ausweg aus der humanitären Nachkriegskrise lag direkt auf den Schultern der Frauen, da sich die Mehrheit der männlichen Bevölkerung nicht frei bewegen konnte und ständigen Bedrohungen und Kontrollen ausgesetzt war. Da Frauen in Tschetschenien, als Folge der lokalen traditionellen Kultur, als verantwortlich für Empathie und Fürsorge angesehen werden, sind sie diejenigen, die die meisten gemeinnützigen und sozialen Projekte zusammenstellen, als Psychologinnen arbeiten, sich freiwillig für Kinder engagieren und sich mit den Themen von Familien mit niedrigem Einkommen und Menschen mit Behinderungen beschäftigen (CSIS 1.2020).
In Dagestan werden Geschlechterfragen und Frauenrechte in der Arbeit von Malikat Jabirowas Organisation 'Mat i Ditja' (Mutter und Kind) sowie von der unabhängigen Journalistin Swetlana Anochina mit ihrem 'Daptar'-Projekt und ihrer Gruppe 'Väter und Töchter' behandelt, obwohl diese Initiativen nicht die einzigen sind, die in diesem Bereich aktiv sind (CSIS 1.2020).
Vergewaltigung ist laut Artikel 131 des russischen Strafgesetzbuches ein Straftatbestand. Das Ausmaß von Vergewaltigungen in Tschetschenien und anderen Teilen der Region ist unklar, da es im Allgemeinen so gut wie keine Anzeigen gibt, trotzdem ist davon auszugehen, dass Vergewaltigung in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus weit verbreitet ist. Vergewaltigung in der Ehe wird nicht als Vergewaltigung angesehen. Vergewaltigungen passieren auch in Polizeistationen. Es handelt sich um ein Tabuthema in Tschetschenien. Einer vergewaltigten Frau haftet ein Stigma an. Sie wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, wenn die Vergewaltigung publik wird. Auch die Familie wird isoliert und stigmatisiert, und es ist nicht unüblich, dass die Familie eine vergewaltigte Frau wegschickt. Die vorherrschende Einstellung ist, dass eine Frau selbst schuld an einer Vergewaltigung sei. Bei Vergewaltigung von Minderjährigen gestaltet sich die Situation etwas anders. Hier wird die Minderjährige eher nicht als an der Vergewaltigung schuldig angesehen, wie es einer erwachsenen Frau passieren würde. Insofern ist die Schande für die Familie auch nicht so groß (EASO 9.2014). Die Täter werden oft nicht bestraft (openDemocracy 7.8.2020).
Es ist in Tschetschenien üblich, die Ehe auf muslimische Art – durch einen Imam – zu schließen. Solch eine Hochzeit ist jedoch nach russischem Recht nicht legal, da sie weder vor einem Standesbeamten geschlossen noch registriert ist. Nach russischem Recht wird sie erst nach der Registrierung bei der Behörde ZAGS legal, die nicht nur Eheschließungen registriert, sondern auch Geburten, Todesfälle, Adoptionen usw. Da die Registrierung mühsam ist und auch eine Scheidung verkompliziert, sind viele Ehen im Nordkaukasus nicht registriert. Eine Registrierung wird oft nur aus praktischen Gründen vorgenommen, beispielsweise in Verbindung mit dem ersten Kind. Der Imam kann eine muslimische Hochzeit auch ohne Anwesenheit des Bräutigams schließen, jedoch ist laut Scharia die Anwesenheit der Frau nötig (EASO 9.2014).
In den letzten Jahren repatriierte Russland aktiv die Kinder und zum Teil auch die Ehefrauen von Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates zurück nach Russland. Laut einer Pressemeldung vom August 2020 wurden bisher 122 russische Kinder aus dem Irak und 35 aus Syrien nach Russland zurückgebracht, die Rückholung weitere Kinder sei geplant (ÖB Moskau 6.2020). In Tschetschenien war es weiblichen Rückkehrerinnen gestattet, nach Hause zurückzukehren, in Dagestan wurden Frauen, angesichts aktiver weiblicher Beteiligung im Aufstand, als Sicherheitsrisiko wahrgenommen und zu ca. sieben Jahren Haft verurteilt, wobei die Haftstrafe aufgrund Fürsorgepflichten für kleine Kinder aufgeschoben wurde, bis die Kinder 14 Jahre alt sind (ÖB Moskau 6.2020; vgl. The Guardian 2.3.2019).
Weibliche Beschneidung kommt in Teilen von Dagestan vor. Etwa 1240 Mädchen werden jährlich einer Genitalverstümmelung unterzogen (Human Rights Center 'Memorial'; OVD-Info; Stichting Justice Initiative; et al. 6.2020; vgl. Caucasian Knot 19.6.2020). In Tschetschenien wurden ältere Frauen einer weiblichen Beschneidung unterzogen (Caucasian Knot 19.6.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf , Zugriff 24.2.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021
Caucasian Knot (19.6.2020): Dagestan becomes centre of female circumcision problem in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51240/ , Zugriff 9.4.2021
CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://www.csis.org/analysis/civil-society-north-caucasus , Zugriff 24.2.2021
EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautenführung; Waisenhäuser), https://www.ecoi.net/en/file/local/1154982/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf , Zugriff 24.2.2021
Human Rights Center 'Memorial'; OVD-Info; Stichting Justice Initiative; et al. (Autor), veröffentlicht von UN Human Rights Committee (6.2020): Russia’s Compliance with the International Covenant on Civil and Political Rights; Suggested List of Issues; Submitted for the consideration of the 8th periodic report by the Russian Federation for the 129th Session of the Human Rights Committee, https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CCPR/Shared%20Documents/RUS/INT_CCPR_ICO_RUS_42488_E.pdf , Zugriff 9.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 19.2.2021
openDemocracy (7.8.2020): After a Chechen woman died, a journalist was targeted with death threats. Here’s why, https://www.opendemocracy.net/en/odr/after-a-chechen-woman-died-a-journalist-was-targeted-with-death-threats-heres-why/ , Zugriff 30.3.2021
The Guardian (2.3.2019): 'We aren't dangerous': Why Chechnya has welcomed women who joined Isis, https://www.theguardian.com/world/2019/mar/02/we-arent-dangerous-why-chechnya-has-welcomed-women-who-joined-isis , Zugriff 19.2.2021
Welt.de (14.2.2017): Immer ein echter Mann zu sein – das ist eine Last, https://www.welt.de/politik/ausland/article161562501/Immer-ein-echter-Mann-zu-sein-das-ist-eine-Last.html , Zugriff 19.2.2021
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 10.06.2021
In der Russischen Föderation herrscht laut Gesetz Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 11.3.2020). In einigen Fällen schränkten die Behörden diese Rechte jedoch ein. Die meisten Russen können jederzeit ins Ausland reisen, aber ca. vier Millionen Mitarbeiter des Militär- und Sicherheitsdiensts wurden nach den im Jahr 2014 erlassenen Regeln vom Auslandsreiseverkehr ausgeschlossen (US DOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021).
Tschetschenen steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern [auch Inguschen, Dagestanern etc.], das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort [temporäre Registrierung] und ihren Wohnsitz [permanente Registrierung] melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Wer zur Miete wohnt, benötigt eine Bescheinigung seines Vermieters und wird damit vorläufig registriert. In diesen Fällen erfolgt keine Eintragung in den Inlandspass (AA 2.2.2021). Einige regionale Behörden schränken die Registrierung vor allem von ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein [bez. Registrierung vgl. Kapitel Meldewesen] (FH 3.3.2021).
Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich problemlos in andere Teile der Russischen Föderation reisen. Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten ist stark angewachsen; 200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben. Sie treffen allerdings immer noch auf anti-kaukasische Einstellungen (AA 2.2.2021; vgl. ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017).
Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments wieder in die Russische Föderation einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 2.2.2021). Personen, die innerhalb des Landes reisen, müssen ihren Inlandsreisepass mit sich führen (US DOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021). Der Inlandspass ermöglicht auch die Abholung der Pension vom Postamt, die Arbeitsaufnahme und die Eröffnung eines Bankkontos (AA 21.5.2018; vgl. FH 3.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 6.4.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf , Zugriff 6.4.2021
ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH (International Federation for Human Rights) (2017): Racism, Discrimination and Fight Against Extremism in Contemporary Russia and its Controlled Territories. Alternative Report on the Implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination by the Russian Federation, https://www.fidh.org/IMG/pdf/cerdengen.pdf , Zugriff 6.4.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 6.4.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 6.4.2021
Meldewesen
Letzte Änderung: 10.06.2021
Laut Gesetz müssen sich Bürger der Russischen Föderation an ihrem permanenten und temporären Wohnort registrieren (EASO 8.2018; vgl. AA 2.2.2021, US DOS 11.3.2020). Die Registrierung ist nichts anderes als eine Benachrichtigung für die Behörde, wo eine Person wohnt, und funktioniert relativ problemlos (DIS 1.2015; vgl. EASO 8.2018). Die Registrierung des Wohnsitzes erfolgt entweder in einer lokalen Niederlassung des Innenministeriums (MVD), über das Onlineportal für öffentliche Dienstleistungen Gosuslugi oder per E-Mail (nur für die temporäre Registrierung). Man kann neben einer permanenten Registrierung auch eine temporäre Registrierung haben, z.B. in einem Hotel, in einer medizinischen Einrichtung, in einem Gefängnis, in einer Wohnung, etc. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, den Hauptwohnsitz zu ändern. Hierzu muss man die permanente Registrierung innerhalb von sieben Tagen ändern. Um sich zu registrieren, braucht man einen Pass, einen Antrag auf Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man berechtigt ist, sich an einer bestimmten Adresse zu registrieren, wie z.B. einen Mietvertrag. Die permanente Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt. Die Beendigung einer permanenten Registrierung muss von der jeweiligen Person veranlasst werden. Dies muss aber nicht bei den Behörden an der alten Adresse geschehen, sondern kann von der neuen Adresse aus beantragt werden. Auch die Beendigung einer Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt (EASO 8.2018).
Wenn eine Person vorübergehend an einer anderen Adresse als dem Hauptwohnsitz (permanente Registrierung) wohnt, muss eine temporäre Registrierung vorgenommen werden, wenn der Aufenthalt länger als 90 Tage dauert. Die Registrierung einer temporären Adresse beeinflusst die permanente Registrierung nicht. Für die temporäre Registrierung braucht man einen Pass, einen Antrag auf temporäre Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man zur Registrierung berechtigt ist. Nach der Registrierung bekommt man ein Dokument, das die temporäre Registrierung bestätigt. Die temporäre Registrierung endet automatisch mit dem Datum, das man bei der Registrierung angegeben hat. Eine temporäre Registrierung in Hotels, auf Camping-Plätzen und in medizinischen Einrichtungen endet automatisch, wenn die Person die Einrichtung verlässt. Wenn eine Person früher als geplant den temporären Wohnsitz verlässt, sollten die Behörden darüber in Kenntnis gesetzt werden (EASO 8.2018).
Eine Registrierung ist für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar. Diese ermöglicht außerdem den Zugang zu Sozialhilfe (Arbeitslosengeld, Pension, etc.) und staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (BAA 12.2011; vgl. ÖB Moskau 6.2020).
Es kann für alle Bürger der Russischen Föderation zu Problemen beim Registrierungsprozess kommen. Es ist möglich, dass Migranten aus dem Kaukasus zusätzlich kontrolliert werden (ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017). In der Regel ist die Registrierung aber auch für Tschetschenen kein Problem, auch wenn es möglicherweise zu Diskriminierung oder korruptem Verhalten seitens der Beamten kommen kann. Im Endeffekt bekommen sie die Registrierung (DIS 1.2015; vgl. EASO 8.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 6.4.2021
ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH (International Federation for Human Rights) (2017): Racism, Discrimination and Fight Against Extremism in Contemporary Russia and its Controlled Territories. Alternative Report on the Implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination by the Russian Federation, https://www.fidh.org/IMG/pdf/cerdengen.pdf , Zugriff 6.4.2021
BAA Staatendokumentation [Österreich] (12.2011): Forschungsaufenthalt der Staatendokumentation. Bericht zum Forschungsaufenthalt Russische Föderation – Republik Tschetschenien
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 6.4.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (8.2018): Country of Origin Information Report Russian Federation. The situation for Chechens in Russia, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/Chechens_in_RF.pdf , Zugriff 6.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 6.4.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 6.4.2021
Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation und Westeuropas
Letzte Änderung: 10.06.2021
Die Bevölkerung in Tschetschenien ist inzwischen laut offiziellen Zahlen auf 1,5 Millionen angewachsen. Laut Aussagen des Republiksoberhaupts Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in Russland, die andere Hälfte im Ausland. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2020). Zwischen 2008 und 2015 haben laut offiziellen Zahlen 150.000 Tschetschenen die Republik verlassen. Sie zogen sowohl in andere Regionen in der Russischen Föderation als auch ins Ausland. Als Gründe für die Abwanderung werden ökonomische, menschenrechtliche und gesundheitliche Gründe genannt. In Tschetschenien arbeiten viele Personen im informellen Sektor und gehen daher zum Arbeiten in andere Regionen, um Geld nach Hause schicken zu können. Tschetschenen leben überall in der Russischen Föderation (EASO 8.2018). Laut der letzten Volkszählung von 2010 leben die meisten Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens, z.B. in Moskau (über 14.000 Personen), in Inguschetien (knapp 19.000 Personen), in der Region Rostow (über 11.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen), in Dagestan (über 93.000 Personen), in der Region Wolgograd (knapp 10.000 Personen) und in der Region Astrachan (über 7.000 Personen) (EASO 8.2018; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Die Zahlen sind aber nicht sehr verlässlich, da bei der Volkszählung ein großer Teil der Bevölkerung die ethnische Zugehörigkeit nicht angab. Beispielsweise soll die tschetschenische Bevölkerung in der Region Wolgograd um das doppelte höher sein, als die offiziellen Zahlen belegen. Viele Tschetschenen leben dort seit 30 Jahren und sind in unterschiedlichsten Bereichen tätig. In St. Petersburg beispielsweise sollen laut Volkszählung knapp 1.500 Tschetschenen leben, aber allein während des zweiten Tschetschenienkrieges (1999-2009) kamen 10.000 Tschetschenen aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen in Tschetschenien in die Stadt, um in St. Petersburg zu leben und zu arbeiten. Die soziale Zusammensetzung der tschetschenischen Bevölkerung dort ist unterschiedlich, aber die meisten sprechen ihre Landessprache und halten die nationalen Traditionen hoch. Tschetschenen in St. Petersburg sehen sich selbst nicht unbedingt als eine engmaschige Diaspora. Sie werden eher durch kulturelle Aktivitäten, die beispielsweise durch die offizielle Vertretung der tschetschenischen Republik oder den sogenannten „Wajnach-Kongress“ (eine Organisation, die oft auch als 'tschetschenische Diaspora' bezeichnet wird) veranstaltet werden, zusammengebracht. Auch in Moskau ist die Anzahl der Tschetschenen um einiges höher, als die offiziellen Zahlen zeigen. Gründe hierfür sind, dass viele Tschetschenen nicht an Volkszählungen teilnehmen wollen, oder auch, dass viele Tschetschenen zwar in Moskau leben, aber in Tschetschenien ihren Hauptwohnsitz registriert haben [vgl. hierzu Kapitel Bewegungsfreiheit, bzw. Meldewesen] (EASO 8.2018). In vielen Regionen gibt es offizielle Vertretungen der tschetschenischen Republik, die kulturelle und sprachliche Programme organisieren und auch die Rechte von einzelnen Personen schützen (Telegraph 24.2.2016; vgl. EASO 8.2018). Diese kleinen Büros versuchen auch, den Handel zwischen den Regionen zu fördern. In ganz Russland gibt es ein Netz von 50 dieser offiziellen Vertretungen der tschetschenischen Republik. Obwohl es den Büros prinzipiell möglich wäre, Informationen zu einer bestimmten Person nach Grosny weiterzuleiten, können diese Vertretungen nicht als Knotenpunkt für das Sammeln von Informationen angesehen werden. Sie tätigen auch sonst keine weiteren, direkteren Aktionen. Obwohl die tschetschenischen Gemeinden in Russland Kadyrow teilweise behilflich bei der Ausübung von Druck auf hochrangige/bekannte Kritiker sind, scheint es keine Beweise zu geben, dass sie Informationen weitergeben (Galeotti 2019).
Laut einer Analyse der Jamestown Foundation soll die tschetschenische Diaspora in Europa rund 150.000 Personen umfassen, die tschetschenische Diaspora in Österreich zählt rund 35.000 Personen. Das tschetschenische Republiksoberhaupt hat verlautbart, die Bande zu den tschetschenischen Gemeinschaften außerhalb der Teilrepublik aufrechterhalten zu wollen, wobei unabhängigen Medien zufolge auch Familienmitglieder in Tschetschenien für als ungebührlich empfundenes Verhalten Angehöriger im Ausland gemaßregelt bzw. unter Druck gesetzt werden. Abgesehen davon sind auch vereinzelte Fälle gezielter Tötungen politischer Gegner im Ausland bekannt geworden. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können (ÖB Moskau 6.2020). Viele Personen innerhalb der Elite, einschließlich der meisten Leiter des Sicherheitsapparates, misstrauen und verachten Kadyrow (Al Jazeera 28.11.2017). Trotz der Rhetorik des tschetschenischen Oberhauptes gelten dessen Möglichkeiten zur Machtentfaltung außerhalb der Grenzen der Teilrepublik als beschränkt, und zwar nicht nur formell im Lichte der geltenden russischen Rechtsordnung, sondern auch faktisch durch die offenkundige Konkurrenz zu den föderalen Sicherheitskräften. Allein daraus ist zu folgern, dass die umfangreiche tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands nicht unter der unmittelbaren Kontrolle von Kadyrow steht. Wie konkrete Einzelfälle aus der Vergangenheit zeigen, können kriminelle Akte gegen Regimegegner im In- und Ausland allerdings nicht ausgeschlossen werden (ÖB Moskau 6.2020).
Grundsätzlich können Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens an einen anderen Ort in der Russischen Föderation flüchten und dort leben. Dies gilt für alle Einwohner des Nordkaukasus. Wird jemand allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es für die Behörden möglich, diesen aufzufinden und zurück in den Nordkaukasus zu bringen. Dies gilt nach Einschätzung von Experten aber auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist (ÖB Moskau 6.2020). Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen (AA 2.2.2021). Es kann sein, dass die tschetschenischen Behörden nicht auf diese offiziellen Wege zurückgreifen, da diese häufig lang dauern und so ein Fall auch schlüssig begründet sein muss (DIS 1.2015). Trotz der Rolle nationaler Datenbanken und Registrierungsgesetze, die eine Rückverfolgung von Personen ermöglichen, besteht für betroffene Personen ein gewisser Spielraum, Anonymität und Sicherheit in Russland zu finden, allerdings abhängig von den spezifischen Umständen. Die russischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sind im Allgemeinen oft nicht bereit, als tschetschenische Vollstrecker aufzutreten, da sie oft skeptisch gegenüber Forderungen aus Grosny sind. Die föderalen Sicherheitsbehörden machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt wurden, und von jenen, welchen nur vorgeworfen wird, Verbrechen begangen zu haben. Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Tschetschene, der von Tschetschenien aus verfolgt wird, anderswo in Russland aktiv misshandelt wird, wenn nicht bereits ein Gerichtsurteil ergangen ist oder andere Behörden - im Wesentlichen der Inlandsgeheimdienst FSB, Generalstaatsanwaltschaft, Untersuchungskommission- davon überzeugt sind, dass ein substanzielles politisches Fehlverhalten oder ein Fall von organisierter Kriminalität vorliegt (Galeotti 2019). Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich aber häufig auch in russischen Großstädten vor Ramsan Kadyrow nicht sicher (AA 2.2.2021), da bewaffnete Kräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, auch in Moskau präsent sind (AA 2.2.2021; vgl. EASO 8.2018, New York Times 17.8.2017). Wie viele bewaffnete tschetschenische Kräfte es in Moskau gibt, ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist immer wieder die Rede davon, dass Kadyrow tausend, wenn nicht sogar Tausende Loyalisten aufbringen kann, die fähig und bereit sind, gegen das Gesetz zu handeln. Dies scheint jedoch höchst fragwürdig. Es gibt auch weniger als hundert Beamte, die offiziell bei den tschetschenischen Sicherheitskräften akkreditiert sind und berechtigt sind, in Moskau zu operieren (Galeotti 2019).
Relative Anonymität und Sicherheit bieten russische Städte, die groß genug sind, um als Neuankömmling nicht aufzufallen, und die weniger stark polizeilich überwacht sind als beispielsweise Moskau und St. Petersburg. Moskau und St. Petersburg sind insofern 'gefährlicher', als sie tendenziell dichter kontrolliert werden, ihre Kommunikationsinfrastruktur moderner ist und die Behörden wachsamer sind. Viel schwieriger ist es, sich in Moskau versteckt zu halten, da hier zum Beispiel viele Dokumentenkontrollen durchgeführt werden, routinemäßig bei Benutzung der U-Bahn die Registrierungen von Mobiltelefonen überprüft und neue Gesichtserkennungssysteme erprobt werden, die mit Straßenkameras verbunden sind. In geringerem Maße gilt vieles davon auch für St. Petersburg (Galeotti 2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 6.4.2021
Al Jazeera (28.11.2017): Is Chechnya's Kadyrov really 'dreaming' of quitting? https://www.aljazeera.com/opinions/2017/11/28/is-chechnyas-kadyrov-really-dreaming-of-quitting , Zugriff 6.4.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (8.2018): Country of Origin Information Report Russian Federation. The situation for Chechens in Russia, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/Chechens_in_RF.pdf , Zugriff 6.4.2021
Galeotti, Mark (2019): License to kill? The risk to Chechens inside Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2012286/Galeotti-Mayak-RUF-2019-06-License+to+Kill+-+Chechens+in+the+RF+2019.pdf , Zugriff 6.4.2021
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 6.4.2021
New York Times (17.8.2017): Is Chechnya Taking Over Russia?, https://www.nytimes.com/2017/08/17/opinion/chechnya-ramzan-kadyrov-russia.html?ref=opinion , Zugriff 6.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 6.4.2021
Telegraph (24.2.2016): Ramzan Kadyrov: Putin's 'sniper' in Chechnya, http://s.telegraph.co.uk/graphics/projects/Putin-Ramzan-Kadyrov-Boris-Nemtsov-Chechnya-opposition-Kremlin/index.html, Zugriff 6.4.2021
Grundversorgung
Letzte Änderung: 10.06.2021
2019 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland ca. 73 Millionen, somit ungefähr 62% der Gesamtbevölkerung. Der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt knapp 49% (WKO 4.2021). Die Arbeitslosigkeit befindet sich im Landesdurchschnitt auf einem moderaten Niveau (GIZ 1.2021b) und wird für das Jahr 2021 auf 5,2% prognostiziert (Statista 19.10.2020). Sie kann regional jedoch stark abweichen. Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 2019). Das BIP lag 2020 bei ca. 1.474 Milliarden US-Dollar. Dies entspricht einem Rückgang um ca. 3%(WKO 4.2021).
Russland ist einer der größten Rohstoffproduzenten der Welt und verfügt mit einem Viertel der weltweiten Gasreserven (25,2%), circa 6,3% der weltweiten Ölreserven und den zweitgrößten Kohlereserven (19%) über bedeutende Ressourcen. Die mangelnde Diversifizierung der russischen Wirtschaft führt jedoch zu einer überproportional hohen Abhängigkeit der Wirtschaftsentwicklung von den Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas. Rohstoffe stehen für ca. 70% der Exporte und finanzieren zu rund 50% den Staatshaushalt. Die Staatsverschuldung in Russland ist mit rund 10% des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar. Strukturdefizite, Finanzierungsprobleme und Handelseinschränkungen durch Sanktionen seitens der USA, Kanadas, Japans und der EU bremsten das Wirtschaftswachstum. Insbesondere die rückläufigen Investitionen und die Fokussierung staatlicher Finanzhilfen auf prioritäre Bereiche verstärken diesen Trend. Das komplizierte geopolitische Umfeld und die Neuausrichtung der Industrieförderung führen dazu, dass Projekte vorerst verschoben werden. Wirtschaftlich nähert sich Russland China an. Im Index of Economic Freedom nimmt Russland 2020 den 94. Platz [2019 Platz 98] unter 180 Ländern ein. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung aus. Seit Anfang 2014 hat die Landeswährung mehr als ein Drittel ihres Wertes im Vergleich zum Euro verloren, was unter anderem an den westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise und dem fallenden Ölpreis liegt. Durch den Währungsverfall sind die Preise für Verbraucher erheblich gestiegen. Die Erhöhung des allgemeinen Satzes der Mehrwertsteuer von 18% auf 20% am Jahresanfang 2019 belastete die Verbrauchernachfrage. Das Wirtschaftsministerium prognostiziert für das Wirtschaftswachstum 2021 nur ein Plus von 2,8%. Langfristig befürchten Ökonomen und Behörden ein Erlahmen der Konjunktur, wenn strukturelle Reformen ausbleiben. Diese seien wegen des Rückgangs der erwerbstätigen Bevölkerung und der starken Abhängigkeit Russlands vom Öl- und Gasexport erforderlich (GIZ 1.2021b).
Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen. Staatliche Hilfe können Menschen mit Beeinträchtigungen, Senioren und Kinder unter drei Jahren erwarten. Fast 14% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum von derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €] entspricht. Die russische Akademie der Wissenschaften veranschlagt das tatsächliche erforderliche Existenzminimum dagegen bei 33.000 Rubel [ca. 366 €]. Vollbeschäftigte erhalten den Mindestlohn (derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €]), der jährlich zum 1.1. auf die Höhe des Existenzminimums im 2. Quartal des Vorjahres angehoben wird. Für Einkommen unter dem Existenzminimum besteht die Möglichkeit der Aufstockung bis zur Höhe des Existenzminimums. Trotz der wiederholten Anhebungen der durchschnittlichen Bruttolöhne sind die real zur Verfügung stehenden Einkommen seit sechs Jahren rückläufig. Expertenschätzungen zufolge gibt es derzeit mindestens 25 Mio. illegal Beschäftigte. Die Verarmungsentwicklung ist vorwiegend durch niedrige Löhne verursacht, die insbesondere eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik sind (zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15 - 20% für abhängig Beschäftigte ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote (21,6%) bei den über 50-Jährigen verstärkt. Auch Migranten verdienen oft nur den Mindestlohn (AA 2.2.2021).
Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern, vor allem Großfamilien, Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren, wie beispielsweise Moskau oder St. Petersburg, ist die offizielle Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (knapp 14%), wohingegen beispielsweise in Regionen des Nordkaukasus jeder fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss. Auch ist prinzipiell die Armutsgefährdung am Land höher als in den Städten. Die soziale Absicherung ist über Pensionen, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert [bitte vergleichen Sie hierzu Kapitel Sozialbeihilfen] (Russland Analysen 21.2.2020a).
Die EU hat die Verlängerung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes bis Ende Juli 2021 beschlossen (Presse.com 10.12.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021b): Russland, Wirtschaft und Entwicklung, https://www.liportal.de/russland/wirtschaft-entwicklung/ , Zugriff 18.2.2021
IOM – International Organisation for Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2019%2C_deutsch.pdf?nodeid=21860150&vernum=-2 , Zugriff 18.2.2021
Presse.com (10.12.2020): EU verlängerte Wirtschaftssanktionen gegen Russland, https://www.diepresse.com/5909916/eu-verlangerte-wirtschaftssanktionen-gegen-russland , Zugriff 18.2.2021
Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 4.2.2020
Statista (19.10.2020): Russland: Arbeitslosenquote von 1992 bis 2019 und Prognosen bis 2025, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/17339/umfrage/arbeitslosenquote-in-russland/ , Zugriff 21.4.2021
WKO – Wirtschaftskammer Österreich [Österreich] (4.2021): Länderprofil Russland, https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-russland.pdf?_gl=1 *2opol5*_ga*MTMwODMzNzE3OC4xNjE4OTg5NzU3*_ga_4YHGVSN5S4*MTYxODk4OTc1Ni4xLjEuMTYxODk4OTc1OS41Nw.., Zugriff 21.4.2021
Nordkaukasus
Letzte Änderung: 10.06.2021
Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 1.2021a; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Die Arbeitslosigkeit im Nordkaukasus ist laut Experten unter den höchsten in Russland. Im Zuge eines Austausches der österreichischen Botschaft mit dem Nordkaukasus-Ministerium im Oktober 2018 wurden von russischer Seite die umfassenden Anstrengungen zur sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus geschildert, insbesondere im Bereich der Landwirtschaft und des Tourismus. Bei einer Sitzung zur Entwicklung der Region Nordkaukasus im Juni 2020 gab der Vertreter der russischen Regierung allerdings an, dass trotz föderaler Programme zur Unterstützung der Region diese bisher zu keiner entscheidenden Veränderung der sozio-ökonomischen Entwicklung geführt haben (ÖB Moskau 6.2020). Trotzdem ist zu sagen, dass sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert haben (AA 2.2.2021).
Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien mit September 2020 bei 23.783 Rubel [ca. 264 €], landesweit bei 49.516 Rubel [ca. 550 €] (Rosstat 19.11.2020). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im Februar 2021 bei 13.484 Rubel [ca. 150 €] (Chechenstat 2021), landesweit im ersten Quartal 2020 bei 14.924 Rubel [ca. 166 €] (GKS.ru 7.5.2020). Das durchschnittliche Existenzminimum für das vierte Quartal 2020 lag in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 11.572 Rubel [ca. 129 €], für Pensionisten bei 9.196 Rubel [ca. 102 €] und für Kinder bei 11.294 Rubel [ca. 125 €] (Chechenstat 2021). Landesweit liegt das durchschnittliche Existenzminimum für das Jahr 2021 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 12.702 Rubel [ca. 141 €], für Pensionisten bei 10.022 Rubel [ca. 111 €] und für Kinder bei 11.303 Rubel [ca. 126 €] (RIA Nowosti 9.1.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 6.4.2021
Chechenstat [Tschetschenien] (2021): Оперативные показатели (Operative Indikatoren), https://chechenstat.gks.ru/ , Zugriff 6.4.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 6.4.2021
GKS.ru [Russische Föderation] (7.5.2020): Динамика среднего размера назначенных пенсий (Dynamik der durchschnittlichen Größe der zugewiesenen Pensionen), https://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/urov/doc3-1-1.htm , Zugriff 6.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 6.4.2021
RIA Nowosti (9.1.2021): Прожиточный минимум в России в 2021 году составит 11 653 рубля (Existenzminimum in Russland im Jahr 2021 wird 11 653 Rubel betragen), https://ria.ru/20210109/minimum-1592375522.html , Zugriff 6.4.2021
Rosstat [Russische Föderation] (19.11.2020): Квартальная оценка среднемесячной начисленной заработной платы наёмных работников в организациях, у индивидуальных предпринимателей и физических лиц (Vierteljährliche Schätzung des durchschnittlichen Monatslohns), https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/jI7yx5Pa/ozenka-zar.htm , Zugriff 6.4.2021
Sozialbeihilfen
Letzte Änderung: 10.06.2021
Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2019).
Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Pensionsfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Pensionsfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Alterspensionen gezahlt. Das Pensionsalter beträgt 60 Jahre bei Männern und 55 Jahre bei Frauen. Da dieses Modell aktuell die Pensionen nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Pensionsreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Die Regierung hat am 14.6.2018 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Pensionseintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten fanden Demonstrationen gegen die geplante Pensionsreform statt. Präsident Putin reagierte auf die Proteste und gab eine Abschwächung der Reform bekannt. Das Pensionseintrittsalter für Frauen erhöht sich um fünf anstatt acht Jahre; Frauen mit drei oder mehr Kindern dürfen außerdem früher in Pension gehen (GIZ 1.2021c).
Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 1.2021c).
Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien, vor allem mit Kindern unter drei Jahren: z.B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 €], monatliche Auszahlungen an Kinder bis drei Jahre in Höhe von 5.000 Rubel [ca. 55 €] (dreimal für April, Mai und Juni ausgezahlt), monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 €] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (AA 2.2.2021).
Personen im Pensionsalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Alterspension. Rückkehrende müssen für mindestens 10 Jahre Pensionsversicherungsbeiträge eingezahlt haben. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht erforderlich. Zu erhaltende Leistungen werden ebenfalls in der Erstberatung diskutiert (IOM 2019). Seit dem Jahr 2010 werden Pensionen, die geringer als das Existenzminimum für Pensionisten sind, aufgestockt – insofern sind sie vor existenzieller Armut geschützt (Russland Analysen 21.2.2020a). Die Pensionen der nicht arbeitenden Pensionisten werden seit 2019 vor der jährlichen Indexierung auf die Höhe des Existenzminimums angehoben. Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension in Russland bei 14.904 Rubel [ca. 165 €] (AA 2.2.2021).
Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Staatliche Zuschüsse werden durch die Pensionskasse bestimmt (IOM 2019). Das europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, welchen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:
Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);
Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]);
Familien mit geringem Einkommen;
Studierende, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (BDA 31.3.2015). 2018 profitierten von diesen Leistungen für bestimmte Kategorien von Bürgern auf föderaler Ebene 15,2 Millionen Menschen. In den Regionen könnte die Zahl noch höher liegen, da die Föderationssubjekte für den größten Teil der monatlichen Geldleistungen aufkommen (Russland Analysen 21.2.2020a).
Familienbeihilfe
Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei 3.142 Rubel (ca. 43 €). Beim zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.284 Rubel (ca. 86 €). Der maximale Betrag liegt bei 26.152 Rubel (ca. 358 €) (IOM 2019). Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums (Russland Analysen 21.2.2020a).
Mutterschaft
Mutterschaftsurlaub kann für bis zu 140 Tage bei vollem Gehaltsbezug beantragt werden (70 Tage vor der Geburt, 70 Tage danach). Im Falle von Mehrlingsgeburten kann der Urlaub auf 194 Tage erhöht werden. Das Minimum der Mutterschaftshilfe liegt bei 100% des gesetzlichen Mindestlohns bis zu einem Maximum im Vergleich zu einem 40-Stunden-Vollzeitjob. Der Mindestbetrag der Mutterschutzhilfe liegt bei 9.489 Rubel (ca. 130 €) und der Maximalbetrag bei 61.327 Rubel (ca. 840 €) (IOM 2019). Weiters gibt es landesweite Pauschalzahlungen für die Geburt und die medizinische Registrierung vor der 12. Schwangerschaftswoche und seit 2020 Lohnersatzzahlungen von 40% in den ersten drei Jahren der Elternzeit. Mütter haben auch Anspruch auf zwei zusätzliche bezahlte Urlaubstage bis zum 14. Lebensjahr des Kindes. Bezüglich Betreuungseinrichtungen von Kindern ist zu sagen, dass die Gebühren dafür niedrig sind und hohe Vergünstigungen bei zunehmender Kinderanzahl bieten. Obwohl das Angebot von Betreuungseinrichtungen regional variiert, gibt es im Allgemeinen ein breites Versorgungsnetz (Russland Analysen 21.2.2020b).
Mutterschaftskapital
Zu den bedeutendsten Positionen der staatlichen Beihilfe zählt das Mutterschaftskapital, in dessen Genuss Mütter mit der Geburt ihres zweiten Kindes kommen. Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich (RBTH 22.4.2017). Ab dem 1.1.2020 wird das Mutterschaftskapital in Russland erhöht (Russland Capital 7.6.2019). Es beträgt derzeit 616.000 Rubel [ca. 6.835 €] (AA 2.2.2021). Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt, und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil dies zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen (RBTH 22.4.2017). Die Höhe des Mutterschaftskapitals entspricht etwa einem durchschnittlichen Jahresgehalt, und bisher profitierten über fünf Millionen Familien davon. Das Mutterschaftskapital soll laut Putin bis Ende 2026 fortgeführt werden und auf die Geburt des ersten Kindes ausgeweitet werden (Russland Analysen 21.2.2020a). Das Mutterschaftskapital muss nicht versteuert werden und ist status- und einkommensunabhängig (Russland Analysen 21.2.2020b).
Behinderung
Arbeitnehmer mit einem Invalidenstatus haben das Recht auf eine Invaliditätspension. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Die Invaliditätspension wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Pensionsalters (IOM 2019). Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension beeinträchtigter Menschen bei 9.823 Rubel [ca. 109 €]. Menschen mit Beeinträchtigungen können eine Pension in Höhe von bis zu 14.093 Rubel [ca. 156 €] monatlich erhalten (AA 2.2.2021).
Arbeitslosenunterstützung
Personen können sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin bietet die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz an. Sollten Bewerber diesen zurückweisen, werden sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindestarbeitslosenunterstützung pro Monat beträgt 1.500 Rubel (ca. 21 €) und die Maximalunterstützung 8.000 Rubel (ca. 111 €). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht, an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2019).
Wohnmöglichkeiten und Sozialwohnungen
Ein weiteres Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für große Teile der Bevölkerung unbezahlbar (AA 2.2.2021). Bürger ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Informationen über die jeweiligen Kategorien zur Qualifizierung für eine kostenlose Unterkunft sowie die dazu notwendigen Dokumente erhält man bei den kommunalen Stadtverwaltungen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an. Junge Familien mit vielen Kindern können staatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Die Wohnungskosten sind regionenabhängig. Die durchschnittlichen monatlichen Nebenkosten liegen derzeit bei ca 3.200 Rubel (ca. 44 €) (IOM 2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021
BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 18.2.2021
IOM – International Organisation for Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2019%2C_deutsch.pdf?nodeid=21860150&vernum=-2 , Zugriff 18.2.2021
RBTH – Russia beyond the Headlines (22.4.2017): Gratis-Studium und Steuerbefreiung: Russlands Wege aus der Geburtenkrise, https://de.rbth.com/gesellschaft/2017/04/22/gratis-studium-und-steuerbefreiung-russlands-wege-aus-der-geburtenkrise_747881 , Zugriff 18.3.2020
Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 4.2.2020
Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 4.2.2020
Russland Capital (7.6.2019): Das Mutterschaftskapital wird auf 470.000 Rubel erhöht, https://www.russland.capital/das-mutterschaftskapital-wird-auf-470-000-rubel-erhoeht , Zugriff 18.3.2020
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 10.06.2021
Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger der Russischen Föderation ist in der Verfassung verankert (GIZ 1.2021c; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land [bitte vergleichen Sie hierzu die Kapitel zu Bewegungsfreiheit, insbesondere Meldewesen]. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notversorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Laut Gesetz hat jeder Mensch Anrecht auf kostenlose medizinische Hilfestellung in dem gemäß dem 'Programm der Staatsgarantien für kostenlose medizinische Hilfestellung' garantierten Umfang (ÖB Moskau 6.2020). Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der 'Nationalen Projekte', die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 1.2021c).
Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, sind von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 6.2020). Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten. Diese muss bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden (IOM 2019). An staatlichen wie auch an privaten Kliniken sind medizinische Dienstleistungen verfügbar, für die man direkt bezahlen kann (im Rahmen der freiwilligen Krankenversicherung – Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Durch die Zusatzversicherung sind einige gebührenpflichtige Leistungen in einigen staatlichen Krankenhäusern abgedeckt (ÖB Moskau 6.2020).
Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken, stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Für die zahlungspflichtigen Dienstleistungen gibt es Preislisten auf den jeweiligen Webseiten der öffentlichen und privaten Kliniken (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020), die zum Teil auch mit OMS abrechnen (GTAI 27.11.2018). Immer mehr russische Staatsbürger wenden sich an Privatkliniken (GTAI 27.11.2018; vgl. Ostexperte 22.9.2017). Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt ineffektiv. Trotz der schrittweisen Anhebung der Honorare sind die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals noch immer niedrig (GIZ 1.2021c). Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (GIZ 1.2021c; vgl. AA 2.2.2021). Kostenpflichtig sind einerseits Sonderleistungen (Einzelzimmer u.Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind) (ÖB Moskau 6.2020).
Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Einrichtung und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken erwiesen wird, haben Personen das Recht, die medizinische Einrichtung nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. Dies bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen als dem 'zuständigen' Krankenhaus, bzw. bei einem anderen als dem 'zuständigen' Arzt, kostenpflichtig ist. In der ausgewählten Einrichtung können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Einrichtung durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbstständig, falls mehrere medizinische Einrichtungen zur Auswahl stehen. Abgesehen von den oben stehenden Ausnahmen sind Selbstbehalte nicht vorgesehen (ÖB Moskau 6.2020).
Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise erwartet wird (ÖB Moskau 6.2020). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes (DIS 1.2015). In Notfällen sind Medikamente in Kliniken, wie auch an Ambulanzstationen, kostenfrei erhältlich. Für gewöhnlich kaufen russische Staatsbürger ihre Medikamente jedoch selbst. Bürgern mit speziellen Krankheiten wird Unterstützung gewährt, u.a. durch kostenfreie Medikamente, Behandlung und Transport. Die Kosten für Medikamente variieren, feste Preise bestehen nicht (IOM 2019). Weiters wird berichtet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifizierung der Ärzte landesweit variieren kann. Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben, weshalb die Zustände in manchen Krankenhäusern schlecht sind, medizinische Ausrüstungen veraltet und die Ärzte überlastet und unterbezahlt. Probleme gibt es deshalb mitunter bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten in der Russischen Föderation, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB Moskau 6.2020). Das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen sind meistens nur in den Großstädten vorhanden. Die Wege zu einer medizinischen Einrichtung auf dem Land können mehrere Hundert Kilometer betragen. Hauptprobleme stellen jedoch die strukturelle Unterfinanzierung des Gesundheitssystems und die damit verbundenen schlechten Arbeitsbedingungen dar. Sie führen zu einem großen Mangel an Ärzten und Pflegekräften. Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können sogar mehrere Monate betragen. In vielen Regionen wie bspw. Tschetschenien wurden moderne Krankenhäuser und Behandlungszentren aufgebaut. Ihr Betrieb ist jedoch aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal oft erschwert (AA 2.2.2021).
Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) (vgl. dazu die Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen) (DIS 1.2015).
Staatenlose, die dauerhaft in Russland leben, sind bezüglich ihres Rechts auf medizinische Hilfe russischen Staatsbürgern gleichgestellt. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte (oder die Polizze) vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung auf dem Gebiet der Russischen Föderation gewährleistet ist (ÖB Moskau 6.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 17.2.2021
GTAI – German Trade and Invest (27.11.2018): Russlands Privatkliniken glänzen mit hohem Wachstum, https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche ,t=russlands-privatkliniken-glaenzen-mit-hohem-wachstum,did=2183416.html, Zugriff 17.2.2021
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 17.2.2021
IOM – International Organisation of Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2019%2C_deutsch.pdf?nodeid=21860150&vernum=-2 , Zugriff 17.2.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 17.2.2021
Ostexperte.de (22.9.2017): Privatkliniken in Russland immer beliebter, https://ostexperte.de/russland-privatkliniken/ , Zugriff 17.2.2021
Tschetschenien
Letzte Änderung: 10.06.2021
Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).
Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes. Auch gibt es bestimmte Personengruppen, die bestimmte Medikamente kostenfrei erhalten. Dazu gehören Kinder unter drei Jahren, Kriegsveteranen, Schwangere und Onkologie- und HIV-Patienten. Verschriebene Medikamente werden in staatlich lizensierten Apotheken kostenfrei gegen Vorlage des Rezeptes abgegeben (DIS 1.2015). Weitere Krankheiten, für die Medikamente kostenlos abgegeben werden (innerhalb der obligatorischen Krankenversicherung), sind:
infektiöse und parasitäre Krankheiten
Tumore
endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten
Krankheiten des Nervensystems
Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems
Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde
Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes
Krankheiten des Kreislaufsystems
Krankheiten des Atmungssystems
Krankheiten des Verdauungssystems
Krankheiten des Urogenitalsystems
Schwangerschaft, Geburt, Abort und Wochenbett
Krankheiten der Haut und der Unterhaut
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes
Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen
Geburtsfehler und Chromosomenfehler
bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben
Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die nicht in der Kategorie der Internationalen Klassifikation von Krankheiten gelistet sind (BDA CFS 31.3.2015).
Die obligatorische Krankenversicherung deckt unter anderem auch klinische Untersuchungen von bestimmten Personengruppen, wie Minderjährigen, Studierenden, Arbeitern usw., und medizinische Rehabilitation in Gesundheitseinrichtungen. Weiters werden zusätzliche Gebühren von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten, Familienärzten, Krankenpflegern und Notfallmedizinern finanziert. Peritoneal- und Hämodialyse werden auch unterstützt (nach vorgegebenen Raten), einschließlich der Beschaffung von Materialien und Medikamenten. Die obligatorische Krankenversicherung in Tschetschenien ist von der föderalen obligatorischen Krankenversicherung subventioniert (BDA CFS 31.3.2015). Trotzdem muss angemerkt werden, dass auch hier aufgrund der niedrigen Löhne der Ärzte das System der Zuzahlung durch die Patienten existiert (BDA CFS 31.3.2015; vgl. GIZ 1.2021c, AA 2.2.2021). Es gibt dennoch medizinische Einrichtungen, wo die Versorgung kostenfrei bereitgestellt wird, beispielsweise im Distrikt von Gudermes [von hier stammt Ramsan Kadyrow]. In kleinen Dörfern sind die ärztlichen Leistungen günstiger (BDA CFS 31.3.2015).
In Tschetschenien gibt es nur einige private Gesundheitseinrichtungen, die normalerweise mit Fachärzten arbeiten, welche aus den Nachbarregionen eingeladen werden. Die Preise sind hier um einiges höher als in öffentlichen Institutionen, und zwar aufgrund von komfortableren Aufenthalten, besser qualifizierten Spezialisten und modernerer medizinischer Ausstattung (BDA CFS 31.3.2015).
Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021
BDA – Belgium Desk on Accessibility [EU] (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 18.3.2020
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 17.2.2021
Gesundheitseinrichtungen in Tschetschenien
Letzte Änderung: 10.06.2021
Gesundheitseinrichtungen, die die ländlichen Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:
'Achkhoy-Martan RCH' (regional central hospital), 'Vedenskaya RCH', 'Grozny RCH', 'Staro-Yurt RH' (regional hospital), 'Gudermessky RCH', 'Itum-Kalynskaya RCH', 'Kurchaloevskaja RCH', 'Nadterechnaye RCH', 'Znamenskaya RH', 'Goragorsky RH', 'Naurskaya RCH', 'Nozhai-Yurt RCH', 'Sunzhensk RCH', Urus-Martan RCH', 'Sharoy RH', 'Shatoïski RCH', 'Shali RCH', 'Chiri-Yurt RCH', 'Shelkovskaya RCH', 'Argun municipal hospital N° 1' und 'Gvardeyskaya RH' (BDA CFS 31.3.2015).
Gesundheitseinrichtungen, die alle Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:
'The Republican hospital of emergency care' (former Regional Central Clinic No. 9), 'Republican Centre of prevention and fight against AIDS', 'The National Centre of the Mother and Infant Aymani Kadyrova', 'Republican Oncological Dispensary', 'Republican Centre of blood transfusion', 'National Centre for medical and psychological rehabilitation of children', 'The Republican Hospital', 'Republican Psychiatric Hospital', 'National Drug Dispensary', 'The Republican Hospital of War Veterans', 'Republican TB Dispensary', 'Clinic of pedodontics', 'National Centre for Preventive Medicine', 'Republican Centre for Infectious Diseases', 'Republican Endocrinology Dispensary', 'National Centre of purulent-septic surgery', 'The Republican dental clinic', 'Republican Dispensary of skin and venereal diseases', 'Republican Association for medical diagnostics and rehabilitation', 'Psychiatric Hospital ‘Samashki’, 'Psychiatric Hospital ‘Darbanhi’', 'Regional Paediatric Clinic', 'National Centre for Emergency Medicine', 'The Republican Scientific Medical Centre', 'Republican Office for forensic examination', 'National Rehabilitation Centre', 'Medical Centre of Research and Information', 'National Centre for Family Planning', 'Medical Commission for driving licenses' und 'National Paediatric Sanatorium ‘Chishki’' (BDA CFS 31.3.2015).
Städtische Gesundheitseinrichtungen in Grosny sind:
'Clinical Hospital N° 1 Grozny', 'Clinical Hospital for children N° 2 Grozny', 'Clinical Hospital N° 3 Grozny', 'Clinical Hospital N° 4 Grozny', 'Hospital N° 5 Grozny', 'Hospital N° 6 Grozny', 'Hospital N° 7 Grozny', 'Clinical Hospital N° 10 in Grozny', 'Maternity N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 1 in Grozny', 'Polyclinic N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 3 in Grozny', 'Polyclinic N° 4 in Grozny', 'Polyclinic N° 5 in Grozny', 'Polyclinic N° 6 in Grozny', 'Polyclinic N° 7 in Grozny', 'Polyclinic N° 8 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 1', 'Paediatric polyclinic N° 3 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 4 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 5', 'Dental complex in Grozny', 'Dental Clinic N° 1 in Grozny', 'Paediatric Psycho-Neurological Centre', 'Dental Clinic N° 2 in Grozny' und 'Paediatric Dental Clinic of Grozny' (BDA CFS 31.3.2015).
Quellen:
BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
Rückkehr
Letzte Änderung: 10.06.2021
Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Bei Ankunft in der Russischen Föderation müssen sich alle Rückkehrer am Ort ihres beabsichtigten Wohnortes registrieren [vgl. Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen]. Dies gilt generell für alle russischen Staatsangehörigen, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach welchem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Überstellung informiert, und diese Person kann, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB Moskau 6.2020).
Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft etwa bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mithilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB Moskau 6.2020).
Nach einer aktuellen Auskunft eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde, noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien aber für jene ergeben, die schon vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB Moskau 6.2020).
Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten noch immer von willkürlichem Vorgehen der Polizei. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (auch ohne Durchsuchungsbefehle) finden bei diesen Personen häufiger statt (AA 2.2.2021).
Rückkehrende werden grundsätzlich nicht als eigene Kategorie oder schutzbedürftige Gruppe aufgefasst. Folglich gibt es keine individuelle Unterstützung durch den russischen Staat. Rückkehrende haben aber wie alle anderen russischen Staatsbürger Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen [vgl. Kapitel Sozialbeihilfen]. Es gibt auch finanzielle und administrative Unterstützung bei Existenzgründungen. Beispielsweise können Mikrokredite für Kleinunternehmen bei Banken beantragt werden. Einige Regionen bieten über ein Auswahlverfahren spezielle Zuschüsse zur Förderung von Unternehmensgründungen an. Programme zur Unterstützung kleiner Unternehmen werden auf regionaler Ebene implementiert, aber die verfügbaren Fördersummen sind begrenzt. Projekte und Kandidaten werden deshalb auf Basis eines Auswahlverfahrens der jeweiligen Businesspläne bestimmt. Die Förderung kann in Form eines Zuschusses oder eines Kredites erfolgen (IOM 2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 25.2.2021
IOM – International Organisation for Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2019%2C_deutsch.pdf?nodeid=21860150&vernum=-2 , Zugriff 25.2.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 25.2.2020
Dokumente
Letzte Änderung: 10.06.2021
Die von den staatlichen Behörden ausgestellten Dokumente sind in der Regel echt und inhaltlich richtig. Dokumente russischer Staatsangehöriger aus den russischen Kaukasusrepubliken (insbesondere Reisedokumente) enthalten hingegen nicht selten unrichtige Angaben. Gründe hierfür liegen häufig in mittelbarer Falschbeurkundung und unterschiedlichen Schreibweisen von beispielsweise Namen oder Orten. In Russland ist es möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie z.B. Staatsangehörigkeitsnachweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehle und Gerichtsurteile. Es gibt auch Fälschungen, die auf Originalvordrucken professionell hergestellt werden (AA 13.2.2019). Auslandsreisepässe sind schwieriger zu bekommen, aber man kann auch diese kaufen. Es handelt sich bei den Dokumenten oft um echte Dokumente mit echten Stempeln und Unterschriften, aber mit falschem Inhalt. Die Art der Dokumente hierbei können z.B. medizinische Protokolle (medical journals), Führerscheine, Geburtsurkunden oder Identitätsdokumente sein. Ebenso ist es möglich, echte Dokumente mit echtem Inhalt zu kaufen, wobei die Transaktion der illegale Teil ist. Für viele Menschen ist es einfacher, schneller und angenehmer, ein Dokument zu kaufen, um einen zeitaufwändigen Kontakt mit der russischen Bürokratie zu vermeiden. Es soll auch gefälschte 'Vorladungen' zur Polizei geben (DIS 1.2015).
Weder die Staatendokumentation, noch der Verbindungsbeamte oder die Österreichische Botschaft können die Bedeutung von Reisepassnummern, welche sich auf die ausstellenden Behörden beziehen, nachvollziehen (VB 4.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 1.3.2021
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 10.3.2020
VB - Verbindungsbeamter für die Russische Föderation [Österreich] (4.3.2021): Auskunft per E-Mail
2. Beweiswürdigung:
II.2.1. Die Feststellungen zur Person (Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit) des BF sowie zu ihrem Wohnort im Herkunftsstaat gründen sich insbesondere auf die Angaben der Mutter des BF vor allem im Zuge deren niederschriftlicher Einvernahme am 04.07.2007 sowie am 29.06.2007 und auf die Angaben des BF im Verfahren. Dass der BF, wie er in der schriftlichen Stellungnahme vom 04.08.2021 behauptet, nie in Tschetschenien gelebt zu haben, widerspricht zum einen seiner eigenen Angabe im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA am 10.02.2020, wo er vorbrachte, zuletzt als Baby in Tschetschenien gewesen zu sein, sowie den Angaben der Mutter des BF, wonach sie 2004 wieder nach Tschetschenien zurückkehrten (AS 239, 253) und sie von 2000-2004 in der Türkei lebten (AS 233). Die Feststellung, dass der BF Deutsch spricht, ergibt sich daraus, dass er mit der Behörde in dieser Sprache problemlos kommunizierte und in Österreich die Schule besuchte. Die Feststellung, dass der BF auf Tschetschenisch kommunizieren kann, beruht zum einen auf seiner Angabe in der Einvernahme am 10.02.2020, Tschetschenisch brüchig zu sprechen. Abgesehen davon, dass es wahrscheinlich ist, dass der BF auch mit seiner Familie des Öfteren und insbesondere zu Zeiten des Kontakts mit seinem Vater Tschetschenisch spricht/ sprach, kann vom BF erwartet werden bei einer Rückkehrentscheidung sich entsprechende Sprachkenntnisse anzueignen. Dies gilt auch für Kenntnisse der russischen Sprache, wie er auch Deutsch gelernt hat, als er nach Österreich kam. Sein Bruder gab in seiner Einvernahme am 13.02.2020 zudem an, auf Russisch lesen zu können, womit ihm dieser unter Umständen behilflich sein könnte.
II.2.2. Die Feststellungen zum Asylverfahren des BF ergeben sich aus dem vorgelegten Akt des BFA betreffend die Mutter des BF. Die Feststellungen zu den Gründen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den BF beruht auf den vorgelegten entsprechenden Bescheiden des BAA.
II.2.3. Die Feststellungen zu den Verurteilungen des BF ergeben sich aus einem amtswegig eingeholten Strafregisterauszug betreffend den BF sowie den entsprechenden, im vorgelegten Akt des BFA befindlichen, Urteilen der Strafgerichte. Die Feststellung, dass gegen den BF vor Kurzem erneut wegen ua eines Raubes Anklage erhoben wurde, beruht auf einer entsprechenden Mitteilung der Staatsanwaltschaft XXXX .
Die Feststellung, dass selbst die Verbüßung einer Strafhaft von 22.07.2019 bis 06.07.2020 (bedingt entlassen auf eine Probezeit von drei Jahren) wegen ua Raub den BF nicht davon abhalten konnte, im Mai 2021 erneut wegen ua eines Raubes straffällig zu werden und den BF nicht zur Einsicht seines Fehlverhaltens bewegen konnte, beruht zum einen auf der neuerlichen Verurteilung. Zum stützt sich die Feststellung darauf, dass der BF obwohl er im Zuge seines ersten Haftaufenthaltes viel Unterstützung von „außen“, dh etwa von Vereinen, bekam und bereits bei seiner Einvernahme am 10.02.2020 vorbrachte: „[…] Ich dachte über so ziemlich alles nach, was draußen falsch war, was gut wäre, wie ich mein Leben besser machen könnte, warum ich das gemacht habe. Und über all das habe ich nachgedacht, deshalb habe ich die Sozialnetzkonferenz angefragt und dort viele eingeladen, mit eingeschlossen die Frau S.. Ich habe meinen alten Lehrer, den M. T. vom Poly XXXX eingeladen, dann habe ich vom Verein XXXX den M. eingeladen. Die Bewährungshelferin musste sowieso kommen. Die B. S. vom Verein XXXX war da. Meine Oma auch. Es waren viele dabei. Mit denen habe ich gesprochen, wie es draußen besser sein könnte und welche Gründe es gäbe könnte, dass ich vorzeitig entlassen werde. Dort habe ich gesprochen, dass ich wöchentlich zur Bewährungshelferin gehen würde, dass ich öfters zum Verein Einstieg gehen würde wegen meinem Schulabschluss. Zur XXXX wollte ich gehen und habe dort eine Mentorin gesucht und gefunden. Sie heißt C. […]“, weiters „[…] In Zukunft würde er nicht mehr straffällig werden, weil er in der Strafhaft angefangen habe, über alles nachzudenken und wolle sich ändern, er habe eine Sozialnetzkonferenz angefragt und einen Plan für die Zukunft gemacht. […]“ in weniger als einem Jahr später bereits straffällig wurde. Insofern kann dem Argument der Beschwerde, bereits das erstmalige Erleben des Haftübels würde einen Gesinnungswandel beim BF hervorrufen, nicht gefolgt werden. Von einer Einsicht kann ebenfalls nicht gesprochen werden, da er in seiner schriftlichen Stellungnahme vom 04.08.2021 zu seiner Straffälligkeit befragt vorbrachte, mit den falschen Leuten zu der Zeit unterwegs gewesen zu sein und, dass das Gericht ihm aufgrund seiner Vorstrafen nicht geglaubt habe, dass er an der Sache nicht beteiligt gewesen sei. Er bereue es mit den Komplizen unterwegs gewesen zu sein. Es tue ihm leid und er zerbreche sich den Kopf in der Haft, womit er somit behauptet, das Gericht glaube ihm nicht, anstatt seine Taten einzusehen.
II.2.4. Die Feststellung, dass der BF an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten leidet stützt sich auf die Angaben des BF in seiner Einvernahme am 10.02.2020 sowie seiner schriftlichen Stellungnahme vom 04.08.2021. In der Beschwerde bringt der BF vor, an ADHS zu leiden. Dies erwähnte der BF auch in der Einvernahme vom 10.02.2020, gab dazu allerdings an, nur in der Vergangenheit Medikamente genommen zu haben. Der BF legte außerdem keine medizinischen Unterlagen dazu vor. Im Übrigen handelt es sich dabei auch um keine lebensbedrohliche Erkrankung und kann diese auch in der Russischen Föderation mit Medikamenten behandelt werden, wie sich aus den Länderberichten ergibt:
„Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Störungen und Krankheiten sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. […] Wie in anderen Teilen Russlands werden auch in Tschetschenien psychische Krankheiten hauptsächlich mit Medikamenten behandelt, und es gibt nur selten eine Therapie.“
Die Feststellungen zur Erkrankung der Mutter des BF an einer sekundär progredienten Form der Multiplen Sklerose, ihrer Pflegestufe und ihres Pflegebedarfes ergeben sich aus einer Mitteilung der rechtlichen Vertretung des BF vom 22.04.2021 sowie einem Entlassungsbrief des LKH vom 27.11.2020. Dass die Mutter von ihrer eigenen Mutter und zuvor auch von ihren Söhnen betreut wurde, ergibt sich aus den Angaben des Bruders des BF in seiner Einvernahme am 13.02.2020 und aus der schriftlichen Stellungnahme des BF vom 04.08.2021 sowie einer Mitteilung der Großmutter des BF vom 14.04.2021.
Die Feststellung, dass aufgrund der Qualität der medizinischen Versorgung und Betreuung in der Russischen Föderation und Tschetschenien Multiple Sklerose mittlerweile auch in der Russischen Föderation und Tschetschenien behandelbar ist, ergibt sich insbesondere aus einem Vergleich der Länderfeststellungen 2008, im Jahr der Zuerkennung, wonach Spitäler und Kliniken zwar wiederaufgebaut und ausgestattet worden seien […], die Qualität der medizinischen Versorgung [aber] nicht sehr hoch sei. Aus den aktuellen Länderfeststellungen ergibt sich:
Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger der Russischen Föderation ist in der Verfassung verankert (GIZ 1.2021c; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, sind von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 6.2020). Dies gilt somit auch für Rückkehrer. Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der 'Nationalen Projekte', die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 1.2021c).
Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).
Die Feststellung, dass MS vor allem mit Medikamenten behandelt wird, ergibt sich insbesondere aus Internetrecherchen zur Behandlung sekundär progredienter Multipler Sklerose. Unter den Krankheiten, für die Medikamente kostenlos abgegeben werden (innerhalb der obligatorischen Krankenversicherung), finden sich auch Krankheiten des Nervensystems, wie Multiple Sklerose. Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken, stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, sind von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 6.2020). Dies gilt somit auch für Rückkehrer.
Medikamente für Multiple Sklerose sind in der Liste der unentbehrlichen Medikamente und Medizinprodukte enthalten (E-Mail-Auskunft von Kontaktperson A vom 22. November 2019; Russische Föderation, Dekret der Regierung der Russischen Föderation vom 10. Dezember 2018 Nr. 2738-r Nach Genehmigung der Liste der lebenswichtigen und essentiellen Arzneimittel für medizinische Zwecke für 2019, der Liste der Arzneimittel für medizinische Zwecke, der Liste der Arzneimittel zur Versorgung von Menschen mit Hämophilie, Mukoviszidose, Hypophysen-Zwergwuchs, Gaucher-Krankheit, maligne Neoplasien von lymphoiden, hämatopoetischen und verwandten Geweben, Multiple Sklerose, Personen nach Transplantation von Organen und (oder) Geweben sowie die Mindestanzahl an Medikamenten, die für die medizinische Versorgung erforderlich sind).
Die Feststellung, dass die Mutter des BF heutzutage auch (mit nur mehr einem minderjährigen Sohn) unter Zuhilfenahme des Sozialversicherungssystems der Russischen Föderation ohne in eine existenzbedrohende bzw aussichtslose Lage zu geraten leben kann, beruht auf den Länderfeststellungen, wonach die Russische Föderation ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem hat. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2019). Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien: z.B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 €], monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 €] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (AA 2.2.2021).
Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Arbeitnehmer mit einem Invalidenstatus haben das Recht auf eine Invaliditätspension. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Die Invaliditätspension wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Pensionsalters (IOM 2019). Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension beeinträchtigter Menschen bei 9.823 Rubel [ca. 109 €]. Menschen mit Beeinträchtigungen können eine Pension in Höhe von bis zu 14.093 Rubel [ca. 156 €] monatlich erhalten (AA 2.2.2021).
Unter Zuhilfenahme dieser Sozialversicherungsleistungen sowie unter Berücksichtigung, dass die Mutter des BF noch über Familienangehörige in ihrem Herkunftsstaat und über Familienangehörige in Österreich, welche sie finanziell unterstützen könnten, verfügt, kann davon ausgegangen werden, dass die Mutter des BF in der Russischen Föderation angemessen behandelt werden kann, ohne in eine existenzbedrohende bzw aussichtslose Lage zu geraten. Die kostenfreie Versorgung der Versicherung umfasst nämlich laut Länderbericht nicht nur die Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, sondern auch die Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken sowie die stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Aufgrund des Pflegebedarfs der Mutter des BF und der damit wohl einhergehenden höheren (Invaliditäts)Pension, könnte die Mutter des BF auch eine 24h Pflege in Anspruch nehmen. Außerdem wären sowohl der BF sowie sein älterer Bruder, vorausgesetzt entsprechende aufenthaltsbeendende Maßnahmen werden durchgesetzt, für eine Pflege und Betreuung der Mutter in Heimatstaat verfügbar.
Auch unter Berücksichtigung der Covid-19 Pandemie ergibt sich hierzu keine andere Beurteilung. Die Mutter des BF zählt zwar aufgrund ihrer chronischen Erkrankung und der Bettlägrigkeit zu einer der Risikogruppen. Es ist aber mittlerweile uneingeschränkt möglich, sich in Österreich sowie in der Russischen Föderation mit der COVID-19-Schutzimpfung impfen zu lassen, womit sich das Risiko eines schweren Verlaufes der Erkrankung an COVID-19 nachweislich verringern lässt.
II.2.5. Die Feststellungen zur Wohnsituation, finanziellen Situation und zu der (Schul)Ausbildung des BF beruhen auf den Angaben des BF in der Einvernahme vor dem BFA am 10.02.2020 sowie auf einem Auszug aus dem ZMR. Die Feststellung, dass der BF über einen Freundeskreis verfügt, beruht primär auf der Aufenthaltsdauer des BF,
II.2.6. Die Feststellungen zu den familiären Anknüpfungspunkten des BF in Österreich wie in der Russischen Föderation ergeben sich aus den entsprechenden Angaben des BF im Zuge der Einvernahme vor dem BFA am 10.02.2020, den Angaben seines Bruders in der Einvernahme vor dem BFA am 13.02.2020 sowie aus den Angaben der Mutter des BF in ihrer Erstbefragung am 29.06.2007 sowie der niederschriftlichen Einvernahme am 04.07.2007. Der BF gab in seiner schriftlichen Stellungnahme am 04.08.2021, anders als in der Einvernahme am 10.02.2020 an, er habe keinen Kontakt mehr zum Vater, sodass entgegen der Behauptung in der Beschwerde, der BF sehr wohl eine Möglichkeit hatte, diesen Umstand vorzubringen. Der Vater wäre allerdings nicht die einzige Kontaktperson des BF in der Russischen Föderation, denn befinden sich dort auch noch die Schwester, wie der BF selbst in seiner Einvernahme angibt, sowie der Bruder der Mutter des BF. Dass der BF massiver psychischer und physischer Gewalt durch seinen Vater ausgesetzt sei und er regelmäßig von seinem Vater geschlagen worden sei, bevor dieser am 08.11.2018 erstmals abgeschoben worden sei, brachte der BF selbst nicht vor. Vielmehr gab er im Zuge der Einvernahme am 10.02.2020 an, gegen den Kontakt mit seinem Vater würde nichts sprechen, nachdem er vom BFA explizit danach gefragt wurde, ob etwas gegen den Kontakt mit seinem Vater sprechen würde. Die Feststellung, dass der BF eine Freundin in Österreich hat, ergibt sich aus seiner entsprechenden Angabe in der Einvernahme vor dem BFA am 10.02.2020, wobei er angab mit einer „ XXXX “ zusammen zu sein, sowie aus den Besuchsprotokollen der Justizanstalt. Während sie den BF im Zuge seines ersten Haftaufenthaltes noch öfters besuchte, ergibt sich aus den aktuellen Besuchsprotokollen nur ein monatlicher Besuch im Ausmaß von einer halben Stunde. Es war daher festzustellen, dass deren Beziehung – wenn diese überhaupt noch besteht - durch den Haftaufenthalt des BF nur sehr eingeschränkt möglich und auch empfindlich beeinträchtigt ist.
II.2.7. Die Feststellungen hinsichtlich der verneinten Gefährdungswahrscheinlichkeit sowie der gesicherten Grundversorgung des BF im Herkunftsstaat ergeben sich aus den Länderberichten. Aus den getroffenen Länderfeststellungen lässt sich keine derartig angespannte wirtschaftliche Situation erkennen, die eine Gefahr für den BF, in eine ausweglose Lage zu geraten, wahrscheinlich erscheinen lassen würde. Der BF brachte im Aberkennungsverfahren auch keine stichhaltigen, individuellen Gründe, dass der BF bei einer Rückkehr ins Herkunftsland mit hinreichender Wahrscheinlichkeit konkret Gefahr liefe, dort aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden oder aufgrund der allgemeinen Versorgungslage in eine aussichtslose Lage (Nahrung, Unterkunft) zu geraten, vor.
II.2.7.1. Dazu ist zu ergänzen, dass die Grundversorgung der russischen Bevölkerung - wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt - gesichert ist. Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2019). Personen können sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Auch finden sich keine Hinweise auf eine im Allgemeinen schlechte oder unzureichende medizinische Versorgungslage im Herkunftsstaat. Der BF wird sich aufgrund seines jungen Alters und des Aufwachsens mit seiner tschetschenischen Familie, wenn auch unter anfänglichen Schwierigkeiten, schnell mit den Gepflogenheiten und örtlichen Gegebenheiten Tschetscheniens vertraut machen können und wird im Herkunftsstaat eingliedern können. In beruflicher Hinsicht, könnte sich der BF sogar seine mittlerweile angeeigneten Deutschkenntnisse zu Nutzen machen.
Der BF hätte im Übrigen auch die Möglichkeit, sich – nach Erwerb russischer Sprachkenntnisse - in außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien gelegenen Landesteilen niederzulassen. Dies wird dadurch dokumentiert, dass laut den Daten im Länderinformationsblatt die Mehrheit der Tschetschenen mittlerweile außerhalb Tschetscheniens leben und Tschetschenen überall in der Russischen Föderation leben z.B. in Moskau (über 14.000 Personen), in Inguschetien (knapp 19.000 Personen) in der Region Rostow (über 11.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen), in Dagestan (über 93.000 Personen), in der Region Wolgograd (knapp 10.000 Personen) und in der Region Astrachan (über 7.000 Personen) (EASO 8.2018, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Weiters kommt noch hinzu, dass die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten in den letzten Jahren stark angewachsen ist, die umfangreiche tschetschenische Diaspora aber nicht unter der unmittelbaren Kontrolle von Kadyrow steht.
Zusätzlich zu den Ausführungen zur tschetschenischen Diaspora, ist bezüglich der Möglichkeit des BF, sich in einem anderen Landesteil aufzuhalten, darauf hinzuweisen, dass laut Länderberichten im Gegensatz zur Situation bei der Ausreise ein neues Meldegesetz eingeführt wurde. Auch wenn es möglich ist, dass Personen aus dem Kaukasus zusätzlich kontrolliert werden, ist die Registrierung nunmehr auch für Tschetschenen kein Problem, selbst wenn es möglicherweise zu Diskriminierung oder korrupten Verhalten seitens der Beamten kommen kann, im Endeffekt bekommen sie die Registrierung. Die Registrierung ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Tschetschenen steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern [auch Inguschen, Dagestaner etc.] das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Der BF kann einen Inlandsreisepass beantragen und mit diesem den Länderberichten zufolge – sowohl in Tschetschenien als auch in einer anderen Stadt in der Russischen Föderation – eine Anmeldung erlangen, wodurch er auch Zugang zur Sozialhilfe und zum Gesundheitssystem hat.
II.2.7.2. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt auch nicht, dass die Menschenrechtslage im Nordkaukasus und in Tschetschenien im Speziellen problematisch ist und dass weiterhin Bedrohungsszenarien bestehen und (auch schwere) Menschenrechtsverletzungen geschehen können. Aus den Länderfeststellungen lässt sich jedoch auch keine derartige Situation im Herkunftsland ableiten, wonach der BF allein aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage ohne Hinzutreten individueller Faktoren in der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien aktuell und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder dass ihnen im Falle einer Rückkehr die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Wäre eine Situation einer systematischen Verfolgung weiter Bevölkerungsschichten derzeit gegeben, wäre jedenfalls anzunehmen, das vor Ort tätige Organisationen, wie jene der Vereinten Nationen, diesbezügliche Informationen an die Öffentlichkeit gegeben hätten. Eine allgemeine Gefährdung von allen tschetschenischen Rückkehrern wegen des Faktums ihrer Rückkehr lässt sich aus den Quellen ebenso wenig folgern. Dies entspricht im Übrigen bisher auch der Einschätzung des Europäischen Gerichtshofes für Menschrechte, wobei etwa auf das Urteil vom 09.07.2016 im Fall R.K. gegen Frankreich, Zl. 61.264/11, verwiesen wird, wonach die Situation im Nordkaukasus (inklusive Tschetschenien) – trotz dort festzustellender schwerer Menschenrechtsverletzungen – nicht so geartet ist, dass die Abschiebung dorthin automatisch eine Verletzung nach Art. 3 EMRK darstellen würde (vgl. dazu auch EGMR 30.11.2017, Application no. 54646/17, X v. Germany).
II.2.7.3. Auch unter Berücksichtigung der Covid-19 Pandemie ergibt sich hierzu keine andere Beurteilung. Es hat sich beim BF keine besondere Immunschwächeerkrankung oder sonstige lebensbedrohliche Erkrankung ergeben. Es wurde auch nicht vorgebracht, dass der BF derzeit an COVID-19 leiden würde. Der BF fällt weder in die Risikogruppe der älteren Personen noch in jene der Personen mit spezifischen physischen Vorerkrankungen, sodass auch keine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass der BF bei einer Rückkehr in die Russische Föderation eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegenden oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus zu gewärtigen hätte (siehe dazu die allgemein zugänglichen, wissenschaftsbasierten Informationen von WHO und CDC, der Covid-19-Risikogruppe-Verordnung (BGBl. 203. Verordnung, Jahrgang 2020, ausgegeben am 07.05.2020, Teil II), die aktuelle Überwachung der weltweiten Lage durch diese Organisationen sowie die unbedenklichen tagesaktuellen Berichte https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus.html ; https://covid19.who.int/ ).
II.2.8. Der BF brachte im gesamten Aberkennungsverfahren keinen Sachverhalt vor, der die Annahme zulassen würde, dass der BF aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung in seinem Herkunftsstaat verfolgt wird, weshalb dies entsprechend festzustellen war.
II.2.9. Die Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation unter Einbeziehung der Lage in Tschetschenien beruhen auf den angeführten Quellen. Der BF ist ihnen nicht substantiiert entgegengetreten. Bei den herangezogenen Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender Institutionen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in der Russischen Föderation, einschließlich der Lage in Tschetschenien, ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
II.3.1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung, des Agrarverfahrensgesetzes und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
§ 1 BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG 2005 und FPG bleiben unberührt. Gemäß §§ 16 Abs. 6 und 18 Abs. 7 BFA-VG sind die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anwendbar.
Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen (§ 28 Abs. 1 VwGVG).
Mit 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz oder anhängige Verfahren, sohin auch auf das vorliegende Verfahren, anzuwenden.
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das BVwG, wenn es in der Sache selbst entscheidet, die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zugrunde zu legen (vgl. etwa VwGH 6.10.2020, Ra 2019/19/0332).
Zu Spruchteil A)
II.3.2. Beschwerde gegen Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides:
II.3.2.1. Der mit „Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten“ betitelte § 9 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 lautet:
„§ 9. (1) Einem Fremden ist der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn
1. die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) nicht oder nicht mehr vorliegen;
2. er den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem anderen Staat hat oder
3. er die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates erlangt hat und eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen neuen Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention oder für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon aus den Gründen des Abs. 1 abzuerkennen, so hat eine Aberkennung auch dann zu erfolgen, wenn
1. einer der in Art. 1 Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe vorliegt;
2. der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt oder
3. der Fremde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB, BGBl. Nr. 60/1974, entspricht.
In diesen Fällen ist die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.“
Das BFA stützte im gegenständlichen Fall die Aberkennung des dem BF mit Bescheid vom 17.09.2008, ZI. 07 05.905-BAS, zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten im Bescheidspruch auf die Bestimmung des § 9 Abs. 1 und 2 AsylG 2005. Der Bescheidbegründung ist zu entnehmen, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sich auf § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 stützt. Aus dem Zusammenhang – insbesondere das Argument der Erreichen der Volljährigkeit – sowie aus der zitierten Judikatur des Asylgerichtshofes, wonach in Fallkonstellationen, in denen der Bezugsperson eines Schutzberechtigten eine Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht zumutbar sei, nach dem Ausscheiden aus dem Familienverband zu prüfen sei, inwiefern die von der Bezugsperson ableitende Person selbst im Fall der Rückkehr mit schutzrelevanten Schwierigkeiten konfrontiert wäre, ergibt sich, dass sich das BF auf den zweiten Fall („nicht mehr“) bezieht. Zudem sah das BFA aufgrund der Verurteilungen des BF wegen Verbrechenstatbeständen auch den Aberkennungstatbestand des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 als erfüllt an.
Die Sache des Beschwerdeverfahrens ist nur der Inhalt des Spruches, nicht der Grund, warum es zum Inhalt des Spruches gekommen ist. Das bedeutet, dass das Verwaltungsgericht alle Gründe, die zum von der Behörde ausgesprochenen Ergebnis führen könnten, zu prüfen hat (VwGH 21.01.2016, Ra 2015/12/0027). „Sache“ des Beschwerdeverfahrens ist nicht nur die Klärung der Frage, ob die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl angenommene Änderung der Umstände nach § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 tatsächlich vorlag, sondern sie umfasst sämtliche Prüfschritte und Aussprüche, die im Verfahren zur Aberkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 9 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 vorzunehmen sind. Es ist dem BVwG daher nicht verwehrt, bei Verneinung der Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AsylG 2005 zu prüfen bzw. ist das Bundesverwaltungsgericht bei entsprechenden Anhaltspunkten für das Vorliegen eines derartigen Tatbestands zu einem solchen Vorgehen auch verpflichtet (VwGH 29.06.2020, Ro 2019/01/0014).
II.3.2.2. Zu prüfen sind daher alle in § 9 AsylG 2005 vorgesehenen Aberkennungsgründe.
Nach der Systematik dieser Bestimmung ist im Verfahren über die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten folgendes Prüfschema zu befolgen:
Gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 ist vorrangig zu klären, ob eine Aberkennung des subsidiären Schutzes nach dieser Gesetzesstelle vorzunehmen ist. Das ist dann der Fall, wenn zumindest einer der in § 9 Abs. 1 Z 1 bis 3 AsylG 2005 vorgesehenen Aberkennungstatbestände vorliegt.
Ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon aus den Gründen des § 9 Abs. 1 AsylG 2005 abzuerkennen, so hat – subsidiär – eine Aberkennung nach § 9 Abs. 2 AsylG 2005 auch dann zu erfolgen, wenn zumindest einer der in § 9 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 vorgesehenen Aberkennungstatbestände gegeben ist. In diesen Fällen ist die Aberkennung des subsidiären Schutzstatus mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, weil dies eine der in § 9 Abs. 2 letzter Satz AsylG 2005 angeführten Gefahren begründen würde (zu dieser Gesetzessystematik ausdrücklich VwGH 17.10.2019, Ro 2019/18/0005).
II.3.2.2.1. Es ist daher zunächst zu prüfen, ob im Fall des BF eine der in § 9 Abs. 1 AsylG 2005 genannten Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten vorliegt:
Der BF ist russischer Staatsangehöriger und hält sich seit seiner Einreise im Jahr 2007 in Österreich auf. Er hat weder den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem anderen Staat (Z 2 leg. cit.) noch erlangte er die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates (Z 3 leg. cit.). Diese Aberkennungstatbestände liegen demnach nicht vor.
Hinsichtlich § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 sind folgende Erwägungen relevant:
§ 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 enthält zwei unterschiedliche Aberkennungstatbestände: Dem Fremden ist der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) „nicht“ oder „nicht mehr“ vorliegen.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfasst der erste Fall des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 die Konstellation, in der der Fremde schon im Zeitpunkt der Zuerkennung von subsidiärem Schutz die dafür notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt hat (vgl. VwGH 14.08.2019, Ra 2016/20/0038). Damit ist eine Konstellation gemeint, in der sich ergibt, dass der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, ohne dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung im Entscheidungszeitpunkt erfüllt gewesen sind, weil die Entscheidung sich auf Tatsachen gestützt hat, die sich in der Folge als unzutreffend erwiesen haben (vgl. VwGH 30.04.2020, Ra 2019/19/0309).
Dieser Tatbestand des § 9 Abs. 1 Z 1 erster Fall AsylG 2005 ist im vorliegenden Fall, in dem der BF seinen Schutzstatus im Wege des asylrechtlichen Familienverfahrens von seiner Mutter ableitete, die nach wie vor über den Status der subsidiär Schutzberechtigten verfügt, nicht erfüllt.
Die Bestimmung des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 betrifft Konstellationen, in denen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nachträglich weggefallen sind (vgl. VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153, Rn 77). Dabei wird auf eine Änderung der Umstände abgestellt, die so wesentlich und nicht nur vorübergehend ist, dass die Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hatte, tatsächlich nicht länger Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden.
Zur richtlinienkonformen Interpretation:
Artikel 16 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) lautet:
"(1) Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser hat keinen Anspruch auf subsidiären Schutz mehr, wenn die Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt haben, nicht mehr bestehen oder sich in einem Maße verändert haben, dass ein solcher Schutz nicht mehr erforderlich ist.
(2) Bei Anwendung des Absatzes 1 berücksichtigen die Mitgliedstaaten, ob sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend verändert haben, dass die Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, tatsächlich nicht länger Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. "
Art. 19 Abs. 1 und 4 dieser Richtlinie lautet:
"(1) Bei Anträgen auf internationalen Schutz, die nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG gestellt wurden, erkennen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen den von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannten subsidiären Schutzstatus ab, beenden diesen oder lehnen seine Verlängerung ab, wenn die betreffende Person gemäß Artikel 16 nicht länger Anspruch auf subsidiären Schutz erheben kann.
(4) Unbeschadet der Pflicht des Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, gemäß Artikel 4 Absatz 1 alle maßgeblichen Tatsachen offen zu legen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen, weist der Mitgliedstaat, der ihm den subsidiären Schutzstatus zuerkannt hat, in jedem Einzelfall nach, dass die betreffende Person gemäß den Absätzen 1 bis 3 dieses Artikels keinen oder nicht mehr Anspruch auf subsidiären Schutz hat."
Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und/oder Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (in Folge: EMRK) oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß Art. 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. Letzteres wurde wiederum durch das Protokoll Nr. 6 beziehungsweise Nr. 13 zur Abschaffung der Todesstrafe hinfällig. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
Somit ist zu klären, ob im Falle der Rückführung des Fremden in seinen Herkunftsstaat Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde. Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141). Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher nicht geeignet, die Feststellung nach dieser Gesetzesstelle zu tragen, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, die ihnen einen aktuellen Stellenwert geben (vgl. VwGH 14.10.1998, Zl. 98/01/0122; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).
Unter "realer Gefahr" ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen ("a sufficiently real risk") im Zielstaat zu verstehen (VwGH 19.02.2004, Zl. 99/20/0573; auch ErläutRV 952 BlgNR 22. GP zu § 8 AsylG 2005). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294; 25.01.2001, Zl. 2000/20/0438; 30.05.2001, Zl. 97/21/0560). Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (vgl. VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427; 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; siehe dazu vor allem auch EGMR 20.07.2010, N. gg. Schweden, Zl. 23505/09, Rz 52ff; 13.10.2011, Husseini gg. Schweden, Zl. 10611/09, Rz 81ff).
Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird – auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören –, der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen.
Gemäß der Judikatur des EGMR muss der Antragsteller die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darstellen (vgl. EKMR, Entsch. vom 7.7.1987, Nr. 12877/87 – Kalema gg. Frankreich, DR 53, S. 254, 264). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus (vgl. EKMR, Entsch. vom 12.3.1980, Nr. 8897/80: X u. Y gg. Vereinigtes Königreich), wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (vgl. EKMR, Entsch. vom 17.10.1986, Nr. 12364/86: Kilic gg. Schweiz, DR 50, S. 280, 289). So führt der EGMR in stRsp aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller "Beweise" zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt so weit als möglich Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (z.B. EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005). Auch der Verwaltungsgerichtshof stellte wiederholt mit Verweis auf die ständige Judikatur des EGMR klar, dass – abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde – es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. etwa VwGH 13.09.2016, Zl. Ra 2016/01/0096, Rz 9-12; VwGH 05.10.2016, Zl. Ra 2016/19/0158, Rz 13-14). Zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK ist es notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 25.05.2016, Zl. Ra 2016/19/0036). Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger, noch zum Refoulementschutz nach der vorigen Rechtslage ergangenen, aber weiterhin gültigen Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer solchen Bedrohung glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende und durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (VwGH 23.02.1995, Zl. 95/18/0049; 05.04.1995, Zl. 95/18/0530; 04.04.1997, Zl. 95/18/1127; 26.06.1997, ZI. 95/18/1291; 02.08.2000, Zl. 98/21/0461). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214).
Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich, Zl. 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zl. 44599/98; vgl. auch VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443).
Unter "außergewöhnlichen Umständen" können lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm. § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443; 13.11.2001, Zl. 2000/01/0453; 09.07.2002, Zl. 2001/01/0164; 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059). Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend (VwGH 25.05.2016, Zl. Ra 2016/19/0036).
In seinem Urteil vom 24.04.2018, C-353/16, MP, hat jedoch der Europäische Gerichtshof (EuGH) wiederum klargestellt, dass der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger nach Art. 3 EMRK nicht abgeschoben werden kann, nicht in jedem Fall bedeutet, dass ihm subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Subsidiärer Schutz (nach Art. 15 lit. a und b der Richtlinie 2004/83 „Statusrichtlinie“) verlangt nach dieser Auslegung durch den EuGH vielmehr, dass der ernsthafte Schaden durch das Verhalten von Dritten (Akteuren) verursacht werden muss und dieser nicht bloß Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten im Herkunftsland ist. So darf der in Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 genannte ernsthafte Schaden etwa nicht bloß die Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems des Herkunftslandes sein. Die Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustands eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen, die auf das Fehlen angemessener Behandlungsmöglichkeiten in seinem Heimatland zurückzuführen ist, ohne dass diesem Drittstaatsangehörigen die Versorgung vorsätzlich verweigert würde, kann keine ausreichende Rechtfertigung dafür sein, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, M'Bodj, C-542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 35 und 36).
Wie bereits in der Beweiswürdigung dargelegt, lassen sich aus den getroffenen Länderfeststellungen keine Anhaltspunkte für eine derartig schlechte Versorgungslage im Herkunftsland bzw. Tschetschenien erkennen, aufgrund welcher der BF bei einer Rückkehr ins Herkunftsland einer realen Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse ausgesetzt wäre. Auch lassen sich aus den persönlichen Verhältnissen des BF keine derartigen außergewöhnlichen Umstände ableiten, die die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten rechtfertigen würden. Dazu ist erneut darauf hinzuweisen, dass die Grundversorgung der russischen Bevölkerung - wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt - gesichert ist. Auch finden sich keine Hinweise auf eine im Allgemeinen schlechte oder unzureichende medizinische Versorgungslage im Herkunftsstaat. Unter Zugrundelegung der Feststellungen zu Sozialleistungen ist auch nicht davon auszugehen ist, dass der BF, der jung, gesund und arbeitsfähig ist und über Familienangehörige im Herkunftsstaat (sowie voraussichtlich auch seinen Bruder, welcher ebenfalls von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen ist) verfügt, nach einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (etwa Nahrung, Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre. Es erscheint auch angesichts des tschetschenischen Familienzusammenhalts kaum wahrscheinlich, dass diese Familienangehörigen des BF in einer existentiellen Notsituation seinem Schicksal überlassen würden, wobei der BF in einer Notlage zur Überbrückung auch auf finanzielle Unterstützung seiner zahlreichen Familienangehörigen in Österreich bzw. Europa zurückgreifen könnte. Hinsichtlich seiner Sprachkenntnisse sei ebenfalls auf die Beweiswürdigung verwiesen, wonach es dem BF zumutbar ist – auch mithilfe seiner Angehörigen – sich entsprechende Sprachkenntnisse anzueignen.
Selbst wenn vor dem Hintergrund des oben ausgeführten der BF bei einer Rückkehr in eine in materieller Hinsicht äußerst beschwerliche, von erheblicher Armut geprägten Lebenssituation gelangen könnte, wäre aus diesen Erwägungen nicht abzuleiten, dass im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen würden, die die hohe Schwelle eines Eingriffs iSv Art. 2 und 3 EMRK erreichen würden. Diesbezüglich ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach sich aus schlechten Lebensbedingungen keine Gefährdung bzw. Bedrohung ergibt, und äußerst schwierige und bescheidene Lebensverhältnisse hinzunehmen sind (vgl. dazu etwa VwGH 25.05.2016, Zl. Ra 2016/19/0036, wonach die Feststellung, dass ein gesunder, arbeitsfähiger und erwachsener Mann ohne Berufsausbildung und -erfahrung bei einer Rückkehr nach Kabul kein berufliches oder familiäres Netz mehr vorfinden würde, zwar geeignet war, eine schwierige Lebenssituation bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht darzutun, jedoch noch keine reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse; VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059, wonach die voraussichtliche Unterbringung eines Asylwerbers in einem notdürftig errichteten, beheizten, mit Stroh ausgelegten Zelt, das er sich mit mehreren Personen teilen hätte müssen, grundsätzlich einer Abschiebung nicht entgegenstand, VwGH 05.10.2016, Zl. Ra 2016/19/0158, Rz 13-14, zur Rückkehrmöglichkeit eines gesunden Revisionswerbers nach Mogadischu ohne familiäre Unterstützung). Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend.
Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass eine Abschiebung des BF für diesen als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde. In der Russischen Föderation bzw. im Nordkaukasus ist eine Zivilperson nicht allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer solchen Bedrohung ausgesetzt. In diesem Zusammenhang ist auch auf das Urteil des EGMR vom 13.09.2016, wonach die Situation im Nordkaukasus – trotz dort festzustellender schwerer Menschenrechtsverletzungen – nicht so geartet ist, dass die Abschiebung dorthin automatisch eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde (vgl. EGMR 13.09.2016, A.A. und A.A. gegen Frankreich, Zl. 39707/13, Rz. 61). Diesbezüglich sind keine Anhaltspunkte für eine maßgebliche Lageänderung aufgetreten.
Zu Recht gelangte das BFA daher zur Ansicht, dass nicht mehr festgestellt werden könne, dass der mittlerweile volljährige BF, dem der subsidiäre Schutz damals im Familienverfahren, von seiner Mutter abgeleitet, zuerkannt wurde, im Falle seiner Abschiebung die Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat entzogen wäre. Anders als seine Mutter, die zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten krank und alleinstehend war und zwei bzw drei Kinder zu versorgen hatte, ist der BF jung, gesund, arbeitsfähig und hat der BF keine Kinder.
Auch mit dem Vorbringen in der Beschwerde, dass die Veränderung der Lage innerhalb des Heimatstaates ab dem Zeitpunkt der letzten Verlängerung – hier zuletzt verlängert bis 17.09.2020 mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.10.2018- rechtlich maßgeblich sei, und diesbezüglich keine markante Veränderung eingetreten ist, ist für den BF nichts zu gewinnen, da unabhängig davon die Voraussetzungen für die Zuerkennung zum Entscheidungszeitpunkt jedenfalls „nicht“ vorliegen. Dies entspricht dem eindeutigen Wortlaut des ersten Falles des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005. Zudem ist bereits durch das Erreichen der Volljährigkeit und das Ausscheiden aus dem Familienverband eine wesentliche Änderung zum Jahr 2018 eingetreten.
Weiters kann auch kein Anhaltspunkt dafür erkannt werden, dass eine derartige Sichtweise der Rechtsansicht des EuGH zu Art. 19 Abs. 1 iVm Art. 16 der Richtlinie 2011/95/EU entgegensteht, der in einer Entscheidung vom Mai 2019 im Ergebnis die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten aufgrund eines nachträglich festgestellten Irrtums der Behörde über das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der der betroffenen Person nicht vorgeworfen werden konnte, als rechtskonform und geboten erachtete (vgl. dazu EuGH 23.05.2019, Mohammed Bilali gegen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, C-720/17, insbesondere auch Rz 45: „Wenn der betreffende Mitgliedstaat diesen Status nicht rechtmäßig gewähren durfte, muss er erst recht verpflichtet sein, ihn abzuerkennen, wenn sein Irrtum festgestellt wird.“). Von einem derartigen Irrtum wären aber ein erheblicher Teil der Verlängerungsentscheidungen der Behörde betroffen. Angesichts des Umstandes, dass die Verlängerungsentscheidung jeweils nur für einen befristeten Zeitraum von 2 Jahren bis zur nächsten Überprüfung Gültigkeit besitzt, kann den Betroffenen darüber hinaus auch kein Vertrauensschutz zugestanden werden. Darüber hinaus sei angemerkt, dass entgegen dem Vorbringen in der Beschwerde insbesondere aufgrund der ausdrücklichen Normierung in § 9 Abs. 3 AsylG 2005 („Ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ist jedenfalls einzuleiten, wenn der Fremde straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3) und das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß Abs. 1 oder 2 wahrscheinlich ist.“) dem BF insofern kein Vertrauensschutz zukommen kann, als er wiederholt straffällig wurde/ wird.
II.3.2.2.2. Auch unter Berücksichtigung des Erkenntnisses des BVwG vom 07.05.2021, W236 2233016-1/27E, in welchem die zuständige Richterin des BVwG auch für die Anwendung des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 auf Fälle, in denen der subsidiär Schutzberechtigte seinen Status allein durch Ableitung im Familienverfahren von einer Bezugsperson erhielt, die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bezüglich des Asylaberkennungsgrunds des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK („Wegfall der Umstände“-Klausel; vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0059) für maßgeblich hält und wonach die entscheidungswesentliche Frage für die Anwendung § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 auf den BF darin liegt, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten an seine Mutter als Bezugsperson nicht mehr vorliegen, ergibt sich aus folgendem Grund keine andere Beurteilung:
Der Mutter des BF wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.09.2008 der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, weil sie an Multipler Sklerose erkrankt ist und das BAA auf Basis allgemeiner Feststellungen zur damals aktuellen Versorgungslage in der Russischen Föderation zu dem Schluss kam, dass nach einem Abbruch der Behandlung ihrer Krankheit in Österreich eine ausreichende ärztliche Versorgung in ihrem Herkunftsstaat nicht sichergestellt sei und damit eine menschenwürdige Existenz ebenso gefährdet sei wie die Versorgung ihrer Kinder. Da sie auch nicht auf die Unterstützung mit der Betreuung ihrer (drei) minderjährigen Kinder durch ihren Ehemann zählen könne, sei die Schwelle der Unzumutbarkeit im Licht der einschlägigen Regelungen der EMRK im Falle ihrer Rückkehr zum Entscheidungszeitpunkt überschritten.
Der Mutter des BF kommt nach wie vor der Status der subsidiär Schutzberechtigten zu. Es wurde kein Aberkennungsverfahren eingeleitet und die erteilte Aufenthaltsberechtigung wurde regelmäßig verlängert. Sie leidet an einer sekundär progredienten Form der Multiplen Sklerose, EDSS 9.0, bei welcher es zu einer kontinuierlichen funktionellen Verschlechterung kommt, wobei es auch gelegentliche Schübe und kleinere Remissionen geben kann. Die Mutter des minderjährigen Beschwerdeführers ist bettlägerig, 24 Stunden auf Betreuung angewiesen, zu 80% behindert und bezieht Pflegestufe 6.
Die zuständige Richterin des BVwG ist in ihrem Erkenntnis vom 7.05.2021, W236 2233016-1/27E, richtigerweise davon ausgegangen, dass sich an der Situation der Mutter des BF seit Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht nur nichts verbessert, sondern sich ihr Zustand in den letzten Jahren sogar massiv verschlechtert hat. Allerdings hat sich die Qualität der medizinischen Versorgung und Betreuung in der Russischen Föderation und Tschetschenien mittlerweile erheblich verbessert, womit eine Multiple Sklerose mittlerweile auch angemessen in der Russischen Föderation behandelt werden könnte:
Dies zeigt sich insbesondere aus einem Vergleich der Länderfeststellungen 2008, wonach Spitäler und Kliniken zwar wiederaufgebaut und ausgestattet worden seien […], die Qualität der medizinischen Versorgung [aber] nicht sehr hoch sei. Aus den aktuellen Länderfeststellungen ergibt sich hingegen, dass das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger der Russischen Föderation in der Verfassung verankert ist (GIZ 1.2021c; vgl. ÖB Moskau 6.2020), medizinische Versorgung von staatlichen und privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt wird, Staatsbürger im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung haben (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020), alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, von der Pflichtversicherung erfasst sind (ÖB Moskau 6.2020) und dies auch für Rückkehrer gilt. Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der 'Nationalen Projekte', die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 1.2021c).
Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).
Die sekundär progrediente Form der Multiplen Sklerose kann mit Medikamenten behandelt werden. Unter den Krankheiten, für die Medikamente kostenlos abgegeben werden (innerhalb der obligatorischen Krankenversicherung), finden sich auch Krankheiten des Nervensystems, wie Multiple Sklerose. Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken, stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, sind von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 6.2020). Dies gilt somit auch für Rückkehrer.
Medikamente für Multiple Sklerose sind in der Liste der unentbehrlichen Medikamente und Medizinprodukte enthalten (E-Mail-Auskunft von Kontaktperson A vom 22. November 2019; Russische Föderation, Dekret der Regierung der Russischen Föderation vom 10. Dezember 2018 Nr. 2738-r Nach Genehmigung der Liste der lebenswichtigen und essentiellen Arzneimittel für medizinische Zwecke für 2019, der Liste der Arzneimittel für medizinische Zwecke, der Liste der Arzneimittel zur Versorgung von Menschen mit Hämophilie, Mukoviszidose, Hypophysen-Zwergwuchs, Gaucher-Krankheit, maligne Neoplasien von lymphoiden, hämatopoetischen und verwandten Geweben, Multiple Sklerose, Personen nach Transplantation von Organen und (oder) Geweben sowie die Mindestanzahl an Medikamenten, die für die medizinische Versorgung erforderlich sind).
Der EGMR (s. etwa EGMR 7.7.1989, Fall Soering, EuGRZ 1989, 314 [319]; 30.10.1991, Fall Vilvarajah ua., ÖJZ 1992, 309 [309]; 6.3.2001, Fall Hilal, ÖJZ 2002, 436 [436 f.])geht davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden auszuliefern - oder in welcher Form immer außer Landes zu schaffen -, unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (VfSlg. 13.837/1994, 14.119/1995 und 14.998/1997).
Der EGMR befasste sich mehrmals mit der Frage der Vereinbarkeit der Abschiebung Kranker in einen anderen Staat mit Art3 EMRK:
Im Fall D. v. the United Kingdom (EGMR 2.5.1997, Appl. 30.240/96, newsletter 1997, 93) ging es um die Abschiebung eines an Aids im Endstadium erkrankten Staatsangehörigen von St. Kitts/Karibik, der bei der Einreise in das Vereinigte Königreich wegen Mitführens einer größeren Menge Kokain festgenommen und zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Der EGMR entschied in diesem Fall, dass zwar die Abschiebung Kranker nicht schlechthin unzulässig sei. Es seien die Besonderheiten jedes Einzelfalls zu berücksichtigen. Im konkreten Fall befand sich der Beschwerdeführer im fortgeschrittenen Stadium einer unheilbaren Krankheit, sodass eine Abschiebung nach St. Kitts den Beschwerdeführer einem realen Risiko aussetzen würde, unter äußerst schlimmen Umständen zu sterben. Der EGMR erkannte schließlich, dass unter diesen außergewöhnlichen Umständen eine Abschiebung als unmenschliche Behandlung iSd Art3 EMRK zu werten sei:
"In view of these exceptional circumstances and bearing in mind the critical stage now reached in the applicant's fatal illness, the implementation of the decision to remove him to St Kitts would amount to inhuman treatment by the respondent State in violation of Article 3 [...] Although it cannot be said that the conditions which would confront him in the receiving country are themselves a breach of the standards of art 3, his removal would expose him to a real risk of dying under most distressing circumstances and would thus amount to inhuman treatment".
Der EGMR sah somit die unmenschliche Behandlung in diesem Fall nicht bloß in der Krankheit des Beschwerdeführers, sondern in den besonderen Umständen, mit denen der Beschwerdeführer im Fall der Abschiebung konfrontiert wäre, nämlich im Risiko eines Todes unter qualvollen Umständen.
Im Fall Bensaid (EGMR 6.2.2001, Appl. 44.599/98), einer an Schizophrenie erkrankten Person, sah der EGMR in der Abschiebung nach Algerien keine Verletzung in Art 3 EMRK. Er bestätigte zwar die Ernsthaftigkeit des Krankheitszustandes, erklärte jedoch, dass die Möglichkeit einer Behandlung in Algerien grundsätzlich gegeben sei. Die Tatsache, dass die Umstände der Behandlung in Algerien weniger günstig seien, als im Vereinigten Königreich, sei im Hinblick auf Art 3 EMRK nicht entscheidend. Weiters sah der EGMR diesen Fall nicht mit dem unter Pkt. 2.1 dargestellten Fall D. v. the United Kingdom vergleichbar. Der EGMR stellte auf die "hohe Schwelle" des Art3 EMRK ab, wenn die Zufügung von Leid nicht in die direkte Verantwortung eines Vertragsstaates falle:
“In the present case, the applicant is suffering from a long-term mental illness, schizophrenia. He is currently receiving medication, olanzapine, which assists him in managing his symptoms. If he returns to Algeria, this drug will no longer be available to him free as an outpatient. He does not subscribe to any social insurance fund and cannot claim any reimbursement. It is, however, the case that the drug would be available to him if he was admitted as an inpatient and that it would be potentially available on payment as an outpatient. It is also the case that other medication, used in the management of mental illness, is likely to be available. The nearest hospital for providing treatment is at Blida, some 75 to 80 km from the village where his family live.
The difficulties in obtaining medication and the stress inherent in returning to that part of Algeria, where there is violence and active terrorism, would, according to the applicant, seriously endanger his health. Deterioration in his already existing mental illness could involve relapse into hallucinations and psychotic delusions involving self-harm and harm to others, as well as restrictions in social functioning (such as withdrawal and lack of motivation). The Court considers that the suffering associated with such a relapse could, in principle, fall within the scope of Article 3.
The Court observes, however, that the applicant faces the risk of relapse even if he stays in the United Kingdom as his illness is long term and requires constant management. Removal will arguably increase the risk, as will the differences in available personal support and accessibility of treatment. The applicant has argued, in particular, that other drugs are less likely to be of benefit to his condition, and also that the option of becoming an inpatient should be a last resort. Nonetheless, medical treatment is available to the applicant in Algeria. The fact that the applicant’s circumstances in Algeria would be less favourable than those enjoyed by him in the United Kingdom is not decisive from the point of view of Article 3 of the Convention.
The Court finds that the risk that the applicant would suffer a deterioration in his condition if he were returned to Algeria and that, if he did, he would not receive adequate support or care is to a large extent speculative. The arguments concerning the attitude of his family as devout Muslims, the difficulty of travelling to Blida and the effects on his health of these factors are also speculative. The information provided by the parties does not indicate that travel to the hospital is effectively prevented by the situation in the region. The applicant is not himself a likely target of terrorist activity. Even if his family does not have a car, this does not exclude the possibility of other arrangements being made.
The Court accepts the seriousness of the applicant’s medical condition. Having regard, however, to the high threshold set by Article 3, particularly where the case does not concern the direct responsibility of the Contracting State for the infliction of harm, the Court does not find that there is a sufficiently real risk that the applicant’s removal in these circumstances would be contrary to the standards of Article 3. The case does not disclose the exceptional circumstances of D. v. the United Kingdom (cited above), where the applicant was in the final stages of a terminal illness, Aids, and had no prospect of medical care or family support on expulsion to St Kitts."
Ebenso wenig erkannte der EGMR im Fall Ndangoya (EGMR 22.6.2004, Appl. 17.868/03) eine Verletzung in Art 3 EMRK durch die Abschiebung einer mit HIV infizierten, noch nicht an Aids erkrankten Person. Der EGMR stellte fest, dass AIDS ohne Behandlung in etwa ein bis zwei Jahren ausbrechen dürfte, dass aber eine medizinische Behandlung im Herkunftsland (Tanzania) möglich sei. Dann fährt der EGMR fort:
"It is true that the treatment might be difficult to come by in the countryside where the applicant would prefer to live upon return, but the Court notes that the applicant is in principle at liberty to settle at a place where medical treatment is available."
Dem Fall Salkic and others (EGMR 29.6.2004, Appl. 7702/04) lag ein Sachverhalt zu Grunde, nach dem den Eltern nach ihrer Einreise in Schweden im Jahr 2002 ein posttraumatisches Belastungssyndrom diagnostiziert wurde und ein Gutachten dem 14 Jahre alten Sohn und der 8 Jahre alten Tochter ein sehr schweres Trauma attestierte. Der EGMR sah in der Abschiebung der Familie unter Verweis auf den o.a. Fall D. v. the United Kingdom keine Verletzung in Art3 EMRK.
Auch im Fall Ovdienko (EGMR 31.5.2005, Appl. 1383/04) lag nach der Entscheidung des EGMR keine Verletzung von Art 3 EMRK durch die Zurückschiebung einer an einem posttraumatischen Stresssyndrom und an Depressionen leidenden Person vor. Diese hatte sich seit 2002 in psychiatrischer Behandlung befunden und wurde teilweise in einer geschlossenen psychiatrischen Krankenanstalt behandelt. Der EGMR begründete seine Entscheidung neuerlich damit, dass der Beschwerdeführer nicht an einer unheilbaren Krankheit im Endstadium leide und verwies auf seine Entscheidung im Fall D. v. the United Kingdom.
Auch im Fall Hukic (EGMR 29.9.2005, Appl. 17.416/05) wurde die Abschiebung des am Down-Syndrom leidenden Beschwerdeführers nach Bosnien-Herzegowina für zulässig erklärt und wurde ausgeführt, dass die Möglichkeit der medizinischen Versorgung in Bosnien-Herzegowina gegeben sei. Dass die Behandlung in Bosnien-Herzegowina nicht den gleichen Standard wie in Schweden aufweise und unter Umständen auch kostenintensiver sei, sei nicht relevant. Notwendige Behandlungsmöglichkeiten wären gegeben und dies sei jedenfalls ausreichend. Im Übrigen hielt der Gerichtshof fest, dass ungeachtet der Ernsthaftigkeit eines Down-Syndroms, diese Erkrankung nicht mit den letzten Stadien einer tödlich verlaufenden Krankheit zu vergleichen sei.
Dass sich der Gesundheitszustand durch die Abschiebung verschlechtert ("mentaler Stress" ist nicht entscheidend), ist vom Antragsteller konkret nachzuweisen, bloße Spekulationen über die Möglichkeit sind nicht ausreichend. In der Beschwerdesache Ovdienko gg. Finnland vom 31.05.2005, Nr. 1383/04, wurde die Abschiebung des Beschwerdeführers, der seit 2002 in psychiatrischer Behandlung war und der selbstmordgefährdet ist, für zulässig erklärt; mentaler Stress durch eine Abschiebungsdrohung in die Ukraine ist kein ausreichendes "real risk".
Im Fall Ayegh (EGMR 7.11.2006, Appl. 4701/05) drohte einem Beschwerdeführer, dem in zwei Gutachten eine schwere Traumatisierung, Depressionen, Angstzustände und die Gefahr, Selbstmord zu begehen, attestiert wurden, die Abschiebung in den Iran. Der EGMR begründete seine Entscheidung, die Beschwerde für unzulässig zu erklären, damit, dass schlechtere Behandlungsmöglichkeiten im Iran kein Abschiebehindernis seien und dass auch die Selbstmorddrohung für den Fall der Ausweisung den Staat nicht daran hindere, die Abschiebung zu vollziehen, vorausgesetzt, dass konkrete Maßnahmen zur Verhinderung des angedrohten Selbstmordes vom Staat ergriffen werden.
Die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Russland im Fall Goncharova & Alekseytsev (EGMR 3.5.2007, Appl. 31.246/06) erkannte der EGMR nicht als Verletzung in Art3 EMRK, obwohl der Zweitbeschwerdeführer schwer psychisch krank war, bereits zwei Selbstmordversuche hinter sich und gedroht hatte, sich im Falle der Abschiebung umzubringen. Der EGMR begründete seine Entscheidung erneut - unter Zitierung der Entscheidung D. v. United Kingdom - damit, dass nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände Art3 EMRK verletzt sein könnte. Der Zweitbeschwerdeführer sei jedoch nicht in einer geschlossenen Anstalt gewesen und habe auch nicht ständigen Kontakt mit einem Psychiater gehabt. Auch die Drohung, im Falle der Abschiebung Selbstmord zu begehen, hindere den Vertragsstaat nicht daran, die Abschiebung zu veranlassen.
Zusammenfassend ergibt sich aus den erwähnten Entscheidungen, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gibt (vgl. Pkt. 2.3 Fall Ndangoya). Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Art 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (Fall D. v. the United Kingdom).
Die durch die Rechtsprechung des EGMR festgelegten Grundsätze führen im vorliegenden Fall zu folgendem Ergebnis:
Eine akute lebensbedrohende Krankheit der Mutter des BF, welche eine Überstellung in den Herkunftsstaat gemäß der dargestellten Judikatur des EGMR verbieten würde, liegt im konkreten Fall nicht vor. Bei der Krankheit der Mutter des BF handelt es sich um eine sekundär progrediente Form der Multiplen Sklerose, bei welcher es (im Gegensatz zu akuten Schüben) zu einer kontinuierlichen funktionellen Verschlechterung kommt, wobei es auch gelegentliche Schübe und kleinere Remissionen geben kann. Unabhängig von ihrem Aufenthaltsort wird sich ihr Zustand daher mit der Zeit verschlechtern und erfordert der Zustand der Mutter des BF eine dauerhafte Betreuung.
Wie festgestellt, ist eine medizinische Versorgung der Mutter des BF im Herkunftsstaat aber gewährleistet. Darüber hinaus wäre auch der Transport in die Russische Föderation unter möglichster Schonung und unter Berücksichtigung ihres Gesundheitszustandes zumutbar.
Dass die diesbezüglichen Behandlungsmöglichkeiten im Zielland allenfalls schlechter sind als im Aufenthaltsland, und allfälligerweise größere Kosten verursachen, ist gemäß der EGMR-Judikatur nicht ausschlaggebend (vgl. insbesondere auch Urteil des EGMR vom 06.02.2001, Beschwerde Nr. 44599, Case of Bensaid v. The United Kingdom oder auch VwGH v. 7.10.2003, 2002/01/0379).
Ebenso ist davon auszugehen, dass Österreich im Bedarfsfalle in der Lage ist, im Rahmen aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausreichende medizinische Begleitmaßnahmen zu setzen (VwGH 25.4.2008, 2007/20/0720 bis 0723, VfGH v. 12.6.2010, Gz. U 613/10-10 und ebenso Erk. des AsylGH vom 12.3.2010, B7 232.141-3/2009/3E).
Durch eine Abschiebung der Mutter des BF würde Art. 3 EMRK nicht verletzt und reicht es jedenfalls aus, wenn medizinische Behandlungsmöglichkeiten im Land der Abschiebung verfügbar sind. Auch unter Berücksichtigung der Covid-19 Pandemie ergibt sich hierzu keine andere Beurteilung.
Auch unter Berücksichtigung der sonstigen Umstände der Mutter des BF kann im konkreten Fall nicht festgestellt werden, dass außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen würden, die die hohe Schwelle eines Eingriffs iSv Art. 2 und 3 EMRK erreichen würden. Aus den Länderfeststellungen ergibt sich, dass die Russische Föderation ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem hat. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2019). Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien: z.B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 €], monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 €] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (AA 2.2.2021).
Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Arbeitnehmer mit einem Invalidenstatus haben das Recht auf eine Invaliditätspension. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Die Invaliditätspension wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Pensionsalters (IOM 2019). Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension beeinträchtigter Menschen bei 9.823 Rubel [ca. 109 €]. Menschen mit Beeinträchtigungen können eine Pension in Höhe von bis zu 14.093 Rubel [ca. 156 €] monatlich erhalten (AA 2.2.2021).
Unter Zuhilfenahme dieser Sozialversicherungsleistungen sowie unter Berücksichtigung, dass die Mutter des BF noch über Familienangehörige in ihrem Herkunftsstaat und über Familienangehörige in Österreich, welche sie finanziell unterstützen könnten, verfügt, kann davon ausgegangen werden, dass die Mutter des BF in der Russischen Föderation angemessen behandelt werden kann, ohne in eine existenzbedrohende bzw aussichtslose Lage zu geraten. Die kostenfreie Versorgung der Versicherung umfasst nämlich laut Länderbericht nicht nur die Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, sondern auch die Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken sowie die stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Aufgrund des Pflegebedarfs der Mutter des BF und der damit wohl einhergehenden höheren (Invaliditäts)Pension, könnte die Mutter des BF auch eine 24h Pflege in Anspruch nehmen. Außerdem wären sowohl der BF sowie sein älterer Bruder, vorausgesetzt entsprechende aufenthaltsbeendende Maßnahmen werden durchgesetzt, für eine Pflege und Betreuung der Mutter in Heimatstaat verfügbar.
II.3.2.2.3. Im Fall des BF liegt demnach jedenfalls der in § 9 Abs. 1 Z 1 2. Fall AsylG 2005 vorgesehene Aberkennungstatbestand vor. Da dem BF somit der Status des subsidiär Schutzberechtigten schon aus den Gründen des § 9 Abs. 1 AsylG 2005 abzuerkennen ist, ist in weiterer Folge nicht mehr zu prüfen, ob eine der in § 9 Abs. 2 AsylG 2005 genannten Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten vorliegt.
II.3.2.3. Zusammengefasst liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten somit nicht mehr vor, weshalb die Aberkennung nach § 9 Abs. 1 Z 1 (zweiter Fall) AsylG 2005 zu Recht erfolgte.
Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten war gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 mit dem Entzug der Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte zu verbinden. Der BF hat nach Rechtskraft der Aberkennung Karten, die den Status von subsidiär Schutzberechtigten bestätigen, der Behörde zurückzustellen.
II.3.3. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels und Erlassung einer Rückkehrentscheidung:
II.3.3.1 Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden, wenn einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt wird.
Der Aufenthalt des BF ist nicht geduldet. Er ist nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch kein Opfer von Gewalt. Die Erfüllung der Voraussetzungen des § 57 AsylG liegen nicht vor, wobei dies weder im Verfahren noch in der Beschwerde auch nur behauptet wurde. Sohin war die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
II.3.3.2. Gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG hat das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Der BF ist als Staatsangehöriger der Russischen Föderation kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und es kommt ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu.
II.3.3.3. Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
Gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind.
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Art. 8 Abs. 2 EMRK erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen. In diesem Sinne wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wögen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren sowie die Frage zu berücksichtigen, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (vgl. VfGH 29.09.2007, B 1150/07-9; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423).
Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem auch, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer „Familie“ voraussetzt.
Vom Prüfungsumfang des Begriffs des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, die miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Art. 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig. Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus; die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammengelebt haben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind (vgl. etwa VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423; 08.06.2006, 2003/01/0600; 26.01.2006, 2002/20/0235, worin der Verwaltungsgerichtshof feststellte, dass das Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern nicht automatisch mit Erreichen der Volljährigkeit beendet wird, wenn das Kind weiter bei den Eltern lebt).
Beim Topos des Privatlebens spielt die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle, da abseits familiärer Umstände erst nach einigen Jahren eine Integration im Aufenthaltsstaat anzunehmen sein wird, die von Art. 8 EMRK geschützt ist (Vgl. Thym, EuGRZ, 2006, 541 ff).
In seiner rezenten Judikatur hat der Verwaltungsgerichtshof eine Trennung von Familienangehörigen, mit denen ein gemeinsames Familienleben im Herkunftsland nicht zumutbar ist, im Ergebnis nur dann für gerechtfertigt erachtet, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie etwa bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regeln über den Familiennachzug (vgl. VwGH 24.09.2019, Ra 2019/20/0446). Insbesondere schwerwiegende kriminelle Handlungen - etwa nach dem SMG -, aus denen sich eine vom Fremden ausgehende Gefährdung ergibt, können die Erlassung einer Rückkehrentscheidung daher auch dann tragen, wenn diese zu einer Trennung von Familienangehörigen führt (vgl. VwGH 28.11.2019, Ra 2019/19/0359).
Private Interessen am Verbleib im Bundesgebiet können facettenreich sein. Tendenziell ist eine (regelmäßige) Erwerbstätigkeit und vor allem die damit verbundene Selbsterhaltungsfähigkeit ein wichtiger Aspekt. Im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 20. 4. 2006, 2005/18/0560, dürfte mitentscheidend gewesen sein, dass der Beschwerdeführer seit fast fünf Jahren ununterbrochen, noch dazu beim selben Dienstgeber, legal beschäftigt war. Für die wirtschaftliche Integration ist nicht maßgeblich, ob es sich um eine qualifizierte Tätigkeit handelt. Hingegen erachtet der Verwaltungsgerichtshof die Integration als stark gemindert, wenn Unterstützungszahlungen karitativer Einrichtungen oder bloße Gelegenheitsarbeiten den Unterhalt gewährleisten oder erst gegen Ende des mehrjährigen Aufenthalts die Tätigkeit als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter ins Treffen geführt werden kann und bis dahin Sozialhilfe bezogen wurde (vgl. VwGH 11. 10. 2005, 2002/21/0124; VwGH 22. 6. 2006, 2006/21/0109; VwGH 5. 7. 2005, 2004/21/0124 u.a.).
Der Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist. Nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme bzw. die Nichterteilung eines humanitären Aufenthaltstitels ausnahmsweise nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. etwa VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005).
Der Aspekt der Bindungen zum Heimatstaat steht in direkter Beziehung zur Integration im Bundesgebiet: Je länger der Aufenthalt im Gastland, desto stärker wird der Verlust an Bindungen zum Heimatland sein. Mit der Abnahme von Bindungen zum Herkunftsstaat wird in der Regel auch der Integrationsgrad im Bundesgebiet zunehmen. Das Fehlen jeglicher Verwandter und sonstiger Bezugspersonen im Heimatland wird ebenso wie der zwischenzeitlich eingetretene Verlust der Sprache des Heimatlandes für die Frage der Zumutbarkeit einer Reintegration maßgebliche Bedeutung erlangen (Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 858 f.).
II.3.3.3.1. Bei Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.
Der BF kam als ca dreijähriger 2007 mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Österreich. Wenig später kam ein weiterer Bruder zur Welt, der Vater und die Großmutter väterlicherseits sowie mütterlicherseits des BF zogen schließlich nach. Der Vater des BF wurde bereits abgeschoben. Eine Zeit lang pflegten der BF und seine Brüder die Mutter, mittlerweile übernimmt aber die Großmutter des BF mütterlicherseits die hauptsächliche Betreuungsleistung. Seit März 2021 lebte der BF nicht mehr bei seiner Mutter bzw Großmutter, sondern in einer von XXXX geförderten und betreuten Wohnung. Nun befindet sich der BF in Haft. Der BF ist seit Juli 2021 volljährig, er wäre jedoch – auch außerhalb der Haft - derzeit noch nicht in der Lage, sich selbst zu erhalten und ist finanziell von seiner Mutter abhängig.
Beim BF liegt daher ein Eingriff in sein Familienleben vor. Die Beziehung mit XXXX fällt nach Ansicht des erkennenden Gerichts aufgrund der fehlenden Intensität der Beziehung insbesondere aufgrund des Haftaufenthaltes des BF nicht unter den Begriff des „Familienlebens“ im Sinne der oben genannten Rechtsprechung.
Der BF ist seit mittlerweile 14 Jahren in Österreich aufhältig, spricht die deutsche Sprache besser als Tschetschenisch, besuchte verschiedene Schulen in Österreich (wenn er auch keinen Abschluss machte) und kann aufgrund der Dauer seines Aufenthaltes von einem gewissen Freundeskreis ausgegangen werden. Der BF ging allerdings trotz fehlendem Pflichtschulabschluss auch keiner Erwerbstätigkeit nach. Darüber hinaus wurde der BF mittlerweile fünf Mal straffällig und wurde er aufgrund dessen bereits dreimal verurteilt und zweimal wurde aufgrund seines Alters nur der Schuldspruch unter Vorbehalt der Strafe ausgesprochen. Eine weitere Anklage gegen den BF ist derzeit anhängig.
II.3.3.3.2. Es ist in weiterer Folge zu prüfen, ob ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und/oder Familienlebens des Beschwerdeführers im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Art. 8 EMRK gedeckt ist und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSv. Art. 8 (2) EMRK, in verhältnismäßiger Weise verfolgt.
Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann ein über zehnjähriger inländischer Aufenthalt den persönlichen Interessen eines Fremden am Verbleib im Bundesgebiet - unter Bedachtnahme auf die jeweils im Einzelfall zu beurteilenden Umstände - ein großes Gewicht verleihen bzw. eine auf einen unrechtmäßigen Aufenthalt gegründete aufenthaltsbeendende Maßnahme als unverhältnismäßig erscheinen lassen. Eine nachhaltige Integration wird daher nicht verlangt, wenn der Inlandsaufenthalt eines Fremden die Dauer von zehn Jahren übersteigt (vgl. VwGH 04.03.2020, Ra 2020/21/0010). Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, können solche aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ausnahmsweise auch nach einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen werden. Diese Rechtsprechung betraf allerdings nur Konstellationen, in denen sich aus dem Verhalten des Fremden - abgesehen vom unrechtmäßigen Verbleib in Österreich - sonst keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergab. Die "Zehn-Jahres-Grenze" spielte in der bisherigen Judikatur nur dann eine Rolle, wenn einem Fremden kein - massives - strafrechtliches Fehlverhalten vorzuwerfen war (vgl. VwGH vom 10.11.2015, Ro 2015/19/0001). Diese Rechtsprechung zu Art. 8 MRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (vgl. E 26. Februar 2015, Ra 2015/22/0025; E 19. November 2014, 2013/22/0270).
Dem BF ist massives strafrechtliches Verhalten vorzuwerfen, zumal er bereits fünfmal rechtskräftig strafrechtlich verurteilt, davon dreimal wegen Verbrechenstatbeständen, und eine weitere Anklage gegen den BF erhoben wurde.
Bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ihre Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA-VG zu prüfen. Dabei ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0062, Rn. 11, mwN).
Zur Beurteilung des öffentlichen Interesses im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG bedarf es - neben der fallbezogen erforderlichen Bedachtnahme auf den Umstand, dass die Voraussetzungen für einen weiteren Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 nicht vorliegen - ebenso wie für das verhängte Einreiseverbot nach § 53 Abs. 3 FPG (bei dem auf eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit abzustellen ist) einer einzelfallbezogenen Einschätzung der vom Fremden aufgrund seiner Straffälligkeit ausgehenden Gefährdung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einer solchen Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0034, Rn. 13, mwN).
Gemäß der Rechtsprechung des EGMR sind bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, die strafrechtlich verurteilte Fremde betreffen, auch die Natur und Schwere der Straftat und ein eventuelles Wohlverhalten seit der letzten Verurteilung zu berücksichtigen (vgl. EGMR U 1.12.2016, Salem gg. Dänemark 77036/11).
Den Verurteilungen des BF liegen Taten zugrunde, die zwischen März XXXX und Mai XXXX begangen wurden. Erstmals wurde der BF mit Urteil des LG XXXX wegen des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch oder mit Waffen gemäß §§ 12 3. Fall, 15 Abs. 1, 127 und 129 Abs. 1 Z 3 StGB verurteilt. Diesem Urteil liegt zugrunde, dass der BF am 26.06.2018 „Schmiere stand“, während ein anderer versuchte, das Schloss des Fahrrades des Opfers aufzubrechen und mit Bereicherungsvorsatz wegzunehmen. Mit Urteil des BG XXXX wurde der BF rechtskräftig wegen des Vergehens der Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB verurteilt. Diesem Urteil liegt zugrunde, dass der BF am 13.03.2018 dem Opfer zumindest einen Faustschlag in das Gesicht versetzte, was eine starke Schwellung im Stirnbereich in Form einer Beule zur Folge hatte. In beiden Fällen handelt es sich um Verurteilungen nur wegen Vergehen und wurde der Ausspruch der wegen dieser Jugendstraftaten zu verhängenden Strafe gemäß § 13 JGG jeweils für eine Probezeit von drei Jahren vorbehalten (jedoch wurde anlässlich der vierten Verurteilung auf die jeweiligen Schuldsprüche dieser Urteile Bedacht genommen, siehe unten).
Der BF wurde ungeachtet dieser Verurteilungen wegen Vergehen bereits am 11.07.2018 und weiters am 17.01.2019 , dh etwa drei Monate seit der letzten Verurteilung, neuerlich straffällig, indem er am 11.07.2018 gemeinsam mit zwei Mittätern das Opfer durch einen Faustschlag und einen Schlag mit der flachen Hand jeweils in das Gesicht in Form einer Blutung am Innenohr und einer Schwellung am Ohr am Körper verletzte und weiters am 17.01.2019 von dem Opfer verlangte, er solle zugeben, dass er hinter einem Instagram-Account stehe oder „stecke“, wobei er zuvor mit geballten Fäusten und einem auf der rechten Faust ersichtlichen Schlagring auf das Opfer zuging, etwa einen Meter vor ihm stehenblieb und seine geballten Fäuste nach unten vom Körper weghielt.
Der BF wurde wegen dieser Taten mit Urteil des LG XXXX rechtskräftig wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 5 Z 2 StGB, des Vergehens der Nötigung gemäß §§ 15 Abs. 1, 105 Abs. 1 StGB und des Vergehens des Besitzes einer verbotenen Waffe gemäß § 50 Abs. 1 Z 2 WaffG unter Anwendung des § 28 StGB und des § 5 Z 4 JGG nach dem Strafsatz des § 84 Abs. 5 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt. Der Strafrahmen des § 84 Abs. 4 StGB beträgt sechs Monate bis fünf Jahre; im konkreten Fall des BF aufgrund der Anwendung des JGG betrug der Strafrahmen somit zweieinhalb Jahre, ein Mindestmaß entfiel. Bei der Strafbemessung ergab sich ein Überwiegen der Erschwerungs- über die Milderungsgründe (so wurden mildernd das Geständnis, erschwerend die einschlägige Vorstrafe und das Zusammentreffen mehrerer Vergehen und eines Verbrechens gewertet); die konkret verhängte Freiheitsstrafe bewegt sich jedoch noch in der unteren Hälfte des zur Verfügung stehenden Strafrahmens und wurde zudem bedingt verhängt. Eine Steigerung der Gewaltbereitschaft des BF ist allerdings bereits ersichtlich.
Acht Monate nach der zweiten Verurteilung wurde der BF darüber hinaus im Juni 2019 neuerlich straffällig. Der BF trug an drei Gelegenheiten bei, mit Gewalt gegen die Opfer fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wegzunehmen, indem er sich der vorherigen Absprache entsprechend in unmittelbarer Nähe des Tatgeschehens positioniere, um einerseits die Umgebung zu beobachten und Aufpasserdienste zu leisten, andererseits bei Bedarf einzuschreiten, in das Tatgeschehen einzugreifen und entweder selbst tätlich zu werden oder die Tatausführung des unmittelbaren Täters sonst wie zu fördern. Der BF versuchte weiters im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit zwei Mittätern durch Versetzen von Faustschlägen und Fußtritten gegen den gesamten Körper, auch nachdem dieser bereits zu Boden gestürzt war, sowie durch Versetzen von Faustschlägen gegen das Gesicht an sich schwer am Körper zu verletzen. Der BF kaufte schließlich ein Mobiltelefon, das einer der Täter einer mit Strafe bedrohten Handlung gegen fremdes Vermögen erlangt hatte.
Er wurde dafür mit Urteil des LG XXXX rechtskräftig wegen des Verbrechens des Raubes gemäß §§ 15 Abs. 1, 142 Abs. 1 als Beteiligter im Sinn des § 12 3. Fall, des Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß §§ 15 Abs. 1, 84 Abs. 4 StGB und des Vergehens der Hehlerei gemäß § 164 Abs. 1 und 2 StGB unter Einbeziehung der Schuldsprüche des LG XXXX und des BG XXXX , unter Bedachtnahme gemäß § 31 Abs. 1 StGB auf das Urteil des Landesgerichtes LG XXXX unter Anwendung der §§ 28 Abs. 1 und 40 StGB und des § 5 Z 4 JGG nach § 142 Abs. 1 StGB zu einer zusätzlichen Freiheitsstrafe von einundzwanzig Monaten verurteilt.
Es ergab sich ein Überwiegen der Erschwerungs- über die Milderungsgründe; so wurden bei der Strafbemessung mildernd das teilweise Geständnis und der Umstand, dass es überwiegend beim Versuch geblieben ist, erschwerend das Zusammentreffen von insgesamt sechs Verbrechen mit fünf Vergehen, die (leichten) Verletzungen von insgesamt drei Raubopfern und die Tatbegehung während Anhängigkeit eines Verfahrens gewertet. Die – unter Bedachtnahme auf die Schuldsprüche der beiden ersten Verurteilungen des Beschwerdeführers – konkret verhängte (Zusatz-)Freiheitsstrafe von einundzwanzig Monaten ist knapp bei über einem Drittel des zur Verfügung stehenden Strafrahmens angesiedelt (der maßgebliche Strafrahmen gemäß § 142 Abs. 1 StGB beträgt ein bis zehn Jahre; im konkreten Fall des BF betrug der zur Verfügung stehende Strafrahmen gemäß § 5 Z 4 JGG demnach – unter Entfall eines Mindestmaßes – fünf Jahre). Bezüglich dieser Verurteilung ist zwar zu berücksichtigen, dass es hinsichtlich beider Verbrechenstatbestände beim Versuch blieb, der BF verspürte dieses Mal allerdings bereits das Haftübel und zwar von 22.07.2019 bis 06.07.2020, wobei er am 06.07.2020 bedingt entlassen wurde. Dennoch wurde der BF bereits in weniger als einem Jahr erneut straffällig.
Mit Urteil des LG XXXX wurde er nämlich wegen des Verbrechens des Raubes nach § 12 3. Fall, 142 Abs. 1 StGB, wobei der BF als Mittäter mit dem Vorsatz, sich durch Sachzueignung unrechtmäßig zu bereichern einem anderen durch gefährliche Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben Sachen abgenötigt, dadurch beigetragen hat, dass er den anderen aufforderte mitzukommen, seine Tasche vorzuzeigen und sich so positionierte, dass dessen Flucht erschwert wurde und er bei Bedarf eingegriffen hätte und des Vergehens der Nötigung nach den § 15 Abs. 1, 105 Abs. 1 StGB, wobei der BF versuchte, das Opfer durch die mündliche Aufforderung „du rufst keine Polizei, wenn du die Polizei rufst, dann ficken wir dich“, demnach durch gefährliche Drohung mit zumindest einer Körperverletzung zur Unterlassung einer Anzeige bei der Polizei wegen der oben angeführten Tat zu nötigen unter Anwendung der §§ 28 Abs. 1 StGB und des § 5 Z 4 JGG zu einer Freiheitstrafe in der Dauer von 2 Jahren verurteilt. Bei der Strafbemessung überwogen wiederum die Erschwerungsgründe (mildernd wurde die Sicherstellung bzw Rückgabe der Beute, der teilweise Versuch sowie das Geständnis, erschwerend die Begehung während offener Probezeiten, vier auf der gleichen schädlichen Neigung beruhende vorhergehende Verurteilungen sowie das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen gewertet). Die konkret verhängte Freiheitsstrafe von vierundzwanzig Monaten ist hierbei wiederum bei im zweiten Drittel des zur Verfügung stehenden Strafrahmens angesiedelt (der maßgebliche Strafrahmen gemäß § 142 Abs. 1 StGB beträgt ein bis zehn Jahre; im konkreten Fall des BF betrug der zur Verfügung stehende Strafrahmen gemäß § 5 Z 4 JGG demnach – unter Entfall eines Mindestmaßes – fünf Jahre), zusätzlich wurde aber auch die bedingte Entlassung aus der Freiheitsstrafe widerrufen, womit weitere neun Monate in Haft hinzukommen.
Es ergibt sich insgesamt folgendes Bild des BF: Bei den Straftaten des BF handelt es sich zwar um Jugendstraftaten und wurde dabei der zur Verfügung stehende Strafrahmen nicht voll ausgenutzt, allerdings sind unbedingte Haftstrafen in Höhe von 3 Jahren und 9 Monaten bei einem Alter unter 18 Jahren dennoch konsiderabel. Außerdem zeigt sich, dass sich das Gewaltpotenzial des BF und das begangene Delikt fast mit jeder Straftat steigerte und ihn selbst das verspürte Haftübel nicht zurückschrecken ließ. Nicht nur wurde immer wieder Bewährungshilfe angeordnet, die Probezeiten verlängert und der BF einmal bedingt entlassen (was schließlich widerrufen wurde), er bekam auch sehr viel Unterstützung von „außen“, dh von Vereinen. So brachte der BF im Rahmen seiner Einvernahme am 10.02.2020 vor: „[…] Ich dachte über so ziemlich alles nach, was draußen falsch war, was gut wäre, wie ich mein Leben besser machen könnte, warum ich das gemacht habe. Und über all das habe ich nachgedacht, deshalb habe ich die Sozialnetzkonferenz angefragt und dort viele eingeladen, mit eingeschlossen die Frau S.. Ich habe meinen alten Lehrer, den M. T. vom Poly XXXX eingeladen, dann habe ich vom Verein XXXX den M. eingeladen. Die Bewährungshelferin musste sowieso kommen. Die B. S. vom Verein XXXX war da. Meine Oma auch. Es waren viele dabei. Mit denen habe ich gesprochen, wie es draußen besser sein könnte und welche Gründe es gäbe könnte, dass ich vorzeitig entlassen werde. Dort habe ich gesprochen, dass ich wöchentlich zur Bewährungshelferin gehen würde, dass ich öfters zum Verein Einstieg gehen würde wegen meinem Schulabschluss. Zur XXXX wollte ich gehen und habe dort eine Mentorin gesucht und gefunden. Sie heißt C. […]“. Der BF bekam auch eine eigene betreute Wohnung von XXXX zur Verfügung gestellt. All diese Hilfe und Unterstützung hielt den BF dennoch nicht ab kurze Zeit später erneut straffällig zu werden. Insofern kann dem Argument der Beschwerde, bereits das erstmalige Erleben des Haftübels würde einen Gesinnungswandel beim BF hervorrufen, nicht gefolgt werden. Der BF beteuerte in seiner Einvernahme vor dem BFA am 10.02.2020 bereits: „[…] In Zukunft würde er nicht mehr straffällig werden, weil er in der Strafhaft angefangen habe, über alles nachzudenken und wolle sich ändern, er habe eine Sozialnetzkonferenz angefragt und einen Plan für die Zukunft gemacht. […]“. Von einer Einsicht kann dabei aber nicht gesprochen werden, da er bereits weniger als ein Jahr später wieder straffällig wurde. Der BF befindet sich derzeit in Haft, weswegen ein „Nachtatverhalten“ bzw ein allfälliges Wohlverhalten und eine nachhaltige Veränderung und Besserung des BF noch nicht beurteilt werden kann. In seiner schriftlichen Stellungnahme vom 04.08.2021 brachte der BF zu seiner Straffälligkeit befragt vor, dass er mit den falschen Leuten zu der Zeit unterwegs gewesen sei und das Gericht ihm aufgrund seiner Vorstrafen nicht geglaubt habe, dass er an der Sache nicht beteiligt gewesen sei. Er bereue es mit den Komplizen unterwegs gewesen zu sein. Es tue ihm leid und er zerbreche sich den Kopf in der Haft. Bereits aufgrund dieser Angaben kann aber auf keine Einsicht des BF geschlossen werden, da er hier sogar behauptet, das Gericht glaube ihm nicht, anstatt seine Taten einzusehen. Aufgrund der Art der zugrundeliegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild des BF kann daher im gegenständlichen Zeitpunkt davon ausgegangen werden, dass seitens des BF eine Gefahr für die Gemeinschaft ausgeht und er dadurch eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit darstellt, womit das öffentliche Interesse seinen privaten und familiären Interessen überwiegt.
Der zuständige Richter des BVwG übersieht nicht, dass der BF die Russische Föderation bereits vor 14 Jahren verlassen hat, als dreijähriger eingereist ist und einen großen Teil seines Lebens in Österreich verbrachte. Dennoch steht all dies vor dem Hintergrund der massiven Straffälligkeit des BF einer Rückkehrentscheidung nicht entgegen. Diesbezüglich ist auf die Entscheidung des EGMR zu verweisen, in welcher dieser die Ausweisung einer im Gastland geborenen Person nach Art 8 Abs 2 EMRK für gerechtfertigt sah, wenn sie aufgrund der Begehung von gehäuften, in ihrer Schwere ansteigenden Gewaltdelikten erfolgt und die Person über gewisse Beziehungen zum Aufnahmestaat und über Grundkenntnisse der dort gesprochenen Sprache verfügt. Dass er nach der letzten Verurteilung nicht wieder straffällig geworden ist, sei darauf zurückzuführen, dass er sich derzeit in Haft befindet. Zudem beherrsche er auch die Sprache seines Heimatstaates, wo auch Verwandte von ihm leben (Mutlag gg. Deutschland, 25.03.2010, 40.601/05, Rz 55 ff.). Wenn die Ausweisung eines wiederholt straffällig gewordenen Fremden, der sich seit seiner Geburt im Aufenthaltsstaat aufgehalten hat, iSd Art. 8 EMRK gerechtfertigt ist, so muss dies auch für den Fall des BF gelten. Wie festgestellt verfügt der BF noch über Kenntnisse der tschetschenischen Sprache und über in der Russsischen Föderation aufhältige Familienangehörige.
In diesem Zusammenhang wird auch auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 23.03.1995, Zl. 95/18/0061, verwiesen, in welcher der VwGH ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass das wiederholte Fehlverhalten des Fremden (im damals vom VwGH beurteilten Verfahren waren dies die Delikte des Einbruchsdiebstahles und der Hehlerei) eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit bewirkt und derart schwerwiegend ist, dass auch die stark ausgeprägten privaten und familiären Interessen des Fremden, der mit seiner Familie, Frau und Kindern, seit fünfzehn Jahren in Österreich lebte, zurücktreten müssen (vgl. auch VwGH 08.02.1996, 95/18/0009).
Entscheidend ist im gegebenen Fall aber auch bei Miteinbeziehung der Auswirkungen auf das Familienleben des BF, dass aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen das öffentliche Interesse an der Außerlandesbringung des BF besonders schwer wiegt und eine Interessensabwägung daher nicht zugunsten eines aufrechten Familienlebens ausschlagen kann, zumal der BF durch seine Straffälligkeit jedenfalls in Kauf nahm, von seiner Familie getrennt zu werden und erfolgt diese Beeinträchtigung nicht erst durch die Außerlandesbringung des BF.
Den privaten Interessen des BF, der bisher weder einen Schulabschluss gemacht hat, noch eine Lehre begonnen oder einer anderen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist und keinem Verein angehört, an einem Verbleib im Bundesgebiet ist fallgegenständlich angesichts der Ausführungen oben insbesondere sein straffälliges Verhalten entgegen zu halten. Gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wird die für die Integration eines Fremden wesentliche soziale Komponente durch vom Fremden begangene Straftaten erheblich beeinträchtigt (vgl. etwa VwGH 30.01.2007, 2004/21/0045 mwH). Die Begehung von Straftaten stellt einen eigenen Grund für die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen dar (VwGH 24.7.2002, 2002/18/0112). Es überwiegt daher das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit das Interesse des BF an der Aufrechterhaltung seiner privaten Bindungen im Bundesgebiet.
Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist die belangte Behörde somit zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes des BF im Bundesgebiet seinen persönlichen Interessen am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt. Die Erlassung der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG stellt sohin keine Verletzung des BF in seinem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iVm Art. 8 EMRK dar. Die Erlassung der Rückkehrentscheidung war daher im vorliegenden Fall geboten und ist auch nicht unverhältnismäßig. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 ist daher ebenfalls nicht geboten.
II.3.3.4. Mit der Erlassung der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig festzustellen, dass die Abschiebung in einen bestimmten Staat zulässig ist.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 2 FPG unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative. Das entspricht dem Tatbestand des § 3 AsylG 2005.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 EMRK oder das 6. bzw. 13. ZPEMRK verletzt würden oder für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre. Das entspricht dem Tatbestand des § 8 Abs. 1 AsylG 2005.
Die Abschiebung ist schließlich nach § 50 Abs. 3 FPG unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
Dem BF droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation keine Gefahr iSd § 3 AsylG 2005, § 50 Abs. 2 FPG.
Aus den dargelegten Gründen droht dem BF bei der Ansiedelung in der Russischen Föderation keine Gefahr iSd § 8 AsylG 2005, § 50 Abs. 1 FPG.
Eine Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte besteht für die Russische Föderation nicht.
Die Abschiebung des BF in die Russische Föderation ist daher zulässig.
II.3.3.5. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
Gemäß § 55 Abs. 4 FPG hat das Bundesamt von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG aberkannt wurde.
Das BFA hat der Beschwerde die aufschiebende Wirkung nicht aberkannt und dem BF eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt. Der BF brachte keine besonderen Umstände iSd § 55 Abs. 3 FPG vor, die er bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat und sind solche auch von Amts wegen nicht zu erkennen.
Der Eintritt der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 59 Abs. 4 FPG für die Dauer eines Freiheitsentzuges aufgeschoben, auf den wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung erkannt wurde.
Der BF befindet sich derzeit in Strafhaft. Im vorliegenden Fall war der Beginn der Frist für die freiwillige Ausreise daher mit dem Zeitpunkt der Enthaftung des BF anzusetzen. Andernfalls käme der BF, wenn die behördliche Entscheidung mehr als 14 Tage vor ihrer Enthaftung erlassen wird, nie in den Genuss der freiwilligen Ausreise, was mit Art. 7 der Rückführungsrichtlinie offenkundig in Widerspruch stünde (Szymanski in Schrefler-König/Szymanski, Fremdenpolizei- und Asylrecht § 59 FPG 2005; siehe dazu VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237). Daher war die Frist für die freiwillige Ausreise entsprechend anzupassen.
II.3.3.6. Die Beschwerde ist daher, soweit sie sich gegen die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides richtet, abzuweisen.
II.3.4. Zur Erlassung eines Einreiseverbotes:
II.3.4.1. Gemäß § 53 Abs. 1 FPG kann mit einer Rückkehrentscheidung vom BFA mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten. Nach § 53 Abs. 3 FPG kann ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.
Gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG hat als „bestimmte Tatsache“, die (u.a.) bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes von Relevanz ist, insbesondere zu gelten, wenn „ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist“.
Wie festgestellt wurde der BF im Sinne der Z 1 von einem Gericht sowohl zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten und einer wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist. Mit der Verurteilung des BF zu einer unbedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von 45 Monaten, überschreitet der BF die Tatsache einer Verurteilung „zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten“ um das 15-fache, was schon per se das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit indiziert. Zudem wurde der BF einschließlich der soeben angeführten Urteile insgesamt viermal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen verurteilt, weil sämtliche strafbaren Handlungen - jedenfalls auch - gegen Leib und Leben und somit gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet sind sowie einmal zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt. Damit ist der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG sogar dreimal erfüllt (arg. „oder“).
Trotz Vorliegen einer solchen, in § 53 FPG angeführten Tatsache ist jedoch dennoch eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen eine Prognose über die Möglichkeit der schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch den Verbleib des Fremden zu treffen ist.
Bei der für jedes Einreiseverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose ist das Gesamt(fehl)verhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in § 53 Abs. 2 FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 umschriebene Annahme gerechtfertigt ist (vgl. VwGH 20. 12. 2011, 2011/23/0256, Szymanski in Schrefler-König/Szymanski, Fremdenpolizei- und Asylrecht § 53 FPG 2005). Bei dieser Beurteilung kommt es demnach nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf das diesen zugrundeliegende Fehlverhalten, die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild an (vgl. VwGH 19.02.2013, 2012/18/0230).
II.3.4.2. Wie die belangte Behörde zutreffend festgehalten hat, hat der BF durch sein in Österreich gesetztes strafbares Verhalten in hohem Maße den Unwillen zur Befolgung der österreichischen Gesetze zum Ausdruck gebracht. Dieser wurde bereits fünfmal rechtskräftig verurteilt und ist eine weitere Anklage gegen den BF anhängig.
Den Verurteilungen des BF liegen Taten zugrunde, die zwischen März 2018 und Mai 2021 begangen wurden. Erstmals wurde der BF mit Urteil des LG XXXX wegen des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch oder mit Waffen gemäß §§ 12 3. Fall, 15 Abs. 1, 127 und 129 Abs. 1 Z 3 StGB verurteilt. Diesem Urteil liegt zugrunde, dass der BF am 26.06.2018 „Schmiere stand“, während ein anderer versuchte, das Schloss des Fahrrades des Opfers aufzubrechen und mit Bereicherungsvorsatz wegzunehmen. Mit Urteil des BG XXXX , wurde der BF rechtskräftig wegen des Vergehens der Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB verurteilt. Diesem Urteil liegt zugrunde, dass der BF am 13.03.2018 dem Opfer zumindest einen Faustschlag in das Gesicht versetzte, was eine starke Schwellung im Stirnbereich in Form einer Beule zur Folge hatte. In beiden Fällen handelt es sich um Verurteilungen nur wegen Vergehen und wurde der Ausspruch der wegen dieser Jugendstraftaten zu verhängenden Strafe gemäß § 13 JGG jeweils für eine Probezeit von drei Jahren vorbehalten (jedoch wurde anlässlich der vierten Verurteilung auf die jeweiligen Schuldsprüche dieser Urteile Bedacht genommen, siehe unten).
Der BF wurde ungeachtet dieser Verurteilungen wegen Vergehen bereits am 11.07.2018 und weiters am 17.01.2019 , dh etwa drei Monate seit der letzten Verurteilung, neuerlich straffällig, indem er am 11.07.2018 gemeinsam mit zwei Mittätern das Opfer durch einen Faustschlag und einen Schlag mit der flachen Hand jeweils in das Gesicht in Form einer Blutung am Innenohr und einer Schwellung am Ohr am Körper verletzte und weiters am 17.01.2019 von dem Opfer verlangte, er solle zugeben, dass er hinter einem Instagram-Account stehe oder „stecke“, wobei er zuvor mit geballten Fäusten und einem auf der rechten Faust ersichtlichen Schlagring auf das Opfer zuging, etwa einen Meter vor ihm stehenblieb und seine geballten Fäuste nach unten vom Körper weghielt.
Der BF wurde wegen dieser Taten mit Urteil des LG XXXX rechtskräftig wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 5 Z 2 StGB, des Vergehens der Nötigung gemäß §§ 15 Abs. 1, 105 Abs. 1 StGB und des Vergehens des Besitzes einer verbotenen Waffe gemäß § 50 Abs. 1 Z 2 WaffG unter Anwendung des § 28 StGB und des § 5 Z 4 JGG nach dem Strafsatz des § 84 Abs. 5 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt. Der Strafrahmen des § 84 Abs. 4 StGB beträgt sechs Monate bis fünf Jahre; im konkreten Fall des BF aufgrund der Anwendung des JGG betrug der Strafrahmen somit zweieinhalb Jahre, ein Mindestmaß entfiel. Bei der Strafbemessung ergab sich ein Überwiegen der Erschwerungs- über die Milderungsgründe (so wurden mildernd das Geständnis, erschwerend die einschlägige Vorstrafe und das Zusammentreffen mehrerer Vergehen und eines Verbrechens gewertet); die konkret verhängte Freiheitsstrafe bewegt sich jedoch noch in der unteren Hälfte des zur Verfügung stehenden Strafrahmens und wurde zudem bedingt verhängt. Eine Steigerung der Gewaltbereitschaft des BF ist allerdings bereits ersichtlich.
Acht Monate nach der zweiten Verurteilung wurde der BF darüber hinaus im Juni 2019 neuerlich straffällig. Der BF trug an drei Gelegenheiten bei, mit Gewalt gegen die Opfer fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wegzunehmen, indem er sich der vorherigen Absprache entsprechend in unmittelbarer Nähe des Tatgeschehens positioniere, um einerseits die Umgebung zu beobachten und Aufpasserdienste zu leisten, andererseits bei Bedarf einzuschreiten, in das Tatgeschehen einzugreifen und entweder selbst tätlich zu werden oder die Tatausführung des unmittelbaren Täters sonst wie zu fördern. Der BF versuchte weiters im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit zwei Mittätern durch Versetzen von Faustschlägen und Fußtritten gegen den gesamten Körper, auch nachdem dieser bereits zu Boden gestürzt war, sowie durch Versetzen von Faustschlägen gegen das Gesicht an sich schwer am Körper zu verletzen. Der BF kaufte schließlich ein Mobiltelefon, das einer der Täter einer mit Strafe bedrohten Handlung gegen fremdes Vermögen erlangt hatte.
Er wurde dafür mit Urteil des LG XXXX rechtskräftig wegen des Verbrechens des Raubes gemäß §§ 15 Abs. 1, 142 Abs. 1 als Beteiligter im Sinn des § 12 3. Fall, des Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß §§ 15 Abs. 1, 84 Abs. 4 StGB und des Vergehens der Hehlerei gemäß § 164 Abs. 1 und 2 StGB unter Einbeziehung der Schuldsprüche des LG XXXX und des BG XXXX , unter Bedachtnahme gemäß § 31 Abs. 1 StGB auf das Urteil des Landesgerichtes LG XXXX , unter Anwendung der §§ 28 Abs. 1 und 40 StGB und des § 5 Z 4 JGG nach § 142 Abs. 1 StGB zu einer zusätzlichen Freiheitsstrafe von einundzwanzig Monaten verurteilt.
Es ergab sich ein Überwiegen der Erschwerungs- über die Milderungsgründe; so wurden bei der Strafbemessung mildernd das teilweise Geständnis und der Umstand, dass es überwiegend beim Versuch geblieben ist, erschwerend das Zusammentreffen von insgesamt sechs Verbrechen mit fünf Vergehen, die (leichten) Verletzungen von insgesamt drei Raubopfern und die Tatbegehung während Anhängigkeit eines Verfahrens gewertet. Die – unter Bedachtnahme auf die Schuldsprüche der beiden ersten Verurteilungen des Beschwerdeführers – konkret verhängte (Zusatz-)Freiheitsstrafe von einundzwanzig Monaten ist knapp bei über einem Drittel des zur Verfügung stehenden Strafrahmens angesiedelt (der maßgebliche Strafrahmen gemäß § 142 Abs. 1 StGB beträgt ein bis zehn Jahre; im konkreten Fall des BF betrug der zur Verfügung stehende Strafrahmen gemäß § 5 Z 4 JGG demnach – unter Entfall eines Mindestmaßes – fünf Jahre). Bezüglich dieser Verurteilung ist zwar zu berücksichtigen, dass es hinsichtlich beider Verbrechenstatbestände beim Versuch blieb, der BF verspürte dieses Mal allerdings bereits das Haftübel und zwar von 22.07.2019 bis 06.07.2020, wobei er am 06.07.2020 bedingt entlassen wurde. Dennoch wurde der BF bereits in weniger als einem Jahr erneut straffällig.
Mit Urteil des LG XXXX wurde er nämlich wegen des Verbrechens des Raubes nach § 12 3. Fall, 142 Abs. 1 StGB, wobei der BF als Mittäter mit dem Vorsatz, sich durch Sachzueignung unrechtmäßig zu bereichern einem anderen durch gefährliche Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben Sachen abgenötigt, dadurch beigetragen hat, dass er den anderen aufforderte mitzukommen, seine Tasche vorzuzeigen und sich so positionierte, dass dessen Flucht erschwert wurde und er bei Bedarf eingegriffen hätte und des Vergehens der Nötigung nach den § 15 Abs. 1, 105 Abs. 1 StGB, wobei der BF versuchte, das Opfer durch die mündliche Aufforderung „du rufst keine Polizei, wenn du die Polizei rufst, dann ficken wir dich“, demnach durch gefährliche Drohung mit zumindest einer Körperverletzung zur Unterlassung einer Anzeige bei der Polizei wegen der oben angeführten Tat zu nötigen unter Anwendung der §§ 28 Abs. 1 StGB und des § 5 Z 4 JGG zu einer Freiheitstrafe in der Dauer von 2 Jahren verurteilt. Bei der Strafbemessung überwogen wiederum die Erschwerungsgründe (mildernd wurde die Sicherstellung bzw Rückgabe der Beute, der teilweise Versuch sowie das Geständnis, erschwerend die Begehung während offener Probezeiten, vier auf der gleichen schädlichen Neigung beruhende vorhergehende Verurteilungen sowie das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen gewertet). Die konkret verhängte Freiheitsstrafe von vierundzwanzig Monaten ist hierbei wiederum bei im zweiten Drittel des zur Verfügung stehenden Strafrahmens angesiedelt (der maßgebliche Strafrahmen gemäß § 142 Abs. 1 StGB beträgt ein bis zehn Jahre; im konkreten Fall des BF betrug der zur Verfügung stehende Strafrahmen gemäß § 5 Z 4 JGG demnach – unter Entfall eines Mindestmaßes – fünf Jahre), zusätzlich wurde aber auch die bedingte Entlassung aus der Freiheitsstrafe widerrufen, womit weitere neun Monate in Haft hinzukommen.
Es ergibt sich insgesamt folgendes Bild des BF: Bei den Straftaten des BF handelt es sich zwar um Jugendstraftaten und wurde dabei der zur Verfügung stehende Strafrahmen nicht voll ausgenutzt, so sind allerdings unbedingte Haftstrafen in Höhe von 3 Jahren und 9 Monaten bei einem Alter unter 18 Jahren dennoch konsiderabel. Außerdem zeigt sich, dass sich das Gewaltpotenzial des BF und das begangene Delikt fast mit jeder Straftat steigerte und ihn selbst das verspürte Haftübel nicht zurückschrecken ließ. Nicht nur wurde immer wieder Bewährungshilfe angeordnet, die Probezeiten verlängert und der BF einmal bedingt entlassen (was schließlich widerrufen wurde), er bekam auch sehr viel Unterstützung von „außen“, dh von Vereinen. So brachte der BF im Rahmen seiner Einvernahme am 10.02.2020 vor: „[…] Ich dachte über so ziemlich alles nach, was draußen falsch war, was gut wäre, wie ich mein Leben besser machen könnte, warum ich das gemacht habe. Und über all das habe ich nachgedacht, deshalb habe ich die Sozialnetzkonferenz angefragt und dort viele eingeladen, mit eingeschlossen die Frau S.. Ich habe meinen alten Lehrer, den M. T. vom Poly XXXX eingeladen, dann habe ich vom Verein XXXX den M. eingeladen. Die Bewährungshelferin musste sowieso kommen. Die B. S. vom Verein XXXX war da. Meine Oma auch. Es waren viele dabei. Mit denen habe ich gesprochen, wie es draußen besser sein könnte und welche Gründe es gäbe könnte, dass ich vorzeitig entlassen werde. Dort habe ich gesprochen, dass ich wöchentlich zur Bewährungshelferin gehen würde, dass ich öfters zum Verein Einstieg gehen würde wegen meinem Schulabschluss. Zur XXXX wollte ich gehen und habe dort eine Mentorin gesucht und gefunden. Sie heißt C. […]“. Der BF bekam auch eine eigene betreute Wohnung von XXXX zur Verfügung gestellt. All diese Hilfe und Unterstützung hielt den BF dennoch nicht ab kurze Zeit später erneut straffällig zu werden. Der BF beteuerte in seiner Einvernahme vor dem BFA am 10.02.2020 bereits: „[…] In Zukunft würde er nicht mehr straffällig werden, weil er in der Strafhaft angefangen habe, über alles nachzudenken und wolle sich ändern, er habe eine Sozialnetzkonferenz angefragt und einen Plan für die Zukunft gemacht. […]“. Von einer Einsicht kann dabei aber nicht gesprochen werden, da er bereits weniger als ein Jahr später wieder straffällig wurde. Auch in seiner schriftlichen Stellungnahme vom 04.08.2021 brachte der BF zu seiner Straffälligkeit befragt vor, dass er mit den falschen Leuten zu der Zeit unterwegs gewesen sei und das Gericht ihm aufgrund seiner Vorstrafen nicht geglaubt habe, dass er an der Sache nicht beteiligt gewesen sei. Er bereue es mit den Komplizen unterwegs gewesen zu sein. Es tue ihm leid und er zerbreche sich den Kopf in der Haft. Bereits aufgrund dieser Angaben kann aber auf keine Einsicht des BF geschlossen werden, da er hier sogar behauptet, das Gericht glaube ihm nicht, anstatt seine Taten einzusehen.
Aus dieser wiederholten Missachtung der österreichischen Rechtsordnung und dem Umstand, dass der BF durch die von ihm innerhalb kurzer zeitlicher Abstände begangenen Taten in besonders geschützte Rechtsgüter, wie das Eigentum und die körperliche Unversehrtheit, eingegriffen hat, kann lediglich geschlossen werden, dass dieser nicht gewillt ist, sich in Zukunft an die österreichische Rechtsordnung zu halten. Der BF hat, wie an anderer Stelle dargelegt, bislang keine erkennbaren Bemühungen im Hinblick auf eine Integration im Bundesgebiet unternommen, hat keinen Schulabschluss erlangt, keine Berufsausbildung absolviert und auch sonst keine Bemühungen bezüglich einer eigenständigen Bestreitung seines Lebensunterhaltes gezeigt. Demnach besteht auch in Hinkunft das Risiko, dass dieser neuerlich straffällig wird. Das BFA hat zu Recht ausgeführt, dass der BF durch sein Verhalten das Grundinteresse der Gesellschaft an Ruhe, Sicherheit für Person und Eigentum und an sozialem Frieden beeinträchtigt hat. Das vom BF bisher an den Tag gelegte strafrechtswidrige Verhalten lässt eine für ihn angestellte Zukunftsprognose in keiner Weise positiv ausfallen. Es kann nicht prognostiziert werden, dass sich der BF in Zukunft wohlverhalten bzw. nicht wieder straffällig werden wird, zumal er selbst nach der Verspürung des Haftübels binnen kurzer Zeit bereits erneut straffällig geworden ist und da dafür unter anderem auch eine längere Zeit des Wohlverhaltens seit der letzten Verurteilung bzw. Haftentlassung notwendig wäre. Das bisherige Verhalten des BF lässt einen Rückfall nicht ausschließen, sondern vielmehr nahelegen, zumal er bisher auch keine echte Einsicht gezeigt hat.
m Egebnis zeigt sich im Hinblick auf die Person der BF ein Charakterbild, das die Achtung der österreichischen Rechtsordnung sowie der hiesigen gesellschaftlichen Werte vermissen ließ und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin vermissen lässt.
Unter Berücksichtigung aller genannten Umstände und in Ansehung des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes des BF kann eine Gefährdung von öffentlichen Interessen, insbesondere an der Einhaltung der österreichischen Rechtsordnung und damit an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, als gegeben angenommen werden.
Es herrscht ein großes öffentliches Interesse an der Verhinderung von weiteren Straftaten und ist daher gegenständlich der Schluss zu ziehen, dass der BF durch sein gezeigtes Verhalten – und der daraus resultierenden negativen Zukunftsprognose – den Beweis für die schwerwiegende Gefährdung österreichischer – in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannter – öffentlicher Interessen erbracht hat und die Verhängung eines Einreiseverbotes als notwendiges Mittel zu dessen Begegnung zu betrachten ist.
Auch die im Lichte des Art. 8 EMRK gebotene Abwägung der privaten und familiären Interessen des BF mit den entgegenstehenden öffentlichen Interessen konnte im gegenständlichen Einzelfall eine Abstandnahme von der Erlassung eines Einreiseverbotes nicht rechtfertigen. Für die Interessenabwägung wird im Einzelnen auf die obigen Ausführungen betreffend die Rückkehrentscheidung verwiesen. Ergänzend lässt sich sagen, dass sich der BF zwar seit 2007 im Bundesgebiet aufhält, doch trat er in diesem Zeitraum wiederholt und zuletzt massiv strafrechtlich in Erscheinung und vermochten die seinerzeitigen strafrechtlichen Sanktionen den BF nicht zu einem nachhaltigen Umdenken zu verhelfen.
Bei Abwägung der genannten gegenläufigen Interessen gelangt das erkennende Gericht zur Auffassung, dass die Erlassung eines Einreiseverbotes zur Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen, somit zur Erreichung von im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Zielen, dringend geboten ist und somit die öffentlichen Interessen jene des BF überwiegen.
Angesichts des gegebenen Sachverhaltes kann nicht mit hinreichender Sicherheit gesagt werden, dass der BF nicht erneut straffällig werden wird, weshalb davon auszugehen ist, dass sein Aufenthalt im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung schwerwiegend gefährden werde und sohin der Tatbestand des § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG jedenfalls verwirklicht ist.
II.3.4.3. Im gegenständlichen Fall erweist sich allerdings die verhängte Dauer des Einreiseverbots mit 8 Jahren und 6 Monaten als nicht angemessen. Dies aus den folgenden Erwägungen:
Gemäß § 53 Abs. 3 Zif 1 FPG ist ein Einreiseverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes ist das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen miteinzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ördnung und Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft.
Das dargestellte Verhalten des BF ist jedenfalls Grundinteressen der öffentlchen Ordnung an der Einhaltung der Rechtsvorschriften hinsichtlich des Schutzes von Vermögenswerten und der gesellschaftlichen Werte zuwidergelaufen.
Die von der belangten Behörde verhängte Dauer des Einreiseverbotes im Ausmaß von 8 Jahren und 6 Monaten, das den vom Gesetzgeber für die in § 53 Abs. 3 Zif. 1 FPG normierten Tatbestände vorgesehenen Zeitrahmens von maximal 10 Jahren fast vollständig ausschöpft, steht jedoch im Vergleich zu den im gegenständlichen Fall begangenen Straftaten in Verbindung mit dem Alter des BF, den verhängten Freiheitsstrafen und dem konkreten Unrechtsgehalt der begangenen Straftaten unter Berücksichtigung aller Milderungs- und Erschwernisgründe außer Relation.
Angesichts der dargestellten Verurteilungen ist auch auf Grund der Persönlichkeitsstruktur des BF weiterhin davon auszugehen, dass von diesem eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ausgeht, zumal mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sein wird, dass der BF angesichts der in der Vergangenheit gezeigten Bereitschaft, sich durch kriminelle Handlungen ein Einkommen zu verschaffen, weiterhin solche vergleichbare Straftaten begehen wird, so erscheint die Verhängung eines sechsjährigen Einreiseverbotes angesichts der im Rahmen der Rückkehrentscheidung dargestellten familiären Verhältnisse des BF in Österreich ausreichend um dem BF die Möglichkeit zu geben, seinen Gesinnungswandel durch ein entsprechendes Wohlverhalten darzutun.
II.3.5. Zum Unterbleiben der mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG. Grundlegend sprach der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 28.05.2014, Zl. Ra 2014/20/0017 und -0018, aus, dass eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Ferner muss die Verwaltungsbehörde die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht diese tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung in seiner Entscheidung teilen. Auch darf im Rahmen der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüberhinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten ebenso außer Betracht zu bleiben hat, wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 23.1.2019, Ra 2018/19/0391, mwN).
Bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen kommt der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl in Bezug auf die (allenfalls erforderliche) Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. In eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann allerdings eine Verhandlung unterbleiben (vgl. etwa VwGH 17.11.2016, Ra 2016/21/0316; 26.1.2017, Ra 2016/21/0233; 29.8.2019, Ra 2017/19/0532, jeweils mwN).
Wie in der Beweiswürdigung dargelegt, sind die genannten Kriterien im vorliegenden Fall erfüllt, da der Sachverhalt durch die belangte Behörde vollständig erhoben wurde und nach wie vor die gebotene Aktualität aufweist (der angefochtene Bescheid wurde im September 2021 erlassen, wobei sich aus dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichtes keine Hinweise auf eine Änderung der entscheidungsmaßgeblichen Situation ergeben). Die Beweiswürdigung des BFA wurde seitens des Bundesverwaltungsgerichtes bestätigt, wobei das Anführen weiterer - das Gesamtbild lediglich abrundender - Argumente in diesem Zusammenhang nicht schadet (vgl. VwGH 18.6.2014, 2014/20/0002-7). Im Übrigen findet sich in der Beschwerdeschrift ein lediglich unsubstantiiertes Vorbringen, welches im konkreten Fall nicht dazu geeignet ist, die erstinstanzliche Entscheidung in Frage zu stellen. Auch in der Beschwerdeschrift wurde eine dem BF im Falle einer Rückkehr drohende Gefährdungslage, welche die Gewährung internationalen Schutzes erforderlich machen würde, nicht konkret dargelegt. Da sich auch bei Zugrundelegung aller für den BF sprechenden familiären und privaten Aspekte aufgrund der fehlenden Integration im Bundesgebiet in Zusammenschau mit den begangenen Straftaten jedenfalls ein Überwiegen der öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung zwecks Verhinderung weiterer gleichgelagerter Straftaten ergibt und die Beschwerde den Erwägungen im angefochtenen Bescheid, die zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes geführt haben, nicht konkret entgegengetreten ist, erwies sich die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks auch vor diesem Hintergrund nicht als erforderlich. Die Beschwerde hat keine Sachverhalte aufgezeigt, vor deren Hintergrund im Falle des BF von einer positiven Zukunftsprognose ausgegangen werden könnte.
Im gegenständlichen Verfahren konnte somit die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beim Bundesverwaltungsgericht unterbleiben, da die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389, entgegenstehen.
Zu B)
II.3.4. Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu A) wiedergegeben.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
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