VwGH Ra 2019/19/0032

VwGHRa 2019/19/003225.6.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Lachmayer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des I A, vertreten durch Mag. Constantin Kletzer, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Linke Wienzeile 4/2/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Dezember 2018, Zl. W195 2195275- 1/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §37
VwGVG 2014 §17

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019190032.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Volksrepublik Bangladesch, stellte am 4. Jänner 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, im Herkunftsstaat auf Grund seiner Homosexualität wiederholt unterschiedlichen Formen von Diskriminierung ausgesetzt gewesen zu sein. Er habe beispielsweise seinen Job verloren, sei mehrmals geschlagen und mit gesellschaftlichem Ausschluss sowie mit dem Tode bedroht worden.

2 Mit Bescheid vom 10. April 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Bangladesch zulässig sei und die Frist für seine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

3 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber eine Beschwerde. Im Zuge des Verfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) legte der Revisionswerber Unterlagen zum Nachweis seiner Homosexualität und der ihm aus diesem Grund in seinem Herkunftsstaat drohenden Gefahr vor. Es handelte sich dabei unter anderem um die schriftliche Stellungnahme eines angeblichen Geschlechtspartners des Revisionswerbers zu dessen Homosexualität, eine auf den Namen des Revisionswerbers lautende Mitgliedskarte der Homosexuellen Initiative Wien sowie ein Schriftstück in bengalischer Sprache, das laut der Übersetzung des zur mündlichen Verhandlung beigezogenen Dolmetschers eine "Anzeige" einer Privatperson bei der Polizei im Heimatort des Revisionswerbers wegen dessen behaupteter Homosexualität zum Gegenstand hatte. 4 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5 Es habe - so das BVwG in seiner Begründung - "nicht festgestellt werden" können, dass der Revisionswerber auf Grund einer homosexuellen Orientierung in seinem Herkunftsland einer konkret gegen seine Person gerichteten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen wäre oder ihm im Fall seiner Rückkehr eine solche drohen würde. Im Rahmen der Beweiswürdigung hielt das BVwG zudem fest, es könne "im Ergebnis auch nicht festgestellt werden", dass der Revisionswerber im Herkunftsstaat ein Leben als heimlich homosexuell orientierter Mann geführt habe.

6 Beweiswürdigend führte das BVwG aus, dass das Vorbringen des Revisionswerbers zu den behaupteten fluchtauslösenden Umständen und zu seinen Lebensumständen im Herkunftsstaat als heimlich sexuell orientierter Mann als nicht glaubhaft anzusehen sei. Die Angaben des Revisionswerbers betreffend jene Vorfälle, die letztlich zum Verlassen seines Heimatlandes führten, hätten sich bereits vor dem BFA als vage und oberflächlich dargestellt. Obwohl der Revisionswerber bereits vor dem BFA, in weiterer Folge im Rahmen seiner Beschwerdeausführungen sowie letztlich im Zuge der durchgeführten Beschwerdeverhandlung mehrmals ausführliche Angaben zu seinen fluchtauslösenden Umständen hätte tätigen könnnen, habe er lediglich eine "grobe Rahmengeschichte" dargelegt. Diese beschränke sich darauf, dass der Revisionswerber auf Grund seiner Homosexualität in seinem beruflichen Leben diskriminiert worden sei, ihn seine Familie unter Druck gesetzt habe und nunmehr - auf Grund eines Vorfalles im Jahr 2014 - seine sexuelle Orientierung öffentlich bekannt geworden sei. Auch die Ausführungen, wonach am 14. Oktober 2018 Polizeibeamte in seinem Elternhaus gewesen seien und seinen Eltern mitgeteilt hätten, dass eine Beschwerde gegen ihn eingebracht worden sei, würden nicht plausibel erscheinen. Eine Verifizierung dieses Schreibens sei in Hinblick auf die mangelnde Glaubhaftigkeit der nicht ausreichend substantiierten Schilderungen zu den fluchtauslösenden Ereignissen als entbehrlich anzusehen gewesen. Obwohl der Revisionswerber bereits im College bemerkt habe, homosexuell zu sein und auch sexuelle Kontakte zu Männern gepflegt habe, seien von ihm im Verfahren keine konkreten Angaben dazu getätigt worden, wie sich sein Leben als heimlich homosexuell orientierter Mann über einen Zeitraum von mehr als fünfzehn Jahren im Herkunftsstaat im Detail dargestellt habe. Auch wenn der Revisionswerber auf entsprechendes Nachfragen nähere Einzelheiten zu von ihm behaupteten Partnerschaften mit anderen Männern vor dem BFA zu Protokoll gegeben habe, würden sich diese Angaben in einer Gesamtschau dennoch nicht als ausreichend substantiiert darstellen. Auch das Schreiben und die durchgeführte Zeugeneinvernahme des M I, der eine sexuelle Beziehung zum Revisionswerber behauptet habe, hätten nicht tragend zur Wahrheitsfindung beitragen können.

Selbst unter Zugrundelegung einer bestehenden Homosexualität des Revisionswerbers wäre keine andere Entscheidung zu treffen, weil eine konkrete strafrechtliche Gefährdung für Homosexuelle im Herkunftsstaat nicht bestehe. Eine strafrechtliche Verfolgung sei in jüngster Zeit nicht bekannt und werde offensichtlich auch nicht angestrengt. Im Ergebnis habe der Revisionswerber mit seinen Angaben den Eindruck erweckt, auf Grundlage der unbestritten schwierigen Situation für Homosexuelle im Herkunftsstaat eine ihn individuell konkret betreffende Verfolgungsgefährdung konstruieren zu wollen.

7 In rechtlicher Hinsicht folgerte das BVwG daraus, dass dem Revisionswerber in seinem Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung drohe. Zum einen sei dessen Vorbringen, homosexuell orientiert zu sein und aus diesem Grund einer Verfolgungsgefährdung ausgesetzt zu sein, nicht glaubhaft. Zum anderen könne selbst bei Wahrunterstellung der Angaben des Revisionswerbers zu seiner Homosexualität davon ausgegangen werden, dass das gesellschaftliche Diskriminierungspotential nicht ein derartiges Ausmaß erreiche, dass bereits jeder im Herkunftsstaat lebende, homosexuell orientierte Mann mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung zu fürchten hätte.

 

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen das Erkenntnis des BVwG gerichtete außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 In der Revision wird zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vorgebracht, das BVwG habe seine Ermittlungspflicht mehrfach verletzt. Entgegen den Ausführungen des BVwG, wonach der Revisionswerber im Rahmen der mündlichen Verhandlung ausreichend Möglichkeit erhalten habe, um über seine Fluchtgründe zu sprechen, sei er nicht ansatzweise zu seinen Fluchtgründen oder Rückkehrbefürchtungen befragt worden. Zudem seien keine Fragen bezüglich der sexuellen Orientierung des Revisionswerbers gestellt worden. Auch habe das BVwG die hinsichtlich der vom Revisionswerber vorgelegten Mitgliedskarte der Homosexuellen Initiative Wien sowie einer bei der Polizei im Herkunftsort von privater Seite eingebrachten Beschwerde wegen behaupteter Homosexualität erforderlichen Ermittlungen unterlassen. Schließlich sei die schriftliche Stellungnahme eines angeblichen Geschlechtspartners des Revisionswerbers vom BVwG überhaupt unberücksichtigt gelassen worden. So habe das BVwG vor allem von einer Zeugeneinvernahme dieser Person abgesehen. 10 Die Revision ist schon wegen der gerügten Verfahrensmängel zulässig und berechtigt.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in Zusammenhang mit den sowohl die Behörde als auch das Verwaltungsgericht treffenden Ermittlungspflichten festgehalten, dass auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG gilt. Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0236, mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 26.3.2019, Ra 2019/19/0043, mwN).

12 Im vorliegenden Fall hat sich das BVwG im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht ausreichend mit seinen Fluchtgründen betreffend die sexuelle Orientierung des Revisionswerbers auseinandergesetzt. Auch die an ihn gerichteten Fragen in Zusammenhang mit seiner sexuellen Orientierung beschränkten sich auf seine Beziehung zu dem als Zeugen einvernommenen M I. Es wäre fallbezogen erforderlich gewesen, auf das Vorbringen des Asylwerbers, dem im Asylverfahren nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zentrale Bedeutung zukommt, in der mündlichen Verhandlung näher einzugehen (vgl. VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314).

Das BVwG setzte sich auch nicht mit dem vorgelegten Mitgliedsausweis der Homosexuellen Initiative Wien und dessen Beweiswert für die vom Revisionswerber behauptete Homosexualität auseinander. Ebenso überging es zur Gänze die schriftliche Stellungnahme eines weiteren angeblichen Geschlechtspartners des Revisionswerbers. Schließlich erachtete das BVwG die Verifizierung einer bei der Polizei im Herkunftsort des Revisionswerbers eingebrachten Beschwerde wegen dessen (behaupteter) Homosexualität als "entbehrlich" und ließ den Inhalt dieses Schriftstückes unberücksichtigt.

13 Den von der Revision aufgezeigten Ermittlungsmängeln lässt sich auch nicht die vom BVwG vorgenommene Wahrunterstellung in Bezug auf die Homosexualität des Revisionswerbers entgegenhalten. Im Rahmen einer "Wahrunterstellung" wird geprüft, ob im Fall der hypothetischen Richtigkeit des Vorbringens zum Sachverhalt aus den geltend gemachten Tatsachen - allenfalls in Verbindung mit bereits feststehenden Sachverhaltselementen - der behauptete Rechtsanspruch überhaupt begründet werden kann. Ist dies nicht der Fall, bedarf es keiner Ermittlungen und Feststellungen zur Richtigkeit des (allenfalls: übrigen, noch keinen Feststellungen unterworfenen) sachverhaltsbezogenen Vorbringens (vgl. VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0069).

Die Annahme des BVwG, wonach eine konkrete strafrechtliche Gefährdung für Homosexuelle im Herkunftsstaat nicht bestehe und daher selbst unter Zugrundelegung einer solchen sexuellen Ausrichtung des Revisionswerbers keine andere Entscheidung zu treffen wäre, vermag das angefochtene Erkenntnis schon in Hinblick auf die unterbliebene Ermittlung betreffend die bei der Polizei im Herkunftsort gegen den Revisionswerber eingebrachte Beschwerde und auf das damit erstattete Vorbringen zu einer möglichen, konkret den Revisionswerber treffenden Strafverfolgung nicht zu tragen. 14 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. 15 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. Juni 2019

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