BVwG L504 2165716-1

BVwGL504 2165716-12.11.2021

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:L504.2165716.1.00

 

Spruch:

 

L504 2165716-1/28E

Schriftliche Ausfertigung des am 06.10.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Austrolaw Sommerbauer & Dohr Rechtsanwälte, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.07.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

 

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

 

 

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

I. Verfahrensgang

Die beschwerdeführende Partei [bP] stellte am 13.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Es handelt sich dabei um einen Mann welcher seinen Angaben nach Staatsangehöriger der Türkei mit muslimisch-sunnitischem Glaubensbekenntnis ist, der Volksgruppe der Kurden angehört und aus Bozova/Urfa stammt.

 

In der von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes durchgeführten Erstbefragung gab die bP zu ihrer Ausreisemotivation aus dem Herkunftsstaat Folgendes an (Auszug aus der Niederschrift): „(…)

Warum haben Sie Ihr Land verlassen (Fluchtgrund)?

Ich wurde zu Hause in der Türkei vor ca. 1 Monat von der Polizei in Gaziantep festgenommen.

Sie haben mir vorgeworfen, dass ich ein Mitglied der „PKK“ wäre, was aber nicht stimmt.

Ich war ca. 2 Tage bei der Polizei und wurde dann frei gelassen.

Weiters habe ich in der Türkei einen „Einberufungsbefehl“ zum Militär erhalten.

Ich wollte aber nicht einrücken.

Aus diesem Grunde habe ich mich entschlossen, meine Heimat zu verlassen und zu meinen drei Brüdern nach Österreich zu reisen.

Den Schlepperlohn von 7.000,- Euro habe ich mir durch Arbeit erspart.

Meine Mutter habe ich von meiner Ausreise informiert sie war damit einverstanden.

Mein Bruder, XXXX , hatte ähnliche Probleme zu Hause wie ich.

Das sind alle meiner Fluchtgründe, andere oder weitere habe ich nicht – ich habe die Wahrheit gesagt.

 

Was befürchten Sie bei einer Rückkehr in Ihre Heimat?

Ich habe Angst vor der Polizei, vor deren Bedrohung.

(…)“

 

Gefragt, ob es konkrete Hinweise gebe, dass ihr bei der Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe drohen würde und ob sie bei einer Rückkehr mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen hätte, gab sie „nein“ an.

 

In der nachfolgenden Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl brachte die bP zu ihrer ausreisekausalen Problemlage im Herkunftsstaat und allfälligen Problemen, die sie im Falle der Rückkehr erwarte, im Wesentlichen Folgendes vor (Auszug aus der Niederschrift):

„(…)F: Können Sie mir sagen, warum Sie Ihre Heimat verließen und in Österreich einen Asylantrag stellen? Nennen Sie Ihre konkreten und Ihre individuellen Fluchtgründe dafür?

A: Mein Leben in der Türkei war in Gefahr. Mein Leben ist mir wichtig und aus Angst habe ich das Land verlassen.

 

F: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?

A: Nein.

 

Auff: Machen Sie bitte konkrete Angaben, warum Sie Ihr Heimatland verlassen haben!

A: Ich habe vorher gesagt, dass ich von der Polizei festgenommen wurde und zur Station gebracht wurde. Dort haben Sie mich registriert. Ich habe nichts zu essen bekommen. Ich wurde bedroht. Wenn du dich nicht von Partei entfernst, wird etwas mit dir passieren.

Auff: Machen Sie bitte konkrete und detaillierte Angaben, rund um Ihre Verhaftungen!

A: Sie sind eines Tages zu mir gekommen und haben mich mitgenommen. Sie haben mich zur Polizeistation gebracht. Sie haben mich sofort festgehalten und nicht in meinen Ausweisen nachgeschaut. Dort in der Polizeistation wurde ich von zwei verschiedenen Polizisten geschlagen. Sie waren in Zivil bekleidet. Sie haben mich gewarnt ich solle mich von der Partei entfernen. Meine Partei war legal und daher bin ich hingegangen.

F: Wann genau wurden Sie Mitglied der HDP?

A: Anfang 2014.

Auff: Nennen Sie bitte Ihre Beweggründe, warum Sie der Partei beigetreten sind!

A: Es ist eine kurdische Partei und eine offizielle Partei. Ich bin auch Kurde und die Partei unterstützt Kurden. Und deshalb bin ich Parteimitglied geworden. Befragt gebe ich an, dass wenn ich Partei sage, meine ich die Jugendorganisation der Partei.

Auff: Beschreiben Sie mir die Jugendorganisation der HDP in Ihre Stadt (Gazi Antep)!

A: Ein Abgeordneter namens XXXX hat mir gesagt was ich tun soll und hat mir Anweisungen gegeben.

F: Wie heißt der Vorsitzende der Jugendorganisation?

A: Nusret, aber den Familiennamen weiß ich nicht.

F: Waren Freunde oder Bekannte von Ihnen Mitglieder?

A: Ja. Befragt gebe ich an, dass es viele waren.

F: Gab es Treffen der Mitglieder?

 

A: Ja. Das war im Gebäude der HDP in XXXX . Zwischen einmal im Monat und einmal die Woche gab es Treffen.

F: Wer organisierte diese Treffen?

A: Es wurde aufgehängt auf dem Parteigebäude. Der Rest war Mundpropaganda der Mitglieder.

F: Was sagte Ihre Mutter zu Ihrer Mitgliedschaft?

A: Meine Mutter war nicht dagegen.

Auff: Machen Sie bitte genauere Angaben, rund um diese Jugendorganisation!

A: Ich weiß nicht wie viele Mitglieder die Organisation hatte. Unsere Jugendorganisation heißt, glaube ich, nach dem Präsidenten Nusret. Mehr weiß ich nicht.

F: Wie oft haben Sie sich für diese Organisation engagiert?

A: Ich habe 20 bis 30 Mal Zeitschriften verteilt und Unterschriften gesammelt.

F: Waren Ihre Brüder die in Wien leben auch Mitglied einer türkischen Partei?

A: Ja, in der Vorläuferpartei der HDP.

F: Sind Ihre Brüder die in Wien leben auch hier politisch aktiv?

A: Das weiß ich nicht.

F: Sind Sie Mitglied eines kurdischen Vereins oder sonstigen Organisation hier in Wien?

A: Nein. Befragt gebe ich an, dass ich momentan keinem kurdischen Verein beitreten möchte.

F: Wo genau war die Polizeistation wo Sie festgenommen wurden? Geben Sie bitte die genaue Adresse an!

A: Die Polizeistation war im Stadtteil XXXX .

F: Wie oft wurden Sie insgesamt bei Ihren Verhaftungen von Polizisten geschlagen?

A: 3 bis 4 Mal.

F: Wie lange insgesamt wurden Sie von der Polizei festgehalten?

A: Einmal war 4 Tage, einmal 2 Tage und einmal nur kurz.

F: Mussten Sie nach den Festnahmen ins Krankenhaus?

A: Nein.

Auff: Beschreiben Sie mir bitte die Verletzungen?

A: Schläge ins Gesicht mit der Handfläche. Mit den Füßen und Händen auf den Rücken. Sie haben mich beschimpft.

F: Wie haben die Polizisten Sie beschimpft?

A: Über meine Mutter.

F: Wie viel Tage vor Ihrer Flucht waren die Festnahmen?

A: Die letzte war 2 Wochen bevor ich die Türkei verlassen habe.

Auff: Beschreiben Sie mir bitte Ihre Fluchtvorbereitungen!

A: Ich habe ein bisschen Geld gespart als ich Frisör war. Ich habe erfahren, dass es in einem Kaffeehaus Kontaktmänner zu Schlepper gibt. Ich bin in dieses Kaffee gegangen und Kontakt zu einem Schlepper hergestellt. Danach bin ich nach Istanbul gefahren. Ich habe mich dort mit einem Schlepper getroffen und der hat mich nach Österreich geschickt.

F: Hatte jemand von Ihrer Familie Probleme mit der Polizei/Zivilpolizei gehabt?

A: Ich habe nur 2 Schwestern die mit mir wohnten und die hatten keine Probleme.

Auff: Nennen Sie bitte konkrete Gründe, warum Ihr Leben in der Türkei in Gefahr ist!

A: Die Polizei hat mich festgenommen und mich bedroht. Sie haben gesagt Sie werden mich umbringen. Sie haben mich geschlagen und mich bis zu 4 Tagen festgehalten. Ich hatte Angst. Normallerweise können sie nur 3 Tage festhalten.

Auff: Machen Sie bitte genaue Angaben zu der Situation, dass die Polizisten Sie umbringen werden!

A: Ich glaube es waren 3 Polizisten die mich zuhause abgeholt haben. Dann haben Sie mich befragt, was machst du in der Partei. Sie fragten mich ob ich Terrorist bin. Dann haben Sie mich zu Polizeistation gebracht. Sie haben mich gefragt welche Funktion ich bei der Partei habe. Ich habe denen gesagt, dass ich Zeitschriften verteile und dass ich Reden gehalten habe. Sie haben mir nicht geglaubt. Sie haben mich wie einen Terroristen behandelt. Sie haben zu mir gesagt, dass ich Terrorist sei. Aber ich habe mit Waffen nichts zu tun.

Wiederholung der Aufforderung!

A: Ich war in Haft. Ich wurde befragt was ich in der Partei mache. Ich sagte ich mache normale Arbeit in der Partei. Sie sagten mir du bist Terrorist. Sie sagten mir, wenn du die Partei nicht verlässt, können wir dich umbringen. Sie haben mich inoffiziell festgenommen und ich hatte deshalb Angst.

F: Welche Reden haben Sie für die Jugendorganisation gehalten?

A: Ich habe gesagt wie man die kurdischen Rechte bekommen kann. Und über Probleme der Kurden. Unsere Mitglieder waren niemals bewaffnet.

F: Hatten Sie in der Türkei Probleme, weil Sie Kurde sind?

A: Ja. Ich hatte mit der Polizei Probleme bekommen. Befragt gebe ich an, dass ich nicht benachteiligt wurde, weil ich Kurde bin.

F: Haben Sie einen Parteiausweis?

A: Ich hatte nie einen Parteiausweis.

F: Gab es eine offizielle Liste der Mitglieder?

A: Ja, die Partei hatte eine. Befragt gebe ich an, dass mein Name auf der Liste war.

F: Wie wusste man, dass Sie bei der Jugendorganisation der HDP sind?

A: Ich weiß nicht wie die Polizei davon erfahren hat.

F: Wen haben Sie von dem Vorfall mit der Polizei erzählt?

A: Meine Mutter hat davon gewusst. Ich habe es auch meinen Brüdern in Österreich erzählt und auch Parteifreunden.

F: Warum haben Sie die Polizisten nicht angezeigt?

A: Wie kann man einen Polizisten anzeigen. Ich hatte auch keine Beweise.

F: Was befürchten Sie im Falle der Rückkehr in die Türkei?

A: Ich glaube Sie werden mich wieder festnehmen.

F: Könnten Sie in einem anderen Teil der Türkei leben?

A: Ich denke ich würde in anderen Teilen auch die gleichen Probleme bekommen. Sie haben gesagt, egal wo du hingehst wir finden dich schon.

F: Warum würde die Polizei ausgerechnet Sie im ganzen Land suchen?

A: Weil ich Kurde bin und weil ich für kurdische Rechte kämpfe. Ich denke dass ich Probleme bekommen kann. Der Parteipräsident ist auch im Gefängnis. Ca. 10000 sitzen im Gefängnis. Es wurden viele Menschen umgebracht. Man sagte sie seien Terroristen.

Vorhalt: Sie waren nur ein einfaches Mitglied der Jugendorganisation! Warum sollte Sie die Polizei im ganzen Land suchen?

A: Das weiß ich nicht.

(…)“

 

Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom Bundesamt gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (I.).

Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt (II.).

Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt .

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die bP gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (III.).

Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (IV.).

 

Das Bundesamt gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung des Status eines asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten eine aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation nicht glaubhaft gemacht worden sei. Ebenso ergebe sich aus der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat in Verbindung mit ihrer persönlichen Situation keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende bzw. reale Gefährdung der bP. Relevante Abschiebungshindernisse würden demnach nicht vorliegen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen seien nicht gegeben. Ein die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung übersteigendes Privat- und Familienleben würde nicht gegeben sein und werde daher eine Rückkehrentscheidung mit der angegebenen Frist für die freiwillige Ausreise verfügt.

 

Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

 

Am 23.10.2018 wurde vom Finanzamt gemeldet, dass die bP am 28.09.2018 in Wien bei einer Kontrolle illegaler Beschäftigung in einem Frisörgeschäft angetroffen wurde wie er einem Kunden die Haare schnitt, ohne dafür über eine Berechtigung zu verfügen. Der Dienstgeber wurde deshalb gem. AuslBG mit Erkenntnis des Magistrat Wien vom 29.11.2019 rk. bestraft.

 

Mit Schriftsatz vom 26.05.2021 wurde die bP vom BVwG im Rahmen ihrer gesetzlichen Mitwirkungs- und Verfahrensförderungspflicht gem. § 15 AsylG, § 39 Abs 2a AVG, aufgefordert Fragen zum aktuellen Stand ihres Privat- und Familienlebens in Österreich zu beantworten und Angaben zu machen, ob sich seit Einbringung der Beschwerde in Bezug auf ihre Problemlage im Herkunftsstaat eine Änderung ergeben hat. Gleichzeitig wurde sie darin aufgefordert allfällige Behauptungen zu diesen Punkten, soweit als möglich, durch Bescheinigungsmittel nachzuweisen bzw. glaubhaft zu machen.

Die belangte Behörde wurde im gleichen Schriftsatz als Verfahrenspartei aufgefordert darzulegen inwiefern sie ihren Antrag auf Abweisung der Beschwerde, nunmehr unter Berücksichtigung der aktuellen Lage im Herkunftsstaat, zu begründen beabsichtige.

Die bP brachte nach ergangenem und bewilligten Antrag auf Fristverlängerung eine schriftliche Stellungnahme ein.

Das Bundesamt verschwieg sich.

 

Mit Schreiben der LPD Wien wurde die bP gem. § 27 Abs 1 SMG angezeigt, weil sie auf frischer Tat mit Suchtmittel angetroffen wurde und die bP auch geständig war, diese mehrmals wöchentlich zu konsumiert zu haben.

 

Mit Schriftsatz vom 03.09.2021 wurden den Parteien vom BVwG im Rahmen des Parteiengehörs Berichte übermittelt, die das Verwaltungsgericht zur Beurteilung der aktuellen asyl- und abschiebungsrelevanten Lage zugrunde legt und wurde zur Stellungnahme binnen einer Frist von 2 Wochen aufgefordert.

Die bP und das Bundesamt brachten keine schriftliche Stellungnahme ein.

 

Am 06.10.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit der bP sowie im Beisein ihrer Rechtsfreundin eine Verhandlung durch. Das Bundesamt blieb entschuldigt fern.

 

Aufgefordert, in der Verhandlung alle Probleme anzugeben, die sie aus aktueller Sicht im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat erwartet, gab sie in freier Rede Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

„(…)

Erwarten Sie aktuell bei einer Rückkehr in Ihre Herkunftsregion im Herkunftsstaat noch Probleme? Wenn ja, geben Sie bitte detailliert und vollständig alle Probleme an, die Sie persönlich für sich derzeit bei einer Rückkehr erwarten würden.

Ich habe von der Polizei Angst. Es gibt eine legale Partei, die Partei schützt die Kurden, heißt HDP. Die meisten sind jetzt im Knast und die Leute nehmen sie dort und halten sie. Man hat immer Probleme mit dieser Partei. Es eine legale Partei. Ich war dabei. Ich bin mir sicher, dass ich die gleichen Probleme kriegen kann.

(Ende der freien Rede)

 

Haben Sie damit jetzt alle Probleme genannt, die Sie persönlich aktuell im Falle einer Rückkehr in die Türkei erwarten würden?

Ja. Die verhaften die Leute und machen schlimme Sachen. Deniz Poyraz ist gestorben vor kurzer Zeit.

(…)“

 

Am Ende der Verhandlung wurde das Erkenntnis mdl. verkündet.

 

Mit Schriftsatz vom 12.10.2021 beantragte die bP die schriftliche Ausfertigung.

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

 

Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde sowie durch die Ergebnisse des ergänzenden Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben.

 

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1. Identität und Herkunftsstaat:

Name und Geburtsdatum (wie im Einleitungssatz des Spruches angeführt) stehen lt. Bundesamt fest.

Die bP ist ledig, ist der Volksgruppe der Kurden und dem sunnitischen Glauben zugehörig.

Ihre Staatsangehörigkeit und der hier der Prüfung zugrundeliegende Herkunftsstaat ist die Türkei.

1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnisse vor der Ausreise:

Die bP ist in der Türkei in Bozova/Urfa geboren und absolvierte dort ihre Schulbildung.

Sie wohnte bis zum Tag ihrer Ausreise in XXXX im Haus der Eltern.

Sie arbeitete bis zum Tag der Ausreise als Friseur in XXXX und konnte dadurch ihren Lebensunterhalt bestreiten.

1.3. Aktuelles familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat:

Die Mutter lebt im eigenen Haus in XXXX und ist in Pension. Die Geschwister leben überwiegend ebenso im gleichen Ort, ein Bruder vermutlich in Istanbul. Die bP hält zu diesen regelmäßig Kontakt. Ein Bruder arbeitet in der Türkei als Lehrer, der andere als Installateur. Dass diese relevante Probleme hätten kam in der Verhandlung nicht hervor.

1.4. Ausreisemodalitäten:

Sie reiste über Istanbul schlepperunterstützt am 08.08.2015 aus der Türkei aus und kam auf dem Landweg bis nach Österreich.

Zum Verbleib des heimatsstaatlichen Reisepasses machte sie im Verfahren unterschiedliche Angaben.

Sie durchreiste auf ihrem Weg nach Österreich mehrere als sicher geltende Staaten. In diesen suchte sie nicht um Schutz an. Es wurde nicht dargelegt, dass ihr dort die Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz nicht auch möglich gewesen wäre oder, dass Flüchtlinge dort keinen Schutz erlangen könnten.

1.5. Aktueller Gesundheitszustand:

Die bP hat in der Verhandlung – abgesehen von einer Zahnbehandlung - keine aktuell behandlungsbedürftige Erkrankung dargelegt.

 

1.6. Privatleben / Familienleben in Österreich:

 

Art, Dauer, Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthaltes

Die bP begab sich ohne Vorhandensein eines gültigen Einreise- bzw. Aufenthaltstitels am 13.08.2015 in das Bundesgebiet.

Mit der am gleichen Tag erfolgten Stellung des Antrages auf internationalen Schutz erlangte die bP eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung gem. AsylG, die nach Antragsabweisung durch die Beschwerdeerhebung verlängert wurde.

Da ihr in diesem Verfahren weder der Status eines Asylberechtigten noch jener eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen war, erweist sich die Einreise als rechtswidrig und stellt grds. gem. § 120 Abs 1 iVm Abs 7 FPG eine Verwaltungsübertretung dar.

 

Familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich

Die bP hat seit ca. 2 Jahren eine Freundin mit der sie in gemeinsamer Wohnung lebt. Sie ist ungarische Staatsangehörige, 26 Jahre alt – das genaue Geburtsdatum weiß die bP nicht -, ist in Österreich erwerbstätig und ihre Familie lebt noch in Ungarn. Sie haben noch nicht entschieden ob geheiratet wird. Die Freundin hat Kenntnis vom Asylverfahren und der drohenden Aufenthaltsbeendigung.

Die bP verfügt über Brüder die schon erheblich länger in Österreich leben als die bP. Zu diesen hat sie ca. 1 Mal wöchentlich Kontakt.

 

Grad der Integration

Die bP hat die Deutschprüfung auf Niveau A2 absolviert. In der Verhandlung zeigte sich, dass sie über sehr gute Deutschkenntnisse verfügt, die über A2 liegen und auch weitgehend die Verhandlung in deutscher Sprache durchgeführt werden konnte. Sie hat 2020 eine Gewerbeberechtigung erlangt.

Sie verfügt in Österreich über zahlreiche Freunde und Bekannte und verbringt die Freizeit mit altersentsprechenden Aktivitäten.

Ehrenamtliche Tätigkeiten hat sie nicht verrichtet. Sie hat keinen Führerschein erlangt.

 

Teilweise oder gänzliche wirtschaftliche Selbsterhaltung während des Verfahrens bzw. Teilnahme an möglicher und gesetzlich erlaubter Erwerbstätigkeit für Asylwerber (vgl. zB https://www.ams.at/unternehmen/service-zur-personalsuche/beschaeftigung-auslaendischer-arbeitskraefte/beschaeftigung-von-asylwerberinnen-und-asylwerbern#wieknnenasylwerberinnenundasylwerberbeschftigtwerden ) oder Abhängigkeit von staatlichen Leistungen

Seit 10.02.2020 verfügt sie über eine Gewerbeberechtigung „Friseur und Perückenmacher, eingeschränkt auf Friseur“. Die bP hat einen Salon gepachtet und betreibt diesen mit 6 Mitarbeitern. Sie möchte diesen erweitern.

Bis April 2019 bezog sie Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Sodann bestritt sie den Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit und Zuwendungen durch den älteren, in Österreich lebenden Bruder.

 

 

Schutzwürdigkeit des Privatlebens / Familienleben; die Frage, ob das Privatleben / Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren

Die bP hat diese Anknüpfungspunkte während einer Zeit erlangt, in der der Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet stets prekär war. Die wesentlichen Anknüpfungen entstanden in der Zeit nach Abweisung des Antrages durch das Bundesamt bzw. während des Beschwerdeverfahrens.

 

Bindungen zum Herkunftsstaat

Die beschwerdeführende Partei ist im Herkunftsstaat geboren, absolvierte dort ihre Schulzeit, kann sich im Herkunftsstaat problemlos verständigen und hat ihr überwiegendes Leben in diesem Staat verbracht. Sie wurde somit im Herkunftsstaat sozialisiert und kennt die dortigen Regeln des Zusammenlebens einschließlich der gegebenen sozialen Unterstützungsnetzwerke. Es leben dort auch noch insbes. Familienangehörige und Verwandte. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die beschwerdeführende Partei als von ihrem Herkunftsstaat entwurzelt zu betrachten wäre.

 

Strafrechtliche/verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen

In der Datenbank des österreichischen Strafregisters scheinen keine Vormerkungen wegen rk. gerichtlicher Verurteilungen auf.

Am 10.05.2021 wurde die bP von der Polizei in einer Wohnung auf frischer Tat im Besitz von Suchtmittel in Form von Cannabiskraut (2,36g bto.) angetroffen, nachdem auf Grund eines Hinweises dort Nachschau gehalten wurde. Eine weitere Person war ebenfalls im Besitz eines Joints angetroffen worden. Die bP war geständig, dass sie das Suchtmittel zum ausschließlichen Eigenkonsum erworben hat, machte bei der Polizei zum Erwerb jedoch keine näheren Angaben. Sie war geständig, dass sie 3 Mal wöchentlich Marihuana konsumierte und behauptete, das mittels Gehalt zu finanzieren. Die LPD hat diese Tat am 12.05.2021 gem. § 27 Abs 1 SMG der Staatsanwaltschaft angezeigt. Eine gerichtliche Entscheidung darüber wurde dem BVwG bis zum Zeitpunkt der Verkündung nicht mitgeteilt.

Die bP rechtfertigte ihr Verhalten damit, weil es eine schwierige Situation war, sie hatte zu viel Freizeit und arbeitete damals nicht. Dies steht jedoch im Widerspruch zu ihren Angaben wonach sie einen Frisörsalon mit 6 Mitarbeiter betreibt.

Die bP wurde am 28.09.2018 – während sie wegen behaupteter finanzieller Hilfsbedürftigkeit laufend Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung bezog – von der Finanzpolizei anlässlich einer Kontrolle in einem Frisörsalon beim Schneiden von Haaren angetroffen. Sie war dort als Dienstnehmer beschäftigt ohne dafür über eine entsprechende Berechtigung zu verfügen. Sie wurde vom Dienstgeber nicht zur Sozialversicherung angemeldet.

Der Dienstgeber wurde gem. 28 Abs 1 Z 1 lit a iVm § 3 Abs 1 Ausländerbeschäftigungsgesetz rechtskräftig vom Magistrat der Stadt Wien bestraft.

Sonstige Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts

Da der bP weder der Status einer Asylberechtigten noch der einer subsidiär schutzberechtigten Person zukommt, stellt die rechtswidrige Einreise (bei strafmündigen Personen) gegenständlich auch grds. eine Verwaltungsübertretung dar (vgl. § 120 Abs 1 iVm Abs 7 FPG).

Die beschwerdeführende Partei verletzte – trotz diesbezüglicher Belehrung - durch die nichtwahrheitsgemäße Begründung ihres Antrages auf internationalen Schutz ihre gesetzlich auferlegte Mitwirkungs- und Verfahrensförderungsverpflichtung im Asylverfahren. Ebenso verletzte sie diese durch Verschleierung der Existenz des Reisepasses.

Sie versuchte dadurch die entscheidenden staatlichen Instanzen zur Erlangung von internationalen Schutz zu täuschen.

Wie oa. , war sie auch während des Aufenthaltes illegal beschäftigt.

Verfahrensdauer

Gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz wurde am 13.08.2015 gestellt und erging der Bescheid vom Bundesamt am 14.07.2017. Nach eingebrachter Beschwerde erging mit heutigem Erkenntnis die Entscheidung im Beschwerdeverfahren.

 

1.7. Zu den behaupteten ausreisekausalen Geschehnissen / Erlebnissen im Zusammenhang mit staatlichen / nichtstaatlichen Akteuren bzw. den von der bP vorgebrachten Problemen, die sie persönlich im Entscheidungszeitpunkt im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat erwartet:

 

a) Betreffend ihrer persönlichen Sicherheit / Verfolgung im Herkunftsstaat:

Es ist nicht glaubhaft, dass die bP wegen Betätigung als Kurde für die HDP vor der Ausreise in den Blickpunkt der Polizei geraten ist. Ebenso ist nicht glaubhaft, dass ihr vorgeworfen wurde, dass sie ein Mitglied der PKK wäre. Es kann somit nicht festgestellt werden, dass die bP im Zusammenhang mit ihrer als nicht glaubhaft zu erachtenden Bedrohungslage im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr oder einer entscheidungsrelevanten realen Gefahr von Leib und/oder Leben ausgesetzt wäre.

 

Aus der derzeitigen Lage ergibt sich im Herkunftsstaat, unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, keine Situation, wonach im Falle der Rückkehr eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der bP als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts besteht. Eine Gruppenverfolgung von Kurden liegt in der Türkei nicht vor.

 

b) Betreffend ihrer Sicherung der existentiellen Grundbedürfnisse im Herkunftsstaat:

Die bP hat hinsichtlich ihrer persönlichen Versorgungssituation im Falle der Rückkehr zuletzt in der Verhandlung persönlich keine konkrete Problemlage vorgebracht. Sie ist selbsterhaltungsfähig und verfügt in der Türkei auch über ein intaktes familiäres Netzwerk.

Die bP war im Hinblick auf Unterkunft und Versorgung mit Lebensmitteln auch vor der Ausreise schon in der Lage im Herkunftsstaat ihre Existenz zu sichern.

 

c) Betreffend ihrer aktuellen Versorgungssituation im Hinblick der notwendigen Erlangung medizinischer Versorgung im Herkunftsstaat:

Die bP bedarf, abgesehen von einer Zahnbehandlung, keiner medizinischen Behandlung. Dass sie diese nicht auch in der Türkei erhalten könnte wurde nicht vorgebracht, bzw. wurde auch nicht dargelegt, dass sich daraus ein lebensbedrohlicher Zustand ergeben könnte.

In Bezug auf Covid 19 gehört die bP keiner Risikogruppe an und ist auch in der Türkei für türkische Staatsangehörige die medizinische Versorgung gewährleistet.

1.8. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat

Aus nachfolgend genannten Quellen (einschließlich darin zitierter Berichte) ergeben sich folgende Feststellungen bzw. Einschätzungen/Schlussfolgerungen über die relevante Lage, wobei zur Beurteilung der aktuellen und entscheidungsrelevanten Situation jeweils den jüngsten Erkenntnisquellen besondere Bedeutung zugemessen werden und ältere im Wesentlichen der Übersicht über die Lageentwicklung dienen. Quelle: Länderinformation der Staatendokumentation, Türkei, Version 3, veröffentlicht am 17.05.2021

COVID-19 Letzte Änderung: 16.05.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://ww w.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/ situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bd a7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren. Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl. DS 11.3.2020). Nach den ersten vier Monaten des Jahres 2021 verzeichnete das Land 40.000 Corona-Tote bei offiziell annähernd 4,9 Mio. Infizierten. Bis Jahresende 2020 waren es rund 2,2 Mio Fälle und cirka 21.000 Tote. Das heißt innert der ersten vier Monate des Jahres 2021 haben sich beide Werte fast verdoppelt(JHU 3.5.2021). Mit Stand 5.5.2021 waren laut Angaben des Gesundheitsministeriums 14,25 Mio. Menschen, bei einer Bevölkerung von 85 Mio., mit einer ersten Dosis des Impfstoffs geimpft, während 9,82 Millionen eine zweite Dosis erhalten haben. Somit waren offiziell 25% der Einwohner zumindest einmal geimpft (Ahval 5.5.2021). Am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca, dass nunmehr alle positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik aufgenommen werden. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020). Beginnend mit 1.12.2020 war ein Lockdown in Kraft getreten, welcher u.a. unter der Woche eine nächtliche und an den Wochenenden eine totale Ausgangssperre vorsah. Eingeführt wurde der sogenannte HES (Hayat Eve Sigar) - Code, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren (WKO 21.1.2021). Nachdem es durch strenge Maßnahmen gelang, die zweite Corona-Welle im Jänner etwas unter Kontrolle zu bringen, folgten ab 1.3.2021 Lockerungen, die die Regierung als „Normalisierungsprozess“ bezeichnete (DW 3.4.2021). Davon abgesehen, ermächtigte die Regierung die Provinzbehörden, lokale Quarantänen und Ausgangssperren auf der Grundlage von epidemiologischen Daten zu verhängen (Garda World 1.3.2021). Doch seit den Lockerungen stiegen die Corona-Infektionen explosionsartig. Opposition und Ärzte gaben der Regierung die Schuld, wonach letztere mehrfach fahrlässig gehandelt hätte. Besonders der Türkische Ärztebund (TTB) rüttelte stets an der Glaubwürdigkeit der türkischen Regierung und ihrem Corona-Krisenmanagement (DW 3.4.2021). Der TTB verlangte Ende März 2021 angesichts der rasant steigenden Fallzahlen, u.a. die Mobilität auf stark frequentierten Straßen in den Städten ebenso einzuschränken wie Massenkontakte zwischen Menschen in geschlossenen Räumen. Zudem forderte der 1 Ärzteverband von der Regierung mehr Transparenz hinsichtlich der COVID-19-Zahlen, des Impfprogramms sowie der Anwendung der Klassifizierungskritierien für die Provinzen (Reuters 26.3.2021). Am 13.4.2021 wurde zunächst ein Teil-Lockdown wieder eingeführt, welcher eine verlängerte abendliche Ausgangssperre an Wochentagen, eine Rückkehr zum Online-Unterricht und ein Verbot von unnötigen Überlandfahrten beinhaltete (AP 18.4.2021). Die Bewohner mussten während der Ausgangssperre in ihren Häusern bleiben, außer zwecks Verrichtung einer wichtigen Arbeit oder aus dringenden medizinischen Gründen. Alle Veranstaltungen wie Hochzeiten und persönliche Feiern wurden bis zum 12.5.2021 ausgesetzt (Garda World 13.4.2021). Angesichts von täglichen Fallzahlen von über 60.000 bei über 300 Toten wurde überdies eine Ausgangssperre am Wochenende in Risikostädten, wie Istanbul oder Ankara, verhängt (Ahval 21.4.2021). Zuvor hatte Präsident Erdoğan auch wieder Wochenendsperren verhängt und die Schließung von Restaurants und Cafés während des heiligen muslimischen Monats Ramadan angeordnet (AP 18.4.2021). Angesichts der steigenden Fall- und Todeszahlen wurde am 26.4.2021 ein fast dreiwöchiger verschärfter Lockdown, beginnend mit 29.4.2021, verkündet (AP 27.4.2021). Bis 17.5.2021 besteht (bestand) landesweit ein generelles Ausgangsverbot. Nebst Mindestabstand gilt an allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, Maskenpflicht. Einkäufe dürfen nur montags bis samstags von 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr in Gehnähe und zu Fuß, nicht mit dem PKW, durchgeführt werden. Gastronomische Stätten haben nur für Lieferservice geöffnet. Einzelhandel, körpernahe Berufe ebenso wie Kinos, Bäder etc, bleiben geschlossen. Versammlungen und Hochzeiten sind verboten. Schulen und Kindergärten bleiben für den Präsenzunterricht geschlossen (WKÖ 27.4.2021; vgl. Garda World 27.4.2021). Allerdings wurden Millionen von Menschen von diesem ersten landesweiten Lockddown ausgenommen. Dazu gehörten neben Mitarbeitern des Gesundheitssektors und Vollzugsbeamten auch Fabrikund Landwirtschaftsarbeiter sowie Mitarbeiter von Lieferketten und Logistikunternehmen. Auch Touristen waren ausgenommen. Schätzungen gingen davon aus, dass bis zu 16 Mio. der 84 Mio. Einwohner während des Lockdowns trotzdem unterwegs sein würden (AP 30.4.2021).

Quellen: • Ahval (5.5.2021): Turkey close to achieving ‘mass immunity’ against COVID-19 – official, https://ahvalnews.com/turkey-covid-19/turkey-close-achieving-mass-immunity-against-c ovid-19-official , Zugriff 5.5.2021 • Ahval (21.4.2021): Turkey registers record COVID-19 death toll of 362, over 60,000 new cases, https://ahvalnews.com/pandemic/turkey-registers-record-covid-19-death-toll-362-o ver-60000-new-cases , Zugriff 22.4.2021 • AP – Associated Press (30.4.2021): Despite 3-week lockdown, many remain on the move in Turkey, https://apnews.com/article/middle-east-europe-turkey-religion-coronavirus-de 48eb49ba5ade8961f87adee48cec4c , Zugriff 3.5.2021 • AP – Associated Press (27.4.2021): Full COVID-19 lockdown adds to financial strain in Turkey, https://apnews.com/article/istanbul-recep-tayyip-erdogan-arts-and-entertainmentlifestyle-health-3151b3d113058d455ac44bca8ad71817 , Zugriff 28.4.2021 2 • AP – Associated Press (18.4.2021): Turkey reports record daily number of COVID-19 deaths, https://apnews.com/article/general-news-health-religion-turkey-51616e9efa10323 84fa2282efc499261 , Zugriff 21.4.2021 • BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, KW 49, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationsz entrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw49-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 6.5.2021 • DS – Daily Sabah (11.3.2020): Turkey remains firm, calm as first coronavirus case confirmed, https://www.dailysabah.com/turkey/turkey-remains-firm-calm-as-first-coronavirus-ca se-confirmed/news , Zugriff 30.12.2020 • DW – Deutsche Welle (3.4.2021): Die dritte Corona-Welle überrollt die Türkei, https://ww w.dw.com/de/die-dritte-corona-welle-%C3%Bcberrollt-die-t%C3%Bcrkei/a-57087784 , Zugriff 21.4.2021 • FNS – Friedrich-Naumann-Stiftung (16.3.2020): Türkei Bulletin 5-2020, http://shop.freihei t.org/download/P2@876/248113/05-2020-T%C3%Bcrkei-Bulletin.pdf , Zugriff 30.12.2020 • Garda World (27.4.2021): Turkey: Government exempts foreign tourists from nationwide COVID-19 lockdown April 29-May 17 /update 39, https://www.garda.com/crisis24/news-al erts/472106/turkey-government-exempts-foreign-tourists-from-nationwide-covid-19-lock down-april-29-may-17-update-39 , Zugriff 29.4.2021 • Garda World (13.4.2021): Turkey: Government to tighten domestic COVID-19-related restrictions April 14-27 /update 36, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/466616/tu rkey-government-to-tighten-domestic-covid-19-related-restrictions-april-14-27-update-36 , Zugriff 21.4.2021 Garda World (1.3.2021): Turkey: Authorities ease certain COVID-19-related domestic restrictions as of March 1 /update 33, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/4 49486/turkey-authorities-ease-certain-covid-19-related-domestic-restrictions-as-of-march -1-update-33 , Zugriff 21.4.2021 • JHU – Johns Hopkins University & Medicine (3.5.2021): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html , Zugriff 3.5.2021 • Reuters (26.3.2021): Turkish medics call for tougher measures as COVID-19 surges, https: //www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-turkey-healthcare-idUKKBN2BI2SK , Zugriff 21.4.2021 • WKO – Wirtschaftskammer Österreich (27.4.2020): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Sch utzmassnahmen_und_Geschaeftsleben , Zugriff 28.4.2021 • WKO – Wirtschaftskammer Österreich (21.1.2020): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Sch utzmassnahmen_und_Geschaeftsleben , Zugriff 25.1.2021

 

Sicherheitslage Letzte Änderung: 05.05.2021

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020). 3 Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die „Terrorbekämpfung“ und die Sicherung „nationaler Interessen“ hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (AA 24.8.2020; vgl. SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016). Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend (EC 6.10.2020). Der Konflikt zwischen der Regierung und der PKK dauert an. Bestehende Spannungen werden durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak verstärkt. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen PKK-Kämpfern und den Sicherheitskräften (EDA 28.4.2021), wenn auch auf einem geringeren Niveau als in den Vorjahren. Diese führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte führen groß angelegte Operationen und Strassencheckpoints durch, bei denen es auch zu Risiken für anwesende Zivilpersonen kommen kann. Auch bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften kann es zu Todesopfern und Verletzten kommen (EDA 28.4.2021). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 6.10.2020). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten (İHD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (İHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (İHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (İHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe über 5.300 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis April 2021. Im Jahr 2020 wurden 366 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten Mai bis September 2020. In den ersten vier Monaten des Jahres 2021 wurden 56 Tote gezählt (ICG 4.5.2021). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 6.10.2020). Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 28.4.2021). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Şanlıurfa, 4 Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mit Ausgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (USDOS 30.3.2021, S.25; vgl. AA 28.4.2021). Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Aǧrı (AA 28.4.2021). Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021). Das türkische Parlament stimmte (mit Ausnahme der pro-kurdischen HDP) am 7.10.2020 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen sowohl im Irak als auch in Syrien um ein weiteres Jahr zu verlängern (BAMF 19.10.2020). Quellen: • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.4.2021): Reise- und Sicherheitshinweise (COVID19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/t uerkei-node/tuerkeisicherheit/201962#content_1 , Zugriff 28.4.2021 • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebu ngsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 4.08.2020.pdf , Zugriff 7.10.2020 • AJ – Al Jazeera (12.12.2016): Turkey detains pro-Kurdish party officials after attack, https: //www.aljazeera.com/news/2016/12/12/turkey-detains-pro-kurdish-party-officials-after-att ack/ , Zugriff 8.10.2020 • Anadolu – Anadolu Agency [Türkei] (7.4.2021): Turkey blocks assets of 377 members of terrorist groups, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-blocks-assets-of-377-membersof-terrorist-groups/2200499 , Zugriff 20.4.2021 • BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.4.2021): Briefing Notes KW 16, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentr um/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw16-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 20.4.2021 • BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.10.2020): Briefing Notes KW 43, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentr um/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw43-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=6, Zugriff 28.10.2020 5 • DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information -report-turkey.pdf , Zugriff 20.10.2020 • EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 19.10.2020 • EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtigeAngelegenheiten [Schweiz] (28.4.2021): Reisehinweise Türkei, Spezifische regionale Risiken, https://www.eda.admin.ch/eda/de/ home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html , Zugriff 28.4.2021 • ICG – International Crisis Group (4.5.2021): Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 28.12.2020 • İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (18.5.2020a): 2019 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2020/ 05/2019-SUMMARY-TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN-TURKEY.pdf, Zugriff 7.10.2020 • İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (19.4.2019): 2018 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2 019/05/2018-SUMMARY-TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN-TURKEY.pdf , Zugriff 20.10.2020 • İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (24.5.2018): 2017 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/ 05/IHD_2017_balance-sheet-1.pdf , Zugriff 17.10.2020 • İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (1.2.2017): IHD’s 2016 Report on Human Rights Violations in Eastern and Southeastern Anatolia Region, https://ihd.org. tr/en/ihds-2016-report-on-human-rights-violations-in-eastern-and-southeastern-anatolia/ , Zugriff 19.10.2020 • SDZ – Süddeutsche Zeitung (29.6.2016) [ANM.: Ohne ein Aktualisierungsdatum zu nennen, sind Ereignisse bis Jän. 2017 hinzugefügt]: Chronologie des Terrors in der Türkei, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-der-terror-begann-in-suruc-1.3316595 , Zugriff 19.10.2020 • USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TUR KEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 1.4.2021 • USDOS – United States Department of State [USA] (24.6.2020): Country Report on Terrorism 2019 – Chapter 1 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2032441.html , Zugriff 19.10.2020 6 Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans) Letzte Änderung: 07.05.2021 Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt (ÖB 10.2020). Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2020). Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 7.2020) 2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2020). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2020). 7 Die International Crisis Group verzeichnet mit Stand 25.3.2021 3.265 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 „neutralisierten“ PKK-Kämpfern, d.h. diese wurden getötet oder festgenommen. Besonders stark betroffen waren die südöstlichen Provinzen: Hakkari, Şırnak, Sur, Diyarbakır sowie die zentralöstliche Provinz Tunceli (Dersim) (ICG 25.3.2021). Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerilla-Einheiten der PKK in den südost-anatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 7.2020; vgl. ICG 25.3.2021). Bei einer der größten Anti-Terror-Operationen in 42 Provinzen wurden Ende November 2020 laut Innenministerium mindestens 641 vermeintliche PKK-Mitglieder festgenommen (Anadolu 28.11.2020). Bis Anfang Dezember hatten 218 PKK-Mitglieder durch die Überzeugungsarbeit der Behörden laut Innenministerium freiwillig ihre Waffen niedergelegt bzw. sich gestellt (Anadolu 3.12.2020). Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vgl. Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021). In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich durchaus ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit „gefällt mir“ markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 10.2020). 8 Quellen: • Anadolu – Anadolu Agency (3.12.2020): 218 terrorists surrendered to Turkish forces in 2020, https://www.aa.com.tr/en/turkey/218-terrorists-surrendered-to-turkish-forces-in-20 20/2064008 , Zugriff 3.12.2010 • Anadolu – Anadolu Agency (28.11.2020): Suspects rounded up in 42 provinces during 2-day operations, says Interior Ministry, https://www.aa.com.tr/en/turkey/over-640-pkk-ter ror-suspects-nabbed-across-turkey/2059291 , 3.12.2020 • BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (7.2020): Verfassungsschutzbericht 2019, https://www.verfassung sschutz.de/download/vsbericht-2019.pdf , Zugriff 3.11.2020 • BMI-D – Bundesministerium des Innern/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.verfassungsschutz.de/de/downlo ad-manager/_vsbericht-2015.pdf , Zugriff 3.11.2020 • DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information -report-turkey.pdf , Zugriff 2.11.2020 • Duvar (15.2.2021): Turkey announces sweeping roundup of 718 people, including HDP officials, after Iraq killings, https://www.duvarenglish.com/turkey-announces-sweeping -roundup-of-718-people-including-hdp-officials-after-iraq-killings-news-56261 , Zugriff 19.2.2021 • DW – Deutsche Welle (15.2.2021): Türkei nimmt Hunderte wegen angeblicher PKK-Kontakte fest, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-nimmt-hunderte-wegen-angeblicher-pkk -kontakte-fest/a-56575099 , Zugriff 19.2.2021 • ICG – International Crisis Group (25.3.2021): Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 23.4.2021 • NM – Nordic Monitor (11.4.2020): Over 12,000 killed or wounded during Turkey’s security operations in Kurdish areas in 2015-2016, https://www.nordicmonitor.com/2020/04/more -than-twelve-thousand-people-were-killed-or-wounded-during-turkeys-security-operations -in-2015-2016/ , Zugriff 10.12.2020 • ÖB – Österreichische Botschaft - Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderberich t_10_2020.pdf , Zugriff 18.11.2020 • Standard – Der Standard (15.2.2021): Türkei ließ in prokurdischen Kreisen über 700 Menschen festnehmen, https://www.derstandard.at/story/2000124178508/tuerkische-me nschenrechtsanwaeltin-eren-keskin-zu-langer-haft-verurteilt , Zugriff 19.1.2021 Sicherheitsbehörden Letzte Änderung: 17.05.2021 Die nationale Polizei, die unter der Kontrolle des Innenministeriums steht, ist für die Sicherheit in großen Stadtgebieten verantwortlich (AA 24.8.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S.1). Die Jandarma, eine paramilitärische Truppe, die sich teils aus Wehrpflichtigen rekrutiert, ist für ländliche Gebiete und spezifische Grenzgebiete zuständig (AA 24.8.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S.1, ÖB 10.2020), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 30.3.2021, S.1). Die Jandarma mit einer Stärke von 180.000 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 10.2020). Es gab Berichte, dass Jan9 darma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sog. „Sicherheitskräfte“ [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen „Dorfschützer“, eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019). Die Polizei und mehr noch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (AA 24.8.2020). Die 2008 abgeschaffte Nachtwache (Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse, u.a. Waffeneinsatz und Personenkontrollen, gegen Kritik der Opposition erweitert (AA 24.8.2020; vgl. BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Festnahmen und Verhöre sind ihnen jedoch nicht erlaubt (TRT 11.6.2020). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als „AKP-Miliz“ kritisiert (AA 24.8.2020; vgl. BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnvierteln sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weit verbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Beweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der Nachtwächter bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Istanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020). Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen 10 über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte Immunität gegenüber dem Gesetz. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 10.2020). Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015). Die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Militär, Polizei und Geheimdiensten gegenüber dem Parlament sind jedoch nach wie vor begrenzt. Das Sicherheitspersonal genießt weiterhin einen weitreichenden Rechtsschutz. Die Erfolgsbilanz bei der gerichtlichen und administrativen Prüfung von Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte ist weiterhin schlecht. Die parlamentarische Aufsichtskommission für die Strafverfolgung ist wirkungslos geblieben (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Quellen: • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebu ngsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 4.08.2020.pdf , Zugriff 9.11.2020 • Ahval (7.1.2021): Turkish police and intelligence allowed to use military weapons domestically, https://ahvalnews.com/police-violence/turkish-police-and-intelligence-allowed-usemilitary-weapons-domestically , Zugriff 2.2.2021 • Anadolu – Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-secur ity-package , Zugriff 10.11.2020 • BI – Balkan Insight (10.6.2020): Turkey Opposition Condemns Move to Arm Night Watchmen, https://balkaninsight.com/2020/06/10/turkey-opposition-condemns-move-to-arm-ni ght-watchmen/ , Zugriff 9.11.2020 • EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 10.11.2020 11 • FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-poli zei-gegen-demonstranten-13509122.html , Zugriff 10.11.2020 • Guardian – The Guardian (8.6.2020): Alarm at Turkish plan to expand powers of nightwatchmen, https://www.theguardian.com/world/2020/jun/08/alarm-at-turkish-plan-to-exp and-powers-of-nightwatchmen , Zugriff 9.11.2020 • HDN – Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-oppos ition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=8 0261&NewsCatID=338 , Zugriff 10.11.2020 • HRW – Human Rights Watch (29.7.2020): Turkey: Police, Watchmen Involved in Torture, Ill-Treatment, https://www.hrw.org/news/2020/07/29/turkey-police-watchmen-involved-tort ure-ill-treatment , Zugriff 27.4.2021 • NZZ – Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1 .18511712 , Zugriff 10.11.2020 • ÖB – Österreichische Botschaft - Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderberich t_10_2020.pdf , Zugriff 18.11.2020 • SCF – Stockholm Center for Freedom (8.1.2021): Turkish police and intelligence agency authorized to use military weaponry in event of civil unrest, https://stockholmcf.org/turkishpolice-and-intelligence-agency-authorized-to-use-military-weaponry-in-event-of-civil-unr est/ , Zugriff 2.2.2021 • Spiegel (9.6.2020): Erdogans Parallel-Polizei, https://www.spiegel.de/politik/ausland/tue rkei-nachbarschaftswache-recep-tayyip-erdogans-parallel-polizei-a-ece122d1-5df6-4fb9 -bd24-fa44b687e5fd , Zugriff 9.11.2020 • TM – Turkish Minute (28.11.2020): Erdoğan’s army, https://www.turkishminute.com/2020 /11/28/erdogans-army/ , Zugriff 30.11.2020 • TRT – TRT World (11.6.2020): Turkey’s neighbourhood watchmen get more powers, wider remit, https://www.trtworld.com/turkey/turkey-s-neighbourhood-watchmen-get-more-pow ers-wider-remit-37184 , Zugriff 9.11.2020 • USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TUR KEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 2.4.2021 • USDOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 9.11.2020 • USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 9.11.2020

 

Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung

Letzte Änderung: 17.05.2021

Seit 2012 verfügt die Türkei auch über das Amt einer Ombudsperson mit etwa 200 Mitarbeitern. Beschwerden können auf Türkisch, Englisch, Arabisch und Kurdisch eingereicht werden (AA 24.8.2020). Die Ombudsperson hat ihre Erfolgsbilanz durch ein aktiveres Engagement bei der Sensibilisierung für ihre Rolle verbessert. Die Institution schwieg jedoch zu politisch kritischen Fragen im Zusammenhang mit den Grundrechten. Der Ombudsperson fehlen nach wie vor die 12 Befugnisse, von Amts wegen Untersuchungen einzuleiten und in anhängigen Fällen Rechtsmittel einzulegen. Die Ombudsperson behandelt lediglich Beschwerden hinsichtlich des Vorgehens der öffentlichen Verwaltung (EC 6.10.2020), insbesondere bei Menschenrechtsproblemen und Personalfragen. Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten fallen allerdings nicht in ihren Zuständigkeitsbereich (USDOS 30.3.2021, S.60). Die 2012 gegründete Menschenrechts-Institution der Türkei (Insan Hakları Kurumu) wurde 2016 durch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (Human Rights and Equality Institution of Turkey - HREI; Insan Hakları ve Eşitlik Kurumu) ersetzt. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Ihr kommt die Rolle des „Nationalen Präventionsmechanismus“ gemäß OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor (AA 24.8.2020). Weder die Ombudsperson noch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung sind operativ, strukturell oder finanziell unabhängig. Ihre Mitglieder sind nicht nach den Pariser Prinzipien akkreditiert. Bislang hat die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung keine Akkreditierung bei der globalen Allianz für nationale Menschenrechtsinstitutionen beantragt (EC 6.10.2020). Quellen: • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebu ngsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 4.08.2020.pdf , Zugriff 18.11.2020 • EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 18.11.2020 • USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TUR KEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 2.4.2021 Wehrdienst Letzte Änderung: 17.05.2021 In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden. Türkische Staatsbürger, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Ausland haben, sind ab dem Jahr, in dem sie 19 Jahre alt werden, bis zum Ende des Jahres, in dem sie 38 Jahre alt werden, verpflichtet, der Einberufung zu folgen. Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun. Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke oder Behinderte und für Einberufungspflichtige, deren Bruder während des Militärdienstes im 13 Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor. Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes 1111, Artikel 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (MFA-NL 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt (ÖB 10.2020). Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MFA-NL 11.7.2019). Mit dem Gesetz 7179 vom Juni 2019 wurde der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt, und die Möglichkeit des Freikaufs vom Wehrdienst permanent geregelt. Bis dahin gab es nur befristete Regelungen (ÖB 10.2020). Dem Staatspräsidenten obliegt es, die Dauer festzulegen. Allerdings dürfen die sechs Monate nicht unterschritten werden (HDN 25.6.2019). Nach dem Freikauf aus dem Wehrdienst muss lediglich eine Grundausbildung von 21 Tagen abgeleistet werden. Wehrpflichtige Auslandstürken absolvieren statt dieser verkürzten Grundausbildung einen Fernkurs gemäß den Vorgaben des Verteidigungsministeriums und müssen nicht mehr einrücken. Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlende Summe beläuft sich mit Stand Oktober 2020 auf rund € 5.560 (ÖB 10.2020). Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger gilt als Voraussetzung, dass sie seit mindestens drei Jahre arbeiten, exklusive der Zeit, die sie im Inland verbracht haben. Dies gilt auch für Doppelstaatsbürger - für sie gilt ebenfalls die türkische Wehrpflicht - jedoch auch ohne Arbeitsverhältnis als Bedingung (ÖB 10.2020). Nebst Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren (Connection e.V. 11.7.2019; vgl. DFAT 10.9.2020) sind u.a. auch jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufsoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrages erhalten haben (ÖB 10.2020). Gemäß Bestimmungen der Disziplinarordnung sowie der Gesundheitsrichtlinie des türkischen Militärs fällt Homosexualität immer noch unter „fortgeschrittene psychosexuelle Störungen“. Angehörige sexueller Minderheiten gelten als untauglich bzw. werden bei Bekanntwerden ihrer Orientierung aus der Armee entfernt. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass „abnormale bzw. perverse“ Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (ÖB 10.2020; vgl. EC 6.10.2020). Die Homosexualität oder Transsexualität muss dabei durch psychologische Tests und Behandlungen sowie manchmal durch visuelle „Beweismittel“ nachgewiesen werden (ÖB 10.2020; vgl. AA 24.8.2020). 14 Berichten zufolge erlitten einige Rekruten, die ihren Wehrdienst ableisteten, schwere Schikanen, körperliche Misshandlungen und Folterungen, die manchmal zu Selbstmord führten. Menschenrechtsgruppen berichten, dass verdächtige Todesfälle im Militär weit verbreitet sind. Die Regierung untersuchte sie nicht systematisch und gibt keine Informationen hierzu frei. Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) und Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) meldeten mindestens 18 verdächtige Todesfälle im Jahr 2020 (USDOS 30.3.2021, S.7). Quellen: • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebu ngsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 4.08.2020.pdf , Zugriff 19.11.2020 • Connection e.V. (11.7.2019): Freikaufsregelung, Ausbürgerung, Ausmusterung und Asyl, https://de.connection-ev.org/article-1609 , Zugriff 19.11.2020 • DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information -report-turkey.pdf , Zugriff 19.11.2020 • EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 19.11.2020 • HDN – Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, http://www.hurriyetdailynews.com/turk ish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475 , Zugriff 19.11.2020 • MFA-NL – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/ rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstpli cht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijk e+bronnen.pdf , Zugriff 19.11.2020 • ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://ww w.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020. pdf , Zugriff 19.11.2020 • USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TUR KEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 2.4.2021

 

Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee

Letzte Änderung: 26.01.2021 Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (MFA-NL 11.7.2019). Es gibt keine Hinweise darauf, dass kurdisch-stämmige Rekruten alleine wegen ihrer Abstammung anders behandelt werden (VB 4.6.2019). Daher ist es möglich, dass ein türkischer Wehrpflichtiger kurdischer Herkunft in einer Provinz eingesetzt wird, in der die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist. Es gibt keine politische Intention, türkisch-kurdische Wehrpflichtige gegen türkisch-kurdische Kämpfer einzusetzen(MFA-NL 11.7.2019). 15 Nach vorliegenden Information besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär. Es gibt aber Einzelfälle. Zudem ist ein Aufstieg im System für Angehörige von Minderheiten schwierig (ÖB 10.2020). Während der Direktor der türkischen Menschenrechtsorganisation Hafiza Merkez in einem Interview mit dem UK Home Office meinte, dass der Militärdienst im Allgemeinen schon nicht schön, aber für Kurden noch schwieriger sei, sah ein Menschenrechtsanwalt den Militärdienst als Erniedrigung für Kurden, da der kurdische Alltag von vielen Zwischenfällen mit der Armee und der Polizei geprägt sei. Im Unterschied zu den Türken ist der Militärdienst für die Kurden nicht mit Stolz verbunden (UKHO 1.10.2019). Auch laut Kontaktpersonen der NGO Schweizerische Flüchtlingshilfe sei es schwierig zu sagen, ob Minderheiten im Militärdienst systematisch misshandelt würden, jedoch gebe es zahlreiche Beispiele von Misshandlungen an Angehörigen von Minderheiten in der Armee. Der Militärdienst sei jedenfalls ein gefährliches Umfeld für Angehörige von Minderheiten (SFH 16.9.2020). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz Van im Mai 2018 schwer misshandelt, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. In einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto von Selahattin Demirtaş auf seinem Smartphone hatte, dem inhaftierten Führer der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) (MFA-NL 11.7.2019). Mitte August 2020 wurde ein kurdisch-stämmiger Rekrut von seinen türkischen Kameraden zusammengeschlagen und als Terrorist beschimpft, nachdem dieser zuerst Kurdisch sprach und hernach die Verwendung des Kurdischen im Bildungssystem propagierte (Meszopotamya 14.9.2020). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (MFA-NL 11.7.2019; vgl. K24 10.5.2018). Quellen: • K24 – Kurdistan 24 (10.5.2018): Middle East Conscript in Turkish army ’lynched’ for singing in Kurdish, MPs say, https://www.kurdistan24.net/en/culture/e9b13521-081d-402b-9ea4 -20f41eea9bb5 , Zugriff 19.11.2020 • Mezopotamya (14.9.2020): Kurdish soldier attacked at military post: I have no life safety, http://mezopotamyaajansi25.com/en/search/content/view/109378?page=1&key=d424c33 fdbca667ae286c2fd5f8bd557 , Zugriff 19.11.2020 • MFA-NL – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/ rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstpli cht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijk e+bronnen.pdf , Zugriff 19.11.2020 • ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://ww w.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020. pdf , Zugriff 19.11.2020 • SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe (16.9.2020): Türkei: Situation von kurdischen Personen im Militärdienst, https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Publikatione n/Herkunftslaenderberichte/Europa/Tuerkei/200915_TUR_Kurden_im_Militaerdienst.pdf , Zugriff 19.11.2020 16 • UKHO – United Kingdom Home Office [Großbritannien] (1.10.2010): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17 June to 21 June 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPORT_201 9.odt , Zugriff am 19.11.2020 • VB – Verbindungsbeamter des BM.I für die Türkei [Österreich] (4.6.2019): Auskunft des VB, per Mail Wehrersatzdienst / Wehrdienstverweigerung / Desertion Letzte Änderung: 26.01.2021 Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor (MFA-NL 11.7.2019; vgl. AA 24.8.2020, DFAT 10.9.2020). Eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht möglich und wird mit einer Haftstrafe geahndet. Danach muss der Wehrdienst nachgeholt werden (ÖB 10.2020; vgl. AA 24.8.2020). Strafen werden solange ausgesprochen, solange sich der Wehrpflichtige der Ableistung des Militärdienstes entzieht. Die Strafe steigt, je länger man sich dem Dienst entzieht (DFAT 10.9.2020). Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçakçılığı), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar) (MFA-NL 11.7.2019). Seit Änderung von Art. 63 des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich (AA 24.8.2020; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Nichtzahlung von Geldstrafen kann theoretisch zur Beschlagnahme von Vermögenswerten und zur Einbehaltung von Gehältern und Renten führen. In der Praxis gibt es sehr viele Wehrpflichtige, welche der Wehrpflicht entfliehen, und der Staat ist in den meisten Fällen nicht in der Lage, diese weiterzuverfolgen (DFAT 10.9.2020). Die Verjährungsfrist beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtige werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen, jedoch meldet das Verteidigungsministerium nach Art. 26 dem Innenministerium, wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, damit diese festgenommen werden können (AA 24.8.2020). Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Nichtanerkennung von Gewissensgründen für Wehrdienstverweigerung verurteilt (ÖB 10.2020). Zuletzt äußerte sich das Ministerkomittee des Europarates im Juni 2020 zur Situation der Kriegsdienstverweigerer in der Türkei. Darin wurde die Türkei aufgefordert, die Strafverfolgung gegen drei namentlich angeführte Wehrdienstverweigerer einzustellen und desweiteren bis 21.6.2021 einen Aktionsplan mit konkreten Vorschlägen zu Maßnahmen vorzulegen, um die Feststellung des Gerichtshofes zu dieser Gruppe von Fällen zu berücksichtigen (CoE-CoM 4.6.2020). Das türkische Gesetz zu Desertion definiert in Artikel 66 die Strafe für Desertion. Militärpersonal wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen einem und drei Jahren belegt: wenn die betreffende Person sich von ihrer Einheit oder ihrem Einsatzort ohne Urlaub für mehr als sechs Tage entfernt hat; oder wenn die betreffende Person nach einem absolvierten Urlaub nicht innerhalb von sechs Tagen zum Dienst zurückkehrt und keine Entschuldigung dafür hat. Die Strafe beläuft sich auf 17 mindestens zwei Jahre Gefängnis, wenn die Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn die Person während des Dienstes desertiert oder wenn die Person die Übertretung wiederholt. Artikel 67 definiert, dass Militärpersonal, das ins Ausland geflohen ist, mit drei bis fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann, und zwar nach einer Absenz von drei Tagen, falls die betreffende Person das Land ohne Erlaubnis verlässt. Die Strafe soll mindestens fünf Jahre betragen und auf bis zu zehn Jahre erhöht werden: wenn die ins Ausland geflohene Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn sie während des Dienstes desertiert; wenn sie die Übertretung wiederholt; oder wenn sie während einer Mobilisierung (im Falle eines Krieges) desertiert. Schließlich können desertierte Militärangehörige für Befehlsverweigerung angeklagt und bestraft werden. Für andauernden Ungehorsam in der Öffentlichkeit drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Wer andere Soldaten zum Ungehorsam anstiftet, kann mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden (SFH 22.3.2018). Quellen: • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebu ngsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 4.08.2020.pdf , Zugriff 19.11.2020 • CoE-CoM - Council of Europe-Committee of Ministers (4.6.2020): H46-40 Ülke group v. Turkey (Application no 39437/98), 13377th meeting, CM/Del/Dec(2020)1377/H46-40, https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=09000016809e8f6e , Zugriff 19.11.2020 • DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information -report-turkey.pdf , Zugriff 19.11.2020 • MFA-NL - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/ rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstpli cht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijk e+bronnen.pdf , Zugriff 19.11.2020 • ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, per E-mail, Zugriff 19.11.2020 • SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe (22.3.2018): Türkei: Desertion und Sicherheitsoperationen im Südosten (August 2015 bis Mai 2016) – Auskunft der SFH-Länderanalyse, https://www.ecoi.net/en/file/local/1438152/1226_1531473548_180322-tur-desertion-anon ym.pdf ,

 

Allgemeine MenschenrechtslageLetzte Änderung: 17.05.2021 Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam zu weiteren Rückschritten, vor allem in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Verfahrensrechte, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, 18 den Schutz von Menschenrechtsverteidigern sowie die Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 6.10.2020). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021). Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 6.10.2020), denn die Konvention und die Rechtsprechung des EGMR werden bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 24.8.2020). Denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020). Das harte Durchgreifen gegen tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende wurde trotz des Endes des zweijährigen Ausnahmezustands fortgesetzt. Tausende Menschen werden in langer Untersuchungshaft mit Sanktionscharakter festgehalten, oft ohne glaubwürdige Beweise dafür, dass sie eine völkerrechtlich anerkannte Straftat begangen hatten. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Personen, die als kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung gelten – vor allem Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger – werden inhaftiert oder mit erfundenen Anklagen konfrontiert. Die Behörden verbieten auch weiterhin willkürlich Demonstrationen und wenden bei der Auflösung friedlicher Protestaktionen unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an. Es gibt glaubwürdige Berichte über Folter und Verschwindenlassen (AI 7.4.2021; vgl. EC 6.10.2020). Eine Reihe negativer Entwicklungen, insbesondere die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen, haben einen abschreckenden Effekt erzeugt und zu einem zunehmend feindseligen Umfeld für Menschenrechtsverteidiger beigetragen. Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z.B. Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 10.2020, S.26) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen in großem Umfang hält an. Neben tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen [siehe Kapitel Gülen- oder Hizmet-Bewegung], befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur 19 verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021). Das Europaparlament sieht die Anti-Terror-Maßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Anti-TerrorMaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen (EP 13.3.2019). Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen. Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte der Umgang der Türkei mit den EGMR-Urteilen in den Fällen Selahattin Demirtaş (November 2018) und Osman Kavala (Dezember 2019) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert. Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala) (AA 24.8.2020). Im Jahr 2019 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 113) Verletzungen der EMRK fest, die hauptsächlich die Meinungsfreiheit (35), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), den Schutz des Eigentums (14), das Recht auf ein faires Verfahren (13), unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (12), die Achtung des Privat- und Familienlebens und das Recht auf Leben (5) betrafen (EC 6.10.2020). Mit Stand 31.10.2020 waren 10.150 Verfahren aus der Türkei, das waren 16,6% aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 31.10.2020). Dies bedeutet im Vergleich zu den Werten von Ende November 2019 - 8.700 Verfahren und 14,5% aller Fälle - eine nennenswerte Steigerung (ECHR 30.11.2019). Quellen: • AA – Auswärtiges Amt [Deutschaland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/D eutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abs chiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29 %2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 20.11.2020 • AI – Amnesty International (7.4.2021): Türkei 2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2 048610.html , Zugriff 12.4.2021 • CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 20.11.2020 • EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 20.11.2020 • ECHR – European Court of Human Rights (31.10.2020): Pending Applications Allocated To A Judicial Formation 30/10/2020, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending _month_2020_BIL.PDF , Zugriff 20.11.2020 • ECHR – European Court of Human Rights (30.11.2019): Pending Applications Allocated To A Judicial Formation 30/11/2019, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending _month_2019_BIL.pdf , Zugriff 20.11.2020 20 • EP - European Parliament (21.1.2021): Human rights situation in Turkey, in particular the case of Selahattin Demirtaş and other prisoners of conscience [(2021/2506(RSP)], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0028_EN.pdf , Zugriff 17.2.2021 • EP – European Parliament (13.3.2019): 2018 Report on Turkey – European Parliament resolution of 13 March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA2019-0200+0+DOC+PDF+V0//EN , Zugriff 20.11.2020 • HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Turkey, https://www.ecoi .net/de/dokument/2043511.html , Zugriff 28.1.2021 • ÖB – Österreichische Botschaft - Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderberich t_10_2020.pdf , Zugriff 18.11.2020 Ethnische Minderheiten Letzte Änderung: 17.05.2021 Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei - primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen (USDOS 30.3.2021, S.70; vgl. GIZ 12.2020). Daneben gibt es aber auch noch andere christliche Religionsgruppen, z.B. aramäische Christen, die vom Sonderstatus nicht profitieren (GIZ 12.2020). Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 30.3.2021, S.70). Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren, Syriaken und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 24.8.2020). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018b). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff „Minderheit“ (im Türkischen „azınlık“) ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als „Spalter“, „Vaterlandsverräter“ und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe „Kurdistan“, „kurdische Gebiete“ und „Völkermord an den Armeniern“ im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). 21 Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 30.3.2021, S.71). Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem. Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020). Nicht-Muslime wurden im Jahr 2020 zunehmend mit Hassreden bedacht, wobei insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt waren, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 3.3.2021). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan Ende September 2020 verstärkte sich die anti-armenische Rhetorik, sowohl in traditionellen als auch in sozialen Medien. Allerdings verurteilten Regierungsvertreter wiederum die Einschüchterung ethnischer Armenier scharf (USDOS 30.3.2021, S.73). Schulbücher müssten laut Europäischer Kommission überarbeitet werden, um Überreste diskriminierender Referenzen zu den Minderheiten zu eliminieren. Auch die staatlichen Subventionen für Minderheitenschulen sind gesunken und ergehen nur unregelmäßig. Gesetzliche Einschränkungen für muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Mittelschulen bleiben bestehen. Optionale Kurse in Kurdisch werden jedoch an öffentlichen staatlichen Schulen fortgesetzt, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki. Die uneingeschränkte Achtung und der Schutz von Sprache, Religion, Kultur und Grundrechten der Minderheiten gemäß den europäischen Normen ist noch nicht vollständig erreicht. Die Regierung hat die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Allerdings beschloss die Behörde für Pressewerbung (BİK), die derzeitige Finanzierung für Zeitungen, die von Mitgliedern der armenischen, griechischen und jüdischen Gemeinden betrieben werden, zu erhöhen (EC 6.10.2020). Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 10.2020). 22 Quellen: • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebu ngsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 4.08.2020.pdf , Zugriff 2.12.2020 • bpb – Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr -2017-2018#footnode12-12 , Zugriff 2.12.2020 • EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 2.12.2020 • FH – Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi .net/en/document/2043511.html , Zugriff 12.4.2021 • GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (12.2020): Gesellschaft - Ethnische Gruppen und Minderheiten, https://www.liportal.de/tuerkei/gesellschaft/ , Zugriff 12.4.2021 • HDF – Hrant Dink Foundation (3.11.2020): Hate Speech and Discriminatory Discourse in Media 2019 Report, https://hrantdink.org/attachments/article/2728/Hate-Speech-and-Dis criminatory-Discourse-in-Media-2019.pdf , Zugriff 2.12.2020 • MRGI – Minority Rights Group International (6.2018b): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/ , Zugriff 12.4.2021 • ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderberich t_10_2020.pdf , Zugriff 2.12.2020 • USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TUR KEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 12.4.2021

 

Kurden

Letzte Änderung: 17.05.2021 Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozioökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020). Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der Partei 23 für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 10.2020). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP, besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - Hüda-Par), die für die Einführung der Schari’a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019). Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen, mehrheitlich kurdischen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt (USDOS 30.3.2021, S.70), auch 2019, wenn auch von kürzerer Dauer und im kleineren Umfang (İHD 18.5.2020b). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 6.10.2020). [Anm.: für weiterführende Informationen siehe Kapitel „Sicherheitslage“] Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 30.3.2021, S.71) und blieben es auch (EC 6.10.2020). Der Druck auf kurdische Medien und auf die Berichterstattung über kurdische Themen hält an (EC 6.10.2020). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 6.10.2020). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 24.8.2020). Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, 24 sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020). Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18% der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 10.2020). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch und Zazaki. Gesetzliche Einschränkungen des muttersprachlichen Unterrichts in Grund- und Sekundarschulen bleiben allerdings bestehen (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung - oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 10.2020). Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure, die die willkürliche Zensur verschärften, haben negative Auswirkungen auf den Kunst- und Kulturbereich. Nach einer zweiten Runde der Ernennung von staatlichen Treuhändern in vormals von der HDP regierten Gemeinden, wurden die Bemühungen zur Förderung der Schaffung von Sprach- und Kulturinstitutionen in diesen Provinzen weiter untergraben. Die Schließung kurdischer Kultur- und Sprachinstitutionen und kurdischer Medien sowie zahlreicher Kunsträume nach dem Putschversuch von 2016 führte zu einer weiteren Schmälerung der kulturellen Rechte (EC 6.10.2020). Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 10.2020). Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020; vgl. TM 17.9.2020). Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 24.8.2020). Einige 25 Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die Kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S.71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im privaten Bereicht vollständig (AA 24.8.2020) und im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2020 immer wieder von Gewaltakten, einschließlich Mord und Totschlag, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 10.2020; vgl. TM 17.9.2020, IRB 7.1.2020). Nebst der (spontanen) Gewalt von Einzelpersonen kommt es auch zu organisierten gewalttätigen Angriffen türkisch-nationalistischer Milizen gegen kurdische Gruppen. Erstere sind überall in der Türkei zu finden, aber besonders im Westen und in Großstädten wie Istanbul und Ankara (UKHO 1.10.2019). [Anm.: siehe auch Kapitel „Opposition“] Quellen: • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebu ngsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 4.08.2020.pdf , Zugriff 3.12.2020 • AI – Amnesty International: Weathering the storm (26.4.2019): Defending human rights in Turkey’s climate of fear [EUR 44/8200/2018], https://www.ecoi.net/en/file/local/1430738/1 226_1524726749_eur4482002018english.PDF , Zugriff 3.12.2020 • DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information -report-turkey.pdf , Zugriff 3.12.2020 • EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 3.12.2020 • HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Turkey, https://www.ecoi .net/de/dokument/2022684.html , Zugriff 3.12.2020 • İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (18.5.2020b): İHD 2019 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2020/05/I %CC%87HD-2019-VIOLATIONS-REPORT.pdf , Zugriff 3.12.2020 • IRB – Immigration and Refugee Board of Canada [Kanada] (7.1.2020): Turkey: Situation of Kurds, including in Istanbul, Ankara, and Izmir; situation of supporters or perceived supporters of the Peoples’ Democratic Party (Halkların Demokratik Partisi, HDP); situation of Alevi Kurds (July 2018-December 2019) [TUR106385.E], https://www.ecoi.net/de/doku ment/2025617.html , Zugriff 3.12.2020 • NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksove rheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2 019/Turkije++October+2019.pdf , Zugriff 3.12.2020 • ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderberich t_10_2020.pdf , Zugriff 3.12.2020 26 • TM – Turkish Minute (17.9.2020): Turkey removes signs in Kurdish as racist attacks on Kurds surge, https://www.turkishminute.com/2020/09/17/turkey-removes-signs-in-kurdish -as-racist-attacks-on-kurds-surge/ , Zugriff 3.12.2020 • UKHO – United Kingdom Home Office [Großbritannien] (1.10.2020): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17 June to 21 June 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPORT_201 9.odt , Zugriff am 3.12.2020 • USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TUR KEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 12.4.2021

 

Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 17.05.2021 Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern. Das Recht zur Ausreise wiederum darf durch eine richterliche Entscheidung im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung oder Verfolgung eingeschränkt werden (ÖB 10.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45). Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das galt auch für deren Familienangehörige. Die Behörden haben auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran gehindert, das Land zu verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 30.3.2021, S.45f.). Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45). Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). 27 Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen (AA 24.8.2020). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 10.2020). Auswirkungen der COVID-19-Pandemie Der Innenminister und die Provinzbehörden schränkten den Reiseverkehr zwischen den Provinzen zwischen März und Mai 2020 ein, gefolgt von begrenzten Bewegungseinschränkungen in und aus den Großstädten als Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie. Einige Gouverneure, insbesondere im Nordwesten und Südosten, verhängten weitere Reiseverbote als Maßnahmen gegen COVID-19 während des ganzen Jahres 2020 (USDOS 30.3.2021, S.45). Quellen: • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebu ngsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 4.08.2020.pdf , Zugriff 11.12.2020 • HDN – Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-pas sports-135000 , Zugriff 16.10.2019 • ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderberich t_10_2020.pdf , Zugriff 11.12.2020 • TM – Turkish Minute (22.6.2020): Turkey removes passport restrictions for 28,000 more citizens, https://www.turkishminute.com/2020/06/22/turkey-removes-passport-restrictionsfor-28000-more-citizens/ , Zugriff 11.12.2020 • TM – Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects’ spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regul ation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/ , Zugriff 16.10.2019 • TM – Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkey-lifts-restrictions-on-more-than-50000 - passports/ , Zugriff 16.10.2019 • TM – Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictions-from-155350-pas sports/ , Zugriff 16.10.2019 28 • USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TUR KEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 12.4.2021 • USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 16.10.2019

 

Grundversorgung / WirtschaftLetzte Änderung: 17.05.2021 Das reale Bruttoinlandsprodukt wuchs im vierten Quartal 2020 um 5,9% im Vergleich zum Vorjahr und schloss damit eine bemerkenswerte Erholung in der zweiten Jahreshälfte ab, die zu einem Wachstum von 1,8% für das Gesamtjahr führte, trotz der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (WB 6.4.2021; vgl. GTAI 15.4.2021). Dieses Wachstum wurde allerdings erkauft mit Zinsen unter der Inflationsrate und einer starken Kreditexpansion (+35%) (GTAI 15.4.2021), die auch die Inlandsnachfrage ankurbelte (WB 6.4.2021). Eine Konsequenz war die starke Abwertung der türkischen Lira um rund 30%. Das Risiko einer Zahlungsbilanzkrise steigt. Investoren mahnen bereits seit Längerem strukturelle Reformen an. Die Währungsreserven sind niedrig und drohen weiter zu sinken. Die ausufernde expansive Wirtschaftspolitik der letzten Jahre begrenzt den Handlungsspielraum für weitere Maßnahmen zum Ankurbeln der Konjunktur. Außenpolitische Spannungen verstärken die Unsicherheiten (GTAI 15.4.2021). Die Behörden lockerten die Geldpolitik und gaben ein Konjunkturprogramm in Höhe von insgesamt 13% des BIP heraus, wovon der größte Teil auf die Unterstützung des Bankensektors in Form von teilweisen Kreditgarantien und Kreditstundungen entfiel. Andere fiskalische Unterstützung beinhaltete soziale Unterstützungszahlungen an Haushalte, Hilfe für beurlaubte Arbeiter, Steuerstundungen und andere Unterstützung für Firmen. Das durch diese Maßnahmen erzielte Wachstum ging auf Kosten steigender Preise und makroökonomischer Anfälligkeiten. Die Inflation erreichte im Februar 2021 15,6%. Von einem Überschuss im Jahr 2019 bewegte sich die Leistungsbilanz zurück ins Defizit, da die Einnahmen aus dem Tourismus schwanden, die Warenexporte sanken und die Goldimporte stiegen. Analysen deuten darauf hin, dass die Armut im Jahr 2020 um bis zu 2,1 Prozentpunkte gestiegen sein könnte - was 1,6 Millionen neuen Armen entspricht. Für das Jahr 2021 wird für die Türkei die höchste Armutsquote seit 2012 prognostiziert (WB 6.4.2021). Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECDDurchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019). In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1% des BIP (ÖB 10.2020). 29 Quellen: • GTAI – Germany Trade and Invest (15.4.2021): Türkische Wirtschaft wächst trotz Coronakrise, https://www.gtai.de/gtai-de/trade/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsausblick/tuerkei/tuer kische-wirtschaft-waechst-trotz-coronakrise-247908 , Zugriff 22.4.2021 • OECD – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2019): Society at a Glance 2019: OECD Social Indicators, https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/soc_g lance-2019-en.pdf ?expires=1573813322&id=id&accname=guest&checksum=2EE74228 759055A97295ED4460FC22E0 , Zugriff 16.12.2020 • ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderberich t_10_2020.pdf , Zugriff 16.12.2020 • WB – World Bank (6.4.2021): The World Bank in Turkey - Overview - Recent Economic Developments, https://www.worldbank.org/en/country/turkey/overview#3 , Zugriff 22.4.2021 Sozialbeihilfen / -versicherung Letzte Änderung: 26.01.2021 Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 24.8.2020). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 24.8.2020). Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019). Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. „Milchgeld“ in einmaliger Höhe von 202 TL (bei 30 geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 567 TL und 854 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.544 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2020 alle zwei Monate Anspruch auf 587 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 10.2020). Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018). Quellen: • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebu ngsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 4.08.2020.pdf , Zugriff 16.12.2020 • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw% C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_L age_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 16.12.2020 • ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei, per E-Mail, Zugriff 16.12.2020 • SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016a): Das Türkische Soziale Sicherheitssystem, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/de/detail/da s_turkische , Zugriff 16.12.2020 • SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016b): Financing of Social Security, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/social_security_system/ social_security_system , Zugriff 16.12.2020 • SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-20 19/europe/turkey.html , Zugriff 16.12.2020 31

 

Arbeitslosenunterstützung

Letzte Änderung: 26.01.2021 Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40% des Durchschnittslohns, maximal jedoch 80% des Bruttomindestlohns. Nach Erhöhung des Mindestlohns im Jänner 2020 beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 1177 TL, der Maximalbetrag 2.853 TL. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (ÖB 10.2020). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2020; vgl. ÖB 10.2020). COVID-19-Pandemie Wegen der Corona-Krise hat die Regierung die Regelung zur Kurzarbeit zugunsten der Arbeitnehmer geändert. Durch Gesetz Nr. 7226 vom 25.3.2020 wurde ein neuer Übergangsartikel geschaffen (Übergangsartikel 23). Dieser bestimmt, dass bei Kurzarbeitergeldanträgen aufgrund der Corona-Krise bis zum 20.6.2020 die Leistungsvoraussetzungen gelockert werden: Damit genügt es, dass der Versicherte in den vergangenen drei Jahren für 450 Tage (statt 600 Tage) Beiträge entrichtet hat. Auch muss er vor dem Leistungsanspruch lediglich 60 (statt 120) Tage ununterbrochen beschäftigt gewesen sein. Weiterhin wurde der Präsident ermächtigt, die Geltungsfrist dieser Bestimmung bis zum 31.12.2020 zu verlängern sowie die Maßstäbe für die Berechnung des Kurzarbeitergelds zu ändern. Mit der am 16.4.2020 verfügten Übergangsbestimmung des Gesetzes 7244 gilt ein Kündigungsverbot für alle Arbeitsverhältnisse für eine Dauer von drei Monaten. Dabei ist nicht von Belang, ob der Arbeitnehmer unter den Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes fällt oder nicht. Eine Ausnahme besteht lediglich im Fall einer außerordentlichen (fristlosen) Kündigung (MPI-SR 20.6.2020). Quellen: • IOM – International Organization for Migration (2020): Länderinformationsblatt Türkei 2020, https://files.returningfromgermany.de/files/Country%20Fact%20Sheet%20T%C3%BCrkei %202020%20DE.pdf , Zugriff 16.12.2020 • IOM – International Organization for Migration (Autor), veröffentlicht von ZIRF – Zentralstelle für Informationsvermittlung zur Rückkehrförderung (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 16.12.2020 • MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April 2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publika tionen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_T%C3%BCrkei__final.pdf , Zugriff 16.12.2020 32 • ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei,https://www. ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020.pd f , Zugriff 16.12.2020

 

Pension

Letzte Änderung: 26.01.2021 Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung. Berechtigung: • Staatsbürger über 18 Jahre • Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar) • Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben. Voraussetzungen: • Anmelden bei der Sozialversicherung SGK • Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden • Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr Personen älter als 65 Jahre, Behinderte über 18 und Personen, mit Vormundschaft über Behinderte unter 18, erhalten eine monatliche Zahlung. Unmittelbare Familienangehörige des Versicherten, der verstorben ist oder mindestens zehn Jahre gearbeitet hat, haben Zugang zu Witwen- bzw. Waisenhilfe. Hat der Verstorbene mindestens fünf Jahre gearbeitet, erhalten seine Kinder unter 18, sowie Kinder in der Sekundarschule unter 20 und Kinder in höherer Bildung unter 25 Waisenhilfe (IOM 2020). Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2% für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90%. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018). 2019 wurde eine Mindestrente eingeführt. Durch Gesetz Nr. 7226 vom 25.3.2020 wurde die Mindestrente auf 33 1.500 TL (200 Euro) angehoben. Wie viele Versicherte nun eine Mindestrente erhalten, lässt sich aus den Statistiken des Versicherungsträgers weiterhin nicht ablesen. Jedoch steht fest, dass auch dieser höhere Betrag nicht ausreichen wird, um die Grundbedürfnisse zu decken. Nach Angaben der TÜRK-İŞ – der Dachorganisation der Gewerkschaften – liegt (Stand März 2020) bei einer vierköpfigen Familie die Armutsgrenze bei 7.639,22 TL (1018,56 Euro) und die Hungergrenze bei 2.345,24 TL (312,69 Euro) (MPI-SR 20.6.2020). Quellen: • IOM – International Organization for Migration (2020): Länderinformationsblatt Türkei 2020, https://files.returningfromgermany.de/files/Country%20Fact%20Sheet%20T%C3%BCrkei %202020%20DE.pdf , Zugriff 16.12.2020 • MPI-SR - Max-Planck-Institut for Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April 2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publika tionen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_T%C3%BCrkei__final.pdf , Zugriff 16.12.2020 • SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-20 19/europe/turkey.html , Zugriff 16.12.2020

 

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 26.01.2021 Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der „Nationalen Gesundheitsfürsorge“ und der „Sozialen Krankenkasse“ etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Rentner ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10% tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei Geburt um 70%, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3% des Bruttomindestlohnes der Türkei. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 10.2020). Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz34 und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c). Seit 2017 wird das Gesundheitsversorgungswesen der Türkei neu organisiert, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen. Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020). Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und postoperationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften sanitären Zustände und Hygienestandards in den staatlichen Spitälern, vor allem in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten. NGOs, die sich um Bedürftige kümmern, sind in der Türkei vereinzelt in den Großstädten vorhanden, können jedoch kaum die Grundbedürfnisse der Bedürftigen abdecken (ÖB 10.2019). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 24.8.2020). Zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wird allerdings nicht Methadon, sondern entweder eine Kombination aus Buphrenorphin+Naloxan oder Morphin angewandt (MedCOI 18.2.2020) Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Die aktuelle Kapazität wird mit Blick auf die wachsenden Patientenzahlen als noch unzureichend eingeschätzt, weshalb die Regierung einen Ausbau plant. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. 35 Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Krankenhäusern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 24.8.2020). Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Beiträge sind einkommensabhängig und fangen bei 88,29 TL an (IOM 2020). Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (IOM 2020). Quellen: • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebu ngsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 4.08.2020.pdf , Zugriff 16.12.2020 • IOM – International Organization for Migration (2020): Länderinformationsblatt Türkei 2020, https://files.returningfromgermany.de/files/Country%20Fact%20Sheet%20T%C3%BCrkei %202020%20DE.pdf , Zugriff 16.12.2020 • MedCOI (18.2.2020): BMA 13335, Zugriff 16.12.2020 • MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April 2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publika tionen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_T%C3%BCrkei__final.pdf , Zugriff 16.12.2020 • ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://ww w.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020. pdf , Zugriff 16.12.2020 • ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://ww w.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 16.12.2020 • SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016c): Universal Health Insurance, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins , Zugriff 16.12.2020 36

 

Behandlung nach Rückkehr

Letzte Änderung: 17.05.2021 Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das Allgemeine Informationssammlungssystem, das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das Zentrale Melderegistersystem (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020). Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020). Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbollah, Al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern von der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 10.2020). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen und Handlungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten deutschen Vereinen 37 oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 24.8.2020). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2020). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen gar Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen „Terrorismuspropaganda“, „Beleidigung des Präsidenten“ und „Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit“. Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den Sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt festgenommen werden (AA 27.4.2021). Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 27.4.2021). Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in „Sippenhaft“ genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind. Allein 2020 wurden über ein Dutzend aus Österreich einreisende Personen unmittelbar nach ihrer Ankunft in der Türkei angehalten und, sofern sie nicht in Untersuchungshaft kamen, mit einer Ausreisesperre belegt (ÖB 10.2020). Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 10.2020). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020; vgl. ÖB 10.2019). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. §3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 10.2019). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung 38 auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020). Die Pässe türkischer Staatsangehöriger im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt, mit dem sie in die Türkei zurückkehren können, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, sowie kritische Journalisten und, darüber hinaus, Kurden (UKHO 2.2018). Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem: • Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-tu rkey.com • Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-ista nbul.com/ • TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 10.2020). Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Art. 9 des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Nach Einschätzung des DFAT wendet die Türkei die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020). Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor (ÖB 10.2020). So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, 39 trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9) (ÖB 10.2020). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Art. 9 Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben (DFAT 10.9.2020). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11 (1)). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben (ÖB 10.2020). Eine weitere Ausnahme vom Prinzip „ne bis in idem“, d.h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat entweder begangen wird: gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016). Quellen: • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (27.4.2021): Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSic herheit/tuerkeisicherheit/201962 , 27.4.2021 • AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebu ngsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 4.08.2020.pdf , Zugriff 17.12.2020 • CoE – Council of Europe – Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-e n.pdf , Zugriff 17.12.2020 • DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information -report-turkey.pdf , Zugriff 17.12.2020 • Independent [türkische Ausgabe] (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/29 5631/yurtd%C4%B1%C5%9F%C4%B1nda-ya%C5%9Fayan-binlerce-ki%C5%9Fiye-t% C3%BCrkiye-giri%C5%9Flerinde-sosyal-medya-payla%C5%9F%C4%B1mlar%C4%B1 , Zugriff 2.2.2021 (Übersetzung mittels webtran.de) • NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksove 40 rheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2 019/Turkije++October+2019.pdf , Zugriff 17.12.2020 • ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderberich t_10_2020.pdf , Zugriff 17.12.2020 • ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 17.12.2020 • SCF – Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-o r-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/ , Zugriff 2.2.2021 • TR-MFA – Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (o.D.): PKK, http://www. mfa.gov.tr/pkk.en.mfa , Zugriff 17.12.2020 • UKHO – United Kindom Home Office [Großbritannien] (2.2018): Country Policy and Information Note Turkey: Gülenist movement, https://assets.publishing.service.gov.uk/gover nment/uploads/system/uploads/attachment_data/file/682868/Turkey_-_Gulenists_-_CPI N_-_v2.0.pdf , Zugriff 17.12.2020 4

 

2. Beweiswürdigung

 

Einleitend ist anzuführen, dass die im Verfahren aufgenommenen Niederschriften mit den Aussagen der bP vollen Beweis iSd § 15 AVG über den Verlauf und Gegenstand der Amtshandlung bilden und mit diesem Inhalt als zentrales Beweismittel der Beweiswürdigung unterzogen werden können.

Die bP trat den Gegenbeweis der Unrichtigkeit des darin bezeugten Vorganges nicht konkret an.

 

Weder die Behörde noch das VwG sind verpflichtet, dem Asylwerber im Wege eines Vorhaltes zur Kenntnis zu bringen, dass Widersprüche vorhanden sind, die im Rahmen der gemäß § 45 Abs. 2 AVG vorzunehmenden Beweiswürdigung zu seinem Nachteil von Bedeutung sein könnten, und ihm aus diesem Grund eine Stellungnahme hiezu zu ermöglichen (vgl. VwGH 29.01.2021, Ra 2021/14/0011; 28.06.2018, Ra 2017/19/0447, mwN).

 

Ad 1.1.1 Identität und Herkunftsstaat:

Das Bundesamt stellte die Identität auf Grund eines dort vorgelegten Nüfus fest..

Die Herkunft ergibt sich plausibel aus den in diesen Punkten gleichbleibenden persönlichen Angaben im Zuge der Einvernahmen, ihren im Verfahren dargelegten Sprach- und Ortskenntnissen und den seitens der bP vorgelegten Bescheinigungsmitteln.

Gegenteilige Anhaltspunkte ergaben sich für das BVwG nicht.

 

Ad 1.1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnissen vor der Ausreise:

Dies ergibt sich plausibel aus den in diesem Punkten lebensnahen, gleichbleibenden persönlichen Angaben im Zuge der Einvernahmen und ihren im Verfahren dargelegten Sprach- und Ortskenntnissen.

Gegenteilige Anhaltspunkte ergaben sich für das BVwG nicht.

 

Ad 1.1.3. Aktuelles familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat:

Dies ergibt sich plausibel aus den in diesem Punkten lebensnahen, persönlichen Angaben beim Bundesamt und in der Verhandlung.

Gegenteilige Anhaltspunkte ergaben sich für das BVwG nicht.

 

Ad 1.1.4. Ausreisemodalitäten:

Dies ergibt sich plausibel aus den in diesem Punkten lebensnahen, gleichbleibenden persönlichen Angaben im Zuge der Einvernahmen.

Gegenteilige Anhaltspunkte ergaben sich für das BVwG nicht.

Die unterschiedlichen Angaben zum Verbleib des Reisepasses ergeben sich aus den Angaben der bP in verfahrensgegenständlichen Niederschriften bzw. Schriftsätzen.

 

Ad 1.1.5. Aktueller Gesundheitszustand:

Dies ergibt sich plausibel aus ihren persönlichen Angaben in der Verhandlung.

 

Ad 1.1.6. Aktuelles Privatleben / Familienleben in Österreich

Dies ergibt sich plausibel und unstreitig aus ihren persönlichen Angaben, den von ihr vorgelegten Bescheinigungsmitteln sowie den zitierten amtswegigen Ermittlungsergebnissen des Bundesamtes / Bundesverwaltungsgerichtes.

 

Ad 1.1.7. Zu den behaupteten ausreisekausalen Geschehnissen / Erlebnissen im Zusammenhang mit staatlichen / nichtstaatlichen Akteuren bzw. den von der bP vorgebrachten Problemen, die sie persönlich im Entscheidungszeitpunkt im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat erwartet

 

Hinsichtlich der Anforderung an die gesetzliche Mitwirkungs- bzw. Darlegungsverpflichtung der Partei ergibt sich aus der Judikatur insbes. Folgendes:

Der EGMR hat in seinem Urteil der Großen Kammer vom 23. August 2016, Nr. 59166/12, J.K. u.a. gegen Schweden, (u.a.) ausgeführt, dass die Beweislast für das Vorliegen eines realen Risikos in Bezug auf individuelle Gefährdungsmomente für eine Person grundsätzlich bei dieser liege, gleichzeitig aber die Schwierigkeiten, mit denen ein Asylwerber bei der Beschaffung von Beweismitteln konfrontiert sei, in Betracht zu ziehen seien und bei einem entsprechend substantiierten Vorbringen des Asylwerbers, weshalb sich seine Lage von jener anderer Personen im Herkunftsstaat unterscheide, im Zweifel zu seinen Gunsten zu entscheiden sei. Soweit es um die allgemeine Lage im Herkunftsstaat gehe, sei jedoch ein anderer Ansatz heranzuziehen. Diesbezüglich hätten die Asylbehörden vollen Zugang zu den relevanten Informationen und es liege an ihnen, die allgemeine Lage im betreffenden Staat (einschließlich der Schutzfähigkeit der Behörden im Herkunftsstaat) von Amts wegen festzustellen und nachzuweisen (vgl. die Ausführungen in VwGH Rn. 23 des zu Ra 2016/18/0137 ergangenen Erkenntnisses; 03.09.2020, Ra 2020/19/0221).

Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre [VwGH 14.2.2002, 99/18/0199 ua], gesundheitliche [VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601; 14.6.2005, 2005/02/0043], oder finanzielle [vgl VwGH 15.11.1994, 94/07/0099] Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann (vgl auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht und Darlegungslast des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279).

Wenn Sachverhaltselemente im Ausland ihre Wurzeln haben, ist die Mitwirkungspflicht und Offenlegungspflicht der Partei in dem Maße höher, als die Pflicht der Behörde zur amtswegigen Erforschung des Sachverhaltes wegen des Fehlens der ihr sonst zu Gebote stehenden Ermittlungsmöglichkeiten geringer wird. Tritt in solchen Fällen die Mitwirkungspflicht der Partei in den Vordergrund, so liegt es vornehmlich an ihr, Beweise für die Aufhellung auslandsbezogener Sachverhalte beizuschaffen (VwGH 12.07.1990, Zahl 89/16/0069).

Dies entspricht auch der sich insbes. aus § 15 AsylG ergebenden Mitwirkungsverpflichtung sowie aus der Verfahrensförderungspflicht des § 39 Abs 2a AVG, wonach jede Partei ihr Vorbringen so rechtzeitig und vollständig zu erstatten hat, dass das Verfahren möglichst rasch durchgeführt werden kann.

Nach der Judikatur des EGMR ist es Sache der beschwerdeführenden Partei über Nachfrage „Beweise“ vorzubringen, die zeigen können, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, sie würden im Fall der Vollstreckung der angefochtenen Maßnahme einem realen Risiko ausgesetzt,, die einer gegen Art 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterworfen zu werden, wobei dem ein gewisser Grad an Spekulation innewohnen kann und keine „eindeutigen Beweise“ für die Behauptung einer verbotenen Behandlung zu erbringen sind (vgl. zB uva EGMR Paposhvili gg. Belgien, 13.12.2016, Bsw. 41738/10).

 

Glaubhaftmachung

Nach der Rechtsprechung des VwGH ist - abgesehen vom Fall einer Wahrunterstellung (vgl. dazu etwa VwGH 25.6.2019, Ra 2019/19/0032, Rn. 13) - die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Asylwerbers zu prüfen. Diese Prüfung erfolgt unter Berücksichtigung der vom EuGH judizierten unionsrechtlichen Anforderungen (vgl. EuGH 25.1.2018, C-473/16 und EuGH 4.10.2018, C-56/17 , Fathi). Erst danach erfolgt die Prognoseentscheidung gemäß §§3, 8 AsylG 2005, ob mit dem als glaubhaft erachteten Vorbringen eine wohl begründete Furcht vor Verfolgung oder reale Gefahr der Verletzung maßgeblicher Rechtsgüter des Asylwerbers glaubhaft gemacht wird (vgl. zur Prognoseentscheidung VwGH 8.9.2016, Ra 2015/20/0217, mwN; vgl. zu der dabei vorzunehmenden einzelfallbezogenen Beurteilung VwGH 2.9.2019, Ro 2019/01/0009, mwN).

 

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Behörde einen Sachverhalt grundsätzlich nur dann als glaubhaft anerkennen, wenn der Asylwerber während des Verfahrens im Wesentlichen gleichbleibende Angaben macht, wenn diese Angaben wahrscheinlich und damit einleuchtend erscheinen und wenn erst sehr spät gemachte Angaben nicht den Schluss aufdrängten, dass sie nur der Asylerlangung um jeden Preis dienen sollten, der Wirklichkeit aber nicht entsprechen. Als glaubhaft könnten Fluchtgründe im Allgemeinen nicht angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (vgl. zB. VwGH 6.3.1996, 95/20/0650). Bloßes Leugnen oder eine allgemeine Behauptung reicht für eine Glaubhaftmachung nicht aus (VwGH 24.2.1993, 92/03/0011; 1.10.1997, 96/09/0007).

 

Im Allgemeinen erfolgt eine (vorsätzliche) Falschaussage nicht ohne Motiv (vgl. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Auflage, Rz 246ff).

Im Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz kann eine derartige Motivationslage, die den Wahrheitswillen eines Antragstellers/einer Antragstellerin zu beeinflussen geeignet ist, darin liegen, dass sie ihrer Überzeugung nach – uU auch durch Suggestion Dritter (vgl. zB „Die 12 ‚Verbote‘ in der Vernehmung“, https://www.sgipt.org/forpsy/aussage0.htm#Die 12 'Verbote', mwN) beeinflusst - dadurch gesteigerte Erfolgsaussichten erwartet, um den beantragten Status als Asylberechtigter oder als subsidiär Schutzberechtigter und damit einen Aufenthaltstitel samt Zugang zum Arbeitsmarkt und/oder staatlicher Versorgung zu erlangen (sog. „Folgenberücksichtigung“, siehe oben zitierte Quelle; vgl auch UNHCR Handbuch, Dez. 2011, B/2/f Auswanderer aus wirtschaftlichen Motiven im Unterschied zu Flüchtlingen).

 

Aus dem Wesen der Glaubhaftmachung ergibt sich insbes.:

 dass die Ermittlungspflicht der Behörde / des BVwG grds. durch die (auf Nachfrage) vorgebrachten Tatsachen und angebotenen Beweise eingeschränkt ist (VwGH 29.3.1990, 89/17/0136; 25.4.1990, 90/08/0067);

 ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte ist die Behörde / das Bundesverwaltungsgericht nicht verpflichtet jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (vgl. VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314, mwN);

 nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann die Beurteilung eines „gar nicht erstatteten Vorbringens“ mitunter sogar auch zu einer vom VwGH wahrzunehmenden Rechtsverletzung führen (vgl. zB VwGH 9.9.2010, 2007/20/0558 bis 0560; 10.08.2018, Ra 2018/20/0314);

 die allgemeine Behauptung von Verfolgungs- bzw. Gefährdungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314, mwN).

 

Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:

Ad a) Betreffend ihrer persönlichen Sicherheit / Verfolgung im Herkunftsstaat:

 

Das BVwG kommt – so wie schon das Bundesamt – zur Ansicht, dass die bP zwischen der Erstbefragung und der nachfolgenden Einvernahme, die rund eineinhalb Jahre danach stattfand, das Gefährdungsvorbringen wesentlich abänderte, was dazu führt, dass es ua auch dadurch als nicht glaubhaft erachtet wird.

Unmittelbar nach der Einreise, also dem behaupteten Ereignis noch am zeitnähesten, gab sie an, dass ihr seitens der Polizei fälschlich vorgeworfen wäre, sie sei „ein Mitglied der PKK“. In der folgenden Einvernahme behauptete sie dies dergestalt nicht mehr, sondern gab sie an, dass sie wegen ihrer Tätigkeit für die HDP von der Polizei festgenommen und bedroht worden sei. Sie solle sich „von der Partei entfernen“, sonst werde ihr etwas passieren.

Verwendete die bP bei der Erstbefragung noch ausdrücklich den Begriff der PKK, so sprach sie folglich nur mehr von „Terrorist“.

 

Die von der bP in der Einvernahme dargelegt Tätigkeit in einer Jugendorganisation der HDP, wodurch sie in den Blickpunkt der Polizei geraten sein soll, ist auch nicht glaubhaft. Beim Bundesamt gab sie an, sie habe im Rahmen des behaupteten politischen Engagements auch „Reden gehalten“. Schon beim Bundesamt wurde sie aufgefordert darzulegen, welche Reden sie konkret gehalten habe. Die Antwort darauf war sehr oberflächlich („Ich habe gesagt, wie man die kurdischen Rechte bekommen kann. Und über Probleme der Kurden. Unsere Mitglieder waren niemals bewaffnet“) und führte auch dies ua. dazu, dass das Bundesamt diese Aktivität für die Partei nicht als glaubhaft erachtete.

Auch das BVwG versuchte das behauptete politsche Interesse zu ergründen, das sogar dergestalt vertieft gewesen sein, soll, dass sie Reden gehalten haben soll. Aufgefordert konkret anzugeben was der Inhalt der Reden war, gab sie an:

„Das war nur für unsere Partei, damit wir unsere Leute Infos geben können, dass wir auch Rechte haben können. Wir haben ganz normale Gespräche gehabt, über Kurdensachen und so“.

Damit vermochte die bP auch das BVwG nicht von ihrer Tätigkeit und politischem Engagement bzw. Interesse bei der HDP überzeugen. Würde sie tatsächlich dergestalt engagiert gewesen sein, so wäre – auch unter Berücksichtigung ihres Bildungsstandes – doch viel mehr an politischem Inhalt bzw. Substanz zu erwarten gewesen als nur derart allgemein und oberflächlich gehaltene Phrasen ohne jeglichen sachlichen Tiefgang.

 

Die bP vermochte beim Bundesamt diese Tätigkeit bzw. Mitgliedschaft bei der HDP auch nicht nachweisen. Weder durch einen Mitgliedausweis noch durch eine Bescheinigung anderer Art. Trotz des Umstandes, dass die Behörde diese Mitgliedschaft bzw. ein derartiges Engagement nicht als glaubhaft erachtete, blieb diese Behauptung auch im Beschwerdeverfahren unbescheinigt, was ebenso ein Indiz darstellt, dass sie nicht derart involviert war und daher auch nicht in der Lage ist dies nachzuweisen.

 

Die bP erzählte beim Bundesamt von „2-3“ Festnahmen, die sie wegen ihrer Tätigkeit bei der HDP erlitten habe.

Die bP wurde schon beim Bundesamt aufgefordert die Situation bei der Polizei darzustellen als sie angehalten wurde: „Ich war in Haft. Ich wurde befragt, was ich in der Partei mache. Ich sagte, ich mache normale Arbeit in der Partei. Sie sagten mir du bist Terrorist. Sie sagten mir, wenn du die Partei nicht verlässt, können wir dich umbringen. Sie haben mich inoffiziell festgenommen und ich hatte deshalb Angst.“

 

Auch das BVwG versuchte zu ergründen, ob die bP hinsichtlich der Festnahmen von einem Realereignis erzählt. Realerlebnis-begründete Aussagen zeichnen sich nämlich insbesondere dadurch aus, dass idR in der freien Erzählung viele und detaillierte Aussagen, zuweilen in etwas sprunghafter und ungeordneter Reihenfolge, Interaktionsschilderungen usw. vom Zeugen hervorgebracht werden (vgl. zu den Realkennzeichen zB. auch Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Aussagepsychologie, http://www.sgipt.org/forpsy/aussage0.htm#Was%20sind%20Aussagen ; Realkennzeichen nach Steller & Köhnken, https://www.rechteasy.at/wiki/aussagepsychologie/ ). Diese wichtigen Merkmale und Realkennzeichen fehlen in aller Regel in Aussagen, die nicht wirklich erlebnisbegründet fundiert sind. Wirkliche Erlebnisse können also, vereinfacht gesagt, im Prinzip detailreich berichtet werden.

So wurde die bP aufgefordert die letzte Festnahme vor der Ausreise so genau wie möglich zu erzählen, also anzugeben wie dies abgelaufen ist, von Beginn bis zum Ende des Erlebnisses:

„Drei zivile Polizisten sind zu mir nach Hause gekommen und haben mich mitgenommen und zwei Tage wurde ich festgehalten. Dort haben sie mich über HDP gefragt, was bei der HDP alles getan wird. Sie haben mich gefragt, ob ich entweder Terrorist sei und nach zwei Tagen haben sie mich freigelassen. Solche Vorfälle sind schon ein paar Mal vorher schon vorgekommen. Nach zwei Tagen haben sie mich freigelassen. (Ende der freien Rede)“.

Abgesehen davon, dass die bP dieses Erlebnis ohne erkennbare Emotionen erzählte und weder das stimmliche Verhalten noch das nonverbale Verhalten vom Rest der Verhandlung merkbar abwich, fehlen auch andere wesentliche Realkennzeichen, die zum Ergebnis gelangen lassen, dass sie dies nicht erlebt hat, sondern im Wesentlichen ein gedankliches Konstrukt darstellt, um die Chancen im Asylverfahren zu erhöhen.

So mangelt es insbesondere etwa an quantitativem Detailreichtum, an raum-zeitlicher Verknüpfung der Abläufe oder auch an Interaktionsschilderungen. Gespräche werden nur hinsichtlich behaupteter Fragen aber ohne ihre eigenen Antworten bzw. Reaktionen dargestellt. Es gibt keine Schilderung von Komplikationen im Handlungsverlauf, keine ausgefallenen Einzelheiten, keine Schilderung eigener psychischer Vorgänge.

 

Es kamen im Verfahren auch keine Hemmungsfaktoren hervor, wodurch die bP etwa nicht in der Lage gewesen wäre, ihre vorgeblichen persönlichen Erlebnisse in den Einvernahmen dergestalt darzulegen.

 

Wenngleich die Angaben zur Existenz bzw. zum Verbleib des Reisepasses hier nicht zum Kernpunkt der Glaubhaftmachung ihres dargelegten „Fluchtgrundes“ gehören, vermögen diese doch einen gewissen Einblick in ihre Persönlichkeitsstruktur, im Hinblick auf die generelle Bereitschaft im gegenständlichen Antragsverfahren Falschaussagen zu machen, zu verschaffen. Dies auch im Hinblick darauf, da ja zu Beginn des Verfahrens bzw. auch später vor der Einvernahme beim Bundesamt als auch beim BVwG ein Antragsteller dahingehend ausdrücklich belehrt wird, nur wahrheitsgemäße Angaben zu machen und in Kenntnis dessen ist, dass unwahre Angaben nachteilige Folgen im Verfahren nach sich ziehen können.

Dessen ungeachtet sah es die bP hier offenbar als erforderlich an über die Existenz des Reisepasses zu täuschen.

Lt. Erstbefragung verblieb der Reisepass als auch der Nüfus bei der Mutter in der Türkei. Den Nüfus legte sie dann folglich beim Bundesamt vor. In der Einvernahme nach dem Verbleib des Reisepasses befragt, wiederholte sie, dass dieser in der Türkei verblieb und die Familie können diesen nachschicken. Einer von der Behörde gesetzten Frist, diesen bis zum 13.02.2017 vorzulegen, hat sie keine Folge geleistet.

Mit gerichtlichem Auftrag wurde die bP ua. angewiesen Angaben über den Verblieb des Reisepasses zu machen und gab sie im Schriftsatz vom 05.07.2021 ebenso an, dieser sei in der Türkei geblieben. In der Verhandlung am 06.10.2021 gab sie über den Verbleib gefragt hingegen an, dass sie den Pass verloren habe, dies sei schon „sehr lange her“. Sie habe ihre Tasche und ihre Dokumente verloren.

 

Dass die bP von ihrer Persönlichkeit dazu neigt, hinsichtlich der Darlegung antragsbegründender Problemlagen situationselastisch zu sein und diese abzuändern geneigt ist, ergibt sich auch im Hinblick auf eine Problematisierung der Ableistung des Militärdienstes. Bei der Erstbefragung gab sie noch an, dass auch ein erhaltener Einberufungsbefehl zum Militär ausreisekausal war, weil sie den Militärdienst nicht ableisten wolle. Bei der folgenden Einvernahme beim Bundesamt war dies kein Thema mehr. Dies hat auch die belangte Behörde in ihrer Entscheidung aufgegriffen. In der Beschwerde wird dies jedoch schon wieder thematisiert. In der Verhandlung brachte die bP, gefragt nach jenen Problemen, die sie aus aktueller Sicht im Falle der Rückkehr erwarten würde, hingegen auch nicht (mehr) vor. Angesichts dessen, dass es sich in der Verhandlung um die persönlichen Aussagen der bP handelt und diese zudem die aktuellen Rückkehrbefürchtungen beinhaltet, geht das BVwG davon aus, dass sie im Hinblick auf eine eventuelle Ableistung des Wehrdienstes selbst keine Probleme mehr befürchtet. Es bedarf daher diesbezüglich keiner weiterer Ermittlungen bzw. Auseinandersetzung mehr, zumal sich entscheidungsrelevante, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auftretende Probleme für die bP als Kurde bei der Ableistung des Militärdienstes nicht aufdrängen.

 

Aus der Berichtslage zu Kurden in der Türkei ergibt sich keine Gruppenverfolgung. Auch der Verbleib der Familienangehörigen und deren Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bzw. Erwerbsleben bzw. der Erhalt einer Pension ist ein Indiz für eine mangelnde Verfolgung alleine auf Grund der Zugehörigkeit zu den Kurden.

 

Die bP vermochte resümierend auch nicht glaubhaft machen, dass sie sich während des Aufenthaltes in der Türkei oder in Österreich derart exponiert hätte, dass sich daraus eine entscheidungsrelevante Problemlage im Falle der Rückkehr ergeben könnte.

 

Die bP stellte in der Stellungnahme vom 05.07.2021 den Beweisantrag ihre Brüder bzw. Kunden und die Freundin zeugenschaftlich einzuvernehmen. In der Verhandlung wurde abgeklärt, dass diese bestätigen könnten, dass sich die bP hier angepasst habe und erzählen könnten, wie sie hier lebe. Neues, was nicht bereits im Beschwerdeverfahren vorgebracht worden wäre, könnten sie jedoch nicht darlegen. Da das BVwG die von der bP im Verfahren schon dargelegten Fakten zur Integration nicht in Zweifel zieht, bedurfte es keiner diesbezüglichen zeugenschaftlichen Einvernahme. Ein solcher Antrag wurde auch von der Rechtsfreundin in der Verhandlung nicht gestellt bzw. nicht wiederholt.

Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes dürfen Beweisanträge dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, wenn es auf sie nicht ankommt oder wenn das Beweismittel – ohne unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung – untauglich ist (vgl VwGH vom 27. Februar 2003, Zl 2002/20/0492; VwGH 24. 4. 2003, 2000/20/0231).

 

Ad b) Betreffend ihrer aktuellen, persönlichen Versorgungssituation mit Lebensnotwendigem (insb. Lebensmittel, Unterkunft) im Herkunftsstaat:

Die bP hat diesbezüglich selbst in der Verhandlung keine konkrete Problemlage geäußert.

Abgesehen davon ergeben sich auch aus der aktuellen Berichtslage nicht eine diesbezügliche, über die bloße Möglichkeit hinausgehende allgemeine und exzeptionellen Umstände hinsichtlich der Versorgungslage.

 

d c) Betreffend ihrer aktuellen Versorgungssituation im Hinblick der notwendigen Erlangung medizinischer Versorgung im Herkunftsstaat:

Die bP hat in der Verhandlung diesbezüglich keine Problemlage vorgebracht und kann diese auch amtswegig nicht erkannt werden.

 

Ad 1.1.8. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

Das BVwG hat durch die zitierten Quellen der Staatendokumentation – unter Wahrung des Parteiengehörs - Beweis erhoben. Die Verfahrensparteien haben sich dazu nicht geäußert.

Der für diese Sache maßgebliche Sachverhalt zur Beurteilung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat ergibt sich dadurch unstreitig.

 

3. Rechtliche Beurteilung

 

Ad A)

 

Nichtzuerkennung des Status als Asylberechtigter

§ 3 AsylG

(1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.

(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (§ 5 BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.

(4b) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.

(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

Flüchtling im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist eine Person, die aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern, ob eine vernunftbegabte Person nach objektiven Kriterien unter den geschilderten Umständen aus Konventionsgründen wohlbegründete Furcht erleiden würde (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380). Dies trifft auch nur dann zu, wenn die Verfolgung von der Staatsgewalt im gesamten Staatsgebiet ausgeht oder wenn die Verfolgung zwar nur von einem Teil der Bevölkerung ausgeübt, aber durch die Behörden und Regierung gebilligt wird, oder wenn die Behörde oder Regierung außerstande ist, die Verfolgten zu schützen (VwGH 4.11.1992, 92/01/0555 ua.).

Gemäß § 2 Abs 1 Z 11 AsylG 2005 ist eine Verfolgung jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art 9 Statusrichtlinie. Demnach sind darunter jene Handlungen zu verstehen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art 15 Abs 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Recht auf Leben, Verbot der Folter, Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft, Keine Strafe ohne Gesetz) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon – wie in ähnlicher beschriebenen Weise – betroffen ist.

Nach der auch hier anzuwendenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine Verfolgung weiters ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 14.10.1998, Zl. 98/01/0262). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).

Verfolgung kann nur von einem Verfolger ausgehen. Verfolger können gemäß Art 6 Statusrichtlinie der Staat, den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschende Parteien oder Organisationen oder andere Akteure sein, wenn der Staat oder die das Staatsgebiet beherrschenden Parteien oder Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu gewähren.

Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes müssen konkrete, den Asylwerber selbst betreffende Umstände behauptet und bescheinigt werden, aus denen die von der zitierten Konventionsbestimmung geforderte Furcht rechtlich ableitbar ist (vgl zB vom 8. 11. 1989, 89/01/0287 bis 0291 und vom 19. 9 1990, 90/01/0113). Der Hinweis eines Asylwerbers auf einen allgemeinen Bericht genügt dafür ebenso wenig wie der Hinweis auf die allgemeine Lage, zB. einer Volksgruppe, in seinem Herkunftsstaat (vgl VwGH 29. 11. 1989, 89/01/0362; 5. 12. 1990, 90/01/0202; 5. 6. 1991, 90/01/0198; 19. 9 1990, 90/01/0113).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Konvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes befindet.

 

Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:

Der Antrag war nicht bereits gemäß §§4, 4a oder 5 AsylG zurückzuweisen.

Nach Ansicht des BVwG sind die dargestellten Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status als Asylberechtigter, nämlich eine glaubhafte Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat aus einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK angeführten Grund nicht gegeben.

Wie sich aus den Erwägungen ergibt, ist es der bP nicht gelungen eine solche aus ihrer dargelegten Ausreisemotivation und vorgebrachten Rückkehrbefürchtung glaubhaft zu machen. Weder kann festgestellt werden, dass eine Gruppenverfolgung für Kurden besteht, noch, dass sie sich dergestalt exponiert hätte, um in entscheidungsrelevanter Art und Weise in den Blickpunkt staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zu gelangen. Hinsichtlich der Nichtglaubhaftmachung wird hier ausdrücklich auf die Ausführungen in der Beweiswürdigung verwiesen.

Auch die allgemeine Lage ist im Herkunftsstaat nicht dergestalt, dass sich konkret für die beschwerdeführende Partei mit ihrem sich aus den Feststellungen ergebenen Persönlichkeitsprofil eine begründete Furcht vor einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden asylrelevanten Verfolgung ergeben würde.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

 

Nichtzuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter

 

§ 8 AsylG

(1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.

(3a) Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Abs. 1 oder aus den Gründen des Abs. 3 oder 6 abzuweisen, so hat eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.

(4) Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

(5) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 2 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass die zu erteilende Aufenthaltsberechtigung gleichzeitig mit der des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, endet.

(6) Kann der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden, ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen. Diesfalls ist eine Rückkehrentscheidung zu verfügen, wenn diese gemäß § 9 Abs. 1 und 2 BFA-VG nicht unzulässig ist.

(7) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten erlischt, wenn dem Fremden der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird.

 

Art. 2 EMRK lautet:

„(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. (2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt: a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen; b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern; c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.

 

Während das 6. ZPEMRK die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft wurde, erklärt das 13. ZPEMRK die Todesstrafe als vollständig abgeschafft.

Art. 3 EMRK lautet: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zB VwGH 26.06.2019, Ra 2019/20/0050) ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen.

Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. Der EuGH hat dazu festgehalten, dass das "Vorliegen einer solchen Bedrohung ... ausnahmsweise als gegeben angesehen werden" kann, "wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt (...) ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region ‚allein durch ihre Anwesenheit‘ im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein" (vgl. EuGH 17.2.2009, C-465/07 , Elgafaji, Rn. 35). Auch wenn der EuGH in dieser Rechtsprechung davon spricht, dass es sich hiebei um "eine Schadensgefahr allgemeinerer Art" handelt (Rn. 33), so betont er den "Ausnahmecharakter einer solchen Situation" (Rn. 38), "die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre" (Rn. 37). Diesen Ausnahmecharakter betonte der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung, Urteil vom 30. Jänner 2014, C-285/12 , Diakite, Rn.

30.

Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. zum Ganzen VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung).

Weiters hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. VwGH 23.3.2017, Ra 2017/20/0038 bis 0040; 6.11.2018, Ra 2018/01/0106, jeweils mwN).

 

Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:

 

Keine über die bloße Möglichkeit hinausgehende Gefährdung der persönlichen Sicherheit:

Die bP hat diesbezüglich persönlich (in der Verhandlung) über Aufforderung alle Probleme darzulegen, die sie erwartet, vorgebracht, dass sie aus aktueller Sicht im Falle der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat sicherheitsrelevante Probleme infolge Gewaltanwendung durch staatliche Akteure erwarten würde, die mit den geschilderten ausreisekausalen Erlebnissen in Zusammenhang stehen würden.

Im Rahmen der Beweiswürdigung wurde das als ausreisekausal dargelegte Vorbringen als nicht glaubhaft qualifiziert, weshalb sich daraus auch keine glaubhafte Rückkehrbefürchtung ergibt.

 

Andere persönliche Gefährdungen, die ihrer Einschätzung nach, aus maßgeblicher aktueller Sicht, gegen eine Rückkehr sprechen könnten, brachte die bP angesichts der offenen Fragestellung in der Verhandlung selbst nicht vor, weshalb es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hinsichtlich eines aktuell „gar nicht erstatteten Vorbringens“ somit keiner weiteren Auseinandersetzung bedurfte (vgl. zB VwGH 9.9.2010, 2007/20/0558 bis 0560; 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).

 

Abgesehen davon, ergibt sich bei ganzheitlicher Bewertung der möglichen Gefahren, unter Berücksichtigung der festgestellten persönliche Situation der bP in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Herkunftsstaat nicht, dass gerade für sie eine über die bloße Möglichkeit hinausgehende Gefahr bestünde, wegen der Sicherheitslage bei einer Rückkehr einer ernsthaften Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

 

Es kam im Verfahren nicht hervor, dass konkret für die beschwerdeführende Partei im Falle einer Rückverbringung in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr bestünde, als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt zu sein.

Dies wäre nur dann der Fall, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrschen würde, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, und stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat vorliegen. Dies wäre dann der Fall, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 MRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (VwGH v. 01.03.2018, Ra 2017/19/0425).

 

 

Keine über die bloße Möglichkeit hinausgehende persönliche Gefährdung im Zusammenhang mit medizinischer Versorgung:

Die beschwerdeführende Partei hat im Verfahren – abgesehen von einer nicht entscheidungsrelevanten Zahnbehandlung - keine aktuell behandlungsbedürftige Erkrankungen dargelegt, weshalb sich daraus kein Rückkehrhindernis ergibt.

 

Auch im Hinblick auf die Covid 19 Pandemie ergibt sich im konkreten Fall für die bP kein an Art 3 EMRK gereichendes Risiko bzw. wurde ein solches nicht dargetan.

 

Keine über die bloße Möglichkeit hinausgehende persönliche Gefährdung der Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz:

Die bP hat in der Verhandlung persönlich nicht vorgebracht, dass sie im Falle einer aktuellen Rückkehr, insbesondere hinsichtlich der Erlangung von Lebensmittel oder Unterkunft, Probleme erwarten würde. Es ist festzuhalten, dass die bP, welche im Herkunftsstaat sozialisiert wurde und der die dortige Situation hinreichend bekannt ist, in der Verhandlung im Rahmen einer suggestionsfreien, offenen Fragestellung aufgefordert wurde, „alle Probleme“ anzuführen, die sie aus aktueller Sicht im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat erwarten würde. Dabei äußerte sie insbesondere nicht, dass sie selbst hinsichtlich der Lebensbedingungen in Bezug auf die Erlangung von Lebensnotwendigem, wie etwa Nahrungsmittel oder Unterkunft, Probleme erwarten würde. Gerade bei solchen Umständen, die in der persönlichen Sphäre des zu bewerteten Staat aufgewachsenen und sozialisierten Fremden liegen, kommt der persönlichen Aussage dazu besondere Bedeutung zu.

Es bedurfte daher diesbezüglich nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keiner weiteren Auseinandersetzung mit aus maßgeblicher aktueller Sicht gar nicht vorgebrachter persönlicher Rückkehrproblematik. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann die Beurteilung eines „gar nicht erstatteten Vorbringens“ mitunter sogar auch zu einer vom VwGH wahrzunehmenden Rechtsverletzung führen (vgl. zB VwGH 9.9.2010, 2007/20/0558 bis 0560; 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).

 

Auf Grund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ergibt sich somit kein „reales Risiko“, dass es derzeit durch die Rückführung der beschwerdeführenden Partei in den Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe kommen würde.

 

Es war unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände daher zu Recht kein Status als subsidiär Schutzberechtigter zu gewähren.

 

Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen / Rückkehrentscheidung

 

§ 10 AsylG Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme

(1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird

und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.

(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des § 58 Abs. 9 Z 1 bis 3 vorliegt.

 

Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:

 

Gegenständlich wurde der Antrag auf internationalen Schutz gem. § 10 Abs 1 Z 3 AsylG sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch in Bezug auf den Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen.

Zu prüfen ist nunmehr gem. Abs 2 leg cit von Amts wegen, ob der bP ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG zukommt

 

§ 57 AsylG Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz

(1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Abs. 1 Z 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Abs. 3 und § 73 AVG gehemmt.

(3) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 2 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.

(4) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 3 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können.

 

Ein Sachverhalt, wonach der bP gem. § 57 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen wäre, kam nicht hervor.

 

Da sich die bP nach Abschluss des Verfahrens nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG [Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung] fällt und ihr auch amtswegig kein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG zu erteilen war, ist diese Entscheidung gem. § 10 Abs 2 AsylG mit einer Rückkehrentscheidung gem. dem 8. Hauptstück des FPG [Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Fremde] zu verbinden.

 

Dem zur Folge hat das Bundesamt gemäß § 52 Abs 1 FPG [Rückkehrentscheidung] gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält (Z1) oder nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde (Z2).

Gemäß Abs. 2 leg cit hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird (Z2) und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

 

Die bP ist Staatsangehörige der Türkei und keine begünstigte Drittstaatsangehörige. Es kommt ihr auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher ist gegenständlich gem. § 52 Abs 2 FPG die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung zu prüfen.

 

Rückkehrentscheidung

Das Bundesamt hat gegenständlich entschieden, dass zur Erreichung von in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Interessen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung dringend geboten sei.

 

Gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens in Österreich käme:

§ 9 BFA-VG

(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.

 

Art. 8 EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“

 

Für die Beurteilung, ob ein relevantes Privat- und/oder Familienleben iSd Art 8 EMRK vorliegt, wird auf die im Erkenntnis des BVwG v. 16.01.2019, L504 1314867-3, dargestellte höchstgerichtliche Judikatur verwiesen.

 

Ob eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes sowie des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Dabei obliegt es dem Fremden integrationsbegründende Umstände, denen maßgebliche Bedeutung zukommen könnte, geltend zu machen (vgl. etwa VwGH 22.1.2014, 2012/22/0245).

Nicht näher substantiierte – bloße – Behauptungen können keine maßgebliche Verstärkung der Interessen des Fremden dartun (vgl. etwa VwGH 24.9.2009, 2009/18/0294).

 

Auf Grund der Ermittlungsergebnisse ergibt sich das Vorhandensein eines relevanten Privat- und Familienlebens iSd Art 8 EMRK, daher bedarf es diesbezüglich einer Abwägung der persönlichen Interessen an einem Verbleib mit den öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendung, somit, ob eine Rückkehrentscheidung zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist

 

Im vorliegenden Fall ist der Eingriff gesetzlich vorgesehen und verfolgt gem. Art 8 Abs 2 EMRK legitime Ziele, nämlich

 die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, worunter auch die geschriebene Rechtsordnung zu subsumieren ist;

 die Verteidigung der Ordnung und Verhinderung von strafbaren Handlungen;

 den Schutz der Gesundheit anderer

 

Unter Zugrundelegung der Abwägungskriterien und der Ermittlungsergebnisse ergibt sich Folgendes:

 

Für die bP spricht im Wesentlichen, dass sie seit 2015 im Bundesgebiet aufhältig ist und sich vor allem sprachlich sehr gut in Österreich integrierte. Seit 2019 bzw. 2020 ist sie auch selbständig erwerbstätig nicht mehr auf staatliche Leistungen zum wirtschaftlichen Erhalt angewiesen. Zahlreiche Freunde und Bekannte sowie eine Freundin und Brüder leben in Österreich.

 

Gegen die bP spricht, dass sie nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist ist. Dieses gegen die öffentliche Ordnung, konkret die geregelte Zuwanderung von Fremden, widersprechende Verhalten stellt auf Grund der Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz gem. §§ 120 Abs 1 iVm Abs 7, 31 FPG bei Strafmündigen auch eine Verwaltungsübertretung dar.

Ihre Mitwirkung im Asylverfahren war auch mangelhaft und versuchte sie durch Täuschung über Tatsachen auch rechtsmissbräuchlich einen Aufenthaltstitel über das Asylverfahren zu erlangen.

Wenige Monate vor dieser Entscheidung ist sie auch im Hinblick auf verbotenem Suchtmittelbesitz – bzw. Suchtmittelkonsum negativ in Erscheinung getreten. Sie hat auch den regelmäßigen Erwerb und Konsum verbotener Substanzen eingestanden. Gerade die Suchtmittelkriminalitiät stellt eine Geißel der Menschheit dar und gefährdet nicht nur die Gesundheit der Konsumenten. Die bP hat durch den Erwerb und Konsum auch die verbotene Herstellung und den verbotenen Handel gefördert, was weitere Straftaten im Suchtmittelbereich zu heben geeignet ist. Sie hat gegenüber der Polizei auch ihre Bezugsquelle verschwiegen und insofern den Suchtgiftdealer gedeckt bzw. durch dieses Verhalten dafür gesorgt, dass dieser weiterhin Konsumenten mit Suchtmittel versorgen kann, wodurch es zu einer weiterhin gegebenen Gefährdung anderer kommen könnte.

Die Verhinderung strafbarer Handlungen solcher Art stellt jedenfalls schon vor dem Hintergrund der Schäden und Folgen in der Gesellschaft, zu denen ein vom Beschwerdeführer gesetztes Verhalten führen kann, ein Grundinteresse der Gesellschaft (Schutz und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch die Hintanhaltung von Suchtmitteldelikten) dar (vgl. hiezu VwGH 25.04.2013, Zahl 2013/18/0056).

Obwohl sich die bP nach der Abweisung des Antrages durch das Bundesamt dessen bewusst sein musste, dass der weitere Aufenthalt besonders fragil ist, hat sie sich entschieden hier erheblich und in sozialschädlicher Weise gegen die österreichische Rechtsordnung zu verstoßen. Selbst wenn diese – eingestandene – Verhaltensweise zu keiner strafrechtlichen Verurteilung bei der bP führen sollte, so ist dieses unstreitige Verhalten doch aus fremdenpolizeilicher Sicht eigens zu werten. Im Zusammenhang mit der für die Verhängung eines Aufenthalts- oder Einreiseverbotes nach dem FPG durchzuführenden Gefährdungsprognose entspricht es nämlich der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass dafür auch ein Verhalten des Fremden herangezogen werden kann, das (noch) nicht zu einer gerichtlichen oder verwaltungsbehördlichen Bestrafung geführt hat. Ein solches Vorgehen verstößt nicht gegen die Unschuldsvermutung, erfordert jedoch entsprechende, in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren getroffene Feststellungen zum Fehlverhalten selbst und nicht bloß zu einer allenfalls bestehenden, nicht weiter verifizierten Verdachtslage (vgl. VwGH 25.1.2018, Ra 2017/21/0237; 23.3.2017, Ra 2016/21/0349; 24.1.2012, 2010/1/0264, jeweils mwN; 18.11.2020, Ra 2020/14/0113-8).

Dies hat entsprechend auch für die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG zu gelten, in der nicht (nur) der Umstand einer strafgerichtlichen Verurteilung, sondern das Verhalten des Betroffenen in die Gesamtbetrachtung zur Gewichtung der öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung einzufließen hat (vgl. VwGH 12.12.2012, 2012/18/0173; 18.11.2020, Ra 2020/14/0113-8).

 

Auch wenn die bP in der Verhandlung angab, nun keine Suchtmittel mehr zu konsumieren, so ist die Zeit des Wohlverhaltens noch zu kurz um beurteilen zu können, dass von ihr keine Gefährdung mehr ausgeht. Abgesehen davon hat die bP auch keine Therapie zur Entwöhnung absolviert und gilt Suchtmittelkriminalität der allgemeinen Lebenserfahrung nach als besonders wiederholungsgeneigt.

 

Die bP hat auch dadurch gegen die öffentliche Ordnung verstoßen, in dem sie sich 2018 – somit während des Beschwerdeverfahrens - als Frisör in Dienstnehmereigenschaft betätigte, ohne dass dafür die erforderliche Berechtigung bestand und wurde auch durch die Nichtanmeldung bei der Sozialversicherung das wirtschaftliche Wohl des Landes beeinträchtigt. Sie förderte damit die gesellschaftsschädliche illegale Beschäftigung und die Hinterziehung von Sozialabgaben, die aber für den Erhalt des Sozialsystems essentiell sind. Die bP hat auch dadurch gezeigt, dass sie Probleme hat, wichtige Regeln für ein gedeihliches Zusammenleben in Österreich zu beachten.

 

Im Rahmen der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass es im Sinne des § 9 Abs 2 Z 8 BFA-VG grds. maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich (spätestens nach Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz durch das Bundesamt) die bP ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (VwGH 10.04.2017, Ra 2016/01/0175). Daran kann auch eine allenfalls lange Dauer eines Rechtsmittelverfahrens, mag den Fremden daran auch kein Verschulden treffen, nichts ändern (VwGH 15.03.2018, Ra 2018/21/0034).

Die bP hat die wesentlichen privaten Anknüpfungspunkte bzw. die Beziehung zur Freundin nach der Abweisung des Antrages durch das Bundesamt erlangt, weshalb es zu einer Interessensminderung kommt.

 

Bei der Interessensabwägung ist unter dem Gesichtspunkt des § 9 Abs 2 Z 5 BFA-VG (Bindungen zum Heimatstaat) auch auf die Frage der Möglichkeiten zur Schaffung einer Existenzgrundlage bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat Bedacht zu nehmen (VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0135). Ein diesbezügliches Vorbringen hat freilich im Rahmen der Gesamtabwägung nicht in jeder Konstellation Relevanz. Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Heimatland vermögen deren Interesse an einem Verbleib in Österreich nicht in entscheidender Weise zu verstärken, sondern sind vielmehr – letztlich auch als Folge eines seinerzeitigen, ohne ausreichenden [die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich vorgenommenen Verlassens ihres Heimatlandes – im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0188 mwN).

Gegenständlich kam nicht hervor, dass die bP unüberbrückbare Schwierigkeiten erwarten würde.

 

Die Umstände, dass der Fremde einen großen Freundes- und Bekanntenkreis hat und er der deutschen Sprache mächtig ist, können hier seine persönlichen Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet hier nicht maßgeblich verstärken (vgl. VwGH 26.11.2009, 2007/18/0311; 29.6.2010, 2010/18/0226).

 

Gegenständlich käme es wohl zu einer – zumindest temporären – Trennung von ihrer Freundin, die sich des prekären Aufenthaltsrechtes der bP bewusst ist. Eine Absicht zu heiraten besteht derzeit nicht. Gegenständlich sind jedoch gewichtige öffentliche Interessen gegeben, die hier einen Eingriff in diese – ohnedies nicht gesicherte – Beziehung notwendig machen. Dass eine Aufrechterhaltung in gewissem Maße durch gegenseitige Besuche oder soziale Medien nicht möglich wäre, kam nicht hervor. Zudem ist mit der Rückkehrentscheidung kein Einreiseverbot verbunden. Es wäre somit alleine an der bP gelegen die Voraussetzungen für die legale Einreise und den legalen Aufenthalt auf Basis des NAG zu schaffen.

Bei der Gewichtung der für den Fremden sprechenden Umstände darf im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) maßgeblich relativierend einbezogen werden, dass er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Diese Überlegungen gelten insbesondere auch für eine Eheschließung mit einer in Österreich aufenthaltsberechtigten Person, wenn dem Fremden zum Zeitpunkt des Eingehens der Ehe die Unsicherheit eines gemeinsamen Familienlebens in Österreich in evidenter Weise klar sein musste, und daher umso mehr für eine in einer solchen Situation begründete Lebensgemeinschaft (vgl. VwGH 5.8.2020, Ra 2020/14/0199, mwN).

 

Hinsichtlich der Beziehung zu ihren Brüdern ist anzumerken, dass diese erwachsen sind und bereits einige Jahre vor der Einreise der bP in Österreich lebten. Eine über das normale Maß zw. erwachsenen Geschwistern hinausgehende Bindung kam nicht hervor.

 

Die bP befindet sich im Verhältnis zu ihrem Alter erst sehr kurze Zeit im Bundesgebiet. Sie wurde in der Türkei sozialisiert und hat dort bei weitem ihr überwiegendes Leben verbracht. Sie verfügt dort auch über Familienangehörige. Von einer Entwurzelung kann daher nicht gesprochen werden.

 

Ein behördliches Verschulden, welche die zeitliche Komponente dermaßen in den Vordergrund treten lassen würde, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung unzulässig ist, kann – insbesondere unter Berücksichtigung der Suchtmittelkriminalität - aus der Aktenlage nicht entnommen werden.

 

Bestandteil einer gelungenen Integration ist ua., dass sich die asylwerbende Person auch im Asylverfahren im Wesentlichen regelkonform verhält, worüber sie überdies ausdrücklich zu Beginn und im Laufe des Verfahrens belehrt wird. Das Verhalten im Asylverfahren, also konkret vor den staatlichen Behörden des Aufnahmestaates in dem sie behauptet Schutz vor Verfolgung zu benötigen, kann somit bei einer Bewertung der Integration in Österreich nicht ausgeblendet werden. Auf Grund von nicht wahrheitsgemäßen Angaben führt dies gegenständlich zu einer Minderung der privaten Interessen der beschwerdeführenden Partei und zu einer Stärkung der genannten öffentlichen Interessen.

Zu bedenken ist auch, dass der beschwerdeführenden Partei spätestens seit der negativen erstinstanzlichen Entscheidung bewusst sein musste, dass sie mit ihren Täuschungen im Asylverfahren keine begründete Aussicht auf Erlangung eines dauerhaften Aufenthaltes über das Asylverfahren erlangen konnte. Die wesentlichen privaten Anknüpfungspunkte wurden danach begründet und erst durch die Ergreifung eines Rechtsmittels und damit eine Verlängerung des vorläufigen Aufenthaltsrechtes ermöglicht.

 

Auch eine langjährige Abwesenheit vom Herkunftsstaat, unter schwierigen äußeren Verhältnissen, die bei einer Rückkehr einer Gefährdung der Existenzgrundlage nahe kommen könnte, vermag dieser Umstand, angesichts ihres Verhaltens (missbräuchlich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, um unter Umgehung der fremdenrechtlichen Vorschriften ihren Aufenthalt in Österreich "quasi zu erzwingen") der Erlassung einer Rückkehrentscheidung für sich betrachtet noch nicht im Wege stehen (VwGH 05.10.2017, Ra 2017/21/0119)

 

Das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration ist gemindert, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf einen unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist (VwGH 26.6.2007, Zl. 2007/01/0479 mwN). Beruht der bisherige Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten wie insbesondere bei Vortäuschung eines Asylgrundes, relativiert dies die ableitbaren Interessen des Asylwerbers wesentlich (VwGH 2.10.1996, Zl. 95/21/0169; 28.06.2007, Zl. 2006/21/0114; VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168).

Nach Rechtsansicht des Verfassungsgerichtshofes kann ein allein durch freigänge Missachtung der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkter Aufenthalt keinen Rechtsanspruch aus Art 8 EMRK bewirken (vgl. idS VfSlg. 14.681/1996 sowie VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007 wenn auch zu anderen Verwaltungsrechtsmaterien). Eine andere Auffassung würde sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen (VfGH 12.06.2010, U613/10).

 

Unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände und unter Einbeziehung der oa. Judikatur der Höchstgerichte ist gegenständlich somit ein Überwiegen der oa. öffentlichen Interessen gegeben, die ihre Interessen an einem Verbleib in Österreich überwiegen. Die Rückkehrentscheidung ist daher als notwendig und nicht unverhältnismäßig zu erachten.

Die persönlichen Bindungen in Österreich lassen keine besonderen Umstände im Sinn des Art. 8 EMRK erkennen, die es der beschwerdeführenden Partei schlichtweg unzumutbar machen würde, auch nur für die Dauer eines ordnungsgemäß geführten Aufenthalts- bzw. Niederlassungsverfahrens in ihr Heimatland zurückzukehren (vgl. zB. VwGH 25.02.2010, 2008/18/0332; 25.02.2010, 2008/18/0411; 25.02.2010, 2010/18/0016; 21.01.2010, 2009/18/0258; 21.01.2010, 2009/18/0503; 13.04.2010, 2010/18/0087; 30.04.2010, 2010/18/0111; 30.08.2011, 2009/21/0015), wobei bei der Rückkehrentscheidung mangels gesetzlicher Anordnung hier nicht auf das mögliche Ergebnis eines nach einem anderen Gesetz durchzuführenden (Einreise- bzw. Aufenthalts)Verfahrens Bedacht zu nehmen ist (vgl. VwGH 18.9.1995, 94/18/0376).

Könnte sich ein Fremder nunmehr in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privatleben berufen, würde dies darüber hinaus dazu führen, dass einwanderungswillige Fremde, welche die unbegründete bzw. rechtsmissbräuchliche Asylantragstellung, allenfalls in Verbindung mit einer illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet, in Kenntnis der Unbegründetheit bzw. Rechtsmissbräuchlichkeit des Antrages unterlassen und in rechtskonformer Art und Weise vom Ausland aus ihren Antrag auf Erteilung eines Einreise- bzw. Aufenthaltstitels stellen, sowie die Entscheidung auch dort abwarten, letztlich schlechter gestellt wären, als jene Fremde, welche, einer geordneten Zuwanderung widersprechend, genau zu diesen verpönten Mitteln greifen, um ohne jeden sonstigen anerkannten Rechtsgrund den Aufenthalt in Österreich zu erzwingen bzw. zu legalisieren. Dies würde in letzter Konsequenz wohl zu einer unsachlichen Differenzierung der einwanderungswilligen Fremden untereinander führen (vgl. Estoppel-Prinzip bzw. auch den allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen, VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007) und würde angesichts der Publizitätswirksamkeit der Asylentscheidungen wohl den Nachzieheffekt für andere einwanderungswillige Fremde in Richtung nicht rechtmäßiger Zuwanderung in Verbindung mit rechtsmißbräuchlicher Asylantragstellung verstärken.

 

Es erfolgte daher zu Recht die Erlassung einer Rückkehrentscheidung.

 

Zulässigkeit der Abschiebung

 

Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

 

§ 50 FPG Verbot der Abschiebung

(1) Die Abschiebung Fremder in einen Staat ist unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

(2) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).

(3) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

 

Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:

Die Zulässigkeit der Abschiebung der bP in ihren Herkunftsstaat ist gem. § 46 FPG gegeben, da nach den gegenständlichen, die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würden.

 

 

Frist für freiwillige Ausreise

 

Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

 

§ 55 FPG Frist für die freiwillige Ausreise

(1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird.

(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. § 37 AVG gilt.

(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG aberkannt wurde.

(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Abs. 1 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht.

 

Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:

Das Bundesamt hat die Frist für die freiwillige Ausreise gegenständlich iSd § 55 Abs 2 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft des Bescheides festgelegt. In der Beschwerde wurde dem nicht konkret entgegengetreten. Insbesondere wurden keine besonderen Umstände dargelegt, wonach eine längere Frist erforderlich wäre.

 

Ad B)

 

Unzulässigkeit der Revision

 

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

 

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

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