AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs9
FPG §55
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:L519.2246855.2.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerden von XXXX alias XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Türkei, XXXX , geb. XXXX , StA. lrak, XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, mj. XXXX XXXX , geb. XXXX , StA Irak, mj. XXXX , geb. XXXX , StA Irak, mj. XXXX , geb. XXXX , StA Irak, mj. XXXX , geb. XXXX , StA Irak und mj. XXXX , geb. XXXX , StA Irak, sämtliche vertreten durch RA. Mag. EMBACHER, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.01.2024, Zlen. 1267744201-200773053, 1267745307-200773061, 1267745100-200773070, 1267744506-200773088, 1267744702-200773100, 1267744604-200773096, 1267744909-200773118 und 1285926800-211425751, wegen §§ 3, 8, 10 und 57 AsylG 2005 sowie §§ 46, 52 und 55 FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.06.2024 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerden hinsichtlich der Spruchpunkte I., II. und III. werden als unbegründet abgewiesen.
II. Den Beschwerden wird hinsichtlich der Spruchpunkte IV. stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen auf Dauer unzulässig sind.
III. Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 werden XXXX , XXXX , XXXX und XXXX die Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus", sowie gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 XXXX alias XXXX , XXXX , XXXX und XXXX die Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von jeweils zwölf Monaten erteilt.
IV. Die Spruchpunkte V. und VI. werden gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Erstbeschwerdeführer (BF1) ist mit der Zweitbeschwerdeführerin (BF2) in aufrechter Ehe verheiratet, der Drittbeschwerdeführer (BF3) und die minderjährigen Viertbeschwerdeführer (BF4) bis Achtbeschwerdeführer (BF8) sind die leiblichen Kinder des BF1 und des BF2. Der BF1 ist türkischer Staatsbürger, alle anderen BF sind Staatsangehörige des Irak, der kurdischen Volksgruppe zugehörig und Muslime.
I.2. Die BF reisten im August 2020 illegal in das Bundesgebiet ein und stellten am 25.08.2020 Anträge auf internationalen Schutz. Zum Ausreisegrund gab der BF1 im Wesentlichen an, dass er mit seiner Familie im Jahr 1993 aufgrund der Kämpfe mit der türkischen Armee von der Türkei in den Irak geflüchtet sei. Sein Dorf sei niedergebrannt worden. Im Irak sei es für ihn und seine Familie auch nicht sicher, da es immer Krieg gibt. Deshalb habe er sich entschlossen, den Irak zu verlassen, um seiner Familie eine Zukunft zu geben. Von der BF2 wurde angegeben, dass im Irak Krieg herrscht und sie Angst um sich und ihre Kinder habe, weil vergewaltigt und getötet würde.
Hinsichtlich der minderjährigen BF wurden keine eigenen Ausreisegründe vorgebracht.
I.3. Am 03.03.2021 wurde der BF1 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Dabei teilte er zum Ausreisegrund zusammengefasst mit, dass sämtliche Bewohner seines Dorfes in der Türkei ermordet und das Dorf selbst in Brand gesteckt worden sei. Als Kurde würde man in der Türkei nicht akzeptiert. Zudem sei er politisch aktiv, er sei zwar kein Mitglied der PKK, würde jedoch mit dieser auf Gemeindeebene zusammenarbeiten.
Die BF2 wurde am 13.04.2021 vom BFA niederschrifltich einvernommen. Im Rahmen der freien Erzählung zum Ausreisegrund gab sie im Wesentlichen an, dass ihr Leben und das ihrer Kinder von ihrem Mann abhänge. Weil sie im Irak keine Zukunft mehr hätten, seien sie ausgereist.
Für die BF3 bis BF7 wurden keine eigenen Gründe vorgebracht.
I.4. Mit Bescheiden des BFA vom 12.08.2021 wurden die Anträge der BF1 bis BF7 abgewiesen und Rückkehrentscheidungen erlassen. Es wurde festgestellt, dass eine Abschiebung des BF1 in die „Autonome Region Kurdistan / Irak“ zulässig ist, hinsichtlich der BF2 bis BF7 wurde eine Abschiebung in den Irak für zulässig erklärt.
Gegen diese Bescheide wurden fristgerecht Beschwerden erhoben.
I.5. Am 18.08.2021 wurde die BF8 in Österreich geboren. Für sie wurde von ihrer gesetzlichen Vertretung am am 29.09.2021 ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht, welcher mit Bescheid des BFA vom 15.10.2021 abgewiesen und eine Rückkehrentscheidung den Irak betreffend erlassen wurde. Gegen diesen Bescheid wurde febenfalls ristgerecht Beschwerde erhoben.
I.6. Mit Beschluss des BVwG vom 29.11.2021 wurde den Beschwerden der BF1 bis BF7 stattgegeben, die Bescheide gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG behoben und die Angelegenheit zur Erlassung neuer Entscheidungen an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen. Begründend wurde unter anderem ausgeführt, dass das Parteiengehör verletzt wurde, weil den BF zwei Anfragebeantwortungen nicht zur Kenntnis gebracht wurden, welche jedoch in den Bescheiden verwertet wurden. Auch verkannte das Bundesamt nach Ansicht des BVwG völlig, dass es sich beim BF1 um einen türkischen Staatsbürger handelt und eine Rückkehrentscheidung bzw. Abschiebung in den Irak daher nicht in Betracht kommt.
Mit Beschluss des BVwG vom 13.12.2021 wurde auch der Beschwerde der BF8 stattgegeben und der angefochtene Bescheid ebenfalls gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG behoben und die Angelegenheit zur Erlassung einer neuen Entscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
I.7. Die BF1 und BF2 wurden am 08.09.2023 erneut vom BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei teilte der BF1 zum Grund seines Antrages mit, dass er nicht mehr über die Türkei reden wolle. Aus dem Irak sei er geflüchtet, weil es immer Auseinandersetzungen zwischen Hashd Al-Shabbi, dem IS und den Sicherheitskräften der Region Kurdistan gab. 2018 sei sogar das Lager von Makhmur. Bombardiert worden, wodurch immer mehr Leute ums Leben gekommen seien. Die Kinder hätten die Schule nicht mehr regelmäßig besuchen können. Diese Situation habe er nicht mehr ertragen. Er wolle eine bessere Zukunft für die Kinder.
Von der BF2 wurde ausgeführt, dass sie ausschließlich wegen der besseren Zukunft ihrer Kinder und ihres Gatten nach Österreich gekommen ist. Im Irak hätten sie keine Rechte. Sie sei mit dem BF1 verheiratet und deswegen mit ihm und den Kindern mitgekommen.
I.8. Die Anträge der BF auf internationalen Schutz wurden mit im Spruch genannten Bescheiden der belangten Behörde gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status von Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkte I.). Gem. § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak (beim BF1 Türkei) nicht zugesprochen (Spruchpunkte II.). Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurden nicht erteilt (Spruchpunkte III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurden Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung der BF in den Irak (beim BF1 Türkei) gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen (Spruchpunkte VI.).
Begründend wurde hinsichtlich des BF1 ausgeführt, dass die Behörde nicht die gewaltsame Vertreibung der kurdischen Bevölkerung durch das türkische Militär zu Beginn der 90er Jahre verkennt. Jedoch könne deswegen nach einer Zeitspanne von fast 30 Jahren nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass jedem der damals Vertriebenen auch jetzt noch eine reale Gefahr einer Verfolgung oder Bedrohung durch die türkischen Behörden droht.
Bezüglich der BF2 und der minderjährigen Kinder wurde ausgeführt, dass diese den Irak aufgrund dortiger Kriegszustände sowie wegen der Ausreise des BF1 verlassen haben. Eigene, asylrelevante Gründe seien nicht vorgebracht worden. Mögliche Probleme des BF1 liessen in keiner Weise eine abgeleitete Verfolgung oder Bedrohung der BF2 und der Kinder zu.
Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorgekommen ist.
Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei bzw. im Irak, traf die belangte Behörde ausführliche Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben.
I.9. Gegen die Bescheide wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsätzen fristgerecht Beschwerden erhoben.
Inhaltlich wurde vorgebracht, dass das BFA das Parteiengehör verletzt habe. Auch seien keine ausreichenden Ermittlungen zur Staatsangehörigkeit der BF3 bis BF8 getätigt worden. Trotz des klaren Auftrages des BVwG habe sich die belangte Behörde erneut nicht ausreichend mit der Möglichkeit der Weiterführung des gemeinsamen Familienlebens auseinandergesetzt. Hinsichtlich der BF2 habe sich das BFA weiter nicht mit der Suizidalität und der Notwendigkeit der psychotherapeutischen Behandlung im Irak auseinandergesetzt. Zudem seien die Länderberichte zur Türkei und zum Irak mangelhaft.
I.10. Am 26.06.2024 wurde vom Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein der BF1 bis BF3, deren rechtsfreundlicher Vertretung sowie eines Dolmetschers für die Sprache Kurdisch-Kumanci durchgeführt. Die BF4 bis BF6 blieben der Verhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt fern.
I.11. Hinsichtlich des Verfahrensganges im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen:
II.1.1. Zu den Beschwerdeführern:
Der BF1 führt den im Spruch angeführten Namen, er ist Staatsangehöriger der Türkei, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und Moslem. Der BF1 wurde am XXXX in XXXX /Türkei geboren. Der BF1 besuchte fünf Jahre die Schule. Der BF lebte in XXXX bis zum Jahr 1993, danach verzog er mit seinen Eltern und Geschwistern in den lrak. Ab dem Jahr 1998 lebte der BF1 im Irak im Camp XXXX . Berufstätig war er als Hilfsarbeiter und die letzten Jahre als Vorarbeiter einer Reinigungsgruppe im Krankenhaus. Die Identität des BF1 steht fest.
Der BF1 hat seit 12 Jahren Diabetes und nimmt dafür erforderliche Medikamente. Weiter wurden ein BS-Prolaps L4/5 (Bandscheiben) mit Tangieren der Nevenwurzel L5 links, Lumboischialgie sin. (Schmerzen im unteren Rücken) und vertebrogene (wohl vertebragene) Schmerzen (Schmerzen, die von der Wirbelsäule ausgehen) diagnostiziert.
In XXXX (Türkei) leben noch mehrere Onkel, zu denen der BF1 Kontakt hat. Im Lager XXXX leben noch die Eltern, vier Schwestern und ein Bruder des BF1. Zu den Verwandten im Irak hat der BF1 Kontakt. Diese dürfen nicht arbeiten, sie werden im Camp mit Wohnmöglichkeit und Lebensmitteln versorgt.
Die BF2 führt den im Spruch angeführten Namen, sie ist Staatsangehörige des Irak, Angehörige der kurdischen Volksgruppe und Muslima. Sie wurde am XXXX in XXXX geboren. Die BF2 besuchte keine Schule und hat keine Berufsausbildung, sie war Hausfrau. Vor der Ausreise lebte sie mit ihrer Familie im Camp XXXX . Die Identität der BF2 steht fest.
Die BF2 hat Probleme mit der Schilddrüse und wird medikamentös behandelt. Sie wurde diesbezüglich auch bereits im Irak behandelt.
In XXXX leben noch die Mutter, fünf Schwestern und acht Brüder der BF2. Die Mutter, drei Schwestern und vier Brüder leben gemeinsam im Elternhaus. Vier Brüder wohnen mit ihren Familien in eigenen Häusern. Die Geschwister arbeiten als Reinigungskräfte im Krankenhaus, bzw. besuchen noch die Schule. Die Mutter wird von den Söhnen versorgt. Die BF2 hat reglemäßig Kontakt zu ihren Verwandten.
Der BF1 ist mit der BF2 verheiratet uns sind beide die Eltern des mittlerweile volljährigen BF3 und der minderjährigen BF4 bis BF8.
Der BF3 führt den im Spruch angeführten Namen, er ist Staatsangehöriger des Irak, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und Moslem. Er wurde am XXXX in XXXX geboren. Der BF3 besuchte sieben Jahre lang im Irak die Schule. Er absolviert seit 19.02.2024 eine Lehre zum Kraftfahrzeugtechniker bei der Fa. Scania Österreich. Die Identität des BF3 steht fest.
Der BF3 ist gesund und benötigt keine Medikamente.
Die BF4 führt den im Spruch angeführten Namen, sie ist Staatsangehörige des Irak, Angehörige der kurdischen Volksgruppe und Muslima. Sie wurde am XXXX in XXXX geboren. Die BF4 besuchte fünf Jahre im Irak die Schule.
Die BF4 hat Probleme mit der Schilddrüse. Hinsichtlich psychischer Probleme ist einem Schreiben des Vereins ZEBRA vom 28.12.2023 zu entnehmen, dass sie sich aktuell nicht in psychotherapeutischer Behandlung befindet und mit Belastungen im weiteren Lebensweg umgehen kann.
Die Leiden der BF sind in den Herkunftsstaaten behandelbar, die erforderlichen Medikamente sind verfügbar.
Die BF5 und der BF6 sind am XXXX in XXXX , der BF7 am XXXX in Bosnien und die BF8 im XXXX in Österreich geboren. Sie führen die im Spruch angeführten Namen und sind Staatsangehörige des Irak, Angehörige der kurdischen Volksgruppe und Muslime.
Die BF5 bis BF8 sind gesund und benötigen keine Medikamente.
Die strafmündigen BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.Der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet war und ist nicht nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
Die BF gehören keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatten in ihrem Herkunftsstaat vor der Ausreise keine Schwierigkeiten mit staatlichen Organen, Sicherheitskräften oder Justizbehörden.
Es kann insbesondere keine – unterstellte – Nahebeziehung des BF1 zur PKK festgestellt werden. Der BF1 war zu keiner Zeit Mitglied der PKK und nahm auch an keinen Kampfhandlungen teil.
Festgestellt wird, dass die BF2 bis BF8 keine eigenen Ausreisegründe haben.
Auch kann nicht festgestellt werden, dass sich der BF1 und die BF2 jemals ernsthaft um die Ausstellung irakischer Dokumente für ihre Kinder bemüht hätten. Festgestellt wird, dass keine Dokumente vorgelegt wurden, aus denen hervorgeht, dass den minderjährigen BF die irakische Staatsbürgerschaft verweigert worden wäre.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF vor der Ausreise Schwierigkeiten aufgrund ihrer Glaubensrichtung bzw. ethnischen Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe hatten.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.
Die BF verfügen über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage in ihren Herkunftsstaaten, sowie über familiäre Anknüpfungspunkte und eine hinreichende Versorgung mit Nahrung und Unterkunft. Den volljährigen BF ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung ihres Auskommens möglich und zumutbar.
Die BF1 bis BF7 befinden sich seit August 2020, der BF8 seit 18.08.2021 im Bundesgebiet. Die BF sind (mit Ausnahme des BF3) nicht selbsterhaltungsfähig und beziehen Grundversorgung. In Österreich leben keine über die Kernfamilie hinausgehenden Verwandten. Die BF besuchen keine Deutschkurse. Die BF sind in keinen österr. Vereinen oder Organisationen Mitglieder. Der BF1 gab an, fünf Monate bei der Gemeinde und in einem Altenheim ehrenamtliche Tätigkeiten verrichtet zu haben, alle anderen BF verrichten keine ehrenamtlichen oder gemeinnützigen Tätigkeiten. Der BF3 absolvierte die Pflichtschulabschlussprüfung vor der Externistenprüfungskommission der MS St. Michael und befindet sich seit 19.02.2024 in einem Lehrverhältnis mit der Scania Österreich Ges.m.b.H., wo er zum Kraftfahrzeugtechniker ausgebildet wird. Eine entsprechende Beschäftigungsbewilligung des AMS, gültig vom 12.02.2024 bis 11.08.2028, wurde in Vorlage gebracht. Für die BF4 wurde von Dr. Franz Karelly, Facharzt für ZMK-Heilkunde in 8770 St. Michael, Bundesstraße 54b, eine mit 19.06.2024 datierte Lehrzusage als zahnärztliche Assistentin ab Herbst 2024 vorgelegt. Sie brachte ein Abschlusszeugnis der MS Mautern aus dem Schuljahr 2022/2023 in Vorlage. Es wurden Empfehlungsschreiben, jedoch keine Patenschaftserklärungen übermittelt. Die BF5 und BF6 besuchten die zweite Klasse der MS Mautern, der BF7 besucht den Kindergarten. Bezüglich österreichischer Freunde gaben der BF1 zwei weibliche Vornamen, die BF2 drei weibilche Vornamen und der BF3 fünf männliche Vornamen bekannt.
Im gegenständlichen Fall ergab sich weder eine maßgebliche Änderung bzw. Verschlechterung in Bezug auf die die BF betreffende asyl- und abschiebungsrelevante Lage in den Herkunftsstaaten, noch in sonstigen in der Person der BF gelegenen Umständen.
Ebenso ergab sich keine sonstige aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation der BF.
Eine relevante Änderung der Rechtslage konnte ebenfalls nicht festgestellt werden.
Es konnte nicht festgestellt werden, dass dem BF1 eine aktuelle sowie unmittelbare persönliche und konkrete Gefährdung oder Verfolgung in seinem Heimatland Türkei, bzw. den BF2 bis BF8 in deren Heimatland Irak droht. Ebenso konnte unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände nicht festgestellt werden, dass der BF1 im Falle einer Rückkehr in die Türkei bzw. die BF2 bis BF8 in den Irak, der Gefahr einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt wären.
In Bezug auf die individuelle Lage der BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei bzw. den Irak konnte keine im Hinblick auf den Zeitpunkt, an dem letztmalig über die Anträge auf internationalen Schutz inhaltlich entschieden wurde, maßgeblich geänderte oder gar verschlechterte Situation festgestellt werden.
Weiter konnte unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung in die Türkei bzw. den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Des Weiteren liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ nicht vor und ist die Erlassung von Rückkehrentscheidungen geboten.
Weitere Ausreisegründe und/oder Rückkehrhindernisse kamen bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht hervor.
I.1.2. Zur Lage im Irak:
Sicherheitslage
Letzte Änderung 2024-03-27 14:27
Die Sicherheitslage im Irak hat sich seit dem Ende der groß angelegten Kämpfe gegen den Islamischen Staat (IS) erheblich verbessert (FH 2023). Es ist staatlichen Stellen jedoch nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Dies gilt insbesondere für den Zentralirak außerhalb der Hauptstadt (AA 28.10.2022, S. 7). Im Jahr 2022 blieb die Sicherheitslage in vielen Gebieten des Irak instabil. Die Gründe dafür liegen in sporadischen Angriffen durch den IS, in Kämpfen zwischen den irakischen Sicherheitskräften (ISF) und dem IS in abgelegenen Gebieten des Irak, die nicht vollständig unter der Kontrolle der Regierung einschließlich PMF stehen, sowie in ethno-konfessioneller und finanziell motivierter Gewalt (USDOS 20.3.2023). Auch die Spannungen zwischen Iran und den USA, die am 3.1.2020 in der gezielten Tötung von Qasem Soleimani, Kommandant des Korps der Islamischen Revolutionsgarden und der Quds Force, und Abu Mahdi al-Muhandis, Gründer der Kata'ib Hisbollah und de facto-Anführer der Volksmobilisierungskräfte, bei einem Militärschlag am Internationalen Flughafen von Bagdad gipfelten, haben einen destabilisierenden Einfluss auf den Irak (DIIS 23.6.2021).
Im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 28.10.2022, S. 14).
Der IS ist zwar offiziell besiegt, stellt aber weiterhin eine Bedrohung dar. Es besteht die Sorge, dass die Gruppe wieder an Stärke gewinnt (DIIS 23.6.2021). Die Überreste des IS zählen zu den primären terroristischen Bedrohungen im Irak [siehe Kapitel: Islamischer Staat (IS)] (USDOS 27.2.2023a).
Die Regierungen in Bagdad und Erbil haben im Mai 2021 eine Vereinbarung über den gemeinsamen Einsatz ihrer Sicherheitskräfte (ISF und der Peshmerga) in den Sicherheitslücken zwischen den von ihnen kontrollierten Gebieten getroffen. Seitdem wurden mehrere "Gemeinsame Koordinationszentren" eingerichtet (Rudaw 21.6.2021). In vier neuen Gemeinsamen Koordinationszentren, in Makhmur, in Diyala, in Kirkuks K1-Militärbasis und in Ninewa, arbeiten kurdische und irakische Kräfte zusammen und tauschen Informationen aus, um den IS in diesen Gebieten zu bekämpfen (Rudaw 25.5.2021). Es wurden zwei koordinierte Brigaden aufgestellt, die die Sicherheitslücken zwischen den ISF und den Peshmerga eindämmen sollen, die sich von Khanaqin in Diyala bis zum Sahila-Gebiet nahe der syrischen Grenze erstrecken, wobei aufgrund der geringen Mannschaftsstärke Zweifel an ihrer Effektivität zur Eindämmung des IS in den betroffenen Gebieten erhoben werden (Shafaq 17.8.2023).
Zusätzlich agieren insbesondere schiitische Milizen (Volksmobilisierungskräfte, PMF), aber auch sunnitische Stammesmilizen eigenmächtig und weitgehend ohne Kontrolle (AA 28.10.2022, S. 7-8). Die ursprünglich für den Kampf gegen den IS mobilisierten, mehrheitlich schiitischen und zum Teil von Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen je nach Einsatzort und gegebenen lokalen Strukturen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar (AA 28.10.2022, S. 14). Die PMF haben erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische Lage im Irak und nutzen ihre Stellung zum Teil, um unter anderem ungestraft gegen Kritiker vorzugehen. Immer wieder werden Aktivisten ermordet, welche die von Iran unterstützten PMF öffentlich kritisiert haben (DIIS 23.6.2021). Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 28.10.2022, S. 14) [siehe Kapitel: Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi].
Verschiedene Gruppen im Irak haben unter dem Namen Islamischer Widerstand im Irak (Al-Muqawama al-Islamiyah fi al-Iraq; the Islamic Resistance in Iraq/ IRI) operierend, Angriffe auf die US-Streitkräfte ausgeführt (MEF 25.11.2023; vgl. TWI 21.10.2023), mit dem Ziel die USA zum Abzug aus dem Irak zu bewegen. Diese Gruppen sind im Allgemeinen darauf bedacht, Informationen über mögliche Verbindungen zu anderen Gruppen im Irak, insbesondere zu pro-iranischen Gruppierungen, die Brigaden bei den PMF registriert haben, wie z. B. Kata'ib Hisbollah und Harakat Hezbollah an-Nujaba, geheim zu halten (MEF 25.11.2023). Es wird allgemein davon ausgegangen, dass einige der jungen, neu gegründeten Gruppen tatsächlich als Fassaden für bestehende PMF-Gruppen agieren. Der Kata'ib Hizbollah (KH) zugeschrieben werden Ahl al-Qura, Ahl al-Maruf, Qasim al-Jabarin, Raba' Allah, Saraya Thawra al-Ashrin at-Thaniya und Usba at-Thairin. Der Asa'ib Ahl al-Haqq (AAH) zugeschrieben werden Ashab al-Kahf, Awliya ad-Dam und Saraya Abadil, der Harakat Hezbollah an-Nujaba (HHN) zugeschrieben wird die Fasil al-Muqawama al-Duwaliya. Die Gruppen Ahrar Sinjar und Liwa Thar al-Muhandis werden sowohl der KH als auch der AAH zugeschrieben, die Liwa Ahrar al-Iraq der AAH und der HHN (ACLED 23.5.2023).
Seit Mitte 2019 und zunehmend nach der Tötung des iranischen Generals Qassim Soleimani und des stellvertretenden PMF-Vorsitzenden Abu Mahdi al-Muhandis durch die US-Streitkräfte im Januar 2020, haben vom Iran unterstützte Milizen zunehmend Operationen ausgeführt, die auf ausländische und inländische Ziele im Irak abzielten. Diese Angriffe werden mit Drohnen, Raketen und IEDs durchgeführt und haben drei Hauptziele mit einer deutlichen geografischen Verteilung: 1. Konvois, die Material für das US-Personal und die Streitkräfte der Globalen Koalition gegen den IS transportieren, sowie Stützpunkte, in denen sie untergebracht sind, vor allem im Zentral- und Südirak; 2. türkische Stützpunkte im Nordirak; und 3. angebliche "unislamische" Aktivitäten, vor allem rund um Bagdad. Zwischen Juni 2019 und März 2023 waren es mehr als 500 derartige Ereignisse (ACLED 23.5.2023).
ACLED 23.5.2023
Seit dem Ausbruch des Konflikts zwischen Israel und der Hamas im Oktober 2023 nehmen Angriffe auf in der Region stationierte US-Truppen zu, insbesondere auch im Irak (MEF 25.11.2023; vgl. TWI 21.10.2023, Wing 6.11.2023). Die Angriffe werden durch Milizen verübt, die sich im Irak unter dem Sammelbegriff des Islamischen Widerstands im Irak (Al-Muqawama al-Islamiyah fi al-Iraq; the Islamic Resistance in Iraq/ IRI) zusammengeschlossen haben (TWI 21.10.2023). Im Irak sind diese für Dutzende Angriffe verantwortlich, darunter auf den Flughafen in Erbil, und die Luftwaffenstützpunkte al-Harir [Anm.: bei Erbil] und 'Ayn al-Asad [Anm.: in Anbar] (MEF 25.11.2023). Mit Stand Anfang Februar 2024 wurden über 160 Angriffe auf US-Truppen im Irak, in Syrien und in Jordanien ausgeführt (REU 3.2.2024). Hierbei kamen am 29.1.2024 bei einem Drohnenangriff auf einen Stützpunkt in Jordanien, der vom Iran unterstützten militanten Gruppen, die in Syrien und im Irak operieren, zugeschrieben wird, erstmals seit Beginn des Gaza-Krieges drei US-Soldaten ums Leben, 34 weitere wurden verletzt. Der Iran weist seine Beteilung zurück (REU 29.1.2024).
Es gibt Hinweise darauf, dass die Iranische Revolutionsgarde (IRGC) eine Rolle bei der Koordinierung der IRI spielt. Öffentlich zur IRI bekannt hat sich die Harakat Hisbollah an-Nujaba, während es als sehr wahrscheinlich gilt, dass Gruppen wie Kata'ib Hezbollah, Asa'ib Ahl- al-Haqq und Kata'ib Sayyid ash-Shuhada ebenfalls den IRI angehören (TWI 21.10.2023).
Die wiederholten Angriffe der IRI führten schließlich zu Vergeltungsschlägen der USA auf PMF-Gruppen (MEF 25.11.2023). Dabei griffen US-Streitkräfte im November 2023 erstmals auch PMF-Ziele auf irakischem Staatsgebiet an (Wing 6.12.2023), etwa in Jurf as-Sakhr gegen die Kata'ib Hezbollah (MEF 25.11.2023). Seither haben US-Streitkräfte wiederholt Einrichtungen angegriffen, die von Iran und seinen Stellvertretern im Irak und in Syrien genutzt werden (IRAQIN 26.12.2023; vgl. REU 3.2.2024).
Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit Sitz in den Bergen des Nordirak verübte ebenfalls mehrere Anschläge in der Kurdistan Region Irak (KRI), bei denen auch mehrere Angehörige der kurdischen Sicherheitskräfte (Peschmerga) getötet wurden (USDOS 27.2.2023a). Die PKK wird von der Türkei, sowie den USA und der Europäischen Union (EU) als terroristische Vereinigung eingestuft (ICG 18.2.2022) [Anm.: Die Vereinten Nationen und auch der Irak stufen die PKK nicht als Terrorgruppe ein]. Auch gewisse mit Iran verbündete Milizen stellen eine terroristische Bedrohung dar (USDOS 27.2.2023a).
Die ACLED-Datenbank registrierte von Juli bis Dezember 2022 780 Zwischenfälle unter Beteiligung der PKK sowie deren weibliche Kampfverbände (YJA STAR) (monatlicher Durchschnitt von 130). In 35 dieser Fälle kam es zu zivilen Todesopfern (monatlicher Durchschnitt von 5,83) (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 738 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 61,5), wobei in zwölf Fällen Zivilpersonen zu Tode kamen (monatlicher Durchschnitt von 1). Hauptziel der PKK und YJA STAR sind die türkischen Streitkräfte. Bisweilen wurden auch irakische Sicherheitskräfte und kurdische Asayish [Anm.: Geheim- und Sicherheitsdienst] angegriffen. Die Hauptmittel ihrer Angriffe sind bewaffnete Auseinandersetzunge, Bombardement durch Artillerie und Raketenbeschuss sowie der Einsatz von IEDs (ACLED 5.1.2024). In den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 wurden 66 Vorfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 33) (ACLED 3.2024).
Türkische Operationen auf irakischem Staatsgebiet
Der Irak ist nicht in der Lage, türkische und iranische Militäroperationen auf irakischem Boden zu verhindern, einschließlich der Verfolgung der PKK und iranischer kurdischer Oppositionsgruppen (BS 23.2.2022, S. 8). Die Türkei unterhält je nach Quelle um die 40 (ICG 18.2.2022) bis zu 87 Außenposten im Irak, hauptsächlich in einem Streifen des Grenzgebiets in der KRI von etwa 150 km Länge und 30 km Tiefe (EURA 31.1.2023). Darüber hinaus verfügt sie über eine Militärbasis in Bashiqa bei Mossul im föderalen Irak (BS 23.2.2022, S. 8; vgl. EURA 31.1.2023), wo die türkischen Truppen nach eigenen Angaben Teil einer internationalen Mission zur Ausbildung und Ausrüstung irakischer Streitkräfte im Kampf gegen den IS waren (EURA 31.1.2023).
Türkische Beamte bestreiten, dass es bei den türkischen Luftangriffen auf PKK-Stellungen in der KRI und im Nordirak Opfer unter der Zivilbevölkerung gegeben hat (ICG 18.2.2022). Ein im August 2022 veröffentlichter Bericht mehrerer NGOs besagt jedoch, dass zwischen 2015 und 2021 mindestens 98 Zivilisten getötet wurden (EURA 31.1.2023). Die International Crisis Group (ICG) hat 74 zivile Todesopfer registriert, mehr als die Hälfte davon seit 2019, als die Türkei ihre Luftangriffe in der KRI intensivierte (ICG 18.2.2022). Nach Angaben der Regionalregierung Kurdistans (KRG) hat der Konflikt seit 2015 Tausende Einwohner aus ihren Häusern vertrieben und mindestens 800 Dörfer verwüstet (EURA 31.1.2023). Einige Tausend Einwohner des Distrikts Amediya sowie Hunderte weitere Bewohner des Distrikts Duhok haben ihre Häuser verloren und sind in weiter südlich gelegene Dörfer oder Städte gezogen (ICG 18.2.2022).
Die föderale Regierung hat sich über Ankaras Übergriffe beschwert, aber weder sie noch die KRI können die türkische Präsenz eindämmen (EURA 31.1.2023). Die KDP unterstützt die Türkei im Kampf gegen die PKK, durch Informationen über PKK-Taktiken und -Bewegungen, und indem sie Gebiete sichert, aus denen die PKK durch türkische Operationen vertrieben wurde (ICG 18.2.2022).
Die PKK ist engere Allianzen mit von Iran unterstützten paramilitärischen Gruppen im Irak eingegangen, die mit Ankara verfeindet sind (ICG 18.2.2022). Einige pro-iranische Milizen, wie Liwa Ahrar al-Iraq (Brigade Freies Volk des Irak) und Ahrar Sinjar (Freies Volk von Sinjar) haben sich 2022 dem Widerstand gegen die türkische Präsenz verschrieben (EURA 31.1.2023).
Die Türkei hat im Rahmen ihrer gemeinsamen Operationen Claw-Eagle und Claw-Tiger gegen die PKK im Qandil-Gebirge, in Sinjar und Makhmur (beide in Ninewa) irakischen Boden bombardiert. Auch Iran hat das Qandil-Gebirge bombardiert, ein Angriff, der vermutlich mit der Türkei koordiniert wurde (BS 23.2.2022, S. 8). Die Türkei befürchtet insbesondere, dass Sinjar [synonym: Shingal] zu einem zweiten Qandil, einer weiteren PKK-Hochburg werden könnte, weshalb sie seit 2020 zahlreiche Luftangriffe gegen die PKK und die jesidischen Widerstandseinheiten Shingal (Yekîneyên Berxwedana Şingal - YBŞ) in Sinjar durchgeführt hat (ICG 18.2.2022).
Die ACLED-Datenbank registrierte von Juli bis Dezember 2022 1.391 Zwischenfälle, bei denen die türkischen Streitkräfte im Staatsgebiet des Irak intervenierten. Dabei wurden 19 Fälle verzeichnet, bei denen Zivilisten zu Tode kamen (monatlicher Durchschnitt von 3,17). Die überwiegende Anzahl an Angriffen betraf das Gouvernement Dohuk mit 1.208 Angriffen (hauptsächlich der Distrikt Amediya mit 1.188 Vorfällen), gefolgt vom Distrikt Zakho. 110 Angriffe fanden in Erbil statt (hauptsächlich im Distrikt Rawanduz), 46 in Ninewa (hauptsächlich in den Distrikten Sinjar und Akre) und 27 in Sulaymaniyah (hauptsächlich im Distrikt Sharbazher, gefolgt von Penjwen und Ranya) (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 2.907 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 242,25), wobei in 35 Fällen Zivilpersonen zu Tode kamen (monatlicher Durchschnitt von 2,92). Auch in diesem Zeitraum betraf die überwiegende Anzahl der Angriffe das Gouvernement Dohuk mit 2.150 Angriffen (hauptsächlich der Distrikt Amediya mit 2.134 Vorfällen). 591 Angriffe fanden in Erbil statt (hauptsächlich im Distrikt Rawanduz), 103 in Ninewa (hauptsächlich in den Distrikten Sinjar und Akre), 68 in Sulaymaniyah (hauptsächlich in den Distrikten Sharbazher und Penjwen, wobei eine Erhöhung der Angriffsfrequenz Ende 2023 zu beobachten war) und einer in Kirkuk. Es handelt sich bei den türkischen Angriffen überwiegend um Bombardement durch Artillerie, Raketenbeschuss, Luft- und Drohnenangriffe sowie bewaffneten Auseinandersetzungen. Zu den Zielen der türkischen Streitkräfte gehört primär die PKK, die YJA STAR, die Widerstandseinheiten Shingal (YBŞ) und die Verteidigungskräfte Ostkurdistans (YRK) (ACLED 5.1.2024). In den Monaten Jänner und Februar 2024 waren es 780 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 390). Bei einem dieser Fälle handelte es sich um einen Fall von Gewalt gegen Zivilisten mit Todesopfern (ACLED 3.2024).
Iranische Operationen auf irakischem Staatsgebiet
Viele der iranisch-kurdischen Parteien, wie die Demokratische Partei Iranisch-Kurdistans (KDPI), die Komala-Parteien, die Freiheitspartei Kurdistans (PAK) und die Partei des Freien Lebens Kurdistans (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê - PJAK) operieren von der KRI aus (K24 28.11.2022; vgl. Landinfo 18.12.2020). Der Status und Handlungsspielraum der kurdischen Oppositionsgruppen wie KDPI, KDP-I [Anm.: Splitterpartei der KDPI 2006-2022], Komala und PJAK waren und sind ein schwieriges Thema in den Beziehungen zwischen Iran und der KRI. Die KRI hat Vereinbarungen für eine formalisierte Präsenz mit mehreren iranisch-kurdischen Exilparteien wie der KDPI, KDP-I, den verschiedenen Komala-Fraktionen und der Kurdischen Freiheitspartei (PAK) getroffen, nicht jedoch mit der PJAK. Aufgrund der Notwendigkeit einer gutnachbarlichen Beziehung zu Iran hat die KRI gefordert, dass die iranisch-kurdischen Exilparteien alle militärischen Aktivitäten gegen Iran unterlassen. Dies war eine Bedingung dafür, dass die Exilparteien in Stützpunkten und Lagern im Nordirak operieren dürfen. Mit dieser formalisierten Präsenz gehen finanzielle Unterstützung, Zugang zu Schulen, Gesundheitsversorgung und anderen öffentlichen Dienstleistungen einher (Landinfo 18.12.2020). Ab September 2022 visierten die iranischen Sicherheitskräfte verstärkt Stellungen von iranischen kurdischen Gruppierungen in der KRI an (DW 13.11.2022; vgl. K24 28.11.2022, Rudaw 28.9.2022).
Bereits in der Vergangenheit attackierte Iran immer wieder mit Drohnen und Raketen Stellungen dieser iranisch-kurdischen Oppositionsparteien in der KRI (Zeit online 23.11.2022). Die iranischen Angriffe und der Druck auf diese Parteien verschärften sich nach dem Ausbruch massiver Proteste in Iran, die durch den Tod der jungen Kurdin Jina [Mahsa] Amini am 16.9.2022 in Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei ausgelöst wurden (TWI 13.9.2023). Iran beschuldigt die iranisch-kurdischen Oppositionsparteien, die Unruhen zu schüren und mit Irans Erzfeind Israel zusammenzuarbeiten (TWI 13.9.2023; vgl. REU 19.3.2023). Entsprechend werden die bewaffneten iranisch-kurdischen Dissidenten als Bedrohung für die Sicherheit Irans angesehen (REU 19.3.2023).
Im Jahr 2022 hat Iran Stützpunkte iranisch-kurdischer Gruppen in der KRI mit Raketen beschossen (EURA 31.1.2023). Zwischen September und Oktober 2022 verübte Iran mehrere Angriffe mit ballistischen Raketen und Kamikaze-Drohnen auf drei iranisch-kurdische Oppositionsparteien (TWI 13.9.2023; vgl. REU 19.3.2023), darunter die KDPI in Koya und dem Subdistrikt Sidekan (Gouvernement Erbil), Komala in Zirgwez (Gouvernement Sulaymaniyah) und die PAK in Pirde (zwischen Erbil und Kirkuk). Mindestens 21 Mitglieder dieser Parteien wurden getötet, darunter zwei Frauen, ein einen Tag altes Kind und ein irakisch-kurdischer Zivilist aus Koya. Auch 2023 hat Iran weiterhin Angriffe auf iranisch-kurdische Oppositionelle in der KRI verübt, darunter im Juli auf zwei PDKI-Mitglieder (TWI 13.9.2023).
Im März 2023 hat der föderale Irak mit Iran ein Grenzschutzabkommen zur Koordinierung des "Schutzes der gemeinsamen Grenzen zwischen den beiden Ländern und die Konsolidierung der Zusammenarbeit in verschiedenen Sicherheitsbereichen" unterzeichnet (REU 19.3.2023; vgl. TWI 13.9.2023). Im Rahmen des unterzeichneten Sicherheitsabkommens verpflichtete sich der Irak, bewaffneten Gruppen nicht zu gestatten, sein Territorium in der Kurdistan Region Irak (KRI) für grenzüberschreitende Angriffe auf Iran zu nutzen. Dementsprechend betrifft das Abkommen in erster Linie die Grenze Irans zur KRI (REU 19.3.2023). Die nahe Erbil stationierte PAK hat bereits zuvor die Haltung der KRG berücksichtigt und weder Stützpunkte nahe der iranischen Grenze unterhalten noch militärische Operationen gegen Iran durchgeführt (Alaraby 15.9.2023).
Gemäß der Vereinbarung verpflichtete sich der Irak dazu, bis zum 19.9.2023 die in der KRI ansässigen iranisch-kurdischen Oppositionsgruppen zu entwaffnen und von ihren grenznahen Stützpunkten zu verlegen (MEE 19.9.2023; vgl. Alaraby 15.9.2023). Der iranische Präsident betonte, dass "Iran die Anwesenheit terroristischer Gruppen an der gemeinsamen Grenze mit dem Irak nicht tolerieren kann", wie die iranische Nachrichtenagentur Tasnim berichtet (Alaraby 15.9.2023).
Die irakischen Behörden verkündeten am 19.9.2023, dass sie eine Reihe iranischer Kurdengruppen, ohne darauf einzugehen, welche Gruppen betroffen waren, erfolgreich entwaffnet und von der Grenze zum Iran entfernt hätten. Ihre Hauptquartiere nahe der iranischen Grenze seien endgültig geräumt worden. Sie seien weit weg von der Grenze verlegt worden und würden nun als Flüchtlinge gemäß den Bestimmungen der Flüchtlingskommission gelten (MEE 19.9.2023). Einer kurdischen Quelle zufolge hat die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) der PAK ihre mittleren und schweren Waffen abgenommen und die Gruppe soll in ein neues Lager in der Nähe von Makhmur verlegt werden. Ein Sprecher der PAK bestreitet jedoch, dass die PAK oder andere Gruppen ihre Waffen niedergelegt hätten, oder bereit wären, in neue Lager umzuziehen (Alaraby 15.9.2023).
Die ACLED-Datenbank registrierte von Juli bis Dezember 2022 74 Zwischenfälle, bei denen die Iranischen Revolutionsgarden im Staatsgebiet des Irak intervenierten. Davon betrafen 62 Vorfälle das Gouvernement Erbil (KRI), neun das Gouvernement Sulaymaniyah (KRI) und drei das Gouvernement Kirkuk (föderaler Irak). Es handelte sich dabei überwiegend um Bombardement durch Artillerie und Raketenbeschuss (53 Fälle) sowie Luft- und Drohnenangriffe (18). Zu den Zielen der iranischen Angriffe gehören die Demokratische Partei Kurdistan-Iran (KDP-I), die Komala-Partei des Iranischen Kurdistan (KSZK) und die PAK, aber auch iranische und irakische Zivilisten werden bisweilen getroffen. Es wurden in dem Zeitraum zehn Fälle verzeichnet, bei denen Zivilpersonen ums Leben kamen (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 wurden zwei Angriffe der Iranischen Revolutionsgarden verzeichnet, je einer im Distrikt Pshdar in Sulaymaniyah und einer im Distrikt Dibis in Kirkuk (ACLED 5.1.2024). In den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 wurde nur ein Angriff der Iranischen Revolutionsgarden auf irakischem Staatsgebiet verzeichnet (ACLED 3.2024).
Islamischer Staat (IS)
Letzte Änderung 2024-03-27 15:05
Der Islamische Staat (IS) - auch bekannt als Islamischer Staat im Irak und in Syrien (ISIS) oder Islamischer Staat im Irak und in der Levante (ISIL) - ist eine militante salafistisch-jihadistische Organisation, die hauptsächlich in Syrien und im Irak aktiv ist. Ziel der Gruppe ist es, ein islamisches Kalifat im Irak und in Syrien zu errichten (CISAC 4.2021).
Die Wurzeln des IS liegen in den 1990er und frühen 2000er-Jahren. In dieser Zeit gründete Abu Musab al-Zarqawi die wichtigste Vorgängergruppe des IS, Jama'at at-Tawhid wa'al-Jihad (JTJ) (CISAC 4.2021). Während der US-amerikanischen Besatzung des Irak (2003-2011) war die Gruppe ein wichtiger Akteur im irakischen Aufstand, zunächst als JTJ und dann, nach dem Treueschwur auf al-Qaida, als al-Qaida im Irak (AQI). Mit dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 erstarkte AQI und nutzte den Beginn des syrischen Bürgerkriegs im selben Jahr, um ihren Einfluss zu vergrößern. Im Jahr 2013 schließlich änderte die Gruppe ihren Namen von AQI zu Islamischer Staat im Irak und Syrien (ISIS) (CISAC 4.2021). AQI breitete sich in den Provinzen Anbar und Ninewa aus, rekrutierte neue Mitglieder und schloss Bündnisse mit bereits bestehenden lokalen sunnitischen Milizen, darunter die Armee der Männer des Naqschbandiya-Ordens (Jaysh Rijal at-Tariq an-Naqschabandia, JRTN), die größtenteils aus Ba'athisten bestand und von Izzat Ibrahim ad-Douri, dem ehemaligen Vizepräsidenten des Regimes von Saddam Hussein, angeführt wurde. Deren militärische Expertise vergrößerte die Stärke von AQI (CISAC 4.2021). In den Jahren 2013 und 2014 eroberte die Gruppe Gebiete in Syrien und im Irak, änderte ihren Namen zu Islamischer Staat (IS) und erklärte im Juni 2014 die Gründung eines Kalifats im Irak und Syrien (CISAC 4.2021; vgl. Wilson 28.10.2019, IRIN 9.7.2014).
Im Irak hat der IS bis 2014 große Teil der Gouvernements Anbar, Ninewa, Salah ad-Din und Kirkuk übernommen (IRIN 9.7.2014). Im September 2014 wurde eine globale Koalition von 86 Staaten für den Kampf gegen den IS gebildet, unter der Führung der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) (TGC o.D.). Bis Dezember 2017 hatte das IS-Kalifat 95 % seines Territoriums verloren, darunter auch seine beiden größten Besitzungen, Mossul, die zweitgrößte Stadt des Irak, und die nordsyrische Stadt und nominelle Hauptstadt des IS, Raqqa. Im Dezember 2017 erklärte der Irak offiziell den Sieg über den IS (Wilson 28.10.2019), nachdem im Monat zuvor mit Rawa im westlichen Anbar das letzte urbane Zentrum des IS im Irak zurückerobert worden war (AlMon 11.7.2021). Mit dem Ende der großen Militäroperationen gegen den IS haben die USA im Jahr 2020 mit der Reduzierung ihrer militärischen Präsenz im Irak begonnen, sodass auf Einladung des Irak nur noch etwa 2.500 Militärangehörige der USA in beratender Funktion im Land verbleiben (SIPRI 17.3.2023).
Trotz der territorialen Niederlage und des zahlenmäßigen Rückgangs seiner Kämpfer bleibt der IS eine Bedrohung (USDOS 20.3.2023; vgl. Manara 22.2.2023). Auch angesichts des Todes einer Reihe seiner Anführer hat er eine erhebliche Widerstandsfähigkeit bewiesen (Manara 22.2.2023).
Laut einem Bericht des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen soll der IS zwischen 5.000 und 7.000 Mitglieder und Unterstützer im Irak und in Syrien haben, wovon etwa die Hälfte Kämpfer sein sollen (UNSC 1.2.2023, S. 6). Andere Schätzungen gehen von einer Stärke des IS von 2.000 bis zu 10.000 IS-Kämpfern im Irak aus. Diese Zahlen dürften aber zu hoch sein und sich zur Hälfte aus Unterstützern und Schläfern zusammensetzen (NI 18.5.2021). Wieder andere Quellen gehen davon aus, dass im Irak noch schätzungsweise 500 IS-Kämpfer aktiv sind (SIPRI 17.3.2023). Die verbliebenen IS-Kämpfer operieren als Schläferzellen oder in Einsatzteams (USDOS 20.3.2023).
Der IS ist als klandestine Terrorgruppe aktiv, deren Fähigkeit zu operieren dadurch verringert ist, dass sie weder Territorium noch Zivilbevölkerung beherrscht (FH 2023). Er hat sich zu einem Aufstand entwickelt, der Schwächen in der lokalen Sicherheit ausnutzt, um sichere Zufluchtsorte zu finden (UNSC 21.7.2021, S.3) und Territorium im Nord- und Zentralirak zurückzugewinnen (USDOS 27.2.2023b). Dabei nutzt die Gruppe auch die durchlässige irakisch-syrische Grenze und behält dadurch Manövrierfähigkeit, um Angriffen der irakischen Streitkräfte zu entgehen (UNSC 1.2.2023, S.6).
Trotz seiner stark geschwächten Kapazitäten führt der IS weiterhin Operationen durch, insbesondere in ländlichen Gebieten im Norden und Westen des föderalen Irak, wo die Präsenz der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) begrenzt ist (USDOS 27.2.2023a). Eine grundlegende geografische Verteilung der IS-Kämpfer lässt sich aus deren Operationen ableiten, die sie gegen die Sicherheitskräfte und die PMF-Milizen durchführen. Diese betreffen hauptsächlich Anbar, Bagdad, Babil, Kirkuk, Salah ad-Din, Ninewa und Diyala (NI 18.5.2021). Dabei konzentrieren sich die Aktivitäten des IS im Irak auf einen "logistischen Schauplatz" in Anbar und Ninewa inklusive Mossul sowie auf einen "operativen Schauplatz", der Kirkuk, Diyala, Salah ad-Din und den Norden Bagdads umfasst (UNSC 1.2.2023, S. 7). Die meisten Übergriffe des IS ereignen sich dementsprechend in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 20.3.2023), vor allem in den ländlichen Gebieten (FH 2023; vgl. Manara 22.2.2023, USDOS 27.2.2023a). Hier, wo zwischen den Patrouillen der kurdischen Peshmerga und der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) Lücken bestehen, versucht der IS wieder Fuß zu fassen (USDOS 27.2.2023a). Der IS stützt sich bei der Planung und Ausführung seiner Aktivitäten auf geografisches Terrain. Auch Informationen irakischer Sicherheitsbeamter deuten darauf hin, dass der IS auf abgelegene Stützpunkte tief in der Wüste in Anbar, Ninewa, in Gebirgszügen, Tälern und Obstplantagen in Bagdad, Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala zurückgreift, um seine Kämpfer unterzubringen und Überwachungs- und Kontrollpunkte zur Sicherung der Nachschubwege einzurichten. Er nutzt diese Stützpunkte auch, um Kommandozentren und kleine Ausbildungslager einzurichten. In urbanen Gebieten hat der IS seine Kämpfer in kleinen mobilen Untergruppen reorganisiert und seine Aktivitäten in Gebieten, in denen er noch Einfluss hat, verstärkt, indem er die internen Probleme des Irak ausnutzt und sich vertrautes geografisches Gebiet zunutze macht (NI 18.5.2021).
Der IS ist noch immer einer der Hauptakteure bei sicherheitsrelevanten Vorfällen im Irak (USDOS 20.3.2023) und verübt weiterhin tödliche Angriffe (USDOS 27.2.2023a). IS-Kämpfer greifen sowohl Zivilisten (FH 2023; vgl. UNSC 1.2.2023, S.7), wie etwa führende Persönlichkeiten von Gemeinden (UNSC 1.2.2023, S.7; vgl. USDOS 20.3.2023), als auch irakische Sicherheitskräfte an (FH 2023; vgl. UNSC 1.2.2023, S.7). Auch die Bereitschaft zu Angriffen, insbesondere gegen die Minderheiten des Landes, besteht weiter (Manara 22.2.2023). IS-Kämpfer greifen hauptsächlich in Form von bewaffneten Angriffen und mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) an (UNSC 1.2.2023, S.7; vgl. USDOS 27.2.2023b), verüben Scharfschützenangriffe, errichten Hinterhalte und sind verantwortlich für Entführungen und Tötungen, auch durch Selbstmordattentate (USDOS 20.3.2023).
Im Jahr 2021 forderten diese landesweit weniger Opfer als in den Vorjahren (USDOS 27.2.2023a). Auch 2022 ist die Zahl der IS-Angriffe, dem Trend folgend, dass deren Zahl von Jahr zu Jahr abnimmt, weiter gesunken, und zwar um etwa 64 % [Anm.: im Vergleich zum Vorjahr] (AlMon 10.8.2023). Während der COVID-19-bedingten Ausgangssperren kam es zu einem Rückgang an Übergriffen des IS. Anfang 2023 stieg die Zahl der IS-Angriffe, da der IS Sicherheitslücken ausnutzte und begann, verlorene Kampfkapazitäten wieder aufzubauen (Manara 22.2.2023). Dutzende irakische Sicherheitskräfte wurden bei den Angriffen getötet (AJ 7.3.2023).
Die Aktivität des IS ist gemessen an den Angriffszahlen stark zurückgegangen (Wing 4.9.2023). Laut an-Nabla [Anm.: der offizielle Newsletter des IS] verübte der IS im Irak im Jahr 2021 durchschnittlich 84 Anschläge, die 148 Opfer pro Monat forderten. Im Jahr 2022 waren es durchschnittlich 38 Anschläge und 64 Opfer pro Monat (Wilson 22.12.2022), bzw. rund 40 Angriffe pro Monat, die verzeichnet wurden (Wing 4.9.2023), wobei die sicherheitsrelevanten Vorfälle trotz eines Anstiegs während des Ramadan kontinuierlich zurückgingen (Wilson 22.12.2022). Der Irak erlebt derzeit die niedrigste Gewaltrate seit der Invasion 2003 (Wing 4.9.2023). Im Jahr 2023 wurden nur noch rund sieben Angriffe pro Monat registriert. Der Jänner 2024 war mit 13 Vorfällen der dritte Monat in Folge, in dem es wieder zu einem leichten Anstieg von IS-Angriffen kam, wobei die Zahl der Angriffe erstmals seit August 2023 wieder im zweistelligen Bereich liegt (Wing 5.2.2024).
Die folgende Grafik zeigt die von Joel Wing verzeichneten, dem IS zugeschriebenen sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand eines Balkendiagramms. Dem Diagramm ist zu entnehmen, dass seit Februar 2023 die monatlichen Vorfallszahlen beständig auf unter 20 gefallen sind und ab Juni 2023 sogar einstellig wurden, ausgenommen den Monaten August 2023 und Jänner 2024 [Darstellung erstellt durch die Staatendokumentation].
Wing 4.8.2022, Wing 7.9.2022, Wing 6.10.2022, Wing 7.11.2022, Wing 5.12.2022, Wing 4.1.2023, Wing 7.2.2023, Wing 5.3.2023, Wing 3.4.2023, Wing 2.5.2023, Wing 5.6.2023, Wing 3.7.2023, Wing 2.8.2023, Wing 4.9.2023, Wing 9.10.2023, Wing 6.11.2023, Wing 6.12.2023, Wing 3.1.2024, Wing 5.2.2024, Wing 4.3.2024
Die ACLED-Datenbank registrierte von Juli bis Dezember 2022 110 IS-Aktionen (monatlicher Durchschnitt von 18,33). Darunter waren 13 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (Kategorie: "violence against civilians") (monatlicher Durchschnitt von 2,17), wobei in 13 Fällen Zivilpersonen zu Tode kamen (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 128 IS-Aktionen (monatlicher Durchschnitt von 10,67), wobei es 28 Zwischenfälle von Gewalt gegen Zivilisten gab (monatlicher Durchschnitt von 2,33). In 14 Fällen kamen Zivilisten ums Leben. Insgesamt handelte es sich bei 16 Vorfällen um Funde von Massengräbern, die dem IS zugeschrieben werden. [Anm.: Es bleibt auch zu berücksichtigen, dass es je nach Kontrolllage und Informationsbasis zum sog. over- bzw. under-reporting kommen kann; die Zahl der Todesopfer wird aufgrund der Schwankungsbreite bei ACLED nicht berücksichtigt] (ACLED 5.1.2024). Im Jänner und Februar 2024 wurden elf Vorfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 5,5), darunter zwei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (ACLED 3.2024).
Das nachfolgende Diagramm zeigt die monatlichen Angriffe und Aktionen des IS im Irak, im Zeitraum von Juli 2022 bis August 2023, unterteilt in die Kategorien Kampfhandlungen, strategische Entwicklungen und Gewalt gegen Zivilisten anhand der Daten von ACLED [Darstellung erstellt durch die Staatendokumentation] (ACLED 22.9.2023).
ACLED 22.9.2023; vgl. ACLED 5.1.2024, ACLED 3.2024
Der Irak-Experte Joel Wing attestiert dem IS im Irak, kaum noch einsatzfähig zu sein (Wing 4.9.2023). Das Hauptaugenmerk der Gruppe liegt nach wie vor auf der Aufrechterhaltung der Kontrolle in Gebieten wie den Distrikten Muqdadiya und Khanaqin im Zentrum und Nordosten des Gouvernement Diyala, im Distrikt Hawija im Süden des Gouvernements Kirkuk und im Distrikt at-Tarmiyah im Norden Bagdads. Außerhalb dieser Gebiete ist der IS wenig aktiv (Wing 7.2.2023). Er sei kein effektiver Aufstand mehr und kaum noch in der Lage, offensive Operationen durchzuführen und ausschließlich auf sein Überleben konzentriert (Wing 2.8.2023). So war etwa das Jahr 2023 das erste Jahr, in dem der IS keine Ramadan-Offensive gestartet hat (Wing 3.4.2023; vgl. Wing 2.5.2023). Die Angriffe und Operationen des IS verdeutlichen die Wichtigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen föderal irakischen (ISF, PMF) und kurdischen Sicherheitskräften (Peschmerga), denn es besteht weiterhin die Gefahr eines Wiederauflebens des IS (UNSC 1.2.2023, S. 7).
Nach der Tötung des "Kalifen" Abu Bakr al-Baghdadi wurde Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurashi 2019 der neue "Kalif" des IS. Dieser wurde als Ameer Muhammed Sa'id as-Salbi al-Mawla identifiziert, ein langjähriger Anführer des IS aus Tal Afar im Nordirak (NI 19.5.2020; vgl. CISAC 2021). Dieser kam im Februar 2022 bei einer Militäroperation der USA in Nordsyrien ums Leben (AJ 4.2.2022; vgl. Manara 22.2.2023). Ihm folgte Abu al-Hassan al-Hashimi al-Qurayshi nach, der bereits im Oktober 2022 getötet wurde und von Abu al-Hussein al-Husseini al-Qurayshi als vierter Kalif beerbt wurde (AJ 30.11.2022; vgl. Manara 22.2.2023). Dieser wurde wiederum Ende April 2023 nahe Jinderes im Norden Aleppos in Syrien im Zuge einer Operation des türkischen Nachrichtendienstes ausgeschaltet (Soufan 2.5.2023). Es wird vermutet, dass der Namensteil "al-Qurayshi" von den IS-Anführern als Nom de Guerre angenommen wird (AJ 30.11.2022).
Dem "Kalifen" sind zwei fünfköpfige Ausschüsse unterstellt: ein Shura- (Beratungs-) Rat und ein Delegiertenausschuss. Jedes Mitglied des Letzteren ist für ein Ressort zuständig (Sicherheit, sichere Unterkünfte, religiöse Angelegenheiten, Medien und Finanzierung). Die verschiedenen Sektoren des IS arbeiten auf lokaler Ebene dezentralisiert, halbautonom und sind finanziell autark (NI 19.5.2020).
Im Jahr 2022 hat das US-Zentralkommando 313 Operationen gegen den IS im Irak und Syrien durchgeführt. Mehr als 95 % dieser Operationen wurden in Zusammenarbeit mit den irakischen Sicherheitskräften oder den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) durchgeführt [Anm.: Sicherheitskräfte der kurdisch dominierten Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien]. Fast 700 IS-Kämpfer wurden getötet und weitere 374 festgenommen (USDOD 12.1.2023). Bei irakischen Operationen zur Terrorismusbekämpfung wurden im Jahr 2022 etwa 150 IS-Angehörige getötet (UNSC 1.2.2023, S.6).
Die Regierung setzt ihre Ermittlungen und die strafrechtliche Verfolgung mutmaßlicher Übergriffe und Gräueltaten des IS fort und verurteilt in einigen Fällen mutmaßliche IS-Mitglieder nach dem Antiterrorgesetz (USDOS 20.3.2023). Iraker machen den größten Teil der etwa 66.000 im Nordosten Syriens inhaftierten ausländischen mutmaßlichen IS-Angehörigen aus. Mit Stand September 2022 waren schätzungsweise 28.000 irakische Staatsbürger, die meisten davon Frauen und Kinder in Lagern inhaftiert. Rund 3.000 weitere Iraker werden in Gefängnissen festgehalten. Der Irak setzt die Rückführung von Irakern aus Syrien fort und hat in den Jahren 2021 und 2022 etwa 3.100 Staatsangehörige aufgenommen oder bei der Rückführung unterstützt. Im Juni 2022 gab die Regierung bekannt, dass sie etwa 500 Familien in das Lager Jadaa südlich von Mossul zurückgeführt hat (HRW 12.1.2023).
Sicherheitslage in der Kurdistan Region Irak (KRI)
Letzte Änderung 2024-03-27 16:51
In der Kurdistan Region Irak (KRI) üben die kurdischen Kräfte das Monopol auf die Anwendung legitimer Gewalt in städtischen Gebieten aus. Die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) betreibt illegale Kontrollpunkte in den Grenzgebieten innerhalb der KRI, insbesondere im Sinjar-Gebirge, und hebt Steuern von Einwohnern, einschließlich Landwirten und Viehhaltern ein (BS 23.2.2022, S. 7). Die PKK ist in den Qandil-Bergen (Erbil) präsent (WKI 11.5.2021). 2007 haben die Türkei und die föderale Regierung in Bagdad eine Vereinbarung getroffen, dass die Türkei Kämpfer der verbotenen PKK über die gebirgige Grenze in den Nordirak verfolgen darf, ohne zuvor die Erlaubnis der irakischen Regierung in Bagdad einholen zu müssen (REU 28.9.2007).
Seit 2018 hat die Türkei mehrere Militäroperationen auf KRI-Boden ausgeführt. Von August 2018 bis Mai 2019 fand die "Operation Resolve" statt. Von Mai 2019 bis Juni 2020 führten die türkischen Streitkräfte die "Operation Claw" durch. Weitere Militäroperationen sind "Claw-Tiger", "Claw-Eagle" und "Claw-Thunder", von Juni 2020 bis Stand März 2022 (Clingendael 3.2022, S. 6).
Die Türkei hat eine etwa 25 km tiefe Sicherheitszone errichtet (WKI 11.5.2021) und verfügt über mindestens 41 Militärstützpunkte in der KRI (WKI 11.5.2021; vgl. BS 23.2.2022, S. 8). Durch die Einrichtung dieses Netzes von Militärstützpunkten soll die Handlungsfreiheit der PKK eingeschränkt werden. Die Stützpunkte dienen auch als Startpunkte für Such- und Zerstörungsoperationen durch mobile Bodentruppen und Lufteinheiten (Clingendael 3.2022, S. 6). Seit Beginn der jüngsten Militäroperation "Claw Lock" wurden vier weitere Stützpunkte, zwei in Avashin und zwei in Zap, errichtet. Am 16.6.2022 wurde außerdem mit dem Bau eines neuen Stützpunktes auf dem Berg Kurazharo oberhalb von Shiladze begonnen (CPT 30.6.2022).
Die jüngste türkische Militärkampagne namens "Claw Lock" hat am 17.4.2022 begonnen. Ziel war es, die vollständige militärische Kontrolle über die gebirgige Grenzregion zu erlangen, die sich etwa 180 km von Osten nach Westen und bis zu 15 km südlich der irakisch-türkischen Grenzlinie erstreckt. Die Kampagne hat mit massiven Luftangriffen und dem Einsatz von Spezialeinheiten bis zu 12-15 km südlich der türkisch-irakischen Grenze in den Gebieten von Zap und Avashin, die zuvor von der Zivilbevölkerung geräumt worden waren, begonnen. Es wurden auch gezielte Drohnenangriffe gegen PKK-Mitglieder bis nach Kalar, 280 km von der irakisch-türkischen Grenze entfernt, durchgeführt. Bei zwei Drohnenangriffen kamen Zivilisten ums Leben, darunter ein Kind. Insgesamt wurden zwischen 21.5. und 21.6.2022 drei Kinder und zwei erwachsene Zivilisten getötet, 15 Zivilisten wurden verletzt (CPT 30.6.2022).
Obwohl die unmittelbar an die türkisch-irakische Grenze angrenzenden Gebiete nur dünn besiedelt sind, wirkt sich die Ausweitung der türkischen Operationen nach Süden zunehmend negativ auf das Leben der irakischen (kurdischen) Bewohner aus. Türkische Drohnen- und Artillerieangriffe fordern immer mehr zivile Opfer, zerstören ziviles Eigentum, töten das Vieh und zwingen die Dorfbewohner, ganze Gebiete zu verlassen (Clingendael 3.2022, S. 11).
Die folgende Karte zeigt einen Überblick über die militärische Präsenz der Türkei im Nordirak im Januar 2022:
Clingendael 3.2022
Nachdem die Bedrohung durch den Islamischen Staat (IS) zurückgegangen war, begannen die Peshmerga-Truppen der kurdischen Regionalregierung (KRG) mit Versuchen, die PKK aus der Region zu vertreiben. Die Spannungen eskalierten nach der Ermordung eines kurdischen Grenzbeamten, angeblich durch die PKK. Inzwischen setzt die PKK ihre Angriffe auf eine wichtige Pipeline und auf Peshmerga-Soldaten fort (BS 23.2.2022, S. 7).
Die folgende Karte des Amts für Statistik der Kurdistan Region Irak weist die kurdischen Gouvernements und deren Distrikte aus. [Anm.: Hierbei ist zu beachten, dass auch Distrikte inkludiert sind, die zu den umstrittenen Gebieten zählen, aber bis zu einem gewissen Grad unter kurdischer Verwaltung stehen. Dazu zählen in Dohuk die Distrikte Akre, Bardarash und Shekhan, in Erbil der Distrikt Makhmour und zum Teil der Distrikt Mergasor, sowie in Sulaymaniyah die Distrikte Khanaqin und Kifri.]
Gov.KRD o.D.
Gouvernement Erbil
Im September 2022 wurde in Erbil ein sicherheitsrelevanter Vorfall verzeichnet, der pro-iranischen Milizen (Volksmobilisierungskräfte, PMF) zugeschrieben wird. Hierbei gab es keine Opfer zu beklagen (Wing 6.10.2022). Vier Raketen schlugen beim Dorf Tarawa ein (Sumaria 5.9.2022).
Im April 2023 wurden in Erbil zwei sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet, die ein Todesopfer forderten. Beide Vorfälle werden dem IS zugeschrieben (Wing 2.5.2023). Im Oktober 2023 wurden fünf sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet, die pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden. Es handelte sich dabei um Angriffe auf den al-Harir-Luftwaffenstützpunkt in Erbil (Wing 6.11.2023). Im November 2023 wurden weitere 13 Angriffe pro-iranischer Gruppen verzeichnet (Wing 6.12.2023).
Auch im Jänner 2024 erfolgten in Erbil Angriffe pro-iranischer Gruppen, aber auch eines direkten Angriffs aus Iran. Sieben Drohnenangriffe trafen die Stadt, den Flughafen und den Luftwaffenstützpunkt al-Harir. Iran feuerte ballistische Raketen auf die Stadt Erbil ab, die angeblich auf ein israelisches Geheimdienstzentrum abzielten, aber ein Privathaus trafen (Wing 5.2.2024). Dieser Angriff forderte fünf Zivilisten das Leben (National 16.1.2024), weitere wurden verletzt (Wing 5.2.2024).
Die ACLED-Datenbank registrierte im Gouvernement Erbil [Anm.: unterteilt in die Distrikte Erbil, Choman, Koya, Mergasor, Rawanduz, Shaqlawa und Soran, sowie den umstrittenen Distrikt Makhmour] von Juli bis Dezember 2022 329 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 54,83) [Anm.: abgesehen von den Strategic developments-"event types" "change to group/activity" (5), und "others" (6), die hier herausgenommen wurden, da sie keine sicherheitsrelevanten Vorkommnisse umfassen. Andere "event types" wie "arrests", "disrupted weapons use" und "looting/property destruction" sind enthalten]. Die Vorfälle umfassen 39 bewaffnete Auseinandersetzungen, 242 Zwischenfälle mit Explosionen, darunter Granaten (1), IEDs (17), Artillerie-/Raketenbeschuss (134), Luft-und Drohnenangriffe (90), 34 Demonstrationen (31 friedlich verlaufende, drei mit Interventionen) und zehn Fälle von "strategischen Entwicklungen". Darüber hinaus registrierte die ACLED-Datenbank im Gouvernement Erbil von Juli bis Dezember 2022 drei Zwischenfälle, bei denen Zivilisten gezielt angegriffen wurden (Kategorie "violence against civilians" (der monatliche Durchschnitt liegt hierbei bei 0,5). Hierbei kamen keine Zivilisten zu Tode ("fatalities") (ACLED 22.9.2023). Die Kategorie "violence against civilians" umfasst Vorfälle asymmetrischer Gewalt. Zu den Tätern solcher Handlungen gehören staatliche Streitkräfte und ihnen nahestehende Organisationen, Rebellen, Milizen und externe/andere Kräfte (ACLED o.D.). Im Jahr 2023 waren es ebenfalls 785 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 65,42) [abgesehen von "change to group/activity" (10), "others" (2), "agreement" (1) und "headquarters or base established" (1)]. Diese umfassten 47 bewaffnete Auseinandersetzungen, 644 Zwischenfälle mit Explosionen, darunter IEDs (8), Artillerie- und Raketenbeschuss (170) und Luft-/Drohnenangriffe (465), 66 Demonstrationen (62 friedlich verlaufende, eine mit Intervention, eine mit Anwendung exzessiver Gewalt gegen Demonstranten, eine gewalttätige und ein Fall von Mobgewalt), 16 Fälle von strategischen Entwicklungen und zwölf Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 1), wobei in sechs Fällen Zivilpersonen zu Tode kamen (monatlicher Durchschnitt von 0,5) (ACLED 5.1.2024). In den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 wurden in Erbil 254 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 127) [abgesehen von "change to group/activity" (1)] verzeichnet. Der überwiegende Anteil, nämlich 210 Vorfälle gehen auf Angriffe der türkischen Streitkräfte auf Ziele der PKK zurück, die selbst wiederum für elf Angriffe auf türkische Ziele verantwortlich ist. Die Iranischen Revolutionsgarden haben in einem Fall einen Angriff auf irakisches Staatsgebiet ausgeführt. Der Islamische Widerstand ist für sechs Angriffe auf US-Ziele verantwortlich. Sechs weitere Drohnenangriffe wurden durch die USA abgefangen. Darüber hinaus wurden 15 friedliche Demonstrationen verzeichnet (ACLED 3.2024).
Das nachfolgende Diagramm (erstellt von der Staatendokumentation auf der Basis der ACLED-Daten) zeigt die monatlichen Fälle von Gewalt gegen Zivilisten in Erbil, sowie jene Fälle, bei denen Zivilisten zu Tode kamen.
ACLED 22.9.2023; vgl. ACLED 5.1.2024, ACLED 3.2024
Im Distrikt Erbil wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 29 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 4,8), darunter ein Fall von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,17) ohne Opfer. Es wurden auch 15 Demonstrationen verzeichnet, von denen zwölf friedlich verliefen, es bei dreien jedoch zu Interventionen kam. Bei drei Vorfällen handelte es sich um iranische Militärinterventionen (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 wurden 48 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 4) registriert. Darunter waren sechs Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,5), wobei es in vier Fällen Todesopfer gab. Weitere Vorfälle umfassen 19 Demonstrationen und Proteste, von denen 18 friedlich blieben, während eine gewalttätig war. Der IS war für einen Angriff auf Polizisten verantwortlich. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nicht-staatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen. Ab Oktober kam es in zwei Fällen zu Luft-/Drohnenangriffen des sogenannten Islamischen Widerstands im Irak gegen US-Streitkräfte (ACLED 5.1.2024). In den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 wurden elf Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 5,5) verzeichnet, darunter fünf friedliche Demonstrationen. In einem Fall handelte es sich um einen Raketenangriff der iranischen Revolutionsgarde auf ein Ziel in Erbil Stadt, bei einem weiteren um einen Angriff des sogenannten Islamischen Widerstands (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Koya wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 fünf Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 0,83). Bei zwei der Vorfälle handelt es sich um friedliche Demonstrationen, bei den übrigen drei um Luft-/Drohnenangriffe der Iranischen Revolutionsgarden auf Ziele der Demokratischen Partei Kurdistan-Iran (DPKI) (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 14 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 1,17). Darunter ein Fall von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,08) ohne Opfer. Weitere Vorfälle umfassen neun friedliche Demonstrationen sowie Zwischenfälle, die sich auf diverse staatliche und nicht-staatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen verteilen. In zwei Fällen handelte es sich auch um türkische Luft-/Drohnenangriffe gegen PKK-Ziele (ACLED 5.1.2024). Jänner und Februar 2024 sahen sieben Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 3,5), allesamt friedliche Demonstrationen (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Makhmour [Anm.: umstritten] wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 28 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 4,67), darunter 16 friedliche Demonstrationen. Bei einem Vorfall handelt es sich um einen Angriff des IS, sieben weitere waren Aktionen der irakischen Sicherheitskräfte und Koalitionstruppen gegen die Aufständischen. Darüber hinaus wurden drei türkische Angriffe gegen Ziele der PKK verzeichnet (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 40 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 3,33), darunter ein Fall von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,08) durch den IS, wobei es zumindest ein ziviles Todesopfer gab. Auch zwei weitere Zwischenfälle, eine bewaffnete Auseinandersetzung mit der PMF-Shabak-Miliz und eine mit Sicherheitskräften, werden dem IS zugeschrieben, der in drei anderen Fällen zum Ziel von Operationen der Sicherheitskräfte und Peshmerga wurde. Es wurden auch 29 Demonstrationen verzeichnet, wovon 28 friedlich verliefen. Bei einer Demonstration wurde jedoch exzessive Gewalt gegen Demonstranten angewandt. Türkische Streitkräfte werden für zwei Luft-/Drohnenangriffe verantwortlich gemacht (ACLED 5.1.2024). In den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 wurden in Makhmour zwei Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 1), darunter ein friedlicher Protest (ACLED 3.2024).
Im nördlichen Distrikt Mergasor [Anm.: teils umstritten. ACLED zählt den Distrikt Mergasor zum Distrikt Rawanduz. Hier wird Mergasor allerdings eigens ausgewiesen. Ein Teil der verzeichneten Vorfälle fand auch an einem Ort mit dem Namen az-Zibar statt, welcher im Distrikt Mergasor liegt] wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 23 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 3,83). Alle standen im Zeichen des Konflikts zwischen der Türkei und der PKK und YJA STAR (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 53 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 4,42). Es handelte sich überwiegend um türkische Angriffe auf Ziele der PKK. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nicht-staatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED 5.1.2024).
Im Distrikt Rawanduz wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 243 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 40,5), darunter zwei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,33) ohne Opfer. Die beiden Fälle werden der PKK und den iranischen Streitkräften zugeschrieben. Es wurde auch eine friedliche Demonstration registriert. Die überwiegende Anzahl der verzeichneten Vorfälle stehen im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK. Der Türkei werden 100 Vorfälle zugeschrieben (Luft-/Drohnenangriffe, Raketen-/Artilleriebeschuss und bewaffnete Auseinandersetzungen), dem Iran 55 Fälle. Bei 84 Zwischenfällen handelt es sich um Angriffe der PKK und YJA-STAR gegen türkische Ziele (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 wurden 602 Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 50,17). Wiederum stehen fast alle der registrierten Zwischenfälle in Verbindung mit dem Konflikt zwischen der Türkei und der PKK, der auf irakischem Staatsgebiet ausgetragen wird. Darunter waren drei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,25), wobei es bei einem Zwischenfall auch Todesopfer gab. Zwei dieser Vorfälle gehen auf Angriffe der Türkei zurück, der insgesamt 532 Zwischenfälle zugeschrieben werden. Der PKK und YJA-STAR wiederum werden 56 Vorfälle zugeschrieben. Es wurden sieben friedliche Demonstrationen verzeichnet. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nichtstaatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED 5.1.2024). In den beiden Monaten Jänner und Februar 2024 wurden 221 Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 110,5), die allesamt im Zusammenhang mit dem Türkei-PKK-Konflikt stehen. Dem türkischen Militär werden 210 Angriffe auf PKK-Ziele zugeschrieben, während elf Angriffe auf türkische Ziele der PKK und YJA STAR zugeschrieben werden (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Shaqlawa wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 zwei Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 0,33). Es handelte sich um einen Luft-/Drohnenangriff der türkischen Streitkräfte gegen Ziele der PKK sowie um eine bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Stammesmilizen und Sicherheitskräften (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 23 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 1,92). Darunter ein Fall von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,08) ohne Opfer, eine friedliche Demonstration und eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen nicht identifizierten bewaffneten Gruppen. Ab Oktober folgten auch 19 Luft-/Drohnenangriffe gegen US-Streitkräfte (ACLED 5.1.2024). Während Jänner und Februar 2024 wurden elf Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 5,5). Bei fünf dieser Vorfälle handelte es sich um Drohnenangriffe des sogenannten Islamischen Widerstands auf US-Ziele, bei den übrigen sechs Vorfällen konnte das US-Militär weitere Angriffe vereiteln (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Soran wurde im Jahr 2023 ein Luft-/Drohnenangriff der türkischen Streitkräfte registriert (monatlicher Durchschnitt von 0,08) (ACLED 5.1.2024). Während dem Jänner und Februar 2024 wurden zwei Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 1). Es handelte sich dabei um friedliche Demonstrationen (ACLED 3.2024).
Gouvernement Dohuk
Im Juli 2022 wurden in Dohuk zwei sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet, die pro-iranischen Milizen (PMF) zugeschrieben werden. Hierbei gab es keine Opfer. Es handelte sich dabei um den Einsatz von Drohnen gegen türkische Militärstützpunkte im Gouvernement (Wing 4.8.2022).
Die ACLED-Datenbank registrierte im Gouvernement Dohuk [Anm.: unterteilt in die Distrikte Amediya, Dohuk, Semile, Zaxo, Akre (umstritten), Bardarash (umstritten) und Shekhan (umstritten)] von Juli bis Dezember 2022 1.918 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 319,67). [Anm.: abgesehen vom "strategic developments" - "event type": "headquarters or base established" (zwei), die hier herausgenommen wurden, da sie keine sicherheitsrelevanten Vorkommnisse umfassen. Andere "event types" wie "arrests", "disrupted weapons use" und "looting/property destruction" sind enthalten]. Es wurden zwei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,33) registriert, wobei in beiden Fällen Zivilisten ihr Leben verloren. Des Weiteren wurden 754 Luft-/Drohnenangriffe, 704 bewaffnete Auseinandersetzungen, 405 Fälle von Artillerie-/Raketenbeschuss und 15 IED-Angriffe verzeichnet. Darüber hinaus wurde eine friedliche Demonstration registriert und 37 Zwischenfälle wurden als strategische Entwicklungen kategorisiert. Von den angeführten Vorfällen entfallen 1.698 Zwischenfälle auf den Konflikt zwischen der Türkei und der PKK. So ist die Türkei verantwortlich für 1.218 Fälle von Raketen-/Artilleriebeschuss, Luft-/Drohnenangriffen und bewaffneten Auseinandersetzungen, während 680 Zwischenfälle der PKK und YJA-STAR zugeschrieben werden können. Weitere sechs Zwischenfälle werden nicht identifizierten bewaffneten Gruppen und Stammesmilizen zugeschrieben. Bei fünf Vorfällen handelt es sich um Angriffe von Milizen auf türkische Ziele. In acht Fällen griffen Peshmerga PKK-Ziele an (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 2.739 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 228,25). [Anm.: abgesehen vom "strategic developments" -"event Type" "change to group/activity" (12) "headquarters or base established" (3) und "other" (2)]. Es wurden in dem Zeitraum drei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,25) registriert, wobei in keinem der Fälle Zivilpersonen zu Tode kamen. Des Weiteren wurden 1.261 Luft-/Drohnenangriffe, 604 bewaffnete Auseinandersetzungen, 813 Fälle von Artillerie-/Raketenbeschuss und 14 IED-Angriffe verzeichnet. 42 Zwischenfälle wurden als strategische Entwicklungen kategorisiert. Von den angeführten Vorfällen entfallen 2.724 Zwischenfälle auf den Konflikt zwischen der Türkei und der PKK. So ist die Türkei verantwortlich für 2.149 Fälle von Raketen-/Artilleriebeschuss, Luft-/Drohnenangriffen und bewaffneten Auseinandersetzungen, während 575 Zwischenfälle der PKK und YJA-STAR zugeschrieben werden können. Bei einem Vorfall handelt es ich um einen Angriff einer Miliz gegen ein türkisches Ziel. Weitere fünf Zwischenfälle werden nicht identifizierten bewaffneten Gruppen und irakischen Sicherheitskräften zugeschrieben. Acht weitere Vorfälle umfassen Aktionen von Sicherheitskräften. In einem Fall handelte es sich um einen friedlichen Protest (ACLED 5.1.2024). In den beiden Monaten Jänner und Februar 2024 wurden in Dohuk 562 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 281) verzeichnet [Anm.: abgesehen vom "strategic developments" -"event Type" "change to group/activity" (2) "headquarters or base established" (2) und "other" (1)]. Bei vier dieser Vorfälle handelte es sich um friedliche Demonstrationen. In 501 Fällen handelte es sich um türkische Angriffe auf und bewaffnete Auseinandersetzungen mit PKK-Kräften, während 55 Angriffe auf die PKK und YJA-STAR zurückgehen. Alle bis auf einen, der gegen KDP-Peshmerga gerichtet war, richteten sich gegen türkische Streitkräfte (ACLED 3.2024).
Das nachfolgende Diagramm (erstellt von der Staatendokumentation auf Basis der ACLED-Daten) zeigt die monatlichen Fälle von Gewalt gegen Zivilisten in Dohuk, sowie jene Fälle, bei denen Zivilisten zu Tode kamen.
ACLED 22.9.2023; vgl. ACLED 5.1.2024, ACLED 3.2024
Im Distrikt Amediya wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 1.881 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 313,5), darunter eine friedliche Demonstration. Von den angeführten Vorfällen entfallen 1.698 Zwischenfälle auf den Konflikt zwischen der Türkei und der PKK. So ist die Türkei verantwortlich für 1.195 Fälle, während 671 Zwischenfälle der PKK und YJA-STAR zugeschrieben werden können. Die Türkei wurde darüber hinaus in sieben Fällen das Ziel von Angriffen durch diverse Milizen und nicht identifizierte bewaffnete Gruppen. In sieben Fällen sind Peshmerga gegen PKK-Ziele vorgegangen (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 2.710 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 225,83). Mit 2.706 Zwischenfällen ist der überwiegende Anteil der Vorfälle auf den Konflikt zwischen der Türkei und der PKK zurückzuführen. Der Türkei werden 2.136 Vorfälle zugeschrieben, der PKK und YJA-STAR 570. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Sicherheitskräfte (ACLED 5.1.2024). Während Jänner und Februar 2024 wurden 553 Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 226,5). Bei 496 dieser Vorfälle handelte es sich um gegen PKK-Ziele gerichtete Aktionen (Artilleriebeschuss, Luft-/Drohnenangriffe und bewaffnete Auseinandersetzungen) der türkischen Streitkräfte. 55 Angriffe gegen türkische Ziele, überwiegend bewaffnete Auseinandersetzungen, aber auch Artilleriebeschuss, werden der PKK und YJA-STAR zugeschrieben. Zwei weitere Vorfälle werden nicht identifizierten Gruppen zugerechnet (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Dohuk wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 vier Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 0,67), darunter zwei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,33), wobei es in beiden Fällen zivile Todesopfer gab. Bei den übrigen beiden handelte es sich um bewaffnete Auseinandersetzungen. PKK-Kämpfer haben in einem Fall türkische Kräfte, im anderen Asayish angegriffen (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es fünf Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 0,42), darunter zwei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,17) ohne Opfer und ein Polizeieinsatz und ein friedlicher Protest (ACLED 5.1.2024). In den beiden Monaten Jänner und Februar 2024 wurden drei Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 1,5), darunter zwei friedliche Demonstrationen und eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen türkischen und PKK-Kräften (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Semile wurde im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 ein Zwischenfall verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 0,17), wobei es sich um einen Stammeskonflikt handelte (ACLED 22.9.2023). Auch 2023 war es ein Vorfall (monatlicher Durchschnitt von 0,08), wobei es sich um einen Luft-/Drohnenangriff der türkischen Streitkräfte handelte (ACLED 5.1.2024).
Im Distrikt Zaxo wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 28 Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 4,67), wovon fast alle auf den Konflikt zwischen der Türkei und der PKK zurückgehen. So ist die Türkei für 20 Angriffe verantwortlich, die PKK für sieben (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 22 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 1,83), darunter ein Fall von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,08). Zwölf Vorfälle werden den türkischen Streitkräften zugeschrieben, fünf der PKK und YJA-STAR. Die Türkei wurde auch durch eine Miliz attackiert. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nicht-staatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED 5.1.2024). In den beiden Monaten Jänner und Februar 2024 wurden sechs Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 3). Es handelte sich hierbei um zwei friedliche Demonstrationen und vier türkische Angriffe auf PKK-Ziele (ACLED 3.2024).
Gouvernement Sulaymaniyah
Im Jahr 2022 wurden mehrere Anschläge auf die Energieinfrastruktur in der KRI verübt, zu denen sich niemand bekannte. Die Angriffe erfolgten inmitten des schwelenden Ölstreits zwischen der KRG und der Bundesregierung in Bagdad (Ekurd 13.10.2022). Im Juli 2022 wurde in Sulaymaniyah ein sicherheitsrelevanter Vorfall ohne Opfer registriert, der pro-iranischen Milizen (PMF) zugeschrieben wird (Wing 4.8.2022). Am 23.7.2022 hatten drei Raketen das Gasfeld von Khor Mor getroffen (Ekurd 13.10.2022; vgl. Wing 4.8.2022). Auch im August 2022 wurde in Sulaymaniyah ein sicherheitsrelevanter Vorfall ohne Opfer verzeichnet, der pro-iranischen Milizen (PMF) zugeschrieben wird (Wing 7.9.2022). Im September 2022 wurde in Sulaymaniyah ein sicherheitsrelevanter Vorfall verzeichnet, der dem IS zugeschrieben wird. Bei diesem Angriff wurden acht Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) verwundet (Wing 6.10.2022). Im Oktober 2022 wurden in Sulaymaniyah drei sicherheitsrelevante Vorfälle registriert mit je zwei Toten und zwei Verletzten. Zwei dieser Vorfälle werden pro-iranischen Gruppen zugeschrieben, einer dem IS (Wing 7.11.2022). Mehrere Raketen wurden auf das Khor Mor-Gasfeld abgefeuert, ohne jedoch Opfer zur Folge zu haben, noch den Betrieb zu stören (Ekurd 13.10.2022). Im November 2022 wurde in Sulaymaniyah ein sicherheitsrelevanter Vorfall ohne Opfer registriert, der dem IS zugeschrieben wird (Wing 5.12.2022).
Im Jänner 2023 wurden in Sulaymaniyah drei sicherheitsrelevante Vorfälle ohne Opfer verzeichnet. Zwei dieser Vorfälle werden pro-iranischen Gruppen zugeschrieben, einer dem IS (Wing 7.2.2023). Das Khor Mor-Gasfeld wurde neuerlich zweimal das Ziel von Raketenbeschuss (Wing 7.2.2023; vgl. NINA 27.1.2023, Wing 7.2.2023, Masalah 13.1.2023). Im August 2023 wurde ein sicherheitsrelevanter Vorfall ohne Opfer registriert, der pro-iranischen Gruppen zugeschrieben wird (Wing 4.9.2023). Es gab einen neuerlichen Raketenangriff auf das Khor Mor-Gasfeld in Sulyamaniyah (Wing 4.9.2023; vgl. National 31.8.2023). Es hat sich zwar keine Gruppe zu dem Vorfall bekannt (National 31.8.2023), es werden aber pro-iranische Gruppen verantwortlich gemacht (Wing 4.9.2023).
Im Jänner 2024 erfolgten in Sulaymaniyah ein Angriff, der pro-iranischen Gruppen zugeschrieben wird (Wing 5.2.2024).
Die ACLED-Datenbank registrierte im Gouvernement Sulyamaniyah [Anm.: unterteilt in die Distrikte Chamchamal, Darbandokeh, Dokan, Kalar, Mawat, Penjwen, Pshdar, Qaradagh, Ranya, Saidsadiq, Sharazur, Sharbazher und Sulaymaniyah, inklusive dem offiziell herausgelösten Halabja] von Juli bis Dezember 2022 125 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 20,83). [Anm.: abgesehen vom "strategic developments" - "event type" "change to group/activity" (zwei), der hier herausgenommen wurden, da er keine sicherheitsrelevanten Vorkommnisse umfasst. Der "event type" "disrupted weapons use", ist hingegen enthalten]. Es wurden fünf Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,83) registriert, wobei in vier Fällen Zivilisten ihr Leben verloren (monatlicher Durchschnitt von 0,67). Zwei Angriffe werden dem IS zugeschrieben. 30 Vorfälle gehen auf den Türkei-PKK-Konflikt zurück, acht weitere auf die militärische Intervention Irans gegen iranisch-kurdische Oppositionsgruppen. Es wurden auch 66 Demonstrationen und Proteste registriert, von denen 60 friedlich verliefen und sechs mit Interventionen. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nichtstaatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 124 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 10,33). [Anm.: abgesehen vom "strategic developments" - "event type" "change to group/activity" (drei)], darunter 13 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 1,08), wobei in acht Fällen Zivilpersonen ihr Leben verloren (monatlicher Durchschnitt von 0,67). Ein Vorfall wird dem IS zugeschrieben, bei 64 handelte es sich um türkische Angriffe auf PKK-Ziele, in einem Fall um einen iranischen Angriff. Des Weiteren wurden 142 Demonstrationen und Proteste registriert, von denen 139 friedlich verliefen, zwei mit Interventionen und in einem Fall exzessive Gewalt gegen die Demonstranten angewandt wurde. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nichtstaatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED 5.1.2024). In den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 wurden in Sulaymaniyah 72 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 36) verzeichnet, darunter zwei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 1), die jeweils zivile Todesopfer forderten. Des Weiteren wurden 51 Demonstrationen registriert (50 friedliche, eine mit Intervention). Bei zwölf weiteren Vorfällen handelte es sich um türkische Angriffe auf PKK-Ziele. Die übrigen Vorfälle werden diversen staatlichen, nichtstaatlichen und nicht identifizierten bewaffneten Gruppen zugeschrieben (ACLED 3.2024).
Das nachfolgende Diagramm (erstellt von der Staatendokumentation auf der Basis der ACLED-Daten) zeigt die monatlichen Fälle von Gewalt gegen Zivilisten in Sulaymaniyah, sowie jene Fälle, bei denen Zivilisten zu Tode kamen.
ACLED 22.9.2023; vgl. ACLED 5.1.2024, ACLED 3.2024
Im Distrikt Chamchamal wurden von Juli bis Dezember 2022 elf Vorfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 1,83), wobei es sich in fünf Fällen um friedliche Demonstrationen handelte. Ein Fall von Raketen-/Artilleriebeschuss wird Iran zugeschrieben (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 21 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 1,75), darunter zwei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,17). Es wurden auch sieben Demonstrationen registriert, wovon sechs als friedlich kategorisiert wurden und es bei einer zu exzessiver Gewaltanwendung gegen die Demonstranten kam. Sieben Vorfälle werden den türkischen Streitkräften zugeschrieben, die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED 5.1.2024). Während dem Jänner und Februar 2024 wurden sechs Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 3). Bei zwei dieser Vorfälle handelte es sich um friedliche Demonstrationen. Zwei Luft-/Drohnenangriffe werden der Türkei zugeschrieben (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Darbandokeh wurden von Juli bis Dezember 2022 zwei Vorfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 0,33), wobei es sich um friedliche Demonstrationen handelte (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 32 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 2,67), darunter ein Fall von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,08) und 31 Demonstrationen, davon 30 friedlich verlaufend und eine mit Intervention (ACLED 5.1.2024). In den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 wurde nur ein Vorfall verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 0,5). Hierbei handelte es sich um eine friedliche Demonstration (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Dokan wurden im Jahr 2023 sechs Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 0,5). Es handelte sich dabei um einen Luftangriff der Türkei sowie um fünf friedliche Demonstrationen (ACLED 5.1.2024). In den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 wurden zwei Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 1), wobei es sich um friedliche Demonstrationen handelte (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Kalar wurden von Juli bis Dezember 2022 19 Vorfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 3,17), darunter zwei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,33) und 15 friedliche Demonstrationen. Der IS wird für zwei Angriffe verantwortlich gemacht (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 15 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 1,25), darunter ein Fall von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,08) und zwölf friedliche Demonstrationen. Dem IS wird ein Zwischenfall zugeschrieben. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nicht-staatliche sowie teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen (ACLED 5.1.2024). Im Jänner und Februar 2024 wurden zwölf Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 6), davon waren elf friedliche Demonstrationen. Beim Letzten handelte es sich um einen Vorfall mit einer Landmine aus einem früheren Konflikt (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Penjwen wurden von Juli bis Dezember 2022 acht Vorfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 1,33), darunter drei friedliche Demonstrationen. Bei den übrigen fünf Vorfällen handelt es sich um Luftangriffe der türkischen Streitkräfte (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 23 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 1,92). Es handelte sich dabei um neun friedliche Demonstrationen und um zwölf türkische Luftangriffe gegen PKK-Ziele (ACLED 5.1.2024). In den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 wurde nur ein Vorfall verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 0,5). Hierbei handelte es sich um eine bewaffnete Auseinandersetzung von türkischen Polizeikräften mit der PKK (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Pshdar wurde zwischen Juli und Dezember 2022 ein Vorfall verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 0,17) (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 31 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 2,58), darunter ein Fall von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,08) und 20 friedliche Demonstrationen. Der Türkei werden neun Zwischenfälle, überwiegend Luft-/Drohnenangriffe, zugeschrieben, ein weiterer Zwischenfall nicht identifizierten bewaffneten Gruppen (ACLED 5.1.2024). Im Jänner und Februar 2024 wurden neun Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 4,5), darunter sieben friedliche Demonstrationen und drei Vorfälle, bei denen türkische Militär- und Polizeikräfte gegen PKK-Ziele vorgingen (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Ranya wurden von Juli bis Dezember 2022 zwölf Vorfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 2), darunter fünf friedliche Demonstrationen. Bei sechs Vorfällen handelt es sich um türkische Angriffe gegen PKK- und YRK-Ziele (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 16 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 1,33), darunter ein Fall von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,08) und fünf friedliche Demonstrationen. Bei neun Vorfällen handelte es sich um türkische Luftangriffe (ACLED 5.1.2024). Im Jänner und Februar 2024 wurden fünf Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 2,5), darunter zwei friedliche Demonstrationen und drei Luft-/Drohnenangriffe der Türkei gegen PKK-Ziele (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Sharbazher wurden von Juli bis Dezember 2022 20 Vorfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 3,33). Bei 16 handelte es ich um Angriffe der Türkei, bei zwei um iranische Angriffe (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 18 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 1,5), wobei es sich überwiegend um türkische Luftangriffe handelte. Die übrigen Zwischenfälle werden nicht identifizierten bewaffneten Gruppen zugeschrieben (ACLED 5.1.2024). In Jänner und Februar 2024 wurden drei Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 1,5). Zwei Luft-/Drohnenangriffe werden der Türkei zugeschrieben, ein weiterer nicht identifizierten militärischen Streitkräften (ACLED 3.2024).
Im Distrikt Sulaymaniyah wurden von Juli bis Dezember 2022 42 Vorfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 7), darunter zwei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,33). Bei 16 Vorfällen handelte es sich um Demonstrationen, von denen 20 friedlich verliefen, sechs mit Interventionen. Fünf Vorfälle werden den iranischen Streitkräften zugeschrieben, einer den türkischen (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 55 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 4,58), darunter sechs Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,5). Darüber hinaus wurden 32 friedliche Demonstrationen verzeichnet. Elf Vorfälle werden den türkischen Streitkräften zugeschrieben, während sich die übrigen Zwischenfälle auf diverse staatliche und nichtstaatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen verteilen (ACLED 5.1.2024). Während dem Jänner und Februar 2024 wurden 25 Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 12,5). Bei zwei dieser Vorfälle handelte es sich um Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 1), die jeweils zivile Todesopfer forderten. Bei einem dieser Fälle handelte es sich um den Mord an einem im Exil lebenden Mitglied der Demokratischen Volkspartei in der Türkei (HDP), mutmaßlich durch den türkischen Geheimdienst (MIT). Der Mord fand in einem Restaurant in Sulaymaniyah Stadt statt. Bei 18 Vorfällen handelte es sich um Demonstrationen, von denen 17 friedlich abliefen, eine mit Intervention. Es wurden auch zwei bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der PKK registriert. Weitere Vorfälle werden nicht identifizierten bewaffneten Gruppen zugeschrieben (ACLED 3.2024).
Gouvernement Halabja
In Halabja wurden zwischen Juli bis Dezember 2022 zehn Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 1,67), wobei es sich um friedliche Demonstrationen handelte (ACLED 22.9.2023). Im Jahr 2023 waren es 25 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 2,08), darunter ein Fall von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,08) und 20 friedliche Demonstrationen. Die übrigen Zwischenfälle werden nicht identifizierten bewaffneten Gruppen zugeschrieben (ACLED 5.1.2024). In den beiden Monaten Jänner und Februar 2024 wurden in Halabja acht Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 4), wobei es sich allesamt um friedliche Demonstrationen handelte (ACLED 3.2024).
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2023-10-09 08:04
Die Verfassung vom 15.10.2005 garantiert demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung (AA 28.10.2022, S.19).
Der Irak hat wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert (AA 28.10.2022, S.19), darunter das internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, den internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, das Übereinkommen über die Rechte des Kindes, sowie die Fakultativprotokolle betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie, das internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor gewaltsamem Verschwindenlassen und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (OHCHR 2022).
Es kommt jedoch weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei und andere Sicherheitskräfte. Das Menschenrechtsministerium wurde 2015 abgeschafft, und das Mandat für die unabhängige Menschenrechtskommission ist am 4.8.2021 ausgelaufen, wobei unklar ist, ob es erneuert wird (AA 28.10.2022, S.19).
Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen, willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre, Sippenhaft, konfliktbedingte Übergriffe, einschließlich Angriffen, die zum Tod oder zur Verletzung von Zivilisten führen, Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit, Gewalt gegen Journalisten, Eingriffe in die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, erzwungene Rückkehr von Binnenvertriebenen (IDPs), Korruption, Gewalt gegen LGBTIQ+-Personen (USDOS 20.3.2023). Auch Menschenhandel ist ein Problem, manchmal unter dem Schutz korrupter Beamter. Besonders IDPs, Flüchtlinge, Wanderarbeiter und LGBTIQ+ Personen sind davon besonders gefährdet (FH 2023). Es fehlt an Rechenschaftspflicht für Gewalt gegen Frauen und Gewaltverbrechen, die sich gegen Angehörige ethnischer Minderheiten richten (USDOS 20.3.2023).
Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 20.3.2023). Bewaffnete Akteure bedrohen weiterhin Aktivisten sowie Angehörige von toten oder verschwundenen Demonstranten und Aktivisten mit dem Tod, oder damit, sie verschwinden zu lassen (AI 27.3.2023).
Die Verfassung und das Gesetz verbieten Enteignungen, außer diese erfolgen im öffentlichen Interesse (was jedoch nie eindeutig definiert wurde) und gegen eine gerechte Entschädigung (BS 23.2.2022, S.24; vgl. USDOS 20.3.2023). Seit den Offensiven des IS im Sommer 2014 sind föderalstaatliche und kurdische Sicherheitskräfte sowie paramilitärische bewaffnete Gruppen (IS und schiitische Milizen) für Angriffe auf Zivilisten verantwortlich, einschließlich der Beschlagnahme und Zerstörung von Privateigentum (BS 23.2.2022, S.24). In den vergangenen Jahren wurden Häuser und Eigentum von mutmaßlichen IS-Angehörigen sowie Mitgliedern religiöser und konfessioneller Minderheiten durch Regierungstruppen und PMF-Milizen konfisziert und besetzt, ohne Kompensationen für die Besitzer (USDOS 20.3.2023).
Es herrscht weiterhin Straflosigkeit für verübte rechtswidrige Tötungen, für Folter und andere Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte (AI 28.3.2023). Im Zuge der im Oktober 2019 begonnenen Proteste kam es zu Hunderten rechtswidrigen Tötungen (AI 28.3.2023). Die unabhängige Menschenrechtskommission versucht, sich unabhängig ein Bild von der Lage zu machen und die Zahlen von Toten und Verletzten zu sammeln, zu verifizieren und zu veröffentlichen (AA 22.1.2021, S.20), da sich die Regierung einer Veröffentlichung der Erkenntnisse von Untersuchungsausschüssen verweigert (AA 22.1.2021, S.20; vgl. AI 28.3.2023). Viele hochrangige Regierungsbeamte und Angehörige der Sicherheitskräfte, einschließlich der irakischen Sicherheitskräfte, der Bundespolizei, der Volksmobilisierungskräfte (PMF) und auch Einheiten der kurdischen Asayish (interne Sicherheitsdienste der Kurdischen Regionalregierung), agieren ungestraft. Die Regierung, einschließlich des Büros des Premierministers, untersucht Vorwürfe über Missbräuche und Gräueltaten, die durch die Irakischen Sicherheitskräfte (ISF) begangen wurden, bestraft die Verantwortlichen jedoch selten (USDOS 20.3.2023). So sind Hunderte rechtswidrige Tötungen, die sich während der Proteste von 2019 ereigneten, nach wie vor ungestraft (AI 28.3.2023).
Der IS begeht weiterhin schwere Gräueltaten, darunter Tötungen durch Selbstmordattentate und improvisierte Sprengsätze (IEDs). Die Behörden untersuchen IS-Handlungen und verfolgen IS-Mitglieder nach dem Anti-Terrorgesetz (USDOS 20.3.2023).
Allgemeine Menschenrechtslage in der Kurdistan Region Irak (KRI)
Letzte Änderung 2023-10-09 08:04
Es gibt eine unabhängige kurdische Menschenrechtskommission, die sich aber auf die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen beschränkt. Sie kann selten eine volle Aufklärung oder gar Ahndung von Menschenrechtsverletzungen gewährleisten (AA 28.10.2022, S.19).
Sicherheitskräfte der Kurdischen Regionalregierung (KRG) wie Peshmerga und Asayish verstoßen bisweilen gegen die Gesetze (USDOS 20.3.2023).
Es gibt Vorwürfe von willkürlichen Verhaftungen sowie von Missbrauch und Folter von Gefangenen und Häftlingen durch kurdische Sicherheitskräfte. Es liegen keine zuverlässigen Statistiken über die Anzahl solcher Vorfälle vor (USDOS 20.3.2023). Den kurdischen Sicherheitskräften werden auch Gewalt, Drohungen und willkürliche Inhaftierung von Journalisten und Medienvertretern vorgeworfen (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 2023). Peshmerga und Asayish sollen außerdem Vorschriften selektiv umsetzen, unter anderem auch aus ethno-konfessionellen Gründen. Andere Vorwürfe umfassen auch Erpressung und die Verweigerung einer Rückkehr von Zivilisten in ihre Heimat, insbesondere sunnitischer Araber sowie Angehöriger ethno-konfessioneller Minderheiten (USDOS 20.3.2023). Sicherheitskräfte sind auch an der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung und des Rechts auf friedliche Versammlung beteiligt (AI 28.3.2023).
Es besteht quasi Straffreiheit für Regierungsbeamte und Sicherheitskräfte, einschließlich bestimmter Einheiten der kurdischen Sicherheitsdienste, wie der Asayish (USDOS 20.3.2023).
Ethnische und konfessionelle Minderheiten
Letzte Änderung 2023-10-09 10:59
Die wichtigsten ethno-konfessionellen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60-65 % der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17-22 %) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15-20 %) (AA 28.10.2022, S.6; vgl. ÖB Bagdad 20.11.2022, S.6). Andere ethno-konfessionelle Gruppen sind zwar in der Verfassung anerkannt, haben aber nur marginalen Einfluss (ÖB Bagdad 20.11.2022, S.6).
Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung konfessioneller oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Konfessionelle Minderheiten können im Alltag jedoch gesellschaftliche Diskriminierung erfahren. Übergriffe werden selten strafrechtlich geahndet (AA 28.10.2022, S10). Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Kurdistan Region Irak (KRI), oft benachteiligt. Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden konfessionelle Minderheiten im föderalen Irak faktisch unter weitreichender Diskriminierung. Der irakische Staat, unter der Verwaltung von Bagdad, kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 28.10.2022, S.5). Mitglieder bestimmter ethnischer oder konfessioneller Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 2023). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch Volksmobilisierungskräfte (PMF) in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der Ninewa-Ebene (USDOS 20.3.2023).
Die Hauptsiedlungsgebiete der meisten konfessionellen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des Islamischen Staates (IS) standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäer/Sabäern, Kaka‘i, Shabak und Christen. Aus dieser Zeit liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit unterschiedlicher Milizen zum Teil erheblich erschwert (AA 28.10.2022, S.10).
In der KRI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (AA 28.10.2022, S.10). Es gibt jedoch Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten (Turkmenen, Arabern, Jesiden, Shabak und Christen) durch KRI-Behörden in den sogenannten "umstrittenen Gebieten" (USDOS 2.6.2022). Darüber hinaus empfinden dort Angehörige von Minderheiten seit Oktober 2017 erneute Unsicherheit aufgrund der Präsenz der irakischen Streitkräfte, der Peschmerga und vor allem der schiitischen Milizen und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) sowie infolge von Angriffen durch die türkischen Streitkräfte (AA 28.10.2022, S.5).
Im Zusammenhang mit der Rückeroberung von Gebieten aus IS-Hand wurden besonders in den zwischen der föderalen Regierung und der KRI "umstrittenen Gebieten" (Gouvernement Kirkuk, sowie Teile von Ninewa, Salah Ad-Din und Diyala) Tendenzen zur gewaltsamen ethnisch-konfessionellen Homogenisierung festgestellt. Die Mission der Vereinten Nationen für den Irak (UNAMI) und Amnesty International haben dokumentiert, wie angestammte Bevölkerungsgruppen vertrieben bzw. Binnenvertriebene an der Rückkehr gehindert wurden. Dabei handelte es sich oft um die sunnitische Bevölkerung, die häufig unter dem Generalverdacht einer Zusammenarbeit mit dem IS steht, aber auch um Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen. Beschuldigt werden sowohl kurdische Peshmerga als auch PMF-Milizen und in geringerem Ausmaß auch Armee und Polizei (AA 28.10.2022, S.16).
BMI/BMLVS 2017: Atlas - Middle East & North Africa: Religious Groups
BMI/BMLVS 2017: Atlas - Middle East & North Africa: Ethnic Groups
Anmerkung zu beiden Karten:
Die religiös-konfessionelle sowie ethnisch-linguistische Zusammensetzung der irakischen Bevölkerung ist höchst heterogen. Die hier dargebotenen Karten zeigen nur die ungefähre Verteilung der Hauptsiedlungsgebiete religiös-konfessioneller bzw. ethnisch-linguistischer Gruppen und Minderheiten. Insbesondere in Städten kann die Verteilung deutlich von der ländlichen Umgebung abweichen (BMI/BMLVS 2017, S.18, 20). Dazu muss hervorgehoben werden, dass ein und dieselbe Gruppe in einer Gegend die Minderheit, in einer anderen jedoch die Mehrheitsbevölkerung stellen kann und umgekehrt (EASO/Lattimer 26.4.2017).
Die territoriale Niederlage des sog. IS im Jahr 2017 beendete dessen Kampagne zur Umwälzung der religiösen Demografie des Landes. Dennoch können rund eine Million Iraker, die vom IS vertrieben wurden, nicht in ihre Häuser zurückkehren, sowohl aus Sicherheits- als auch aus wirtschaftlichen Gründen (FH 2023). Angehörige der PMF verlangen von Binnenvertriebenen (IDPs), insbesondere von Angehörigen von konfessionellen Minderheiten in Ninewa, überhöhte Geldbeträge für das Passieren von Checkpoints. Alternativ riskieren die Betroffenen, in die Lager zurückgeschickt zu werden (USCIRF 4.2021, S.2).
Sunnitische Araber
Letzte Änderung 2023-10-09 11:00
Die arabisch sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt (AA 28.10.2022, S.16). Das Vertrauen der sunnitischen Bevölkerung in die schiitisch dominierte föderale Regierung ist minimal, insbesondere in die formal den irakischen Sicherheitskräften eingegliederten, überwiegend schiitischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF). Andererseits besteht auch Misstrauen der schiitischen und kurdischen Bevölkerung gegenüber insbesondere jenen Sunniten, die unter Kontrolle des Islamischen Staats (IS) lebten. Diese werden teilweise als mögliche IS-Kollaborateure und als Sicherheitsrisiko betrachtet (ÖB Bagdad 20.11.2022, S.7). Über 600 sunnitische Männer und Buben, die 2016 im Zuge der Rückeroberung der westlichen Gouvernements von PMF-Angehörigen entführt wurden, sind nach wie vor verschollen (FH 2023).
Seit 2014 werden junge, vorwiegend sunnitische Männer im Zuge von Anti-Terror-Operationen, aber auch an Kontrollpunkten festgenommen (AA 28.10.2022, S.7).
Oft werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt. Auch unbeteiligte Familienangehörige tatsächlicher oder vermeintlicher IS-Anhänger sind davon betroffen (AA 28.10.2022, S.16). Die Behörden nutzen das Antiterrorgesetz als Vorwand für die Inhaftierung von Personen ohne ordnungsgemäßes Verfahren. Dabei handelt es sich häufig um sunnitische Araber, darunter auch solche, die verdächtigt würden, Verbindungen zum IS zu haben (USDOS 15.5.2023). Den Sicherheitskräften werden im Zuge dessen auch zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen zur Last gelegt (AA 28.10.2022, S.7). Das Antiterrorgesetzt wird, sunnitischen Führungspersönlichkeiten zufolge auch benutzt, um sunnitische Proteste niederzuschlagen (USDOS 15.5.2023).
Es gibt Hunderte Beschwerden über falsche Anschuldigungen, Folter und gewaltsames Verschwindenlassen im Zuge von Terrorismusvorwürfen, auch von Angehörigen verhafteter Personen. Sunnitischen Führern zufolge sind Sunniten, die wegen Terrorismusvorwürfen verhaftet wurden, besonders häufig von derartigen Übergriffen betroffen (USDOS 15.5.2023). Berichten zufolge halten die Behörden Ehepartner und andere Familienangehörige von flüchtigen Personen, zumeist sunnitische Araber, die wegen Terrorismusvorwürfen gesucht werden, fest, damit diese sich stellen (USDOS 20.3.2023). Sunnitische Araber sollen etwa 90 % aller im Irak Inhaftierten Personen ausmachen, darunter 9.000 zum Tode Verurteilte (USDOS 15.5.2023).
Wie in den Vorjahren gibt es auch weiterhin glaubwürdige Berichte darüber, dass Regierungskräfte, einschließlich der Bundespolizei, des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) und der PMF, Personen, insbesondere sunnitische Araber, während der Festnahme, in der Untersuchungshaft und nach der Verurteilung misshandeln und foltern (USDOS 20.3.2023). Darüber hinaus werden schiitische Milizen, darunter auch solche, die unter dem Dach der PMF operieren, für Angriffe auf sunnitische Zivilisten verantwortlich gemacht, mutmaßlich als Vergeltung für IS-Verbrechen an Schiiten (USDOS 15.5.2023).
Über eine Million sunnitische Araber sind vertrieben. Viele von ihnen werden verdächtigt, den IS zu unterstützen und fürchten Vergeltungsmaßnahmen, wenn sie in ihre Häuser in den früher vom IS kontrollierten Gebieten zurückkehren (USCIRF 4.2021). Die PMF setzen ihre Unterdrückungspraktiken in sunnitischen Gebieten fort (BS 23.2.2022). Im November 2022 berichteten sunnitische Parlamentsabgeordnete, dass PMF-Kräfte und mit ihnen und Iran verbündete Milizen vertriebene Sunniten in den Gouvernements Salah ad-Din, Diyala und Ninewa weiterhin an der Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete hindern (USDOS 15.5.2023). Da sich schiitische Milizen vielfach in Dörfern militärisch sowie wirtschaftlich festgesetzt haben, fürchten viele sunnitische Flüchtlinge eine Rückkehr (ÖB Bagdad 20.11.2022, S.8).
Einige Regierungsbeamte ermöglichen weiterhin den willkürlichen demografischen Wandel, indem sie schiitischen und sunnitischen Muslimen Land und Wohnraum zur Verfügung stellten, damit sie in traditionell christliche Gebiete in der Ninewa-Ebene, wie den Unterbezirk Bartella, und in sunnitische Gebiete in den Provinzen Diyala und Babil, einschließlich des Bezirks Jurf as-Sakhar in der Provinz Babil, ziehen können (USDOS 15.5.2023).
Die kurdischen Behörden haben Tausende von Arabern daran gehindert, in ihre Dörfer im Unterbezirk Rabia und im Bezirk Hamdaniyah im Gouvernement Ninewa zurückzukehren, Gebiete, aus denen kurdische Einheiten 2014 den IS vertrieben und dort die territoriale Kontrolle übernommen hatten. Gleichzeitig jedoch erlaubte die KRG kurdischen Dorfbewohnern, in diese Gebiete zurückzukehren (HRW 13.1.2021). Pro-iranische Milizen haben in Bagdad mit Drohungen und gewaltsamer Einschüchterung unter anderem Sunniten genötigt, Eigentum aufzugeben (FH 2023). In Mossul, Ninewa, werden sunnitische Zivilisten von Milizionären der "PMF Babylon" und "Shabak Hashd" wahllos schikaniert, eingeschüchtert und verhaftet. Einige PMF-Fraktionen werden auch für die Massaker von Farhatiyah und Khailaniyah im Jahr 2020 in Salah ad-Din bzw. Diyala verantwortlich gemacht (BS 23.2.2022). Teile der sunnitischen Bevölkerung lehnen die PMF ab und fürchten deren Vorgehen. Manche sehen daher den IS als geringeres Übel an und dulden die Gruppe in ihren Gebieten (ÖB Bagdad 20.11.2022, S7).
Kurden
Letzte Änderung 2023-10-09 11:01
Schätzungen zufolge sind 15-20 % der irakischen Bevölkerung Kurden, die mehrheitlich im Norden des Irak leben (AA 28.10.2022, S.6).
Auch Kurden sind von ethnisch-konfessionellen Auseinandersetzungen betroffen, wenn sie außerhalb der Kurdistan Region Irak (KRI) leben. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum von 2017 hat die föderale Armee die zwischen der KRI und der föderalen Regierung sogenannten "umstrittenen Gebiete" größtenteils wieder unter die Kontrolle Bagdads gebracht. Das Verhältnis zwischen Kurden und Arabern in den Gebieten ist generell angespannt (AA 28.10.2022, S.16).
Es gibt Berichte über willkürliche Festnahmen von Kurden, insbesondere in Ninewa, durch mit dem Iran verbündete PMF-Milizen (Volksmobilisierungskräfte) (USDOS 20.3.2023). Kurden beklagen Landraub und Vertreibung (Rudaw 9.12.2020; vgl. AA 28.10.2022, S.16). So gibt es immer wieder Meldungen über Landstreitigkeiten zwischen Kurden und Arabern, insbesondere im Gouvernement Kirkuk (Rudaw 9.12.2020). Im Dezember 2020 wurden beispielsweise die kurdischen Einwohner des Dorfes Palkana im Gouvernement Kirkuk gezwungen, ihre Häuser zu verlassen (USDOS 30.3.2021; vgl. K24 15.12.2020, Rudaw 9.12.2020). Ein Kontingent bestehend aus Angehörigen der Irakischen Armee, der PMF und der Bundespolizei hat das Dorf gestürmt und unter Androhung von Haft und Gewalt von den kurdischen Einwohnern die Räumung ihrer Häuser verlangt (K24 15.12.2020; vgl. Rudaw 9.12.2020). Personen, die sich weigerten, wurden festgenommen (Rudaw 9.12.2020). Zu Hilfe gerufene lokale Polizei hat nicht eingegriffen (USDOS 30.3.2021).
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Letzte Änderung 2023-10-09 16:24
In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben. Artikel 14 und 20 garantieren die Gleichheit vor dem Gesetz ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und verbieten Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (AA 28.10.2022, S.12; vgl. USDOS 20.3.2023, DFAT 16.1.2023, S.29). Frauen werden jedoch unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt (AA 28.10.2022; vgl. FH 2023).
1986 hat der Irak das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) ratifiziert. Irakische Gesetze erfüllen jedoch nicht die Anforderungen des Übereinkommens, insbesondere das Personenstandsgesetz und das Strafgesetz (BS 23.2.2022, S.26). Artikel 41 bestimmt, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Paragrafen als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit als eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung (AA 28.10.2022, S.12).
In der Verfassung ist eine Frauenquote von 25 % im Parlament verankert. In der Kurdistan Region Irak (KRI) sind es 30 % (AA 28.10.2022, S.11; vgl. FH 2023, USDOS 20.3.2023). Frauen werden aber nur selten in einflussreiche Positionen berufen und beteiligen sich selten an der Führung ihrer Parteien (DFAT 16.1.2023, S.29). Diese formale Repräsentation hat daher geringe Auswirkungen auf die staatliche Politik gegenüber Frauen, die von politischen Debatten und Führungspositionen üblicherweise ausgeschlossen sind (FH 2023).
Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben einschränkt. Sie werden selten in Entscheidungspositionen und andere einflussreiche Positionen ernannt (AA 28.10.2022, S.12; vgl. FH 2023). Patriarchalische Strukturen sind weit verbreitet (AA 28.10.2022, S.12). Die traditionelle Rollenverteilung in der Familie lässt weniger Möglichkeiten für Frauen, sich im Studium oder beruflich weiter zu entwickeln (AA 28.10.2022, S.5).
Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsbürgerschaftsrecht (AA 28.10.2022, S.12; vgl. FH 2023). So können Frauen in Bezug auf das Erbrecht unter Druck geraten, ihre Rechte an männliche Verwandte abzutreten (FH 2023). Die Stellung der Frau hat sich jedenfalls im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Auch die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen, insbesondere unter Binnenflüchtlingen (IDPs) (AA 28.10.2022, S.12). Die Bewegungsfreiheit von Frauen wird durch gesetzliche Bestimmungen eingeschränkt (FH 2023). So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen (FH 2023; vgl. USDOS 20.3.2023, DFAT 16.1.2023, S.29), oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist (FH 2023).
Frauen werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Die Regierung al-Kadhimis hat zwar eine Untersuchungskommission eingesetzt, die solche Fälle untersuchen und die Täter vor Gericht bringen soll, bisher jedoch ohne konkrete Ergebnisse (BS 23.2.2022, S.14). Frauen wird überproportional die Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt (AA 28.10.2022, S.12). Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen liegt bei etwa 11 % (Stand 2022), ein Abfall gegenüber 15 % im Jahr 2016 (WB 2023). Die geschätzte Arbeitslosigkeit bei Frauen, die an der Arbeitswelt teilhaben, liegt laut Weltbank bei etwa 28,5 % (Stand 2022) (WB 25.4.2023). Die Jugendarbeitslosigkeit bei Frauen und Mädchen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren wird auf etwa 65,2 % geschätzt (Stand 2017) (CIA 17.1.2023). Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind (FLJF 12.11.2019).
Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung verwehrt (AA 28.10.2022, S.12). Etwa 80 % der Frauen im Alter von über 15 Jahren können lesen und schreiben (Stand 2017) (UNESCO 2021; vgl. WB 24.10.2022a). In der Altersgruppe der 15 bis 24-jährigen Mädchen und Frauen liegt die Rate bei 92,1 % (Stand 2017) (UNESCO 2021; vgl. WB 24.10.2022b).
Häusliche Gewalt, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt
Letzte Änderung 2023-10-09 16:24
Häusliche Gewalt ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem (BS 23.2.2022, S.14; vgl. DFAT 16.1.2023, S.30). Im Jahr 2020, im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie, kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Fälle von häuslicher Gewalt (FH 24.2.2022; vgl. AA 28.10.2022, S.12, DFAT 16.1.2023, S.30, AI 3.2.2023). Meldungen über Vergewaltigung, häusliche Gewalt, Misshandlung in der Ehe, Verbrennung und Selbstverbrennung, Selbstverletzung aufgrund von Misshandlung in der Ehe, sexuelle Belästigung von Minderjährigen und Selbstmord aufgrund der zunehmenden Spannungen in den Haushalten sind während der COVID-19-Pandemie angestiegen. Laut der föderalen Polizei hat häusliche Gewalt um fast 20 % zugenommen (USDOS 12.4.2022).
Auch Tötungen von Frauen und Mädchen durch ihre Familien und Ehemänner wurden verzeichnet (HRW 13.1.2022). Das irakische Strafgesetz enthält zwar Bestimmungen zur Kriminalisierung von Körperverletzung, aber nach Artikel 41, Absatz 1 des Strafgesetzbuches hat der Ehemann das Recht, seine Frau, sowie seine Kinder, innerhalb der durch Gesetz oder Gewohnheit vorgeschriebenen Grenzen zu disziplinieren (HRW 12.1.2023; vgl. USDOS 20.3.2023, DFAT 16.1.2023, S.30). Diese Grenzen sind vage definiert, sodass verschiedene Arten von Gewalt als rechtmäßig interpretiert werden können (FIS 22.5.2018, S.15). Nach Artikel 128, Absatz 1 des Strafgesetzbuches können Straftaten, die aufgrund der Ehre oder vom Opfer provoziert begangen wurden, ungestraft bleiben, bzw. kann in solchen Fällen die Strafe gemildert werden (FIS 22.5.2018, S.15; vgl. USDOS 20.3.2023). Täter, die Gemeinschaft, aber auch Opfer selbst sehen häusliche Gewalt oft als normal an und rechtfertigen sie aus kulturellen und religiösen Gründen. Frauen tendieren dazu, häusliche Gewalt aus Scham oder Angst vor Konsequenzen nicht zu melden, manchmal auch, um den Täter zu schützen. Viele Frauen haben kein Vertrauen in die Polizei und halten den von ihr gebotenen Schutz für nicht angemessen (FIS 22.5.2018, S.21-22).
Der Irak hat es versäumt, häusliche Gewalt unter Strafe zu stellen (AI 3.2.2023). Der Irak hat zwar eine nationale Strategie gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen angenommen, die Verabschiedung eines Gesetzesentwurfs zum Schutz vor häuslicher Gewalt steht jedoch noch aus (UNFPA 2020, S.33-34,46; vgl. DFAT 16.1.2023, S.30). Bemühungen des irakischen Parlaments, einen Gesetzesentwurf gegen häusliche Gewalt zu verabschieden, sind seit 2019 ins Stocken geraten (HRW 12.1.2023; vgl. AI 3.2.2023, FH 2023). Frauenrechtsgruppen setzen sich nach wie vor für die Verabschiedung eines Gesetzes gegen häusliche Gewalt ein (FH 2023). Eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Fällen von Frauen und Mädchen, die von Familienmitgliedern getötet wurden, haben erneut dazu geführt, dass der Ruf nach Gesetzen gegen häusliche Gewalt im Irak lauter geworden ist (AlMon 19.2.2023).
In der Kurdistan Region Irak (KRI) stehen häusliche Gewalt, einschließlich physischer und psychischer Misshandlung, Gewaltandrohung und Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe. Die Kurdische Regionalregierung (KRG) unterhält eine spezielle Polizeieinheit zur Untersuchung von Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt, eine Hotline für häusliche Gewalt und einen Familienversöhnungsausschuss innerhalb des Justizsystems (DFAT 16.1.2023, S.30).
Während sexuelle Übergriffe, wie z.B. Vergewaltigung, sowohl gegen Frauen als auch gegen Männer strafbar sind, sieht Artikel 398 des irakischen Strafgesetzbuches vor, dass Anklagen aufgrund von Vergewaltigung fallen gelassen werden können, wenn der Angreifer das Opfer heiratet (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 2023, UNSC 30.3.2021, S.13, STC 25.6.2021, DFAT 16.1.2023, S.30). Dies gilt sowohl im Irak als auch in der KRI (STC 25.6.2021). Eine Bestimmung verhindert hierbei eine Scheidung innerhalb der ersten drei Ehejahre (USDOS 20.3.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.30). Dies trifft auch zu, wenn das Opfer minderjährig ist (FIS 22.5.2018, S.15-16). Vergewaltigung innerhalb der Ehe stellt im föderalen Irak keine Straftat dar. In der KRI ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 2023, DFAT 16.1.2023, S.30). Es gab keine zuverlässigen Schätzungen über die Häufigkeit von Vergewaltigungen oder Informationen über die Effektivität der staatlichen Durchsetzung des Gesetzes (USDOS 20.3.2023). Berichten zufolge sind besonders binnenvertriebene Frauen und Mädchen, insbesondere solche, die mit dem Islamischen Staat (IS) in Verbindung gebracht werden, sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt (EMHRM 6.2021, S.40).
Im Fall von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt mangelt es an strafrechtlicher Verantwortung für Täter und Schutzmechanismen für Opfer (EMHRM 6.2021, S.40). Solche Fälle bleiben weitgehend ungemeldet. Gründe dafür sind fehlender Zugang zu gerichtlichen oder administrativen Mechanismen, Angst vor Stigmatisierung und Repressalien (EMHRM 6.2021, S.40; vgl. UNSC 30.3.2021, S.13, DFAT 16.1.2023, S.30), darunter die Furcht davor, von Familienmitgliedern getötet zu werden, aber auch die Angst, selbst strafrechtlich verfolgt zu werden nach Artikel 394 des Strafgesetzbuchs, der sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe verbietet (DFAT 16.1.2023, S.30).
Auch Angehörige der irakischen Sicherheitskräfte haben Frauen in den von ihnen kontrollierten Lagern, wie z.B. in Ninewa, belästigt und sexuell missbraucht. 2020 wurden 30 Fälle von konfliktbezogener sexueller Gewalt durch bewaffnete Akteure, hauptsächlich gegen Frauen, verzeichnet, einer gegen einen inhaftierten Mann (UNSC 30.3.2021, S.13). In der KRI ist die Zahl der Frauenmorde gestiegen. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2022 wurden in der KRI elf Frauen getötet, die meisten von ihnen durch Schüsse. 2021 waren es 45 Frauen, 2020 waren es 25 Frauen (FR24 20.3.2022).
Frauen, die infolge einer Vergewaltigung Kinder geboren haben, haben Probleme für ihre Kinder Identitätspapiere zu erhalten und damit einhergehend Zugang zu Dienstleistungen (UNSC 30.3.2021, S.13).
Obwohl der IS ein System organisierter Vergewaltigungen, sexueller Sklaverei und Zwangsheirat von jesidischen Frauen und Mädchen und anderen Minderheiten etablierte, wurde kein IS-Mitglied wegen dieser spezifischen Verbrechen strafrechtlich verfolgt oder verurteilt (HRW 13.1.2022). Im Zuge des IS-Vormarsches auf Sinjar sollen über 5.000 jesidische Frauen und Mädchen verschleppt worden sein, von denen Hunderte später als Trophäen an IS-Kämpfer übergeben oder nach Syrien verkauft wurden. Diese Frauen wurden anschließend oftmals von ihren Familien aus Gründen der Tradition verstoßen oder sie wurden gezwungen, die aus den Zwangsehen entstandenen Kinder zu verstoßen (AA 28.10.2022, S.13).
Schutzmaßnahmen, Schutzeinrichtungen, Frauenhäuser
Letzte Änderung 2023-10-09 16:24
Es gibt weder ein wirksames System zur Meldung von häuslicher Gewalt noch angemessene Schutzräume für Frauen und Mädchen (AI 3.2.2023). Das Innenministerium unterhält 16 Familienschutzeinheiten im ganzen Land, die dafür bestimmt sind, häusliche Streitigkeiten zu lösen und sichere Zufluchtsorte für Opfer sexueller oder geschlechtsspezifischer Gewalt zu schaffen. Diese Einheiten tendieren jedoch dazu, der Familienversöhnung Vorrang vor dem Opferschutz einzuräumen und verfügen nicht über die Fähigkeit, Opfer zu unterstützen (USDOS 20.3.2023). In einem Interview vom Dezember 2022 in Bagdad sagte Brigadegeneral Ghalib Atiyah, der seit drei Jahren an der Spitze der Gemeindepolizei steht, dass im Jahr 2022 bei den 153 Fällen von Frauen und Mädchen, die von zu Hause ausgerissen sind und bei denen die Gemeindepolizei beteiligt war, keine getötet worden sei (AlMon 19.2.2023). NGOs zufolge meiden es Opfer häuslicher Gewalt, sich an die Familienschutzeinheiten zu wenden, weil sie vermuten, dass die Polizei ihre Familien über ihre Aussage informieren würde. Einige Stammesführer im Süden des Irak haben Berichten zufolge ihren Stammesmitgliedern verboten, sich an Familienschutzeinheiten der Polizei zu wenden (USDOS 20.3.2023).
Die meisten Familienschutzeinheiten unterhalten keine Schutzräumlichkeiten für Opfer häuslicher Gewalt (USDOS 20.3.2023). NGOs ist es nicht explizit verboten, Schutzhäuser zu betreiben. Per Gesetz muss der Betrieb von Schutzhäusern durch das Arbeits- und Sozialministerium genehmigt werden. NGOs wurde ein solcher Betrieb jedoch nicht erlaubt (USDOS 11.3.2020). Manche NGOs betreiben daher inoffizielle Schutzhäuser unter der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung (USDOS 11.3.2020; vgl. AJ 12.2.2021). So betreibt die Organisation für die Freiheit der Frauen im Irak mehrere Frauenhäuser in Bagdad. Im Jahr 2020 hat die Regierung ein gerichtliches Auflösungsverfahren gegen die Organisation eingeleitet. Ihr wird die Spaltung von Familien, die Ausbeutung von Frauen und Fluchthilfe vorgeworfen (AJ 12.2.2021). Es gibt Frauenschutzzentren in Diwaniyah, Kirkuk und Anbar. Ein Zentrum in Bagdad bietet obdachlosen Frauen eine Unterkunft, nicht aber Opfern von Gewalt gegen Frauen (DFAT 16.1.2023, S.30). UNFPA unterstützt fünf Frauenhäuser im gesamten Irak, davon eines in Bagdad, mit einem Aufnahmevermögen von 80 Personen in zehn Schlafräumen sowie einem Beratungsraum und einem Raum für psychosoziale Unterstützung (UNFPA 20.2.2019). Die Kapazitäten in den Schutzhäusern sind begrenzt und die Dienstleistungen werden nur unzureichend erbracht (DFAT 16.1.2023, S.30). Aufgrund von Druck durch die Gemeinschaften, die Frauenhäuser häufig als Bordelle ansehen, werden diese regelmäßig durch das Ministerium geschlossen (USDOS 11.3.2020; vgl. DFAT 16.1.2023, S.30), um später an anderer Örtlichkeit wieder eröffnet zu werden. Manchmal werden Schutzhäuser Ziel von Gewalt (USDOS 11.3.2020; vgl. DFAT 16.1.2023, S.30). Mitarbeiter von Schutzeinrichtungen, die hilfesuchende Frauen bei der Suche nach einem Zufluchtsort vor Gewalttätern unterstützen, werden wegen Entführung dieser Frauen angezeigt (DFAT 16.1.2023, S.30).
Die Regierung hat am 1.3.2021 das Gesetz über weibliche Überlebende von Verbrechen des Islamischen Staats (IS) (Jesidinnen, Turkmeninnen, Christinnen und Shabak) erlassen (UNSC 3.8.2021, S.11; vgl. DW 26.3.2021, HRW 12.1.2023, OHCHR 21.4.2021). Das Gesetz sieht eine Entschädigung für die Überlebenden von IS-Verbrechen und Maßnahmen zu ihrer Rehabilitierung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft vor (HRW 12.1.2023; vgl. OHCHR 21.4.2021), sowie zur Verhinderung solcher Verbrechen in der Zukunft (HRW 13.1.2022; vgl. OHCHR 21.4.2021). Das neue Gesetz sieht vor, dass der Irak den Opfern ein monatliches Stipendium, Wohngrundstücke oder kostenlosen Wohnraum (DW 26.3.2021; vgl. OHCHR 21.4.2021) sowie psychologische Unterstützung gewährt (DW 26.3.2021). Überlebende von IS-Angriffen werden außerdem bei der Einstellung von 2 % aller Stellen im öffentlichen Sektor bevorzugt (DW 26.3.2021; vgl. OHCHR 21.4.2021). Im Mai 2021 hat der Ministerrat eine Generaldirektion für die Angelegenheiten der jesidischen Überlebenden eingerichtet, die dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales untersteht, und ernannte eine jesidische Juristin zur Generaldirektorin (UNSC 3.8.2021, S.11). Eine wirksame Umsetzung dieses Gesetzes steht jedoch noch aus. Im August 2022 berichtete die Internationale Organisation für Migration (IOM) der Vereinten Nationen, dass mehr als 200.000 überlebende Jesiden weiterhin aus ihren Häusern vertrieben bleiben (HRW 12.1.2023).
Kurdistan Region Irak (KRI)
Im Jahr 2011 wurde vom kurdischen Regionalparlament Gesetz Nr. 8 zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt erlassen (KPI 21.6.2011, S.1; vgl. AA 28.10.2022, S.12). Häusliche Gewalt, einschließlich physischer und psychischer Misshandlung, Gewaltandrohung und Vergewaltigung in der Ehe stehen unter Strafe, und die Behörden setzen das Gesetz um (USDOS 20.3.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.30). Die Richtlinien werden in der Praxis jedoch nicht durchgängig umgesetzt. Eine vom Frauenrechtskomitee des kurdischen Parlaments initiierte Reform des Gesetzes zur Bekämpfung häuslicher Gewalt, die eine Erweiterung der Schutzrechte von Frauen vorsieht, scheiterte zunächst am Widerstand der islamistischen Parteien (AA 28.10.2022, S.12). Es gibt eine spezielle Polizeieinheit zur Untersuchung von Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt und ein Familienversöhnungskomitee innerhalb des Justizsystems. Lokale NGOs berichten jedoch, dass diese Programme bei der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt nicht effektiv sind (USDOS 20.3.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.30). Die Kurdische Regionalregierung (KRG) hat ihre Anstrengungen zum Schutz von Frauen verstärkt. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie vier staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von NGOs betrieben (AA 28.10.2022, S.12; vgl. USDOS 20.3.2023). Die staatlichen Frauenhäuser werden vom Arbeits- und Sozialministerium betrieben (USDOS 20.3.2023), bzw. vom Direktorat für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Um dort aufgenommen zu werden, benötigen Frauen grundsätzlich einen Gerichtsbeschluss. In dringenden Fällen kann eine Frau jedoch direkt das Frauenhaus betreten, wobei ein Gerichtsbeschluss nachträglich beantragt werden muss. Die Frauen in den Frauenhäusern dürfen die Schutzeinrichtungen nicht ohne Gerichtsbeschluss verlassen. Familienangehörige dürfen die Frauen auch ohne deren Zustimmung sehen (UKHO 3.2021).
Vier von der KRG betriebene Schutzhäuser und ein privat betriebenes Heim bieten Opfern von geschlechtsspezifischer Gewalt und Menschenhandel in der KRI einen gewissen Schutz und Unterstützung (DFAT 16.1.2023, S.30). Die vier behördlichen kurdischen Frauenhäuser befinden sich in Dohuk, Erbil, Sulaymaniyah und Germian und werden von UNFPA unterstützt (UNFPA o.D.). Es gibt jedenfalls nur eine begrenzte Anzahl an Plätzen (USDOS 20.3.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.30) mit Kapazitäten von 20 bis 40 Plätzen (UNFPA o.D.; vgl. UKHO 3.2021, S.36). Psychologische und therapeutische Dienste für betroffene Frauen sind unzureichend. NGOs spielen bei der Bereitstellung von Dienstleistungen, einschließlich Rechtshilfe für Opfer häuslicher Gewalt, eine wichtige Rolle (USDOS 20.3.2023). Die Behörden setzen auf Familienversöhnung (USDOS 20.3.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.30).
Vereinzelt werden Frauen "zum eigenen Schutz" inhaftiert. Einige Frauen werden mangels Notunterkünften obdachlos (USDOS 11.3.2020). Anstatt Rechtsmittel einzulegen, vermittelten die Behörden häufig zwischen betroffenen Frauen und ihren Familien, damit die Frauen in ihre Häuser zurückkehren können. Abgesehen von einer Eheschließung oder der Rückkehr zu ihren Familien, was häufig zu einer weiteren Bestrafung durch die Familie oder die Gemeinschaft führt, gibt es für die in den Frauenhäusern untergebrachten Frauen nur wenige Alternativen (USDOS 20.3.2023).
Zwangsehen, Kinderehen, temporäre Ehen, Blutgeld-Ehe (Fasliya)
Letzte Änderung 2023-10-09 14:57
Das gesetzliche Mindestalter für eine Eheschließung beträgt 18 Jahre. Eine Heirat ist aber auch schon mit Vollendung des 15. Lebensjahrs möglich, mit elterlicher Erlaubnis (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 24.2.2022, DFAT 16.1.2023, S.31) und richterlicher Genehmigung (DFAT 16.1.2023, S.31). Berichten zufolge unternimmt die Regierung jedoch wenig Anstrengungen, um dieses Gesetz durchzusetzen. Traditionelle Zwangsverheiratungen von Mädchen, Kinderehen und sogenannte Ehen auf Zeit (zawaj al-mut‘a) finden im ganzen Land statt (USDOS 20.3.2023). Zwangs-Kinderehen werden als passive Bewältigungsmechanismen für vertriebene, in Armut lebende Familien mit nachteiligen Lebensumständen eingesetzt (EMHRM 6.2021, S.40). Das Gesetz stellt Zwangsverheiratungen unter Strafe, macht aber vollzogene Zwangsverheiratungen nicht automatisch ungültig (USDOS 20.3.2023).
Zwangs- und Kinderehen sind weit verbreitet, insbesondere im Zusammenhang mit Vertreibung und Armut (HRW 12.1.2023). Traditionelle Formen von arrangierten, frühen und erzwungenen Ehen sind besonders unter der überwiegend ungebildeten, ländlichen und der Stammesbevölkerung vertreten (UKHO 3.2021, S.15). Laut UNICEF werden etwa 18,4 % der Frauen als Mädchen vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet (AA 28.10.2022, S. 12). Andere Quellen berichten, dass über ein Viertel der Frauen im Alter von 20 bis 24 Jahren bereits im Alter von 18 Jahren verheiratet war (HRW 12.1.2023).
Auch Ehen auf Zeit oder sogenannte Vergnügungs-Ehen sind ein Problem im Irak (STC 25.6.2021, S.14). Zeitehen werden jedoch nur in der schiitischen Tradition rechtlich anerkannt (MPG o.D.). Dabei werden junge Mädchen und Frauen für kurze Zeit mit älteren Männern verheiratet (STC 25.6.2021, S.14; vgl. DFAT 16.1.2023, S.31). Nach Ablauf der bei der Eheschließung vereinbarten Zeit läuft die Ehe aus, ohne, dass eine Scheidung für die Trennung der Ehepartner notwendig ist. Die Rechtswirkung einer Zeitehe beginnt mit dem Vollzug. Kinder, die aus einer Zeitehe entsprungen sind, gelten als ehelich (MPG o.D.).
Die irakischen Gerichte folgen den sunnitischen Rechtsschulen, welche diese Praxis ablehnen, und erkennen Zeitehen nicht an (MPG o.D.).
Zwangsehen und Ehen auf Zeit werden benutzt, um Frauen und Mädchen innerhalb des Irak zum Zweck der sexuellen Ausbeutung zu verkaufen (OHCHR 11.11.2019; vgl. USDOS 20.3.2023, DFAT 16.1.2023, S.31). Dabei zahlt ein Mann der Familie der Betroffenen eine Mitgift für die Erlaubnis, sie für einen bestimmten Zeitraum zu heiraten. Besonders junge Frauen, die durch den Konflikt mit dem Islamischen Staat (IS) verwitwet oder verwaist sind, werden für diese Art der Ausbeutung als anfällig angesehen (USDOS 30.3.2021; vgl. DFAT 16.1.2023, S.31). Viele Frauen und Mädchen sind durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. NGOs berichten über Zwangsprostitution irakischer Mädchen und Frauen im Land und in der Nahost- und Golfregion (AA 28.10.2022, S.13). Es gibt vermehrt Berichte, dass Mädchen in Flüchtlingslagern zur Heirat gezwungen werden. Dies geschieht entweder, um ihnen ein vermeintlich besseres Leben zu ermöglichen, oder um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Häufig werden die Ehen nach kurzer Zeit wieder annulliert, mit verheerenden Folgen für die betroffenen Mädchen (AA 22.1.2021, S.14).
Fasliya bezeichnet eine traditionelle Stammespraxis zur Schlichtung von Konflikten, bei der Frauen eines Stammes mit Männern eines verfeindeten Stammes als Entschädigung für Mord bzw. für die Verletzung von Mitgliedern des anderen Stammes verheiratet werden (USDOS 20.3.2023; vgl. Musawah 11.2019, S.4, DFAT 16.1.2023, S.31). Dies geschieht ohne die Zustimmung der betreffenden Frauen (Musawah 11.2019, S.4). Ende der 1950er Jahre wurde die Blutgeld-Ehe gesetzlich verboten (AlMon 18.6.2015). Es kommt jedoch nach wie vor zu Blutgeld-Ehen zur Beilegung von Stammeskonflikten (UKHO 3.2021, S.28; vgl. USDOS 20.3.2023). Diese Tradition wird besonders in Gebieten fortgesetzt, in denen der Einfluss der Stämme größer als der staatlicher Institutionen ist (USDOS 20.3.2023), besonders in den südirakischen Gouvernements (DFAT 16.1.2023, S.31). Großayatollah as-Sistani fordert ein Ende dieser Praxis (USDOS 20.3.2023).
Im Jahr 2011 hat das kurdische Regionalparlament mit Gesetz Nr. 8 einen Rechtsakt zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt erlassen, der auch Zwangs-, die Kinder- und Blutgeld-Ehen unter Strafe stellt (KPI 21.6.2011, S.1; vgl. AA 28.10.2022, S.12). Das gesetzliche Mindestalter für eine Eheschließung mit elterlicher Erlaubnis beträgt in der Kurdistan Region Irak (KRI) 16 Jahre, ohne Erlaubnis 18 Jahre (USDOS 20.3.2023). Die gesetzlichen Regelungen werden in der Praxis allerdings nicht durchgängig umgesetzt (AA 28.10.2022, S.12).
Nach Angaben des Hohen Rates für Frauenangelegenheiten der Kurdischen Regionalregierung (KRG) tragen Flüchtlinge und Binnenvertriebene (IDPs) in der KRI zu einer zunehmenden Zahl an Kinderehen und Polygamie bei (USDOS 20.3.2023). Das Gesetz der KRG stellt Zwangsheirat unter Strafe und setzt vollzogene Zwangsehen aus, macht sie aber nicht automatisch ungültig (USDOS 20.3.2023). Der kurdische Hohe Rat für Frauenangelegenheiten hat mit Unterstützung von UNFPA einen Plan zur Verringerung der Kinderheirat entwickelt, der sich auf Aufklärung konzentriert (STC 25.6.2021, S.14).
Genitalverstümmelung (FGM – Female Genital Mutilation)
Letzte Änderung 2023-10-09 15:04
In Teilen des Nordirak kommt es immer noch zu Genitalverstümmelungen bei Frauen (FGM) (AA 28.10.2022, S.13). Sie ist in der Kurdistan Region Irak (KRI) weit verbreitet (BS 23.2.2022, S.15), wo sie insbesondere in den ländlichen Gebieten von Erbil und Sulaymaniyah vorkommt (USDOS 12.4.2022; vgl. DFAT 16.1.2023, S.31). Im föderalen Irak ist FGM nicht üblich (USDOS 20.3.2023; vgl. BS 23.2.2022, S.15), ist aber insbesondere im ländlichen Kirkuk (USDOS 12.4.2022; vgl. DFAT 16.1.2023, S.31), in der arabischen und turkmenischen Bevölkerung präsent, wenn auch in geringerem Ausmaß (AA 28.10.2022, S.13).
Seit 2011 stellt ein Gesetz in der KRI die FGM unter Strafe (AA 28.10.2022, S.13; vgl. UKHO 3.2021, S.14, KPI 21.6.2011, S1-2, DFAT 16.1.2023, S.31). Mutmaßlich als Folge dieses Verbots ist FGM in der KRI zurückgegangen (USDOS 20.3.2023). Im föderalen Irak gibt es bisher keine staatlichen Anstrengungen zur Bekämpfung von FGM (AA 28.10.2022, S.13; vgl. DFAT 16.1.2023, S.31).
Das Thema der FGM von Mädchen und Frauen im Irak war lange Zeit ein Tabu, über das kaum gesprochen wurde (UKHO 2.2020, S.10; vgl. MRG 11.2015, S.31). Erst als durch Studien die alarmierend hohe FGM-Rate im kurdischen Norden aufgezeigt wurde, hat sich dies geändert (MRG 11.2015, S.31).
Eine Umfrage aus dem Jahr 2016 ergab, dass fast 45 % der befragten Frauen in der KRI FGM ausgesetzt waren, (DFAT 17.8.2020, S.45). Einer Untersuchung aus 2018 zufolge wurden etwa 7,4 % der irakischen Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren einer FGM unterzogen. In der KRI waren es 37,5 %, im Zentral- und Südirak hingegen nur 0,4 %. Bei Mädchen im Alter von 0 bis 14 Jahren ist der Prozentsatz mittlerweile auf 1 % gesunken, bzw. auf 3 % in der KRI (UNICEF 6.12.2018, S.53). In Erbil waren 2018 etwa 50,1 % der Frauen vom FGM betroffen, in Sulaymaniyah waren es 45,1 %. In Dohuk hingegen nur etwa 3,1 % (BMCWH 1.4.2021). Auch unter Binnenvertriebenen (IDPs) wird FGM noch praktiziert (DFAT 17.8.2020, S.45). Allerdings geht die FGM-Rate kontinuierlich zurück (USDOS 20.3.2023; vgl. BMCWH 1.4.2021).
Die UNO arbeitet mit Regierungsinstitutionen und lokalen NGOs zusammen, um FGM durch Sensibilisierungskampagnen zu verhindern (UNICEF 6.2.2019).
Verwestlichung, westlicher bzw. nicht-konservativer Lebensstil
Letzte Änderung 2023-10-09 15:10
Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft (FH 2023). Personen, die als nicht konform mit den lokalen sozialen und kulturellen Normen angesehen werden, weil sie ein "westliches" Verhalten an den Tag legen, sind Drohungen und Angriffen von Einzelpersonen aus der Gesellschaft sowie von Milizen ausgesetzt. Volksmobilisierungskräfte (PMF) haben es auf Personen abgesehen, die Anzeichen für eine Abweichung von ihrer Auslegung der schiitischen Normen zeigen, manchmal mit Unterstützung der schiitischen Gemeinschaft (EUAA 6.2022, S.112). Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z. B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken (AA 28.10.2022, S.12).
Es gibt Berichte über Angehörige religiöser Minderheiten, darunter Christen und Sabäer-Mandäer, die bestimmte islamische Praktiken befolgen, wie das Tragen des Hijab oder das Fasten während des Ramadan, um Schikanen zu vermeiden (DFAT 16.1.2023, S.17-18).
Dass Frauen außerhalb des Hauses arbeiten, wird in weiten Teilen der Gesellschaft als inakzeptabel angesehen. Berufe, wie die Arbeit in Geschäften, Restaurants oder in den Medien, wurden als etwas Schändliches angesehen. Gleiches gilt für die Teilnahme an lokaler und nationaler Politik (IWPR 8.3.2021). So wurden weibliche Aktivisten, die an den Protesten teilnahmen, in politischen Kampagnen als promiskuitiv verunglimpft (ICG 26.7.2021, S.9). Entsprechend sprach sich as-Sadr im Februar 2020 für eine Geschlechtertrennung auf den öffentlichen Plätzen aus (ICG 26.7.2021, S.9; vgl. AIIA 1.4.2020). Im Zuge des darauffolgenden Frauenmarsches am 13.2.2020 wurden weibliche Demonstranten mit Tränengas angegriffen, bedroht, attackiert, entführt und in einigen Fällen getötet (AIIA 1.4.2020). Im August 2020 verübten Unbekannte eine Reihe von Attentaten auf regierungskritische Demonstranten. Die gewalttätigsten Angriffe ereigneten sich im Gouvernement Basra und führten zur Tötung von drei Aktivisten und zwei Zivilisten (MEMO 17.9.2020).
Kinder
Letzte Änderung 2024-03-28 08:37
Artikel 29 und 30 der irakischen Verfassung enthalten Kinderschutzrechte. Der Irak ist dem Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten beigetreten (AA 28.10.2022, S. 11). Das irakische Strafgesetzbuch gewährt Eltern das Recht, ihre Kinder innerhalb der durch Gesetz oder Gewohnheit vorgeschriebenen Grenzen zu disziplinieren (USDOS 20.3.2023; vgl. HRW 12.1.2023). Kinder sind einerseits in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage, andererseits durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen (AA 28.10.2022, S. 11). Laut UNICEF machen Kinder fast die Hälfte der durch den Konflikt vertriebenen Iraker aus (USDOS 20.3.2023).
Vor der COVID-19-Krise lebten laut UNICEF 22,1 % der Kinder in Armut. Eine der Auswirkungen der Pandemie ist, dass sich der Anteil der in Armut lebenden Kinder im Jahr 2021 auf 37,9 % erhöht hat (AA 28.10.2022, S. 11). Einem Bericht für das Jahr 2021 zufolge leben 38 % aller irakischen Kinder in Armut (USDOS 12.4.2022). Über 1,16 Millionen Kinder im Alter von unter fünf Jahren waren unterernährt (AA 25.10.2021, S. 12). Im Jahr 2022 sind laut UNICEF 1,1 Millionen Kinder im Irak auf humanitäre Unterstützung angewiesen, ein deutlicher Rückgang zum Vorjahr (3,3 Mio. Kinder) (AA 28.10.2022, S. 11).
Nach dem Gesetz ist der Vater der Vormund seiner Kinder. Einer geschiedenen Mutter kann das Sorgerecht für ihre Kinder bis zum Alter von zehn Jahren zugesprochen werden, verlängerbar durch ein Gericht bis zum Alter von 15 Jahren, wobei die Kinder zu diesem Zeitpunkt wählen können, bei welchem Elternteil sie leben möchten (USDOS 20.3.2023). Das irakische Familienrecht unterscheidet zwischen zwei Arten der Vormundschaft (wilaya und wasiya), sowie der Pflege bzw. Sorge (hadana). Dem Vater kommt immer die Vormundschaft (wilaya) zu. Wenn dieser nicht mehr lebt, dem Großvater bzw. nach Entscheidung eines Shari‘a-Gerichts einem anderen männlichen Verwandten [Anm.: väterlicherseits]. Nur ein Mann kann demnach wali sein. Die Fürsorgeberechtigung (hadana), d. h. die Verantwortung für die Erziehung, Sicherheit und Betreuung eines Kindes, kommt im Falle einer Scheidung der Mutter zu. D. h. die Kinder leben bei der Mutter, im Falle von Knaben bis zum 13. Lebensjahr und im Falle von Mädchen bis zum 15. Lebensjahr (Migra/Landinfo 15.8.2018).
Die Regierung setzte sich im Allgemeinen für die Rechte und das Wohlergehen der Kinder ein, verweigert jedoch Kindern, die nicht die Staatsbürgerschaft besitzen, staatliche Leistungen. Die Nichtregistrierung von Geburten hat zur Folge, dass dem betroffenen Kind staatliche Leistungen, wie Bildung, Lebensmittelbeihilfe und Gesundheitsversorgung vorenthalten sind. Alleinstehende Frauen und Witwen hatten oft Probleme, ihre Kinder registrieren zu lassen, obwohl die Behörden in den meisten Fällen nach der Registrierung der Geburt durch das Gesundheits- und das Innenministerium Geburtsurkunden ausstellt. Diese Registrierung ist ein langwieriger und bisweilen komplizierter Prozess. Insbesondere bei Kindern, die von Angehörigen des Islamischen Staats (IS) gezeugt oder in den vormals vom IS kontrollierten Gebieten geboren wurden, stellt man keine Geburtsurkunden aus. Etwa 12.000 vertriebene Kinder haben immer noch keine zivilen Dokumente, einschließlich Geburtsurkunden (USDOS 20.3.2023).
Gewalt gegen Kinder/Minderjährige
Gewalt gegen Kinder bleibt ein großes Problem, aber aktuelle, zuverlässige Statistiken über das Ausmaß des Problems sind nicht verfügbar (USDOS 20.3.2023).
Berichten zufolge verkaufen Menschenhändlernetze irakische Kinder zur kommerziellen sexuellen Ausbeutung. Letztere erfolgt im In- und Ausland (USDOS 1.7.2021). Verbrecherbanden sollen Kinder zwingen, im Irak zu betteln (USDOS 1.7.2021; vgl. FH 2023). Sie werden auch gezwungen, Drogen zu verkaufen (USDOS 1.7.2021). Ebenso ist Kinderprostitution ein Problem, insbesondere unter Flüchtlingen. Aufgrund der Strafmündigkeit ab einem Alter von neun Jahren im Irak, bzw. elf Jahren in der Kurdistan Region Irak (KRI), behandeln die Behörden sexuell ausgebeutete Kinder oft wie Kriminelle und nicht wie Opfer (USDOS 20.3.2023).
Kinderarbeit
Die Verfassung und das Gesetz verbieten die schwersten Formen von Kinderarbeit (USDOS 12.4.2022; vgl. AA 28.10.2022, S. 11). Dennoch ist Kinderarbeit im gesamten Irak verbreitet, insbesondere unter Binnenvertriebenen und Flüchtlingskindern (DFAT 16.1.2023, S. 32). In den Gebieten, die unter die Zuständigkeit der föderalen Regierung fallen, beträgt das Mindestbeschäftigungsalter 15 Jahre. Das Arbeitsgesetz begrenzt für Personen unter 18 Jahren die tägliche Arbeitszeit auf sieben Stunden und verbietet Arbeiten, die der Gesundheit, Sicherheit oder Moral schaden können. Dieses Gesetz gilt jedoch nicht für Jugendliche, die in Familienbetrieben arbeiten, die ausschließlich Waren für den Hausgebrauch herstellen. Es gibt daher Berichte über Kinder, die in Familienbetrieben gefährliche Arbeiten verrichten. Kinderarbeit, auch in ihren schlimmsten Formen, wie erzwungenes Betteln und kommerzielle sexuelle Ausbeutung, manchmal als Folge von Menschenhandel, kommt im ganzen Land vor (USDOS 12.4.2022). Trotz des Verbotes der Kinderarbeit arbeiten etwa 500.000 Kinder vorrangig in der Landwirtschaft oder im Handel. Armut begünstigt Kindesentführungen und Kinderhandel (AA 28.10.2022, S. 11). Einer Umfrage aus dem Jahr 2023 zufolge gab 1 % aller Befragten mit Kindern im Alter von 15 und jünger an (n = 271), dass ihre Kinder in erheblichem Umfang arbeiten mussten, um das Haushaltseinkommen zu sichern (Mossul 2 %). Ebenso 1 % gab an, dass ihre Kinder ein wenig arbeiten würden, um zum Haushaltseinkommen beizutragen (Bagdad 1 %, Mossul 2 %). 98 % gaben an, dass keines ihrer Kinder arbeiten oder zum Haushaltseinkommen beitragen musste (Bagdad 99 %, Basra 100 %, Mossul 96 %) (STDOK 2023, S. 58-60).
Die Regierung unternimmt einige Anstrengungen, um gegen Kinderarbeit vorzugehen, erzielt aber nur geringe Fortschritte, bei der Beseitigung der schlimmsten Formen von Kinderarbeit, einschließlich kommerzieller sexueller Ausbeutung und Zwangsbettelei (DFAT 16.1.2023, S. 32).
Das Ministerium für Arbeit und Soziales der Kurdischen Regionalregierung (KRG) schätzt, dass mehrere Hundert Kinder in der KRI arbeiten, oft als Straßenverkäufer oder Bettler, was sie besonders gefährdet. Das Ministerium betrieb eine 24-Stunden-Hotline zur Meldung von Arbeitsmissbrauch, einschließlich Kinderarbeit, bei der monatlich etwa 200 Anrufe eingingen (USDOS 12.4.2022).
Strafverfolgung von Kindern/Minderjährigen
Die Strafmündigkeit im Irak in den Gebieten unter der Verwaltung der föderalen Regierung beträgt neun Jahre und elf Jahre in der KRI (USDOS 12.4.2022; vgl. HRW 13.1.2022).
Laut Berichten der Vereinten Nationen sind zahlreiche Jugendliche wegen Terrorismusvorwürfen angeklagt oder verurteilt (AA 28.10.2022, S. 11; vgl. HRW 13.1.2022). Föderal-irakische und KRG-Behörden verfolgen Minderjährige wegen mutmaßlicher IS-Verbindungen strafrechtlich ohne Rechtsbeistand und setzen diese bisweilen auch missbräuchlichen Verhörtechniken und Folter aus, um Geständnisse zu erlangen. Bei einigen von ihnen handelt es sich um ehemalige Opfer von Zwangsrekrutierungen (USDOS 15.6.2023). Es mangelt nach wie vor an Jugendstrafanstalten. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) berichtet jedoch, dass jugendliche Häftlinge mittlerweile vorwiegend von erwachsenen Straftätern getrennt inhaftiert werden, ihnen wird aber oft der regelmäßige Kontakt zu ihren Familien verwehrt (AA 28.10.2022, S. 11). Einem Bericht des Irakischen Hochkommissariats für Menschenrechte (IHRCKR) zufolge sind außerdem bspw. über 50 Minderjährige gemeinsam mit ihren Müttern in der Erziehungsanstalt für Frauen und Kinder in Erbil untergebracht (USDOS 30.3.2021).
Kindersoldaten, Rekrutierung von Kindern/Minderjährigen
Die Regierung und schiitische religiöse Führer verbieten Kindern unter 18 Jahren ausdrücklich den Kriegsdienst. Es gibt keine Berichte, wonach Kinder von staatlicher Seite zum Dienst in den Sicherheitskräften einberufen oder rekrutiert werden (USDOS 12.4.2022).
Rekrutierung von Kindern ist ein Problem (FH 2023). Kinder sind nach wie vor anfällig für Zwangsrekrutierung und den Einsatz durch diverse bewaffnete Gruppen, die im Irak operieren. Dazu zählen der IS, Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF), Stammesmilizen, die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) und andere vom Iran unterstützte Milizen (USDOS 15.6.2023). Das Büro des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs für Kinder und bewaffnete Konflikte der Vereinten Nationen verzeichnete im Zeitraum 2021-22 keine Fälle von Kinderrekrutierung durch Milizen (DFAT 16.1.2023, S. 32). Der letzte bestätigte Bericht über die Rekrutierung von Soldaten unter 18 Jahren durch PMF stammt aus dem Jahr 2019 (USDOS 15.6.2023).
Es gibt Berichte, wonach der IS in den vergangenen Jahren Kinder als Soldaten eingesetzt hat (AA 28.10.2022, S. 11; vgl. USDOS 12.4.2022), ebenso als menschliche Schutzschilde, Informanten, Bombenbauer, Henker und Selbstmordattentäter (USDOS 1.7.2021). Unter anderem aufgrund der territorialen Niederlage des IS liegen für das Jahr 2021 nur wenige Informationen über den Einsatz von Kindern durch den IS vor (USDOS 12.4.2022).
Mehrere Quellen berichten, dass die PKK und die Volksschutzeinheiten (YPG), die in der KRI und in Sinjar, Ninewa operieren, weiterhin Kinder rekrutieren und einsetzen. Im Jahr 2021 berichtete eine nicht verifizierte Quelle, dass die PKK Dutzende von Kindern rekrutiert habe, um sie auf den Kampf vorzubereiten, darunter auch Kinder aus Kirkuk (USDOS 1.7.2021).
[Anm.: Informationen zu Kinderehen können dem Kapitel Zwangsehen, Kinderehen, temporäre Ehen, Blutgeld-Ehe (Fasliya) entnommen werden, Informationen zu Kindern, die unter dem IS geboren sind finden sich in Kapitel (Mutmaßliche) IS-Mitglieder, IS-Sympathisanten und IS-Familien (Dawa‘esh).]
Bildungszugang
Letzte Änderung 2024-03-28 08:38
Die Grundschulbildung für Kinder mit irakischer Staatsbürgerschaft ist in den ersten sechs Schuljahren verpflichtend und wird für diese kostenfrei angeboten (USDOS 20.3.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S. 9, IOM 16.2.2024, S. 5). In der Kurdistan Region Irak (KRI) besteht Schulpflicht bis zum Alter von 15 Jahren. Auch sie ist kostenlos (USDOS 20.3.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S. 9). Seit 2003 gibt es im Irak auch private Schulen, die mit Lizenz des Bildungsministeriums agieren. Sie sind den öffentlichen Schulen oft überlegen, verlangen aber hohe Gebühren (DFAT 16.1.2023, S. 9; vgl. IOM 16.2.2024, S. 6). Immer mehr Familien aus der oberen Mittelschicht greifen auf Privatschulen zurück, deren Bildungsqualität als höher angesehen wird (IOM 16.2.2024, S. 6).
Das formale Bildungssystem im Irak ist in den letzten Jahren erheblich gestört worden (NRC 11.4.2022, S. 7). Das irakische Bildungssystem ist seit den 1990er-Jahren mit Herausforderungen konfrontiert. Dazu gehören Probleme wie baufällige Gebäude ohne Heiz- und Kühlsysteme sowie unzureichende Sitzplätze für Schüler in einigen Schulen. Die staatlichen Schulen leiden unter Überbelegung, in einigen Fällen unter unzureichendem Lehrpersonal und einer von Gebiet zu Gebiet unterschiedlichen Qualität des Lehrpersonals. Auch politische Instabilität, bewaffnete Konflikte und wirtschaftliche Schwierigkeiten stellen Probleme dar (IOM 16.2.2024, S. 5). Die Sicherheitslage, das Einquartieren von Binnenvertriebenen in Schulgebäuden und eine große Zahl zerstörter Schulen verhinderten und verhindern mancherorts den Schulbesuch, besonders in ländlichen Gebieten (AA 28.10.2022, S. 11).
Aufgrund der COVID-19-Pandemie blieben Schulen in den von Bagdad kontrollierten Gebieten im Jahr 2020 für mehrere Monate (von März bis November 2020) geschlossen (HRW 13.1.2021; vgl. AA 28.10.2022, S. 11, USDOS 12.4.2022), in der KRI von März 2020 bis zum Ende des Schuljahres (HRW 13.1.2021). Etwa elf Millionen Kinder waren von diesen Schulschließungen betroffen (DFAT 16.1.2023, S. 9) und haben mindestens 25 Wochen lang nicht am Unterricht teilgenommen (UNICEF 18.2.2023, S. 6). UNICEF unterstützte das Bildungsministerium bei der Übertragung von Unterricht über das Bildungsfernsehen und digitale Plattformen. Der Zugang der Kinder zu alternativen Lernplattformen über das Internet und das Fernsehen wurde jedoch durch die begrenzte Konnektivität und Verfügbarkeit digitaler Geräte sowie durch den Mangel an Strom behindert. Außerdem hat das Bildungsministerium keine Richtlinien für die Durchführung von Fernunterricht herausgegeben (USDOS 12.4.2022). Schulen wurden vom irakischen Bildungsministerium angewiesen, den Lehrbetrieb aus der Ferne fortzusetzen, einschließlich der Ablegung von Prüfungen. In den Abschlussjahrgängen müssen die Schüler ihre Prüfungen jedoch in Anwesenheit ablegen. Einige Schulen haben hybride Unterrichtsmodelle eingerichtet, bei denen die Schüler an 2-3 Tagen pro Woche den Unterricht in Anwesenheit besuchen konnten. Ab Mai 2021 wurden jedoch alle Schulen wieder auf Fernstudien umgestellt (IOM 18.6.2021, S. 14). Technische Beschränkungen hinderten die meisten Kinder jedoch daran, von zu Hause aus zu lernen DFAT 16.1.2023, S. 9). Familien, die durch den Konflikt mit dem Islamischen Staat (IS) vertrieben wurden, sind am meisten durch die Schulschließungen betroffen, da die meisten von ihnen keinen Zugang zu digitalen Lernmöglichkeiten haben (HRW 13.1.2021). Ebenso stellen Fernstudien Familien mit geringem Einkommen oder aus entlegenen Gebieten vor ein Hindernis, da diese eine stabile Internetleitung und adäquates Equipment erfordern (IOM 18.6.2021, S. 14). Ende 2019 waren schätzungsweise 345.000 Kinder im Irak ohne Schulabschluss. Nach der COVID-19-Pandemie ist davon auszugehen, dass diese Zahl gestiegen ist (NRC 11.4.2022, S. 7).
Nach Angaben des Planungsministeriums von Februar 2022 liegt die Alphabetisierungsrate von Frauen bei 83 % im Vergleich zu 92 % bei den Männern (AA 28.10.2022, S. 12). Laut UNESCO waren 2017 79,9 % der Frauen und 91,2 % der Männer über 15 Jahre des Lesens und Schreibens mächtig (BS 23.2.2022, S. 26). Zum Unterschied dazu sind in der KRI fast alle Menschen des Lesens und Schreibens mächtig (AA 28.10.2022, S. 11).
Ein gleichberechtigter Zugang von Mädchen zu Bildung bleibt eine Herausforderung, insbesondere in ländlichen und unsicheren Gebieten (USDOS 12.4.2022). Mehrere Bevölkerungsgruppen sind gefährdet, nicht in die Schule zu gehen, darunter Mädchen, Kinder mit Behinderungen, von Vertreibung betroffene Kinder, Kinder ohne Papiere und junge Menschen, die in Armut leben (NRC 11.4.2022, S. 7). Tausende von Kindern ohne Ausweispapiere werden von den Behörden weiterhin daran gehindert, staatliche Schulen zu besuchen, darunter auch staatliche Schulen in Vertriebenenlagern (HRW 13.1.2022). Kinder, die keine Schule besuchen, sind anfälliger für Ausbeutung und Missbrauch, einschließlich Kinderarbeit, Rekrutierung durch bewaffnete Akteure und Frühverheiratung (IOM 16.2.2024, S. 5).
Fast die Hälfte aller vertriebenen Kinder im schulpflichtigen Alter - etwa 355.000 Kinder - gehen nicht zur Schule. Schätzungsweise 680.000 Binnenvertriebenen- und Rückkehrerkindern wird der Zugang zur Bildung erschwert. Besonders besorgniserregend ist die Situation in den vom Konflikt betroffenen Gouvernements wie Salah ad-Din und Diyala, wo mehr als 90 % der Kinder im schulpflichtigen Alter vom Bildungssystem ausgeschlossen sind (IOM 16.2.2024, S. 5).
Die Einschulungsquoten von Mädchen sind auf allen Bildungsebenen gestiegen, liegen aber immer noch unter denen der Buben (BS 23.2.2022, S. 27; vgl. DFAT 16.1.2023, S. 9). Mädchen brechen die Ausbildung tendenziell häufiger ab als Buben (BS 23.2.2022, S. 27). So waren im Jahr 2018 28 % der Mädchen und 15 % der Buben im Alter der unteren Sekundarstufe nicht in der Schule (UNICEF 18.2.2023, S. 6). Besonders in den vormals vom IS kontrollierten Gebieten gehen Mädchen seltener zur Schule (DFAT 16.1.2023, S. 9). Eine 2018 durchgeführte Umfrage zur Situation von Kindern im Irak hat ergeben, dass 91,6 % der Kinder im Irak in der Grundschule eingeschrieben sind (92,7 % der Buben, 90,4 % der Mädchen) (UNICEF/CSO 2.2019, S. 214-218; vgl. NRC 11.4.2022, S. 7). Im föderalen Irak sind dies 90,8 % (92,2 % der Buben, 89,3 % der Mädchen), in der KRI sind es 96 % (95,8 % der Buben, 96,2 % der Mädchen). Der Anteil der Kinder aus urbanen Gebieten, die eine Grundschule besuchen, ist dabei mit 93 % höher als jener in ruralen Gebieten mit 88,6 %. Entsprechend sinkt auch der Anteil der Buben von 93,8 % auf 90,5 % und der der Mädchen von 92,2 % auf 86,7 %. Der Anteil der Kinder, die die untere Sekundarstufe (Unterstufe) besuchen, liegt bei 57,5 %, wobei der Anteil von Buben und Mädchen gleich ist. Im föderalen Irak sind dies 55,6 % (56,5 % der Buben, 54,7 % der Mädchen), in der KRI sind es 67,1 % (63,1 % der Buben, 70,6 % der Mädchen). Auch hier ist der Anteil der Kinder aus urbanen Gebieten mit 64,5 % (63,7 % der Buben, 65,2 % der Mädchen) höher als der in ruralen Gebieten mit 43,8 % (45,2 % der Buben, 42,4 % der Mädchen) (UNICEF/CSO 2.2019, S. 214-218). 46 % der Kinder schließen die Sekundarstufe I nicht ab (UNICEF 18.2.2023, S. 6). Der Anteil der Kinder, die die obere Sekundarstufe (Oberstufe) besuchen, liegt bei 24,2 % (31 % der Buben, 35,3 % der Mädchen). Im föderalen Irak sind dies 28,8 % (28,0 % der Buben, 29,7 % der Mädchen), in der KRI sind es 52 % (44,4 % der Buben, 60,7 % der Mädchen). Auch hier ist der Anteil der Kinder aus urbanen Gebieten mit 37 % (34,4 % der Buben, 39,6 % der Mädchen) höher als der in ruralen Gebieten mit 24,9 % (24,1 % der Buben, 25,7 % der Mädchen) (UNICEF/CSO 2.2019, S. 214-218). Aktuelle, verlässliche Statistiken über Einschreibungen, Anwesenheit oder Abschlüsse sind nicht verfügbar (USDOS 30.3.2021).
Einer Umfrage von 2021 zufolge, die in Bagdad, Basra und Mossul im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt wurde, geben 65 % der Befragten an, dass ihre Kinder zur Schule gehen können, während die Kinder von 24 % nicht zur Schule gehen. Während 72 % der von Männern geführten Haushalte angeben, dass ihre Kinder zur Schule gehen können, sind es bei den von Frauen geführten Haushalten nur 56 %. Auch regional gibt es erhebliche Unterschiede in Bezug auf den Schulbesuch: In Mossul liegt die Quote bei 82 %, in Basra bei 74 % und in Bagdad bei 56 %. Was die ethnischen Gruppen betrifft, so gehen die Kinder von 67 % der Araber und 61 % der Kurden zur Schule. 57 % der Christen geben an, dass sie ihre Kinder zur Schule schicken können, ebenso wie 74 % der schiitischen und 68 % der sunnitischen Muslime. 92 % der Kinder derjenigen, die mehr als 700.000 IQD [Anm.: 100.000 IQD entsprechen rund 71 EUR, Stand August 2023] verdienen, gehen zur Schule, aber nur 63 % derjenigen, die weniger verdienen (STDOK/IRFAD 2021, S. 36-38). Einer Umfrage aus dem Jahr 2023 zufolge gaben 62 % aller Befragten mit Kindern im Alter von 15 Jahren oder jünger an (n = 271), dass alle ihre Kinder zur Schule gehen können (Bagdad 60 %, Basra 63 %, Mossul 63 %). 18 % antworteten, dass einige ihrer Kinder die Schule besuchen können (Bagdad 21 %, Basra 13 %, Mossul 21 %), während 19 % zugaben, dass keines ihrer Kinder in die Schule gehen kann (Bagdad 19 %, Basra 22 %, Mossul 16 %). 2 % der Befragten in Basra 2 % beantworteten die Frage nicht (STDOK 2023, S. 55-57).
70 % der Befragten geben an, dass ihre Kinder eine öffentliche Schule besuchen, während nur 16 % eine Privatschule besuchen. Regional gesehen besuchen 82 % der Kinder in Mossul, 78 % in Basra und 62 % in Bagdad eine öffentliche Schule, während 18 % in Mossul, 22 % in Basra und 14 % in Bagdad eine Privatschule besuchen. Während die Quote bei den öffentlichen Schulen ähnlich hoch ist, besuchen 19 % der kurdischen Kinder eine Privatschule, gegenüber 9 % der arabischen Kinder. Auch die religiösen Gruppen weisen unterschiedliche Muster auf: Öffentliche Schulen werden von 61 % der Kinder von Christen, 84 % der Kinder von schiitischen Muslimen und 73 % der Kinder von sunnitischen Muslimen besucht. Privatschulen werden von 26 % der Kinder von Christen, 9 % der Kinder von schiitischen Muslimen und 15 % der Kinder von sunnitischen Muslimen besucht. 30 % der Kinder von Personen mit einem Einkommen von mehr als 700.000 IQD besuchen eine Privatschule, aber nur 13 % der Kinder von Personen mit einem geringeren Einkommen. 39 % der Befragten geben an, weniger als 70.000 IQD pro Kind für die Schule zu zahlen, während nur 4 % zwischen 150.000 und 300.000 IQD zahlen. In Bagdad zahlen 34 % weniger als 70.000 IQD, ebenso 39 % in Basra und 54 % in Mosul; nur in Bagdad zahlen einige der Befragten (7 %) zwischen 150.000 und 300.000 IQD. 56 % der Kurden zahlen weniger als 70.000 IQD pro Kind und Monat, gegenüber 35 % der Araber. Was die religiösen Gruppen betrifft, so geben 54 % der sunnitischen Muslime an, weniger als 70.000 pro Monat zu zahlen, ebenso wie 30 % der Christen und 32 % der schiitischen Muslime (STDOK/IRFAD 2021, S. 38-42).
60 % der Befragten geben an, dass ihre Kinder keinen Zugang zu höherer und weiterführender Bildung haben, während dieser für 31 % der Befragten gegeben ist. Von den weiblich geführten Haushalten haben nur 25 % der Befragten Hochschulzugang, während es 37 % bei männlich geführten Haushalten sind. Regionale Unterschiede zeigen, dass in Basra 83 % keinen Zugang haben, ebenso wie 77 % in Mossul, aber nur 42 % in Bagdad. 65 % der Kurden geben an, dass sie keinen Zugang zur Hochschulbildung haben, während 58 % der Araber keinen Zugang haben. Der fehlende Zugang ist fast gleichmäßig auf die Konfessionen verteilt: 60 % der Christen, 64 % der schiitischen Muslime und 64 % der sunnitischen Muslime. Weiters hat die Befragung ergeben, dass 58 % derjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen und 34 % derjenigen, die weniger als 700.000 IQD verdienen, einen Zugang zu höherer Bildung haben (STDOK/IRFAD 2021, S. 45-46).
IDPs und Flüchtlinge
Letzte Änderung 2023-10-09 16:25
Rund 1,16 Millionen Iraker sind nach wie vor Binnenvertriebene (IDPs) (IOM 6.2023, S.2). Viele von ihnen sind Langzeitvertriebene (DFAT 16.1.2023, S.33).
Nach Angaben des "Gemeinsamen Krisenkoordinationszentrums" (Joint Crisis Coordination Center, JCC) der Kurdischen Regionalregierung (KRG) hielten sich mit Stand November 2022 664.996 Binnenvertriebene in der Kurdistan Region Irak (KRI) auf, im Vergleich zu 664,909 im Jahr 2021 (USDOS 15.5.2023).
Nur etwa 30 % der IDPs in der KRI leben in offiziellen Lagern, während die Mehrheit (rund 70 %) anderweitig untergebracht ist (USDOS 20.3.2023). Etwa 40 % der IDPs in der KRI sind sunnitische Araber, 30 % Jesiden, 13 % Kurden (verschiedener Konfessionen) und 7 % Christen. Andere religiöse Minderheiten machen die restlichen 10 % aus (USDOS 15.5.2023). Trotz der sehr schlechten wirtschaftlichen Lage und der Sicherheitsprobleme in der Region berichteten Beamte der KRG, dass sie die Wahrung der Rechte dieser Minderheiten als oberste Priorität ansehen (USDOS 20.3.2023).
Die meisten IDPs befinden sich in Dohuk, Ninewa und Erbil. 56 % der IDPs stammen aus Ninewa, insbesondere aus den Distrikten Mossul (21 %), Sinjar (16 %), Al-Ba'aj (9 %) und Tal 'Afar (6 %). Die nächstgrößeren IDP-Kontingente kommen aus Anbar und Salah ad-Din (je 11 %) (IOM 6.2023, S.3). Fast 1,2 Millionen Iraker (Stand Oktober 2022), die vom Islamischen Staat (IS) vertrieben wurden, können nicht in ihre Häuser zurückkehren, sowohl aus Sicherheits- als auch aus wirtschaftlichen Gründen (FH 2023). Etwa 76 % der IDPs leben in privaten Unterkünften (879.894), 15 % in Lagern (174.015) und 9 % (102.444) in Notunterkünften (IOM 6.2023, S.2), darunter unsichere und verlassene Gebäude, religiöse Gebäude und Schulen (USDOS 20.3.2023).
Rückkehrbewegungen haben durch die kurzfristigen Lagerschließungen im föderalen Irak stark zugenommen, obwohl eine Grundversorgung in den aufnehmenden Gemeinden nicht immer sichergestellt ist. Bei einigen Binnenvertriebenen kommt es, da eine Rückkehr nicht möglich ist, zu sogenannter sekundärer und tertiärer Vertreibung (AA 28.10.2022, S.19). Die erzwungene Rückkehr von Binnenvertriebenen an Orte, an denen ihr Leben und ihre Freiheit bedroht sind, sowie die Androhung von Gewalt gegen Binnenvertriebene und Rückkehrer, von denen angenommen wurde, dass sie mit dem IS in Verbindung stehen, zählen zu wichtigen Menschenrechtsproblemen im Irak (USDOS 20.3.2023). Personen aus vormals vom IS kontrollierten oder vom Konflikt betroffenen Gebieten werden in vielen Gebieten wegen mutmaßlicher Nähe zum IS und aus ethno-konfessionellen Gründen von föderalen und lokalen Behörden oder anderen Akteuren unter Druck gesetzt oder gezwungen, in ihre Heimatregionen zurückzukehren (UNHCR 11.1.2021, S.4-6). Andererseits erkennen lokale Behörden Sicherheitsgenehmigungen von Rückkehrern nicht immer an oder halten sich nicht an die Anweisungen der föderalen Regierung, die Rückkehr zu erleichtern (USDOS 20.3.2023).
Zwar gehen die irakische Verfassung und die nationale Richtlinie über Vertriebene auf die Rechte von IDPs ein, aber nur wenige Gesetze enthalten entsprechende Bestimmungen. Die Regierung und internationale Organisationen, darunter UN-Organisationen sowie lokale und internationale NGOs, bieten den Binnenvertriebenen Schutz und andere Hilfe an. Die humanitären Akteure unterstützen weiterhin die offiziellen IDP-Lager und richten gemeindebasierte Dienste für IDPs, die außerhalb der Lager leben, ein, um die Belastung der Ressourcen der Aufnahmegemeinden zu begrenzen (USDOS 20.3.2023).
Im März 2021 verabschiedete die irakische Regierung einen Nationalen Plan zur Bekämpfung der Vertreibung im Irak, der von den Ministerien für Planung und für Migration und Vertreibung ausgearbeitet wurde. Trotz des erklärten Ziels der Regierung, IDPs in ihre Heimat zurückkehren zu lassen, verhindern administrative Hürden, dass Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit Dokumente erhalten, darunter Personalausweise, Geburtsurkunden und Lebensmittelkarten. Dies blockiert sowohl ihre sichere Rückkehr als auch den Zugang zu Sozialleistungen und staatlichen Dienstleistungen (HRW 3.6.2021). Im Jahr 2022 wurden Tausende Iraker neu vertrieben. Fast 69.000 Iraker lebten als Folge der schlimmsten Dürre seit 40 Jahren als Binnenvertriebene. Besonders betroffen waren die Sumpfgebiete von Dhi-Qar. Auch gewaltsame Auseinandersetzungen führten im Jahr 2022 zu neuerlicher Vertreibung von mehr als 32.000 Personen (IDMC 24.5.2023).
KRG-Behörden hindern arabische Familien weiterhin daran, in ihre Dörfer nahe der syrisch-irakischen Grenze zurückzukehren, aus denen sie während der Kämpfe zwischen den Peshmerga und dem IS im Jahr 2014 geflohen waren (FH 2023), und behindern auch die Rückkehr in die umstrittenen Gebiete, die de facto unter der Kontrolle der KRG stehen. Berichten zufolge ermutigten kurdische Behörden auch lokale Kräfte dazu solche Rückkehrer zu behindern (FH 3.3.2021a).
Vertriebene Familien, insbesondere solche mit vermeintlichen Verbindungen zum IS, sind oft nicht in der Lage, wichtige Personenstandsdokumente zu erhalten oder zu ersetzen, ohne die sie nicht arbeiten, zur Schule gehen oder sich frei bewegen können (USDOS 30.3.2021). Die Vereinten Nationen und andere humanitäre Organisationen unterstützen IDPs bei der Beschaffung von Dokumenten und der Registrierung bei den Behörden, um den Zugang zu Dienstleistungen und Bezugsrechten zu verbessern (USDOS 11.3.2020).
Die Regierung stellt vielen - aber nicht allen - IDPs, auch in der KRI, Nahrungsmittel, Wasser und finanzielle Hilfe zur Verfügung. Viele IDPs leben in informellen Siedlungen, wo sie keine ausreichende Versorgung mit Wasser, sanitären Einrichtungen oder anderen wichtigen Dienstleistungen erhalten (USDOS 30.3.2021). Alle Bürger sind berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des Public Distribution System (PDS) zu erhalten. Die Behörden verteilen aber nicht jeden Monat alle Waren. Nicht alle IDPs können in jedem Gouvernement auf Lebensmittel aus dem PDS zugreifen, insbesondere nicht in den vom IS befreiten Gebieten. Die Bürger können die PDS-Rationen nur an ihrem Wohnort und in ihrem eingetragenen Gouvernement einlösen, was zu einem Verlust des Zugangs und der Ansprüche aufgrund von Vertreibungen führt (USDOS 20.3.2023).
Familien, die an ihren Herkunftsort zurückkehren, können mit der Zerstörung ihrer Häuser sowie fehlendem Zugang zu Dienstleistungen und Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensunterhalts konfrontiert werden (USDOS 20.3.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.33). Massive Zerstörung von Wohnungen und Infrastruktur, die Präsenz konfessioneller oder parteiischer Milizen sowie die anhaltende Bedrohung durch Gewalt machten es vielen IDPs schwer, nach Hause zurückzukehren (FH 24.2.2022; vgl. DFAT 16.1.2023, S.33). In einigen Gebieten behindern Gewalt und Unsicherheit sowie langjährige politische, stammes- und konfessionelle Spannungen die Fortschritte bei der nationalen Aussöhnung und erschweren den Schutz von IDPs. Tausende Familien sahen sich aus wirtschaftlichen und sicherheitstechnischen Gründen mit einer neuerlichen Vertreibung konfrontiert. Zwangsvertreibungen belasten die Kapazitäten der lokalen Behörden (USDOS 20.3.2023).
Vertriebene Familien mit vermeintlichen Verbindungen zum IS, die sich weiterhin in und außerhalb von Lagern aufhalten, sind besonders anfällig für Übergriffe und sexuellen Missbrauch. Viele können nicht in ihre Heimat zurückkehren, weil ihre ursprünglichen Gemeinschaften ihre Rückkehr ablehnen oder die irakischen Behörden sie verbieten (FH 3.3.2021a). IDPs, insbesondere solche mit vermeintlichen Verbindungen zum IS, sind Anfeindungen seitens lokaler Regierungsbeamter und der Bevölkerung, sowie Ausweisungen ausgesetzt, wenn sie versuchen ohne Hilfe von IOM oder der Regierung, in ihre Herkunftsgebiete zurückzukehren (USDOS 20.3.2023). Haushalte mit vermeintlichen Verbindungen zum IS sind stigmatisiert und sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, ihrer Grundrechte beraubt zu werden. Probleme bei der Beschaffung der notwendigen Zivildokumente und die häufig vorenthaltenen Sicherheitsfreigaben schränken ihre Bewegungsfreiheit ein, einschließlich ihrer Möglichkeiten zur Inanspruchnahme medizinischer Versorgung, wegen der Gefahr von Verhaftungen oder der Unmöglichkeit, in das Lager zurückzukehren, in dem sie zuvor lebten (USDOS 30.3.2021).
Im Oktober 2020 kündigte der Minister für Vertreibung und Migration einen Drei-Phasen-Plan zur Schließung aller Binnenvertriebenenlager des Landes an und begann sofort mit einer Reihe von plötzlichen Lagerschließungen in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kerbala, Kirkuk und Ninewa. Die Schließungen waren nicht mit den zuständigen lokalen Behörden oder humanitären Akteuren koordiniert und nicht alle betroffenen IDPs waren in der Lage oder bereit, an ihren Herkunftsort zurückzukehren (USDOS 30.3.2021). Nach der Schließung von 16 Vertriebenenlagern in Gebieten außerhalb der KRI durch die Regierung Ende 2020 konnten nach Berichten internationaler NGOs nur etwa 41 % derjenigen, die die Lager verließen, an ihren vorherigen Wohnsitz zurückkehren (USDOS 12.4.2022). Diese Schließungen zwangen viele IDPs zur Rückkehr in zerstörte Häuser und Dörfer ohne Grundversorgung (UNHCR 27.5.2021). Während einige IDPs nach den Lagerschließungen in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren konnten, war eine beträchtliche Anzahl von ihnen nicht dazu in der Lage (UNHCR 27.5.2021, S.5-6), sondern war mit neuerlicher Vertreibung konfrontiert (UNHCR 27.5.2021, S.5-6; vgl. USDOS 12.4.2022).
Im Zusammenhang mit den Lagerschließungen Ende 2020 gewährten die Behörden vielen der betroffenen Personen eine Sicherheitsfreigabe und stellten ihnen neue zivile Dokumente aus. Da sie die Familien jedoch in einigen Fällen nur 24 Stunden vorher darüber informierten, dass sie die Lager, in denen sie jahrelang gelebt hatten, verlassen mussten, wurden einige von ihnen faktisch ihres Zugangs zu Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung beraubt und obdachlos gemacht (HRW 13.1.2021). Mindestens 34.801 Vertriebenen war es nicht möglich, sicher nach Hause zurückkehren. Sie erhielten keine andere sichere Unterkunft und hatten keinen Zugang zu erschwinglichen Dienstleistungen. Bei vielen handelte es sich um von Frauen geführte Haushalte, die durch die Kämpfe zwischen dem IS und den irakischen Sicherheitskräften zwischen 2014 und 2017 vertrieben wurden. Viele dieser Familien werden als IS-nahe eingestuft (HRW 13.1.2022).
Während 830.000 (71 %) Binnenvertriebene in gemieteten Häusern oder Wohnungen leben (Stand September 2022), leben 179.000 (15 %) in 26 offiziellen Lagern im Irak, 3.000 weniger als im September 2021. Das Camp Coordination and Camp Management Cluster (CCCM) erleichtert die Koordinierung der Hilfe für Binnenvertriebene, die in offiziellen Lagern und an informellen Standorten im Irak leben. Im Juli 2022 gab das Humanitäre Länderteam der Vereinten Nationen bekannt, dass alle Cluster im Irak aufgelöst werden. Während die Konsolidierung der Lager weiterläuft, werden die Zuständigkeiten des CCCM vom UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) übernommen. Vor diesem Hintergrund unterstützt der Mechanismus für dauerhafte Lösungen unter dem gemeinsamen Vorsitz von IOM und UNDP Binnenvertriebene dabei, sich in die Aufnahmegemeinschaften zu integrieren, in ihre Herkunftsgebiete zurückzukehren oder sich anderswo niederzulassen (REACH/CCCM 23.11.2022, S.1).
Die KRG verwaltet 25 der 26 verbliebenen IDP-Lager im Land (REACH/CCCM 23.11.2022, S.2; vgl. USDOS 20.3.2023) und hat sich verpflichtet, diese nicht zu schließen, bevor die Vertriebenen nicht freiwillig in ihr Herkunftsgebiet zurückgekehrt sind (USDOS 20.3.2023). 15 IDP-Lager, von denen sich drei in Ninewa [Anm.: in den umstrittenen Gebieten] befinden, werden vom Gouvernement Dohuk verwaltet, sechs Lager, von denen drei in Ninewa liegen, vom Gouvernement Erbil und vier Lager, von denen eines in Diyala liegt, durch das Gouvernement Sulaymaniyah. Ein offizielles IDP-Lager im Gouvernement Ninewa wird auch von diesem verwaltet (REACH/CCCM 23.11.2022, S.2).
Im Rahmen einer Datenerhebung im Juli 2022 wurden 2.342 in Lagern lebende IDP-Haushalte in den Gouvernements Erbil, Dohuk, Sulaymaniyah und Ninewa zum Thema einer möglichen Rückkehr in ihre Herkunfstgebiete interviewt. 1.407 IDP-Haushalte wurden in Dohuk befragt, 547 in Erbil, 293 in Sulaymaniyah und 95 in Ninewa. In Duhok gab die überwiegende Mehrheit (94 %) der befragten IDP-Haushalte beispielsweise an, binnen der nächsten zwölf Monate nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren zu wollen. Die am häufigsten genannten Gründe, nicht in die Herkunftsgebiete zurückzukehren, sind: Mangel an Sicherheitskräften (52 %), zerstörte/beschädigte Unterkünfte (42 %), keine Grundversorgung im Herkunftsgebiet (31 %), mangelnde Sicherheit für Frauen und Mädchen (30 %) sowie Angst bzw. Trauma im Zusammenhang mit dem Herkunftsgebiet (29 %). Weitere hinderliche Gründe, die von IDPs in Lagern der übrigen drei Gouvernements genannt wurden sind fehlende finanzielle Mittel für eine Rückkehr sowie fehlende Möglichkeiten den Lebensunterhalt zu bestreiten. Fast drei Viertel (71 %) der Befragten in Dohuk gaben jedoch an, eines Tages in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren zu wollen. In den Lagern unter Verwaltung der Gouvernements Erbil und Sulaymaniyah lag der Anteil der befragten Haushalte, welche angaben, innerhalb des nächsten Jahres im Lager bleiben zu wollen, in das sie vertrieben wurden, auf einem ähnlichen Niveau (zwischen 88 und 97 %). In einem vom Gouvernement Ninewa verwalteten Lager gaben dagegen nur 22 % der befragten Haushalte an, in den nächsten zwölf Monaten an ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort bleiben zu wollen. 25 % gaben an, in ihren Herkunftsort zurückkehren zu wollen und beinahe die Hälfte der Befragten hat diesbezüglich noch keine Entscheidung getroffen (REACH/CCCM 23.11.2022).
Ausländische Flüchtlinge
Der Irak ist nicht Vertragsstaat der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 bzw. dessen Zusatzprotokoll von 1967 (GFK o.D.). Das irakische Gesetz sieht jedoch die Gewährung von Asyl vor, und die Regierung hat ein System zum Schutz von Flüchtlingen eingerichtet (USDOS 20.3.2023). Der Status ausländischer Flüchtlinge wird durch das Gesetz über politische Flüchtlinge, Nr. 51 (1971) geregelt. Der Entwurf einer Novellierung des Gesetzes wurde bislang nicht verabschiedet. Die Flüchtlinge befinden sich überwiegend in und um Bagdad sowie unmittelbar im Grenzbereich zu Syrien und Jordanien (AA 28.10.2022, S.22). Die Regierung arbeitet im Allgemeinen mit dem UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen zusammen, um Flüchtlingen im Land Schutz und Unterstützung zu bieten (USDOS 20.3.2023). Der Irak beherbergt etwa 280.000 Flüchtlinge und Asylbewerber, von denen über 80 % in der KRI leben (UNHCR 31.7.2023).
Nach Angaben des "Gemeinsamen Krisenkoordinationszentrums" (Joint Crisis Coordination Center, JCC) sind 253.960 syrische, 8.890 türkische, 9.982 iranische und 787 palästinensische Flüchtlinge sowie 628 Personen anderer Nationalitäten in der KRI aufhältig (USDOS 15.5.2023). Mehr als 230.000 der syrischen Flüchtlinge sind Kurden (UNHCR 31.7.2023).
Flüchtlinge und Asylwerber sind gesetzlich berechtigt, in der Privatwirtschaft zu arbeiten (USDOS 20.3.2023).
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung 2024-03-28 10:59
Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor (IOM 2019, S.4). Öffentliche Krankenhäuser berechnen niedrigere Kosten für Untersuchungen und Medikamente als der private Sektor. Allerdings sind nicht alle medizinischen Leistungen in öffentlichen Einrichtungen verfügbar und von geringerer Qualität als jene im privaten Sektor (IOM 18.6.2021, S. 3). Vor allem in größeren Städten und für spezialisierte Behandlungen kann es zu langen Wartezeiten kommen (IOM 18.6.2021, S.3; vgl. DFAT 16.1.2023, S.8). Im Allgemeinen umfasst die medizinische Grundversorgung in Bagdad, wie auch in vielen anderen irakischen Städten, medizinische Leistungen, die sowohl von öffentlichen als auch von privaten Gesundheitseinrichtungen erbracht werden. Sie umfasst in der Regel die medizinische Grundversorgung, die Notfallversorgung, Routineuntersuchungen, Impfungen und die Behandlung von häufigen Krankheiten. Sowohl öffentliche Krankenhäuser und Kliniken als auch private Gesundheitseinrichtungen tragen zum Gesundheitssystem in Bagdad bei (IOM 16.2.2024, S. 1).
Im Irak gibt es drei Arten von primären Gesundheitsversorgungszentren (PHCCs): Haupt-PHCCs, kleinere Unterzentren und PHCCs für Familienmedizin. Diese unterscheiden sich strukturell je nach ihrer städtischen oder ländlichen Lage. Im Jahr 2023 gab es im Irak 1.247 Haupt-PHCCs, die jeweils 10.000-45.000 Menschen versorgen. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass das Land etwa 3.000 Haupt-PHCCs benötigt, die jeweils etwa 10.000 Menschen versorgen sollten (IOM 16.2.2024, S. 2-3). Die WHO berichtet, dass es im Irak 1.146 primäre Gesundheitszentren gibt, die von Mitarbeitern der mittleren Ebene geleitet werden, und 1.185, die von Ärzten geleitet werden. Des Weiteren gibt es im Irak 229 allgemeine und spezialisierte Krankenhäuser, darunter 61 Lehrkrankenhäuser (WHO o.D.). Auf etwa 10.000 Einwohner kommen 9,7 Ärzte und 23,8 Krankenschwestern und Hebammen, was unter dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen Minimum liegt (IOM 16.2.2024, S. 1).
Medizinische Kosten und Gesundheitsleistungen werden im Irak nicht von einer Krankenversicherung übernommen (IOM 18.6.2021, S. 3). Alle in den Zentren für die primäre Gesundheitsversorgung (PHCCs) erbrachten Gesundheitsleistungen werden zu einer nominalen Pauschale von 500 bis 3.000 irakischen Dinar (IQD) (0,35 bis 2,10 EUR) pro Besuch angeboten, für stationäre Aufenthalte berechnen öffentliche Krankenhäuser mindestens 15.000 IQD (10,52 EUR) pro Nacht. Bestimmte Gesundheitsdienste für bestimmte Gruppen sind kostenlos, z. B. Präventiv-, Mütter-, Neugeborenen- und Kindergesundheit (MNCH). Personen, die 60 Jahre und älter sind, haben ebenfalls Anspruch auf eine Gebührenbefreiung. Um die Einrichtung eines besseren Überweisungssystems zu unterstützen, werden die Krankenhausgebühren erlassen, wenn die Überweisung von einem PHCC an ein Überweisungskrankenhaus erfolgt (IOM 16.2.2024, S. 1). Eine Umfrage deutet darauf hin, dass im Jahr 2020, infolge der COVID-19-Krise, die Zahl der Rückkehrerhaushalte, die mehr als 20 % ihrer monatlichen Gesamtausgaben für Gesundheit oder Medikamente ausgeben, stark auf 38 % gestiegen ist (gegenüber 7 % im Jahr 2019) (IOM 18.6.2021, S. 3).
Auch Rückkehrer mit irakischer Staatsangehörigkeit haben Zugang zu den öffentlichen Gesundheitsdiensten zu den oben genannten nominalen Gebühren. Allerdings können sie auf bürokratische Hürden stoßen, wenn sie keine formellen Dokumente haben. Für den Zugang zu Gesundheitsdiensten sind häufig ein ordnungsgemäßer Ausweis und entsprechende Unterlagen erforderlich (IOM 16.2.2024, S. 4).
Das irakische Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Durch den Ausbau der PHCCs und der Überweisungsmechanismen wurde die Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen von einer kurativen und krankenhausbasierten zu einer primär präventiven Versorgung umgestellt (IOM 16.2.2024, S. 1). Die Qualität und Verfügbarkeit der Gesundheitsversorgung im Irak ist insgesamt niedrig (DFAT 16.1.2023, S. 8). Sie hängt davon ab, ob die Gesundheitsinfrastruktur seit dem jüngsten bewaffneten Konflikt wiederhergestellt wurde, und ob Ärzte und Krankenschwestern zurückgekehrt sind (IOM 18.6.2021, S. 3). Im ganzen Land herrscht ein Mangel an Ärzten und Krankenschwestern, eine Situation, die sich durch den anhaltenden Konflikt und die langfristige Abwanderung von medizinischen Fachkräften noch verschärft hat (DFAT 16.1.2023, S. 8). Verzögerungen bei der Erstellung eines Budgets 2020 wegen der COVID-19-Pandemie hatten einen Anstieg der Preise für Waren, insbesondere für Medikamente, zur Folge (BS 23.2.2022, S. 19).
Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt. In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber das Land verlassen (AA 28.10.2022, S. 23), aus Angst vor Entführung oder Repression (AA 25.10.2021, S. 25).
Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 28.10.2022, S. 24). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).
In einer Umfrage im Jahr 2021, in den Städten Bagdad, Basra und Mossul, geben 33 % der Befragten an, immer Zugang zu einem Arzt (Allgemeinmediziner) zu haben, während 58 % einen begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang haben. 53 % der Befragten in Mossul haben nur eingeschränkten oder stark eingeschränkten Zugang zu einem Allgemeinmediziner, ebenso wie 60 % in Basra und 59 % in Bagdad. 50 % der Kurden gegenüber 30 % der Araber geben an, immer Zugang zu einem Arzt zu haben. Was die Religionszugehörigkeit betrifft, so haben 46 % der schiitischen Muslime immer Zugang zu einem Arzt, während dies nur 28 % der sunnitischen Muslime und 25 % der Christen haben. Bei den Einkommensverhältnissen ist ein erheblicher Unterschied festzustellen: 91 % derjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, haben immer Zugang zu einem Allgemeinmediziner, während nur 20 % derjenigen, die weniger als 700.000 IQD verdienen, Zugang haben (STDOK/IRFAD 2021, S. 52-5 4). Bei der Umfrage aus dem Jahr 2023 gaben, befragt zum Zugang zur medizinischen Grundversorgung, z. B. durch einen Hausarzt, 54 % der Befragten an, immer Zugang zu haben und sich diesen auch leisten zu können (Männer 46 %, Frauen 61 %; Bagdad 55 %, Basra 52 %, Mossul 55 %), während 27 % zwar Zugang haben, sich aber einen Besuch beim Hausarzt nicht leisten können (Männer 33 %, Frauen 21 %; Bagdad 26 %, Basra 29 %, Mossul 27 %) und 19 % keinen Zugang haben (Männer 25 %, Frauen 18 %; Bagdad 21 %, Basra 19 %, Mossul 18 %). 21 % der Männer haben diese Frage nicht beantwortet (STDOK 2023, S. 42-43, 45-46).
Befragt zum Zugang zu Medikamenten und Arzneimitteln gaben 51 % an, immer Zugang zu haben und sich diesen auch leisten zu können (Männer 43 %, Frauen 59 %; Bagdad 49 %, Basra 50 %, Mossul 53 %), während 43 % zwar Zugang haben, sie sich aber nicht leisten können (Männer 50 %, Frauen 36 %; Bagdad 45 %, Basra 43 %, Mossul 42 %) und 6 % über keinen Zugang verfügen (Männer 7 %, Frauen 5 %; Bagdad 6 %, Basra 7 %, Mossul 5 %) (STDOK 2023, S. 42-43, 45-48).
Von allen Befragten haben gemäß der Umfrage aus dem Jahr 2021 32 % immer Zugang zu einem Zahnarzt, 52 % haben begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang und 14 % keinen Zugang. Auf regionaler Ebene haben 55 % in Mossul, 63 % in Basra und 43 % in Bagdad begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu einem Zahnarzt; 21 % in Bagdad haben keinen Zugang. 45 % der Kurden gegenüber 28 % der Araber geben an, immer Zugang zu einem Zahnarzt zu haben (25 % der Kurden haben keinen Zugang). 39 % der schiitischen Muslime, 27 % der sunnitischen Muslime und 39 % der Christen haben immer Zugang zu einem Zahnarzt (keinen Zugang haben 12 % der schiitischen Muslime, 15 % der sunnitischen Muslime und 19 % der Christen). Auch bei den Einkommensverhältnissen ist der Zugang unterschiedlich: 77 % derjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, haben immer Zugang zu einem Zahnarzt, während nur 22 % derjenigen, die weniger als 700.000 IQD verdienen, dies tun (STDOK/IRFAD 2021, S. 52-54).
Insgesamt haben 29 % immer und 57 % eingeschränkt oder stark eingeschränkt Zugang zu einem Facharzt (z. B. Gynäkologe, Kinderarzt usw.), wenn dieser benötigt wird. 59 % der Frauen und 57 % der Männer haben einen begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu einem Facharzt. In Mossul geben 40 % an, immer Zugang zu einem Facharzt zu haben, während dies nur 20 % in Basra und 28 % in Bagdad tun. Von den Kurden haben 43 % immer Zugang zu einem Facharzt, gegenüber 26 % der Araber. Was die Religionszugehörigkeit betrifft, so geben 38 % der schiitischen Muslime an, immer Zugang zu einem Facharzt zu haben, während dies 27 % der sunnitischen Muslime und 25 % der Christen tun. 70 % derjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, haben immer Zugang zu einem Facharzt. Bei Wenigerverdienern sind es nur 20 % (STDOK/IRFAD 2021, S. 52-54).
In allen drei untersuchten Städten haben 30 % der Befragten immer Zugang zu Krankenhäusern, um sich bei Bedarf behandeln oder operieren zu lassen, 54 % haben einen eingeschränkten oder stark eingeschränkten Zugang und 13 % keinen Zugang. Von den männlichen Befragten haben 32 % immer Zugang, während 17 % überhaupt keinen Zugang haben; von den weiblichen Befragten haben 27 % immer Zugang, während 10 % überhaupt keinen Zugang haben. 53 % der Einwohner von Mossul, 63 % von Basra und 49 % von Bagdad haben nur begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu Krankenhäusern. 45 % der Kurden haben immer Zugang zu Krankenhäusern, während 20 % überhaupt keinen Zugang haben. Von den Arabern haben 26 % immer Zugang, während 14 % keinen Zugang haben. Von den sunnitischen Muslimen geben 30 % an, immer Zugang zu Krankenhäusern zu haben (16 % haben keinen Zugang), ebenso wie 38 % der schiitischen Muslime (13 % haben keinen Zugang) und 21 % der Christen (16 % haben keinen Zugang). In der Einkommensgruppe über 700.000 IQD haben 68 % immer Zugang zu Krankenhäusern, während von denjenigen, die weniger verdienen, nur 20 % Zugang haben (und 16 % haben keinen Zugang) (STDOK/IRFAD 2021, S. 52-54).
Im Jahr 2023 haben 46 % der Umfrageteilnehmer angegeben, immer Zugang zu einem medizinischen Facharzt (Zahnarzt, Augenarzt, Gynäkologe, Urologe und Kinderarzt) zu haben und sich diesen auch leisten zu können (Männer 38 %, Frauen 54 %; Bagdad 51 %, Basra 41 %, Mossul 46 %). 40 % haben zwar Zugang, können sich diesen aber nicht leisten (Männer 47 %, Frauen 32 %; Bagdad 35 %, Basra 44 %, Mossul 41 %), während 14 % über keinen Zugang verfügen (Männer 15 %, Frauen 14 %; Bagdad 14 %, Basra 15 %, Mossul 13 %). 1 % hat die Frage nicht beantwortet. Zugang zu und Leistbarkeit von fortgeschrittenen Behandlungen ist für 22 % der Befragten gegeben (Männer 17 %, Frauen 27 %; Bagdad 26 %, Basra 17 %, Mossul 22 %). 38 % haben zwar Zugang, aber nicht die notwendigen finanziellen Mittel (Männer 45 %, Frauen 31 %; Bagdad 30 %, Basra 37 %, Mossul 47 %), während weitere 38 % keinen Zugang haben (Männer 37 %, Frauen 40 %; Bagdad 42 %, Basra 44 %, Mossul 30 %). 2 % haben die Frage nicht beantwortet. Zugang zu medizinischer Diagnostik (Radiologen, Labors) und deren Leistbarkeit besteht für 50 % der Befragten (Männer 44 %, Frauen 56 %; Bagdad 52 %, Basra 45 %, Mossul 53 %). 36 % haben Zugang, können sich diesen jedoch nicht leisten (Männer 41 %, Frauen 31 %; Bagdad 34 %, Basra 37 %, Mossul 37 %), während 14 % keinen Zugang haben (Männer 15 %, Frauen 13 %; Bagdad 14 %, Basra 18 %, Mossul 10 %) (STDOK 2023, S. 43-48).
36 % aller Befragten haben laut der Umfrage von 2021 alle, 36 % kaum die notwendigen Hygieneartikel, während 28 % kaum oder gar nicht über diese Artikel verfügen. Vor allem Frauen mangelt es an den notwendigen Hygieneartikeln, 34 % haben sie kaum oder gar nicht, gegenüber 23 % der Männer. Die Verfügbarkeit scheint in Bagdad am höchsten zu sein, wo 80 % angeben, kaum oder alle notwendigen Hygieneartikel zu besitzen, ebenso wie 67 % in Mossul und 60 % in Basra. 75 % der 26- bis 36-Jährigen geben an, kaum oder alle notwendigen Hygieneartikel zu besitzen, während 73 % der 19- bis 25-Jährigen und 58 % der 16- bis 18-Jährigen dies tun. 31 % der Araber, aber nur 15 % der Kurden geben an, dass sie kaum oder gar nicht über die notwendigen Hygieneartikel verfügen. Was die Religionszugehörigkeit betrifft, so verfügen 30 % der Christen, 31 % der schiitischen Muslime und 27 % der sunnitischen Muslime kaum oder gar nicht über die erforderlichen Hygieneartikel. 66 % derjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, haben alle notwendigen Hygieneartikel, während 32 % derjenigen, die weniger als 700.000 IQD verdienen, diese besitzen (STDOK/IRFAD 2021, S. 49-51).
Der Umfrage aus dem Jahr 2023 zufolge gab über die Hälfte (56 %) der Umfrageteilnehmer (n = 612) an, immer Zugang zu den notwendigen Hygieneprodukten zu haben (Bagdad 57 %, Basra 56 %, Mossul 54 %), während 34 % gerade noch (Bagdad 35 %, Basra 35 %, Mossul, 33 %) und 9 % kaum Zugang zu den notwendigen Hygieneartikeln haben (Bagdad 7 %, Basra 8 %, Mossul 11 %). Nur 1 % hat nie Zugang (Bagdad 1 %, Basra 1 %, Mossul 2 %). Im Geschlechtervergleich haben 62 % der Frauen und 50 % der Männer immer Zugang, während 37 % der Männer und 32 % der Frauen gerade so über alle notwendigen Hygieneprodukte verfügen, 11 %, bzw. 5 % kaum über den notwendigen Zugang zu Hygieneprodukten verfügen und 2 % bzw. 1 % keinen Zugang haben (STDOK 2023, S. 39-41).
44 % der Befragten geben in der Umfrage von 2021 an, dass sie immer Zugang zu Impfungen haben, während 51 % nur begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu Impfungen im Allgemeinen haben. Zu den COVID-19-Impfungen haben 55 % der Befragten immer Zugang, während 40 % nur begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang haben. Auf regionaler Ebene haben 35 % der Befragten in Bagdad, 55 % in Basra und 52 % in Mossul immer Zugang zu Impfungen, während 59 % in Mossul, 61 % in Basra und 51 % in Bagdad angeben, vollen Zugang zu COVID-19-Impfungen zu haben. 50 % der Kurden und 43 % der Araber haben immer Zugang zu Impfungen, während 80 % der Kurden und 51 % der Araber immer Zugang zu COVID-19-Impfungen haben. Was die Religionszugehörigkeit betrifft, so haben 55 % der schiitischen Muslime, 37 % der sunnitischen Muslime und 39 % der Christen uneingeschränkten Zugang zu Impfungen; uneingeschränkter Zugang zu COVID-19-Impfungen wird von 70 % der schiitischen Muslime, 46 % der sunnitischen Muslime und 55 % der Christen angegeben. Das Einkommensniveau ist ausschlaggebend für den kontinuierlichen Zugang zu Impfungen: Von denjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, haben 86 % immer Zugang zu Impfungen und 91 % zu COVID-19-Impfungen, während von denjenigen, die weniger verdienen, nur 34 % immer Zugang zu Impfungen und 52 % zu COVID-19-Impfungen haben (STDOK/IRFAD 2021, S. 51-54). Im Jahr 2023 gaben 41 % der Befragten an, immer Zugang zu Impfungen zu haben und sie sich leisten zu können (Männer 38 %, Frauen 44 %; Bagdad 43 %, Basra 39 %, Mossul 40 %). Zugang, ohne ihn sich leisten zu können, haben 35 % (Männer 36 %, Frauen 34 %; Bagdad 34 %, Basra 36 %, Mossul 35 %) und 24 % haben keinen Zugang (Männer 25 %, Frauen 21 %; Bagdad 22 %, Basra 24 %, Mossul 24 %). In allen drei Städten hat je 1 % der Befragten diese Frage unbeantwortet gelassen (STDOK 2023, S. 42-48).
Nachdem von Anfang 2020 bis September 2020 infolge der COVID-19-Pandemie die meisten Dienste der Gesundheitseinrichtungen eingestellt waren, und für den Rest des Jahres lange Wartezeiten vorherrschten und strenge Hygienemaßnahmen galten, boten im Jahr 2021 sowohl der öffentliche als auch der private Gesundheitssektor ihre Arbeit beinahe wieder normal an, jedoch mit hohen Vorsichtsmaßnahmen gegen die Ausbreitung von COVID-19, wie vom irakischen Gesundheitsministerium (MoH) angewiesen (IOM 18.6.2021, S. 3). Das Gesundheitsministerium wandte sich angesichts der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den öffentlichen Gesundheitssektor an private Einrichtungen, um die Regierung bei der Krisenbewältigung zu unterstützen. So nutzte die Regierung beispielsweise das Andalus Hospital and Specialized Cancer Treatment Center in Bagdad, das einem irakischen Pathologen gehört (BS 23.2.2022, S. 25). Nach Angaben der irakischen Behörden wurden alle COVID-19-bedingten Beschränkungen zum 30.9.2023 aufgehoben (IOM 16.2.2024, S. 5).
Aufgrund der COVID-19-Pandemie stand die Bereitstellung grundlegender Gesundheitsdienste unter Druck. Familien haben nicht im gleichen Maße wie 2019 Zugang zu grundlegenden Diensten, einschließlich Impfungen und Gesundheitsfürsorge für Mutter und Kind. Schätzungsweise 300.000 Kinder laufen Gefahr, nicht geimpft zu werden, was zu Masernausbrüchen oder der Rückkehr von Polio führen könnte (UNOCHA 2021).
Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich (AA 28.10.2022, S. 24). Für ausländische Staatsangehörige, wie Palästinenser, syrische Staatsangehörige oder Staatenlose, kann der Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung gegen eine geringe Gebühr unterschiedlich sein. Einige ausländische Staatsangehörige können aufgrund ihres Aufenthaltsstatus oder ihrer Staatsangehörigkeit auf Zugangsbarrieren und Beschränkungen stoßen. Die Zugänglichkeit von Gesundheitsdiensten für ausländische Staatsangehörige hängt vom jeweiligen Einzelfall ab (IOM 16.2.2024, S. 5).
Medizinische Versorgung in der Kurdistan Region Irak (KRI)
Letzte Änderung 2023-10-09 16:22
Das öffentliche Gesundheitssystem in der Kurdistan Region Irak (KRI) wird durch das Gesundheitsministerium (MoH) in Erbil verwaltet. Es gibt fünf Gesundheitsdirektionen (DoH) des MoH, eine in Dohuk, eine in Erbil und drei in Sulaymaniyah: das Slemani DoH, das Germian DoH und das Rania DoH. Unter jeder der Direktionen gibt es Gesundheitssektoren auf Distriktebene. Finanziert wird das öffentliche Gesundheitssystem durch eine Haushaltszuweisung der Kurdischen Regionalregierung (KRG), aus der die Gehälter der im öffentlichen Sektor tätigen medizinischen Fachkräfte, sowie Medikamente, Verbrauchsmaterialien und Investitionen in die Infrastruktur des Gesundheitswesens, wie Gebäude und Geräte bezahlt werden. Dabei ist die KRG von Zahlungen der irakischen föderalen Regierung in Bagdad abhängig, die 17 % ihres Budgets ausmachten (MedCOI 8.2020, S.15).
Gesundheitsdienste werden hauptsächlich durch den öffentlichen Sektor angeboten, wobei auch der private Sektor und Nichtregierungsorganisationen nach und nach ihre Gesundheitseinrichtungen aufbauen (MedCOI 8.2020, S.15).
Die Gesundheitsversorgung in der KRI ist dreigeteilt. Primäre Gesundheitsversorgung wird durch Hauptzentren der primären Gesundheitsversorgung (PHC) sowie PHC-Unterzentren bereitgestellt. Im Jahr 2017 gab es in der KRI 548 PHCs. Diese sind mit mindestens einem Allgemeinmediziner besetzt und bieten eine medizinische Grundversorgung. Die meisten der PHCs versorgen mehr als 10.000 Personen. PHC-Unterzentren verfügen hingegen nicht über einen Arzt und ihre Leistungen sind in der Regel eingeschränkter. Sie stellen grundlegende Medikamente zur Verfügung und versorgen in der Regel etwa 2.000 Personen. Krankenhäuser bieten sekundäre und tertiäre Versorgung. Im Jahr 2017 gab es in der KRI 19 öffentliche und sieben private Krankenhäuser im Gouvernement Dohuk, 24 öffentliche und 19 private Krankenhäuser im Gouvernement Erbil sowie 33 öffentliche und 16 private Krankenhäuser im Gouvernement Sulaymaniyah (MedCOI 8.2020, S.16-18).
Die meisten Menschen leben in einem Umkreis von 30 Minuten um ein Zentrum der PHC, und die Gesamtzahl und Art der Gesundheitseinrichtungen (d.h. Krankenhäuser und PHCs) sind im weltweiten Vergleich ausreichend, jedoch ist die geografische Verteilung der angebotenen Leistungen, des Personals und der Ausstattung ungleichmäßig. In mehreren PHCs waren Labor- oder andere Geräte zwar vorhanden, aber nicht funktionsfähig, oder das PHC hatte keinen geschulten Nutzer für diese. Die KRG ist dabei, Gesundheitsinformationssysteme (HIS) und Evidenz für die Entscheidungsfindung zu verbessern, um damit auch die Behandlung zu verbessern und den Fortschritt hin zu einer universellen Gesundheitsversorgung zu beschleunigen (MedCOI 8.2020, S.18).
Die staatliche medizinische Versorgung in der KRI ist kostenlos bzw. sehr kostengünstig, allerdings qualitativ schlecht und mit langen Wartezeiten verbunden (AA 28.10.2022, S.24; vgl. IOM 18.6.2021, S.3). Private Krankenhäuser, auch auf hohem medizinischem Niveau, sind kostspielig und sind nur für die obere Mittelschicht leistbar (AA 28.10.2022, S.24). Es gibt keine privaten Krankenversicherungen, sodass Zahlungen in privaten Einrichtungen aus eigener Tasche bezahlt werden müssen (MedCOI 8.2020, S.18).
Staatsbürgerschaft und Dokumente
Letzte Änderung 2023-10-09 16:24
Artikel 18 der irakischen Verfassung besagt, dass jede Person, die zumindest über einen irakischen Elternteil verfügt, die Staatsbürgerschaft erhält und somit Anspruch auf Ausweispapiere hat (RIL 15.10.2005; vgl. USDOS 20.3.2023, DFAT 16.1.2023, S.41). Dies wird in Artikel 3 des irakischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 2006 bestätigt, jedoch wird in Artikel 4 darauf hingewiesen, dass Personen, die außerhalb des Iraks von einer irakischen Mutter geboren werden und deren Vater entweder unbekannt oder staatenlos ist, vom Minister für die irakische Staatsbürgerschaft in Betracht gezogen werden können. Dies geschieht, wenn sich die besagte Person innerhalb eines Jahres nach ihrer Volljährigkeit für die irakische Staatsbürgerschaft entscheidet. Wenn dies aus schwierigen Gründen unmöglich ist, kann die Person trotzdem noch um die irakische Staatsbürgerschaft ansuchen. In jedem Fall muss der Antragsteller zum Zeitpunkt seiner Bewerbung aber im Irak ansässig sein (RIL 7.3.2006). Eine Doppelstaatsbürgerschaft ist gemäß Artikel 10 des Staatsbürgerschaftsgesetzes No. 26/2006 möglich (RoI MoFA 2022a; vgl. AA 28.10.2022, S.25). Hohe Positionen in Politik, Verwaltung oder dem Sicherheitssektor setzen die Aufgabe der anderen Staatsangehörigkeit voraus (Art. 18 Abs. 4 der Verfassung). Diese Regelung wird jedoch nicht konsequent umgesetzt (AA 28.10.2022, S.25-26).
Jeder Iraker, der seine irakische Staatsangehörigkeit aufgegeben hat, weil er eine andere Staatsangehörigkeit angenommen hat, kann auf Antrag wieder eingebürgert werden (Art. 18 Abs. 3 lit. a der Verfassung i.V.m. Artikel 10 Abs. 3 des irakischen Staatsangehörigkeitsgesetzes). Jeder Iraker, dessen Staatsangehörigkeit aus politischen, religiösen, rassischen oder konfessionellen Gründen entzogen wurde, hat das Recht, seine irakische Staatsangehörigkeit (ohne Einbürgerung) zurückzufordern (Art. 18 Abs. 3 lit. a der Verfassung i.V.m. Art. 18 Abs. 1 des irakischen Staatsangehörigkeitsgesetzes) (AA 28.10.2022, S.25-26; vgl. DFAT 16.1.2023, S.41). Die Staatsangehörigkeit kann durch die irakischen Auslandsvertretungen festgestellt werden. Über die Gründlichkeit der Prüfung liegen keine Erkenntnisse vor (AA 28.10.2022, S.26; vgl. DFAT 16.1.2023, S.41).
Es gibt weder ein vergleichbares Meldewesen noch ein zentrales Personenstandsregister. Auch existiert kein einheitliches oder übliches Adressenformat (AA 28.10.2022, S.25).
Für die Ausstellung einer Geburtsurkunde für ein im Ausland geborenes Kind ist eine Registrierung bei der Konsularabteilung einer irakischen Botschaft notwendig. Der Vater des Kindes muss in der Konsularabteilung der Botschaft anwesend sein. Im Fall seines Ablebens ist der Ehevertrag ein erforderliches Dokument, um die Vaterschaft des Kindes zu belegen. Innerhalb von zwei Monaten nach dem Geburtstermin muss eine beglaubigte Geburtsbestätigung von der zuständigen Behörde des Landes, in dem die Geburt erfolgte, vorgelegt werden. Bei Verspätung ist eine Gebühr für die verzögerte Registrierung in Höhe von 10.000 irakischen Dinar (IQD) [Anm.: 7,18 € (Stand August 2023)] zu bezahlen (RoI MoFA 2022b).
Laut dem irakischen Passgesetz kann jede Person über 18 Jahren, unabhängig von ihrem Geschlecht und ohne Erlaubnis des Vormunds, einen Pass erhalten. Personen jünger als 18 benötigen die Erlaubnis ihres Vormunds (RIL 9.9.2015). Ein Personalausweis wird etwa für den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Nahrungsmittelhilfe, Gesundheitsversorgung, Beschäftigung, Bildung und Wohnen benötigt (USDOS 20.3.2023; vgl. FIS 17.6.2019). Er wird auch für die Beantragung anderer amtlicher Dokumente, wie den Reisepass, benötigt (FIS 17.6.2019).
Im Oktober 2015 ist ein neues nationales Ausweisgesetz in Kraft getreten. Laut diesem soll ein neuer biometrischer Personalausweis vier Karten ersetzen: den alten Personalausweis, den Staatsangehörigkeitsnachweis, den Aufenthaltsnachweis (FIS 17.6.2019; vgl. DFAT 16.1.2023, S.41) und den Lebensmittelausweis (FIS 17.6.2019). Seit der Jahreswende 2015/2016 werden die neuen Ausweise sukzessive ausgestellt (FIS 17.6.2019; vgl. DFAT 16.1.2023, S.41). Es ist unklar, wie weit die neuen Personalausweise verteilt und angenommen wurden (DFAT 16.1.2023, S.41). In den seit 2016 ausgestellten Personalausweisen ist die Religionszugehörigkeit des Inhabers nicht mehr vermerkt, obwohl bei der Online-Beantragung immer noch nach dieser Information gefragt wird, und ein Datenchip auf dem Ausweis weiterhin Angaben zur Religion enthält (USDOS 2.6.2022; vgl. DFAT 16.1.2023, S.42). Die einzigen Religionen, die auf dem Antrag für den nationalen Personalausweis angegeben werden können, sind: Christ, Sabäer-Mandäer, Jeside, Jude und Muslim. Es wird nicht zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen unterschieden, und es werden auch keine christlichen Konfessionen angegeben. Personen, die anderen Glaubensrichtungen angehören, können nur dann einen Personalausweis erhalten, wenn sie eine der angegebenen religiösen Optionen auswählen (DFAT 16.1.2023, S.42). Viele Iraker besitzen nach wie vor ihren alten Personalausweis und den erforderlichen Staatsbürgerschaftsnachweis. Zwar haben die alten Ausweise kein Ablaufdatum, doch werden sie laut irakischen Behörden im Jahr 2024 ihre Gültigkeit verlieren. Die alten Ausweise werden dabei nach wie vor an Orten ausgegeben, an denen die notwendigen Gegebenheiten für die Ausstellung der neuen Dokumente nicht vorhanden sind. Da Ausweise in der Regel nur an den Orten der Aufenthaltsmeldung ausgestellt werden, benötigen IDPs häufig die Hilfe anderer, um zumindest an einen alten Ausweis zu kommen ( FIS 17.6.2019).
Jedoch können Frauen ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters weder einen Reisepass beantragen noch einen Personalausweis bekommen (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 24.2.2022).
Auch 2021 wurden Personen, denen ein Naheverhältnis zum Islamischen Staat (IS) vorgeworfen wurde, eine Sicherheitsfreigabe, wichtige Identifikationskarten und andere zivile Papiere vorenthalten (HRW 13.1.2022). Der IS konfiszierte und zerstörte routinemäßig zivile und andere staatlich ausgestellte Dokumente und stellte stattdessen eigene Dokumente aus, die vom irakischen Staat nicht anerkannt werden, z.B. Heiratsurkunden (CCiC 1.4.2021; vgl. NRC 30.4.2019). Viele Familien haben ihre Dokumente während der Kämpfe verloren oder sie wurden von Sicherheitskräften beschlagnahmt - entweder nachdem die Betroffenen aus den vom IS kontrollierten Gebieten geflohen waren, oder als sie in den Lagern für Binnenvertriebene (IDPs) ankamen. Fehlende Sicherheitsfreigaben hindern Familien daran, zivile Dokumente zu erhalten oder zu erneuern. Bis heute fehlen schätzungsweise 37.980 Irakern, die in Binnenvertriebenenlagern leben, diverse zivile Dokumente. Die Zahl der Menschen, die außerhalb der Lager ohne Ausweispapiere leben, wird noch höher geschätzt, insbesondere angesichts der jüngsten Lagerschließungen. Internationale Organisationen warnen besonders vor der hohen Zahl von Kindern, denen zivile Dokumente fehlen (CCiC 1.4.2021). [Siehe dazu auch das Kapitel: (Mutmaßliche) IS-Mitglieder, IS-Sympathisanten und "IS-Familien" (Dawa‘esh)]
Jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, ist gegen Bezahlung zu beschaffen. Auch gefälschte Beglaubigungsstempel des irakischen Außenministeriums sind im Umlauf (AA 28.10.2022, S.25; vgl. DFAT 16.1.2023, S.44). Zudem kann nicht von einer verlässlichen Vorbeglaubigungskette ausgegangen werden (AA 28.10.2022, S.25). Dokumente, die im Rahmen religiöser Verfahren ausgestellt werden, wie Heirats-, Scheidungs- und Sorgerechtsurkunden, weisen schwache oder gar keine Sicherheitsmerkmale auf. Die durch den Personalausweis abgelösten Dokumente weisen schwächere Sicherheitsmerkmale auf als die biometrischen Ausweise und wurden möglicherweise nach veralteten oder unzuverlässigen Verfahren ausgestellt (DFAT 16.1.2023, S.44).
I.1.3. Zur Lage in der Türkei:
Sicherheitslage
Letzte Änderung 2024-03-07 13:56
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, S. 4; vgl.USDOS 30.11.2023) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16; vgl. USDOS 30.11.2023) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2023, S. 34). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022a). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage.
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (MBZ 18.3.2021, S. 12). Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 8.11.2023, S. 50). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023a), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Bergregionen im Südosten des Landes (MBZ 2.3.2022, S. 13). Die Lage im Südosten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge und ist in der Grenzregion präker, insbesondere nach den Erdbeben im Februar 2023. Die türkische Regierung hat zudem grenzüberschreitende Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und Syrien durchgeführt, und in den Grenzgebieten besteht ein Sicherheitsrisiko durch terroristische Angriffe der PKK (EC 8.11.2023, S. 4, 18). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK (und der Kurdistan Freiheitsfalken - TAK), in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis 24 24.11.2022). Die Berichte der türkischen Behörden deuten zudem darauf hin, dass die Zahl der PKK-Kämpfer auf türkischem Boden zurückgegangen ist (MBZ 31.8.2023, S. 16).
Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 20.3.2023a, S. 3, 29). Die Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 2.10.2023), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK unter anderem mit Drohnenangriffen in der irakischen Region Kurdistan, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten, von den USA und Großbritannien unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (HRW 12.1.2023a). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 20.3.2023a, S. 29). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 2.10.2023).
NZZ 18.1.2024 (Karte von Ende November 2021)
Zuletzt kam es im Dezember 2023 und Jänner 2024 zu einer Eskalation. - Am 12.1.2024 wurden bei einem Angriff der PKK auf eine türkische Militärbasis im Nordirak neun Soldaten getötet. Ende Dezember 2023 waren bei einer ähnlichen Aktion zwölf Armeeangehörige ums Leben gekommen. Die türkische Regierung berief umgehend einen Krisenstab ein und holte, wie stets in solchen Fällen, zu massiven Vergeltungsschlägen aus. Bis zum 17.1.2024 waren laut Verteidigungsministerium mehr als siebzig Ziele durch Luftangriffe zerstört worden. Die Türkei beschränkte ihre Vergeltungsaktionen nicht auf den kurdischen Nordirak, sondern griff auch Positionen der SDF sowie Infrastruktureinrichtungen im Nordosten Syriens an. Ankara betrachtet die SDF und vor allem deren wichtigste Einheit, die kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten (YPG), als Arm der PKK und somit als Staatsfeind (NZZ 18.1.2024; vgl. RND 14.1.2024).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2022 407 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten (İHD/HRA 27.9.2023a). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum Dezember 18.12.2023 6.875 Tote (4.573 PKK-Kämpfer, 1.454 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.020], aber auch 304 Polizisten und 130 sog. Dorfschützer - 622 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen (ICG 8.1.2024).
Quelle: ICG 8.1.2024
Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 8.11.2023, S. 18). Hierzu bekräftigte das Europäische Parlament im September 2023 neuerlich (nach Juni 2022), "dass die Wiederaufnahme eines verlässlichen politischen Prozesses, bei dem alle relevanten Parteien und demokratischen Kräfte an einen Tisch gebracht werden, dringend erforderlich ist, um sie friedlich beizulegen; [und] fordert die neue türkische Regierung auf, sich durch die Förderung von Dialog und Aussöhnung in diese Richtung zu bewegen" (EP 13.9.2023, Pt. 16).
Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 10.1.2024; vgl. EDA 2.10.2023). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis 24 24.11.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 20.3.2023a, S. 29).
2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AlMon 20.4.2022). Der damalige Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26.9.2022 das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, AN 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (AN 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AlMon 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AlMon 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (AnA 18.11.2022). Anfang Oktober 2023 kam es zu einem Bombenanschlag in Ankara. Ein Selbstmordattentäter hatte sich im Zentrum der Hauptstadt in die Luft gesprengt. Ein zweiter Täter wurde nach Angaben des Innenministeriums erschossen. Der Angriff richtete sich gegen den Sitz der Polizei und gegen das Innenministerium, die sich in einem Gebäudekomplex in der Nähe des Parlaments befinden. Bei einem Schusswechsel im Anschluss an die Explosion wurden zwei Polizisten leicht verletzt. Die PKK bekannte sich zu dem Anschlag (DW 1.10.2023a; vgl. Presse 4.10.2023). Nach dem Anschlag kam es zu landesweiten Polizei-Razzien in 64 Provinzen. Offiziellen Angaben zufolge wurden 928 Personen wegen illegalen Waffenbesitzes und 90 Personen wegen mutmaßlicher PKK-Mitgliederschaft verhaftet (AJ 3.10.2023). Die Zahl erhöhte sich hernach auf 145 (Alaraby 3.10.2023).
Das türkische Parlament stimmte im Oktober einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP) (die kurzzeitige Nachfolgerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei und inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt wurde) waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vgl. AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).
Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023
Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei für drei Monate in Kraft (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). - Dieser endete im Mai 2023 (JICA 23.8.2023). - Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).
Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind" (ANF 9.2.2023; vgl. FR24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023). - Die PKK verkündete, die neuen Angriffswellen der türkischen Sicherheitskräfte beklagend, Mitte Juni 2023 das Ende ihres einseitigen Waffenstillstands (SBN 14.6.2023; vgl. ANF 14.6.2023).
Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Letzte Änderung 2024-03-07 13:53
Die marxistisch orientierte Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê - PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27). Zu den Kernforderungen der PKK gehören eine kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung für die Kurden in ihren Siedlungsgebieten in der Türkei, aber auch im Nordirak und im Norden Syriens an. Maßgeblich bleibt hierbei allein die von den Führungskadern vorgegebene Parteilinie (BMIH/BfV 20.6.2023, S. 241; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27). Daneben konzentrieren sich die politischen Forderungen der PKK auf die Freilassung ihres seit 1999 inhaftierten Gründers Abdullah Öcalan respektive auf die Verbesserung seiner Haftbedingungen (BMIH/BfV 7.6.2022, S. 259; vgl. PKK 7.10.2021).
Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21).
Zu weiteren aktuellen Zahlen und Details siehe das Kapitel Sicherheitslage.
2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess", bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (i.e. Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien (gegen den Islamischen Staat) brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27f.). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Aktionen der Exekutive gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 1.6.2016). Der sog. Lösungsprozess wurde von Staatspräsident Erdoğan für gescheitert erklärt. Ab August 2015 trug die PKK den bewaffneten Kampf in die Städte des Südostens: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu versperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 28).
Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 18.12.2023 4.573 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe (ICG 8.1.2024). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen "Adlerklaue" und "Tigerkralle" gegen PKK-Stellungen im Nordirak (BMIBH 15.6.2021, S. 261).
Beispiele für rezente Vorfälle und Verhaftungen
Zu Verhaftungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern und PKK-Unterstützern kommt es weiterhin [zu Beispielen aus 2022 siehe vormalige Versionen der Länderinformationen Türkei.] Laut Jahresbilanz des Innenministeriums sollen 2022 gegen die PKK und syrische Schwesterorganisation, der sog. Volksverteidigungseinheiten - YPG [der militärische Arm der Partei der Demokratischen Union - PYD] 134.713 Operationen durchgeführt und dabei 8.410 Personen verhaftet worden sein. Bereits im Jänner 2023 folgten laut türkischem Innenministerium weitere 378 Festnahmen (BAMF 6.2.2023a, S. 11; vgl. YŞ 31.1.2023). Drei Wochen vor den Parlaments- und Präsidentenwahl (14.5.2023) startete die türkische Polizei einen sogenannten Anti-Terror-Einsatz. In 21 Provinzen wurden 110 Personen gefasst, die der verbotenen Kurden-Organisation PKK nahestehen sollen (DW 25.4.2023; vgl. Standard 25.4.2023). Am 9.2.2023 verkündete die PKK angesichts des Erdbebens in der Türkei einen einseitigen temporären Waffenstillstand (ANF 9.2.2023; vgl. FR24 10.2.2023). Mitte Juni, allerdings, beendete die PKK den Waffenstillstand mit dem Argument neuerlicher türkischer Militäroperationen (TDP 15.6.2023). Die PKK hatte sich Anfang Oktober zu einem Selbstmordanschlag in der Nähe des türkischen Parlaments in Ankara bekannt (DW 1.10.2023b). Staatliche Medien melden landesweit 145 Verhaftungen in Reaktion auf das Attentat in Ankara. Darüber hinaus erfolgten Luftangriffe auf PKK-Ziele im Nordirak (Spiegel 3.10.2023; vgl. Alaraby 3.10.2023). Mitte Jänner 2024 gab Innenminister Ali Yerlikaya bekannt, dass 165 Verdächtige, die mit der PKK in Verbindung stehen, bei landesweiten Operationen unter dem Namen "Heroes-43" festgenommen wurden. In Istanbul wurden zudem weitere 20 Verdächtige aus dem Frauennetzwerk der PKK verhaftet (DS 16.1.2024b; vgl. BNN 16.1.2024). Unter den Festgenommenen befanden sich allerdings auch Mitglieder der Friedensmütter, einer Gruppe von Frauen, die sich für Frieden und ein Ende des bewaffneten Konflikts in der Region einsetzen. Die Liste der Inhaftierten umfasste auch Aktivisten, Mitglieder politischer Parteien - wie beispielsweise der Partei der Demokratischen Regionen - DEM-Partei (Nachfolgerin der HDP) - Künstler und mehrere Personen, die der Verbreitung terroristischer Propaganda beschuldigt wurden (BNN 16.1.2024).
In einem Interview mit dem türkischen Internetportal T24 am 18.7.2022 sagte Selahattin Demirtaş, ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP und seit November 2016 inhaftiert, dass die PKK ihre Waffen niederlegen sollte. Demirtaş dementierte zudem, dass die HDP ein verlängerter Arm, Sprecherin oder Unterstützerin der PKK sei. Allerdings sah Demirtaş auch zwei Hindernisse, die einen Friedensprozess blockieren: einerseits das Beharren der türkischen Regierung auf Waffengewalt statt Verhandlungen, und andererseits die Isolationshaft des PKK-Chefs und -Gründers Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali (BZ 18.7.2022; vgl. T24 18.7.2022).
In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit "gefällt mir" markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 28).
Die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK)
Anfang der 2000er-Jahre versuchte die PKK sich neue Organisationsformen zu geben, begleitet von zahlreichen Umbenennungen, an deren Ende die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK), stand. 2005 gab sich die PKK im Rahmen des sogenannten KCK-Abkommens diese neue Organisationsform. Die Kontinuität PKK - KCK wurde im Abkommen festgeschrieben, wodurch jeder, der im Rahmen des KCK-Systems tätig ist, auch die ideologischen und moralischen Maßstäbe der PKK anwenden muss. So gesehen ist die KCK die ideologische und organisatorische Ummantelung der PKK (Posch 10.2.2016, S. 140f.). Bei der KCK handelt es sich um einen kurdischen Dachverband, dem neben der PKK auch ihre Schwesterparteien im Irak, im Iran und in Syrien sowie verschiedene gesellschaftliche Gruppen angehören (BMIBH 15.6.2021, S. 261, FN 92). Die Türkei hat in den letzten Jahren zahlreiche kurdische Politiker, Aktivisten und Journalisten wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur KCK inhaftiert und verurteilt (Rudaw 3.10.2021). Dieser Trend setzte sich fort. So wurden beispielsweise im Oktober 2021 im sog. KCK-Yüksekova-Fall von einem Gericht in Hakkâri 30 Personen wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu Haftstrafen zwischen acht Jahren und neun Monaten und 17,5 Jahren verurteilt (Bianet 4.10.2021, vgl. WKI 5.10.2021). Zu 17,5 Jahren wurde Remziye Yaşar, die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Yüksekova aus den Reihen der HDP, verurteilt (Rudaw 3.10.2021, vgl. TM 2.10.2021). Am 25.1.2022 wurde der Ko-Vorsitzende der HDP des Bezirks Iskenderun, Abdurrahim Şahin, wegen "Propaganda für eine illegale Organisation" zu zwei Jahren und einem Monat verurteilt (TİHV/HRFT 26.1.2022).
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2024-03-07 13:55
Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38; vgl. EC 8.11.2023, S. 6, 38). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023a, S. 1, 21; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38).
Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Es wurden keine Gesetzesänderungen verabschiedet, um die verbleibenden Elemente der Notstandsgesetze von 2016 aufzuheben (Stand Nov. 2023). Die Weigerung der Türkei, bestimmte Urteile des EGMR umzusetzen, gibt der Europäischen Kommission Anlass zur Sorge hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Türkei hat das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Juli 2022, das im Rahmen des vom Ministerkomitee gegen die Türkei eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens erging, nicht umgesetzt, was darauf hindeutet, dass die Türkei sich von den Standards für Menschenrechte und Grundfreiheiten, die sie als Mitglied des Europarats unterzeichnet hat, entfernt hat. Die Umsetzung des im Jahr 2021 angenommenen Aktionsplans für Menschenrechte wurde zwar fortgesetzt, kritische Punkte wurden jedoch nicht angegangen. - Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 8.11.2023, S. 6, 28). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).
Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören: willkürliche Tötungen; verdächtige Todesfälle von Personen im Gewahrsam der Behörden; erzwungenes Verschwinden; Folter; willkürliche Verhaftung und fortgesetzte Inhaftierung von Zehntausenden von Personen, einschließlich Oppositionspolitikern und ehemaligen Parlamentariern, Rechtsanwälten, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten wegen angeblicher Verbindungen zu "terroristischen" Gruppen oder aufgrund legitimer Meinungsäußerung; politische Gefangene, einschließlich gewählter Amtsträger; grenzüberschreitende Repressalien gegen Personen außerhalb des Landes, einschließlich Entführungen und Überstellungen mutmaßlicher Mitglieder der Gülen-Bewegung ohne angemessene Garantien für ein faires Verfahren; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, einschließlich Gewalt und Gewaltandrohung gegen Journalisten, Schließung von Medien und Verhaftung oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und anderen Personen wegen Kritik an der Regierungspolitik oder an Amtsträgern; Zensur; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; gravierende Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze bezüglich der staatlichen Aufsicht über nicht-staatliche Organisationen (NGOs); Restriktionen der Bewegungsfreiheit; Zurückweisung von Flüchtlingen; schwerwiegende Schikanen der Regierung gegenüber inländischen Menschenrechtsorganisationen; fehlende Ermittlungen und Rechenschaftspflicht bei geschlechtsspezifischer Gewalt; Gewaltverbrechen gegen Mitglieder ethnischer, religiöser und sexueller [LGBTQI+] Minderheiten (USDOS 20.3.2023a, S. 1f., 96; vgl. AI 28.3.2023, EEAS 30.3.2022, S. 16f.). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 20.3.2023a, S. 1f., 96; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 39).
Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (Rat der EU 14.12.2021b, S. 16, Pt. 34). Zuletzt zeigte sich (nach Mai 2022) das Europäische Parlament im September 2023 "nach wie vor besorgt über die schwerwiegenden Einschränkungen der Grundfreiheiten – insbesondere der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, für die das Gezi-Verfahren symbolhaft ist – und die anhaltenden Angriffe auf die Grundrechte von Mitgliedern der Opposition, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Gewerkschaftern, Angehörigen von Minderheiten, Journalisten, Wissenschaftlern und Aktivisten der Zivilgesellschaft, unter anderem durch juristische und administrative Schikanen, willkürliche Anwendung von Antiterrorgesetzen, Stigmatisierung und Auflösung von Vereinigungen" (EP 13.9.2023, Pt. 10).
Mit Stand 30.11.2023 waren 23.750 (30.11.2022: 20.300) Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 33,2 % (2022: 26,8 %) aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 12.2023; ECHR 12.2022), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Im Jahr 2024 stellte der EGMR für das Jahr 2023 in 72 Fällen (von 78) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 17, betrafen das Recht auf ein faires Verfahren, gefolgt vom Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), dem Versammlung- und Vereinigungsrecht (16), dem Recht auf Familien- und Privatleben (15) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (10) (ECHR 1.2024).
Das Recht auf Leben
Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD/HRA 6.11.2022b, S. 9).
Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Mutmaßliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte im Südosten, insbesondere während der Ereignisse im Jahr 2015, wurden nicht wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 30f.). Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt, insbesondere im Südosten des Landes (EC 12.10.2022, S. 33).
Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022b).
Siehe hierzu insbesondere die Kapitel bzw. Subkapitel: Sicherheitslage, Folter und unmenschliche Behandlung sowie Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland.
Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung 2024-03-07 13:54
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolischen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Jafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 20.3.2023a, S. 85). Allerdings wurden in den letzten Jahren Minderheiten in beschränktem Ausmaß kulturelle Rechte eingeräumt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Türkische Staatsangehörige nicht-türkischer Volksgruppenzugehörigkeit sind keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen. Ausweispapiere enthalten keine Aussage zur ethnischen Zugehörigkeit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 28.7.2022, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRG 6.2018b).
Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen (BS 23.2.2022a, S. 7). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (BPB 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.3.2023a, S. 85f.).
Hassreden gegen und Hassverbrechen an Angehörigen ethnischer und nationaler Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 8.11.2023, S. 43). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).
Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023a, S. 87).
Im Bereich der kulturellen Rechte gab es keine gesetzgeberischen Entwicklungen, die die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch ermöglicht hätten. Die gesetzlichen Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Sekundarschulen blieben bestehen (EC 8.11.2023, S. 44). Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache gelehrt werden darf (EC 19.10.2021, S. 41). An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch und Tscherkessisch angeboten. Allerdings wirken die Mindestanzahl von zehn Schülern für einen Kurs sowie der Mangel oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen. Universitätsprogramme sind in Kurdisch, Zazaki, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch vorhanden. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten, insbesondere der Kurden, ausgewirkt (EC 8.11.2023, S. 44).
Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023; S. 36).
Kurden
Letzte Änderung 2024-03-07 13:55
Demografie und Selbstdefinition
Die kurdische Volksgruppe hat laut Schätzungen ca. 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung und lebt zum Großteil im Südosten des Landes sowie in den südlichen und westlich gelegenen Großstädten Adana, Antalya, Gaziantep, Mersin, Istanbul und Izmir (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 47, UKHO 10.2023b, S. 6). Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20). Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Türkei, jedoch liegen keine Angaben über deren genaue Größe vor. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. - Erstens wird bei den türkischen Volkszählungen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen nicht erfasst. Zweitens verheimlichen einige Kurden ihre ethnische Zugehörigkeit, da sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer kurdischen Herkunft befürchten. Und Drittens ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer zum kurdischen Teil der Bevölkerung gehört. So identifizieren sich Sprecher des Zazaki - einer Sprachvariante, die mit Kurmandji ("Kurdisch") verwandt ist - teils als Kurden und teils eben als eine völlig separate Bevölkerungsgruppe (MBZ 31.8.2023, S. 47).
Allgemeine Situation, politische Orientierung und Vertretung
Es gibt Belege für eine anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über rassistische Angriffe gegen Kurden (auch) im Jahr 2023. In einigen Fällen wurden diese Angriffe möglicherweise nicht ordnungsgemäß untersucht oder nicht als rassistisch erkannt (UKHO 10.2023b, S. 8f.). Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. UKHO 10.2023b, S. 8f.).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) [inzwischen in Partei für Gleichberechtigung und Demokratie der Völker - DEM-Partei umbenannt] (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 48). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar tritt sie wie die HDP für die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem ein, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (MBZ 31.10.2019). Die Unterstützung wiederholte sich auch angesichts der Präsidenten- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2023. - Bei den Parlamentswahlen 2023 zogen vier Abgeordnete der Hüda-Par über die Liste der AKP ins türkische Parlament ein. Möglich war das durch einen umfangreichen Deal mit Präsident Erdoğan. Für die vier sicheren Listenplätze erhielt dieser die Unterstützung der Hüda-Par bei den gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen (FR 19.5.2023; vgl. Duvar 9.6.2023). Die Hüda-Par gilt beispielsweise nicht nur als Gegnerin der Istanbuler Konvention, sondern generell der Frauenemanzipation. Die Frau ist für Hüda-Par in erster Linie Mutter. Die Partei möchte zudem außereheliche Beziehungen verbieten (FR 19.5.2023). Mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober 2023 stellte sich die Hüda-Par als Unterstützerin der HAMAS heraus, die in der EU, den USA und darüber hinaus, nicht jedoch in der Türkei, als Terrororganisation gilt. So empfing die Parlamentsfraktion der Hüda-Par bereits am 11.10.2023 eine Delegation der HAMAS unter Führung von Basam Naim im türkischen Parlament. Şehzade Demir, Abgeordneter der Hüda-Par, warf bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Israel nicht nur Kriegsverbrechen vor, sondern erklärte, dass "das zionistische Regime der gesamten islamischen Gemeinschaft und unseren heiligen Werten den Krieg erklärt" hätte (Duvar 12.10.2023). Zudem begrüßte Demir den HAMAS-Angriff vom 7.10.2023 und nannte Israel eine Terrororganisation, zu der alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen beendet werden sollten (FR 12.10.2023).
Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobanê-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (MBZ 31.10.2019).
Religiöse Orientierung
In religiöser Hinsicht sind die Kurden in der Türkei nicht einheitlich. Nach einer Schätzung sind siebzig Prozent der Kurden Sunniten, die restlichen dreißig Prozent sind Aleviten und Jesiden [eine verschwindend geringe Zahl] (MBZ 31.8.2023, S. 48; vgl. MRG 6.2018c). Die sunnitische Mehrheit unter den Kurden gehören allerdings in der Regel der Shafi'i-Schule und nicht der Hanafi-Schule wie die meisten ethnischen Türken an. Die türkischen Religionsbehörden betrachten beide Schulen als gleichwertig, und Anhänger der Schafi'i-Schule werden aus religiösen Gründen nicht unterschiedlich behandelt. Kurdische Aleviten verstehen sich eher als Aleviten denn als Kurden (DFAT 10.9.2020, S. 20, 24).
Allgemeine Einschätzungen zur Lage der Kurden
Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich auch 2023 "besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Künstler, einschließlich Massenverhaftungen vor den Wahlen [2023] sowie über das laufende Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker". Überdies zeigte sich das EP "beunruhigt über die schwere und zunehmende Unterdrückung der kurdischen Gemeinschaft, insbesondere im Südosten des Landes, unter anderem durch die weitere Einschränkung der kulturellen Rechte und rechtliche Einschränkungen im Hinblick auf den Gebrauch der kurdischen Sprache als Unterrichtssprache im Bildungswesen" (EP 13.9.2023, Pt. 13, 16).
2022 zeigte sich das EP zudem "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 44).
Laut Europäischer Kommission dauern Hassverbrechen und Hassreden gegen Kurden an (EC 8.11.2023, S. 19). Auch das EP weist darauf hin, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 19.5.2021, S. 16f, Pt. 44).
Kurdische Zivilgesellschaft
Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023a, S. 85) und die meisten blieben es auch (EC 8.11.2023, S. 18, 44). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete. Allerdings wurde das Urteil des Verfassungsgerichts (mit Stand November 2023) nicht umgesetzt (EC 8.11.2023, S. 18f.; vgl. CCRT 8.4.2021).
Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes mit der Kurdischen Arbeiterpartei - PKK
Dennoch wird der Krieg der Regierung gegen die PKK zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen (FH 10.3.2023, F4).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli (Dersim) blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 20.3.2023a, S. 29, 85). Die Lage im Südosten bleibt besorgniserregend und wurde durch die Erdbeben im Februar 2023, von denen auch ein Teil der Region betroffen war, noch verschärft. Die Regierung setzte ihre inländischen und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen in Irak und Syrien fort, auch nach den Erdbeben. Die Sicherheitslage in den Grenzgebieten bleibt aufgrund der terroristischen Angriffe der PKK prekär (EC 8.11.2023, S. 18).
Für weiterführende Informationen siehe Kapitel "Sicherheitslage" und Unterkapitel "Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)".
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 18). Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise betroffen. In einem Prozess in Diyarbakır gegen 18 kurdische Journalisten und Medienschaffende, die der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" beschuldigt wurden, verbrachten 15 von ihnen 13 Monate (seit Juni 2022) in Untersuchungshaft, bevor sie bei ihrer ersten Anhörung im Juli freigelassen wurden (HRW 11.1.2024; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). In einem Verfahren in Ankara gegen 11 kurdische Journalisten verbrachten neun von ihnen sieben Monate in Untersuchungshaft, bevor sie im Mai 2023 bei ihrer ersten Anhörung freigelassen wurden (Die beiden Verfahren dauerten mit Stand Ende 2023 noch an.) (HRW 11.1.2024). Laut eigenen Angaben werden kurdische Journalisten schlicht wegen ihrer Berichte über die sich verschlimmernde Menschenrechtslage in den Kurdengebieten angeklagt (BIRN 8.12.2023). Vom Vorwurf der Terrorismusunterstützung sind nebst pro-kurdischen politischen Parteien [siehe hierzu das Unterkapitel "Opposition"] auch Vertreter kurdische NGOs und Vereine. - So hat ein Gericht in Diyarbakır Narin Gezgör, ein Gründungsmitglied der "Rosa Frauenvereinigung", einer kurdischen Frauenrechtsgruppe, im September 2023 wegen Terrorismus zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Zu den gegen Gezgör vorgebrachten Beweisen gehörten ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung sowie ihre Medieninterviews und anonymen Zeugenaussagen, die sie belasteten (SCF 11.9.2023).
Zur Verfolgung kurdischer Journalisten siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit/ Internet.
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig, so auch 2022, anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), am 1. Mai (WKI 3.5.2022) oder regelmäßig zum kurdischen Neujahrsfest Newroz. So wurden 2023 gemäß offiziellen Angaben 224 Personen in Istanbul anlässlich des Frühlingsfestes verhaftet (Duvar 20.3.2023).
Gewaltsame Übergriffe
Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (MBZ 2.3.2022, S. 43; USDOS 20.3.2023a). Im Juli 2021 veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021). Auch in den Jahren 2022 und 2023 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Beispiele: Bilder von Fans des Fußballklubs Bursaspor, die Spieler von Amedspor aus Diyarbakır mit scharfen Gegenständen, leeren Patronenhülsen und Flaschen bewarfen und dabei rassistische Parolen riefen, schockierten das Land im März 2023. Ein kurdischer Jugendlicher, der es wagte, ein Amedspor-Transparent hochzuhalten, wurde von Bursaspor-Anhängern brutal zusammengeschlagen. Ein anderer kurdischer Jugendlicher wurde eingekreist und gezwungen, den Wimpel der Heimmannschaft Bursaspor zu küssen. Amedspor-Spieler gaben an, dass sie in den Umkleidekabinen von "privaten Sicherheitsleuten, Sicherheitsbeamten des Vereins, Vereinsmitarbeitern und Polizeibeamten" schikaniert wurden (AlMon 6.3.2023). Anfang April 2023 kam es zu einem gewaltsamen Übergriff auf drei Bauarbeiter im Bezirk Bodrum der Provinz Muğla, weil sie Kurdisch sprachen. Die Angreifer griffen die kurdischen Arbeiter mit einer Schrotflinte, einer Axt und Eisenstangen an und setzten danach ihre Drohungen mit WhatsApp-Nachrichten fort (Gercek 3.4.2023; vgl. TİHV/HRFT 3.4.2023). Am 2.5.2023 wurde der kurdische Straßensänger Cihan Aymaz in Istanbul von einem Mann erstochen, da er verweigerte, das Lied "Ölürem Türkiyem" ("Ich würde für meine Türkei sterben") sofort zu singen, und zudem regelmäßig kurdische Lieder sang (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. Bianet 4.5.2023). Die Istanbuler Polizei hat kurdische Jugendliche daran gehindert, Halay, einen traditionellen kurdischen Volkstanz, zu kurdischer Musik zu tanzen und vier von ihnen nach einem Gerangel festgenommen. Anschließend tauchte ein Video auf, das zeigt, wie die Polizei die Festgenommenen zwingt, osmanische Militärmusik zu hören, während sie mit gefesselten Händen auf dem Boden liegen (Duvar 22.5.2023). Das Sicherheitspersonal eines Flughafens in Provinz Trabzon griff am 16.12.2023 vier Bauarbeiter an, weil sie sich auf Kurdisch unterhielten. Ein Arbeiter sagte, dass drei Angreifer auf die Polizeiwache gebracht wurden, obwohl sie eigentlich von etwa 25 Personen angegriffen wurden (Duvar 17.12.2023).
[Anmerkung: Für Beispiele vor dem Jahr 2023 siehe vormalige Versionen der Länderinformationen Türkei!]
Verwendung der kurdischen Sprache
Der Gebrauch von Kurdisch als Unterrichtssprache ist eingeschränkt. Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift, wobei die Kurdischkenntnisse vor allem in den Großstädten zurückgehen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Nur wenige politische Parteien haben muttersprachlichen Unterricht ausdrücklich in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirken sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus, und eine Reihe von Kunst- und Kulturgruppen in kurdischer Sprache wurden von den Treuhändern entlassen. Ein Dutzend Konzerte, Festivals und kulturelle Veranstaltungen wurden von den Gouvernements und Gemeinden mit der Begründung "Sicherheit und öffentliche Ordnung" verboten. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, Medien und zahlreiche Kunsträume blieben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016, was zu einer weiteren Beschneidung ihrer kulturellen Rechte beitrug (EC 8.11.2023; S. 44). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (MBZ 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AlMon 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8; vgl. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Dogan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. - Der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AlMon 10.8.2022; vgl.ÖB Ankara 30.11.2021). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Sprachkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022). Und im Jänner 2023 teilte der Parlamentsabgeordnete der HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, mit, dass zwei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Hevra festgenommen wurden, weil sie auf Kurdisch auf einem vom HDP-Jugendrat organisierten Konzert in Darıca nahe Istanbul gesungen haben (Duvar 23.1.2023).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Duvar 30.8.2021b). Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020). Die vom Staat ernannten Treuhänder im Südosten änderten weiterhin die ursprünglichen (kurdischen) Straßennamen (EC 8.11.2023; S. 44).
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 10). 2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).
Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S. 71).
Siehe auch das Unterkapitel: "Opposition" und bezüglich kurdischer Gefängnisinsassen das Kapitel: "Haftbedingungen"
Verwendung des Begriffes "Kurdistan"
Obwohl der einstige türkische Staatspräsident Abdullah Gül bei seinem historischen Besuch 2009 im Nachbarland Irak zum ersten Mal öffentlich das Wort "Kurdistan" in den Mund nahm, auch wenn er sich auf die irakische autonome Region bezog, galt dies damals als Tabubruch (FAZ 24.3.2009). Laut dem pro-kurdischen Internetportal Bianet lassen sich etliche Beispiele finden, wonach das Wort "Kurdistan" in der Türkei je nach der politischen Atmosphäre gesagt oder nicht gesagt werden kann. Das Wort "Kurdistan" zu sagen, kann eine Beleidigung sein oder auch nicht. Aber am gefährlichsten ist es immer, wenn Kurden "Kurdistan" sagen (Bianet 16.7.2019). - Während auch Erdoğan, damals Regierungschef, den Begriff anlässlich des Besuchs des Präsidenten der Kurdischen Region im Nordirak, Massoud Barzani, in Diyarbakır im Oktober 2013 verwendete (DW 19.11.2013), kam es kaum einen Monat später zu Spannungen im türkischen Parlament, weil in einem Bericht der pro-kurdischen BDP [Vorgängerpartei der HDP] zum Budgetentwurf der Regierung der Begriff "Kurdistan" zur Beschreibung der kurdischen Siedlungsgebiete in Ost- und Südostanatolien auftauchte. Die anderen Parteien im Parlament wandten sich gegen die Benutzung des Wortes, das bei türkischen Nationalisten als Ausdruck eines kurdischen Separatismus gilt. Während einer Debatte über den BDP-Bericht gingen Abgeordnete von BDP und ultra-nationalistischen MHP aufeinander los (Standard 10.12.2013).
2019 sagte Binali Yıldırım, der AKP-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von İstanbul, auf einer Kundgebung vor den Wahlen "Kurdistan", und als er darauf angesprochen wurde, antwortete er, dass das Wort Kurdistan jenes sei, welches Mustafa Kemal Atatürk für die Vertreter verwendet hatte, die während des Unabhängigkeitskampfes vor der Gründung der Republik aus dieser Region kamen. Für die "Vereinigung der Jugendbewegung Kurdistans" in Istanbul hingegen erklärte das Innenministerium, dass die Verwendung des Wortes "Kurdistan" ein Verstoß gegen Artikel 14 der Verfassung und Artikel 302 des türkischen Strafgesetzbuches sei. Es dürfe nicht im Namen einer Vereinigung verwendet werden. Es folgte eine Klage gegen den Verein (Bianet 16.7.2019). Und im Oktober 2021 verhaftete die Polizei in Siirt vorübergehend einen kurdischen Geschäftsmann, nachdem er während eines Streits mit einem nationalistischen Politiker seine Stadt als Teil von "Kurdistan" bezeichnet hatte. Ihm wurde vorgeworfen, Propaganda für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu machen (Rudaw 29.10.2021).
Die Auseinandersetzung hinsichtlich der Verwendung des Begriffes "Kurdistan" hat mittlerweile selbst den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erreicht. - Dieser entschied am 13.6.2023, dass die türkischen Behörden die Rechte des ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Volkspartei (HDP), Osman Baydemir, verletzt hatten, indem sie gegen ihn eine Strafe verhängten, weil er 2017 während einer Rede im Parlament den Begriff "Kurdistan" verwendet hatte. In seinem Urteil vom 13.6.2023 stellte der EGMR fest, dass Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über "Meinungsfreiheit" verletzt worden sei. Der EGMR verurteilte die Türkei zur Zahlung einer Entschädigung von 16.957 Euro an Baydemir (Duvar 13.6.2023; vgl. ECHR 13.6.2023).
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung 2024-03-07 13:54
Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 57). So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 10.3.2023, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 57).
Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 28.7.2022, S. 23, 26).
Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, S. 27f.; vgl.ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, S. 27). Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Und Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022). Und vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Parlamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023).
Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit online 16.11.2023).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, S. 27f).
Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 20.3.2023a, S. 57f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45).
Das türkische Verfassungsgericht hob Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung auf, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Das Verfassungsgericht entschied überdies Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung 2024-03-07 13:54
Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10 % tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54). Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54; vgl. MPI-SRSP 3.2022), genauer, wenn das Haushaltseinkommen pro Person ein Drittel des Bruttomindestlohns unterschreitet (MPI-SRSP 3.2022). Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit ( REFERENCE NOT FOUND: SGK 2016).
Die Gesundheitsausgaben der Haushalte für Behandlungen, Arzneimittel usw. aus eigener Tasche erreichten im Jahr 2022 knapp über 112 Milliarden Lira, was einem Anstieg von 98,8 % gegenüber dem Vorjahr entsprach. Der Anteil der Gesundheitsausgaben der privaten Haushalte an den gesamten Gesundheitsausgaben lag 2022 bei 18,5 %, während dieser 2021 noch 15,9 % ausmachte (TUIK 7.12.2023).
Personen, die über eine Sozial- oder Krankenversicherung verfügen, können im Rahmen dieser Versicherung kostenlose Leistungen von Krankenhäusern in Anspruch nehmen. Die drei wichtigsten Organisationen in diesem Bereich sind:
Sozialversicherungsanstalt (SGK): für die Privatwirtschaft und die Arbeiter des öffentlichen Dienstes. Nach dem Gesetz haben alle Personen, die auf der Grundlage eines Dienstvertrags beschäftigt sind, Anspruch auf Sozialversicherung und Gesundheitsfürsorge.
Sozialversicherungsanstalt für Selbstständige (Bag-Kur): Diese Einrichtung deckt die Selbstständigen ab, die nicht unter das Sozialversicherungsgesetz (SGK) fallen. Dies sind Handwerker, Gewerbetreibende, Kleinunternehmer und Selbstständige in der Landwirtschaft.
Pensionsfonds für Beamte (Emekli Sandigi): Dies ist ein Pensionsfonds für Staatsbedienstete im Ruhestand, der auch eine Krankenversicherung umfasst (EUAA 8.4.2023).
GSS - Allgemeine Krankenversicherung
Für diejenigen, die nicht krankenversichert sind, wurde mit dem durch das Sozialversicherungs- und Allgemeine Krankenversicherungsgesetz allen türkischen Bürgern der Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglicht. Das GSS erfasst Personen, die gesetzlich pflichtversichert oder freiwillig versichert sind; Personen, die ein Einkommen oder eine Pension nach dem Gesetz Nr. 5510 über die soziale Sicherheit und die allgemeine Krankenversicherung beziehen; Bürger, deren Familieneinkommen pro Kopf weniger als ein Drittel des Mindestlohns beträgt; sowie türkische Staatsbürger, die nicht über eine allgemeine Krankenversicherung verfügen, oder Unterhaltsberechtigte ohne Einkommensermittlung, Kinder unter 18 Jahren, Personen, die Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld beziehen. - Der Antrag für die allgemeine Krankenversicherung wird bei den Sozialhilfe- und Solidaritätsstiftungen innerhalb der Verwaltungsgrenzen der Provinz oder des Bezirks gestellt, in der/dem der Wohnsitz der Person im adressbasierten Melderegister eingetragen ist. Was die Kosten betrifft, so beträgt die allgemeine Krankenversicherungsprämie für Personen, deren Einkommen über einem Drittel des Bruttomindestlohns liegt, 3 % dieses Bruttomindestlohns. Die Höhe der von den Versicherten im Jahr 2023 zu zahlenden allgemeinen Krankenversicherungsprämie beträgt rund 300 Lira pro Monat (EUAA 8.4.2023).
Selbstbehalt (Zuzahlungen)
Beim Selbstbehalt (i.e. Zuzahlung) handelt es sich um einen kleinen Betrag, der von den Bürgern gezahlt wird und der als Zuzahlung für Untersuchungen bezeichnet wird. Mit anderen Worten, die Zuzahlung bzw. Selbstbehalt bezieht sich auf die Gebühr, die Versicherte und Rentner oder ihre abhängigen Angehörigen für die Gesundheitsdienstleistungen zahlen, die sie von Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern, Hausärzten, Gesundheitszentren usw. erhalten. Die Zuzahlung wird für ambulante Untersuchungen erhoben, mit Ausnahme derjenigen, die bei primären Gesundheitsdienstleistern, d. h. bei Hausärzten, durchgeführt werden. Die Zuzahlung beträgt 6 Lira in öffentlichen Einrichtungen der sekundären Gesundheitsversorgung, 7 Lira in Ausbildungs- und Forschungskrankenhäusern des Gesundheitsministeriums, die gemeinsam mit Universitäten genutzt werden, und 8 Lira in Universitätskliniken. Zuzahlungen bzw. Selbstbehalte bei Medikamenten werden von der Apotheke bei der ersten Beantragung eines Rezepts erhoben. Im Falle einer ambulanten Behandlung sind die Sätze: 10 % der Arzneimittelkosten für Rentner und deren Angehörige, 20 % der Medikamentenkosten für andere Versicherte und deren Angehörige (EUAA 8.4.2023).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Private Versicherungen können, je nach Umfang und Deckung, hohe Behandlungskosten übernehmen. Innerhalb der SGK sind Impfungen, Laboruntersuchungen zur Diagnose, medizinische Untersuchungen, Geburtsvorbereitung und Behandlungen nach der Schwangerschaft sowie Notfallbehandlungen kostenlos. Der Beitrag für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenversicherung (GSS) hängt vom Einkommen des Leistungsempfängers ab - ab 150,12 Lira für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 8.2022). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SRSP 3.2021, S. 15).
Rückkehrende mit einer Aufenthaltserlaubnis, die dauerhaft (seit mindestens einem Jahr) in der Türkei leben und keine Krankenversicherung nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes haben, müssen eine monatliche Pflichtgebühr entrichten. Die Begünstigten müssen sich registrieren lassen und die Versicherungsprämie für mindestens 180 Tage im Voraus bezahlen, damit sie in den Genuss des Sozialversicherungssystems bzw. der Gesundheitsversorgung zu kommen. Die Versicherung tritt automatisch in Kraft, und die Begünstigten können das System auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch weitere sechs Monate in Anspruch nehmen. Die Versicherung muss mindestens 60 Tage vor der Diagnose abgeschlossen worden sein. - Rückkehrende können sich über Sozialversicherungsämter im ganzen Land anmelden (IOM 8.2022).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 28.7.2022, S. 21).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Ízmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, S. 22).
Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Mit Stand März 2021 waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SRSP 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SRSP 20.6.2020).
Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind. Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes (TTB) ist die Zahl der abwandernden Mediziner besonders in den letzten vier Jahren explodiert. Während im Jahr 2012 insgesamt nur 59 von ihnen ins Ausland gingen, kehrten zwischen 2017 und 2021 fast 4.400 Ärzte dem Land den Rücken (FNS 31.3.2022b). TTB-Generalsekretär Vedat Bulut erklärte, dass im Jahr 2021 1.405 Ärzte ins Ausland gingen, während die Prognose für 2022 bei 2.500 lag. Etwa 55 % von ihnen sind Fachärzte (Duvar 23.5.2022). Eine der Hauptursachen für die Abwanderung, nebst der Wirtschaftskrise, ist die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt fast 12.000 Fälle von Gewalt gegen medizinisches Fachpersonal, darunter auch mehrere Todesfälle (FNS 31.3.2022b).
II.2. Beweiswürdigung:
II.2.1. Das erkennende Gericht hat durch die vorliegenden Verwaltungsakte Beweis erhoben und ein ergänzendes Ermittlungsverfahren sowie eine Beschwerdeverhandlung durchgeführt. Der festgestellte Sachverhalt in Bezug auf den bisherigen Verfahrenshergang steht aufgrund der außer Zweifel stehenden Aktenlage fest und ist das ho. Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.
Ergänzend nahm das BVwG in tagesaktuelle länderkundliche Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer Einsicht, welche in den verfahrensrelevanten Teilen als notorisch vorausgesetzt werden können.
Die Feststellungen zur Person der BF ergeben sich aus deren in diesem Punkt nicht widerlegten Angaben, den vorgelegten Dokumenten sowie ihren Sprach- und Ortskenntnissen.
Zur Auswahl der Quellen, welche zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat herangezogen wurden, ist anzuführen, dass es sich hierbei aus der Sicht des erkennenden Gerichts um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen -sowohl staatlichen, als auch nichtstaatlichen Ursprunges- handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten – von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates, über den berichtet wird, zur Kenntnis gelangen – diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um Sachverhalte geht, für die ausländische Regierungen verantwortlich zeichnen, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteiennahme weder für den potentiellen Verfolgerstaat, noch für die behauptetermaßen Verfolgten unterstellt werden kann. Hingegen findet sich hinsichtlich der Überlegungen zur diplomatischen Zurückhaltung bei Menschenrechtsorganisationen im Allgemeinen das gegenteilige Verhalten wie bei den oa. Quellen nationalen Ursprunges. Der Organisationszweck dieser Erkenntnisquellen liegt gerade darin, vermeintliche Defizite in der Lage der Menschenrechtslage aufzudecken und falls laut dem Dafürhalten –immer vor dem Hintergrund der hier vorzunehmenden inneren Quellenanalyse- der Organisation ein solches Defizit vorliegt, dies unter der Heranziehung einer dem Organisationszweck entsprechenden Wortwahl ohne diplomatische Rücksichtnahme, sowie uU mit darin befindlichen Schlussfolgerungen und Wertungen –allenfalls unter teilweiser Außerachtlassung einer systematisch-analytischen wissenschaftlich fundierten Auswertung der Vorfälle, aus welchen gewisse Schlussfolgerungen und Wertungen abgeleitet werden- aufzuzeigen (vgl. Erk. des AsylGH vom 1.8.2012, Gz. E10 414843-1/2010).
II.2.2. Die getroffenen Feststellungen ergeben sich daher im Rahmen einer ausgewogenen Gesamtschau unter Berücksichtigung der Aktualität und der Autoren der einzelnen Quellen. Auch kommt den Quellen im Rahmen einer Gesamtschau Aktualität zu (zur den Anforderungen an die Aktualität einer Quelle im Asylverfahren vgl. etwa Erk. d. VwGH v. 4.4.2001, Gz. 2000/01/0348). Eine maßgebliche Änderung der asyl- und abschieberelevanten Situation ist seit Erlassung der erstinstanzlichen Entscheidungen nicht eingetreten.
Im gegenständlichen Fall ist anzuführen, dass die belangte Behörde ein mängelfreies, ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchführte und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung in der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenfasste. Die Erstbehörde hat sich mit dem individuellen Vorbringen auseinandergesetzt und auch die von den BF in ihren Herkunftsstaaten vorzufindende allgemeine Lage mit jener, welche die BF bei Erlassung der erstinstanzlichen Bescheide vorfanden, verglichen.
Die BF traten den Quellen und deren Kernaussagen, welche in den Länderfeststellungen getroffen wurden, nicht konkret und substantiiert entgegen.
In Bezug auf den weiteren festgestellten Sachverhalt ist anzuführen, dass die von der belangten Behörde vorgenommene Beweiswürdigung (VwGH 28.09.1978, Zahl 1013, 1015/76; Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 5. Auflage, § 45 AVG, E 50, Seite 305) im hier dargestellten Rahmen im Sinne der allgemeinen Denklogik und der Denkgesetze in sich schlüssig und stimmig ist.
Im Rahmen der oa. Ausführungen ist durch das erkennende Gericht anhand der Darstellung der persönlichen Bedrohungssituation eines Beschwerdeführers und den dabei allenfalls auftretenden Ungereimtheiten -– z. B. gehäufte und eklatante Widersprüche (z. B. VwGH 25.1.2001, 2000/20/0544) oder fehlendes Allgemein- und Detailwissen (z. B. VwGH 22.2.2001, 2000/20/0461) - zu beurteilen, ob Schilderungen eines Asylwerbers mit der Tatsachenwelt im Einklang stehen oder nicht.
Auch wurde vom Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass es der Verwaltungsbehörde [nunmehr dem erkennenden Gericht] nicht verwehrt ist, auch die Plausibilität eines Vorbringens als ein Kriterium der Glaubwürdigkeit im Rahmen der ihr zustehenden freien Beweiswürdigung anzuwenden. (VwGH v. 29.6.2000, 2000/01/0093).
Weiter ist eine abweisende Entscheidung im Verfahren nach § 7 AsylG [numehr: § 3 AsylG] bereits dann möglich, wenn es als wahrscheinlich angesehen wird, dass eine Verfolgungsgefahr nicht vorliegt, das heißt, mehr Gründe für als gegen diese Annahme sprechen (vgl zum Bericht der Glaubhaftmachung: Ackermann, Hausmann, Handbuch des Asylrechts [1991] 137 f; s.a. VwGH 11.11.1987, 87/01/0191; Rohrböck AsylG 1997, Rz 314, 524).
II.2.3. Nach der Rechtsprechung des VwGH ist der Begriff der Glaubhaftmachung im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinn der Zivilprozessordnung zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der hierzu geeigneten Beweismittel, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers, voraus (vgl. VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0058 mwN). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt ebenso wie die Beweisführung den Regeln der freien Beweiswürdigung (VwGH 27.05.1998, Zl. 97/13/0051). Bloßes Leugnen oder eine allgemeine Behauptung reicht für eine Glaubhaftmachung nicht aus (VwGH 24.02.1993, Zl. 92/03/0011; 01.10.1997, Zl. 96/09/0007). Im Falle der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers sind positive Feststellungen von der Behörde nicht zu treffen (VwGH 19.03.1997, Zl. 95/01/0466).
Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit von Angaben eines Asylwerbers hat der Verwaltungsgerichtshof als Leitlinien entwickelt, dass es erforderlich ist, dass der Asylwerber die für die ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert (VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294) und dass diese Gründe objektivierbar sind (VwGH 05.04.1995, Zl. 93/18/0289). Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, genügt zur Dartuung von selbst Erlebtem grundsätzlich nicht. Der Asylwerber hat im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage und allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert wahrheitsgemäß darzulegen (VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069; 30.11.2000, Zl. 2000/01/0356). Die Mitwirkungspflicht des Asylwerbers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in seiner Sphäre gelegen sind, und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214).
Es entspricht ferner der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, wenn Gründe, die zum Verlassen des Heimatlandes beziehungsweise Herkunftsstaates geführt haben, im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens bzw. der niederschriftlichen Einvernahmen unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, Zl. 95/20/0650). Die Unkenntnis in wesentlichen Belangen indiziert ebenso mangelnde Glaubwürdigkeit (VwGH 19.03.1997, Zl. 95/01/0466).
II.2.4. Der belangten Behörde ist insofern zuzustimmen, als sie zum Schluss kommt, dass der BF1 in der Türkei und die übrigen BF im Irak keiner asylrelevanten Bedrohung ausgesetzt waren bzw. im Fall ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.
Darüber hinaus geht aber auch das BVwG aus folgenden Erwägungen von der Unglaubwürdigkeit der Angaben der BF aus:
Ein Indiz dafür ist bereits der Umstand, dass die BF weder in Griechenland, Albanien, dem Kosovo, Serbien, Bosnien, Kroatien oder Slowenien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben. Wären die BF in der Heimat tatsächlich asylrelevant verfolgt worden, wäre es nach allgemeinem Menschenverstand eigentlich naheliegend gewesen, dass sie bei erster Gelegenheit in Sicherheit um Schutz gebeten hätten. Das Gericht geht deswegen davon aus, dass die BF den Irak bzw. die Türkei aus einzig wirtschaftlichen Gründen verließen. So gab die BF2 auch im Rahmen der freien Erzählung zum Ausreisegrund an, dass sie nur wegen einer besseren Zukunft für ihre Kinder und ihren Gatten nach Österreich gereist sind. Weiter gab sie noch oberflächlich und pauschal an, dass sie im Irak keine Rechte hätten. Zudem teilte die BF2 in der mündlichen Verhandlung noch mit, dass die Leute aus den angeführten Staaten selbst nach Österreich kämen. Diese Länder seien nicht das Ziel gewesen. Diese Aussagen demonstrieren bereits sehr deutlich, dass die BF aus rein wirtschaftlichen Gründen nach Österreich gereist sind.
Der BF1 teilte zum Ausreisegrund in der Erstbefragung mit, dass er 1993 mit seinen Eltern und Geschwistern aufgrund der Kämpfe der türkischen Armee aus der Türkei in den Irak geflüchtet ist. Sein Vater sei von den Türken verfolgt, sein Dorf in Brand gesteckt worden. Im Irak sei es auch nicht sicher, weil es dort immer Krieg gäbe. Um seiner Familie eine Zukunft zu geben habe er sich entschlossen, den Irak in Richtung Österreich zu verlassen. Die BF2 gab an, dass im Irak Krieg herrscht und sie Angst um sich und ihre Kinder habe, weil dort vergewaltigt und getötet würde. Bezüglich der minderjährigen BF wurden keine eigenen Gründe bekannt gegeben. Auch diesen Angaben ist eine konkrete individuelle Verfolgung nicht zu entnehmen bzw. geht auch daraus relativ eindeutig hervor, dass die Gründe in einer Verbesserung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation zu suchen sind.
In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA gab der BF1 dann zum Ausreisegrund befragt allgemein bekannt, dass sein Herkunftsort in der Türkei nicht mehr existiere. Dieser sei von der Regierung in Brand gesteckt und die Bewohner seien ermordet worden. Zudem dürfe er in der Türkei nicht kurdisch sprechen, weil Kurden in der Türkei nicht akzeptiert würden. Er lebe schon lange im Irak und die Flüchtlinge dürften nicht in die Türkei zurück. Die Frage, ob er alles vorgebracht habe, beantwortete der BF dann deutlich gesteigert damit, dass er politisch aktiv gewesen sei. Er würde mit der PKK auf Gemeindeebene zusammenarbeiten, ein Mitglied der PPK sei er jedoch nicht, er würde auch nicht für die PKK kämpfen. Weiter legte er zur Untermauerung seines Vorbringens mehrere Fotos vor. Auf einem der Fotos wäre ein gewisser Haci Yildi zu sehen, der von der irakischen PDK zu 45 Tagen Haft verurteilt worden sei, weil er Mitglied der PKK gewesen sein soll. Drei Tage nach der Freilassung sei er verstorben. Der BF1 selbst sei in Erbil von der Polizei bedroht worden, weil er Putzkräfte in das Krankenhaus gelassen habe. Man habe ihm unterstellt, dass er Mitglieder der PKK in das Krankenhaus schleusen wollte. Auf Nachfrage gab er bekannt, dass die Fotos 2016 angefertigt worden sein sollen.
Dazu bleibt festzuhalten, dass sich die beschriebenen Vorfälle offenbar Jahre vor der Ausreise der BF ereignet haben sollen. Ein zeitlicher Konnex zur Ausreise kann damit jedoch nicht hergestellt werden. Zur behaupteten Inhaftierung des Haci Yildi muss in aller Deutlichkeit festgehalten werden, dass es sich bei der PKK zweifelsfrei um eine terroristische Vereinigung handelt. Auch erhellt sich dem Bundesverwaltungsgericht nicht, welchen Zusammenhang zu seiner Person der BF1 herstellen möchte, wenn er bekannt gab, dass diese Person drei Tage nach der Enthaftung verstorben sein soll. Dass sie seitens der Regierung ermordet worden wäre, behauptete der BF1 nämlich mit keinem Wort.Auch ist es nicht ansatzweise glaubwürdig, dass der BF1 von der Polizei bedroht worden sei, weil ihm eine Mitgliedschaft in der PKK unterstellt worden wäre. In einem solchen Fall wäre er nämlich, ebenso wie dieser Haci Yildi, zumindest zur Polizeistation mitgenommen, dort befragt und in weiterer Folge auch – zumindest vorübergehend - inhaftiert worden. Weiter gab der BF1 bekannt, dass er ohnedies zu keiner Zeit in Kampfhandlungen involviert war, er habe lediglich Lebensmittel und Wasser für die Kämpfer an die Front gebracht.
Hinsichtlich Vorfälle in der Türkei, welche sich vor über 30 Jahren ereignet haben müssten, wurde der BF1 befragt, warum er der Meinung sei, dass die türkischen Behörden nach einer derart langen Zeit noch in Interesse an ihm haben könnten. Dazu führte er allgemein und abschweifend aus, dass die türkischen Behörden ja nicht nur gegen ihn, sondern gegen alle Kurden wären. Jeder, der in die Türkei zurückkehrt, würde zumindest 15 Jahre in Haft genommen werden. Dabei übersieht der BF1 allerdings, dass Kurden in der Türkei nach allen einschlägigen Länderberichten keiner systematischen Verfolgung alleine aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit unterliegen.
Im Rahmen der zweiten Einvernahme vor dem BFA wurde der BF1 abermals zu seiner Rolle in Zusammenhang mit der PKK befragt. Dabei teilte er mit, dass er im Lager XXXX Kontakt zu den dortigen Politikern gehabt habe. Er selbst sei zu keiner Zeit Mitglied gewesen, weil diese Waffen tragen und kämpfen würden, was er nicht möchte. Er habe sich um die Beschwerden seiner Leute gekümmert, so habe er beispielsweise Spenden gesammelt. Nachgefragt gab er an, dass er auch bei anderen Parteien kein Mitglied gewesen sei und fügte noch hinzu, dass die Bewohner von Makhmur keine PKK- Mitglieder, sondern nur Sympathisanten seien.
Zu seinen beruflichen Aktivitäten befragt, teilte er mit, dass er von Beruf Schneider sei, in den letzten zehn bis 15 Jahren sei er jedoch als Lenker eines Kastenwagens beschäftigt gewesen. In der ersten Einvernahme bot er diesbezüglich eine andere Variante an, indem er dort angab, dass er im Krankenhaus Reinigungsdienste durchgeführt habe. Zum krassen Widerspruch befragt teilte er mit, dass er neben seiner Tätigkeit als Kraftfahrer noch im Krankenhaus beschäftigt gewesen sei. Dazu befragt, welche Aufgabe er im Krankenhaus gehabt habe, teilte er mit, dass er der Verantwortliche für die Reinigungskräfte gewesen sei, er habe alles kontrolliert. In der ersten Einvernahme teilte er konträr dazu mit, dass er dort selbst geputzt habe, was im Übrigen auch von seiner Gattin so angegeben wurde. Daraufhin versuchte er die Ungereimtheiten vergeblich so zu erklären, dass er geputzt habe, wenn Unterstützung nowendig war. Er sei aber grundsätzlich der Chef gewesen.
Zur Situation bzw. einer Verfolgung oder Bedrohung in der Türkei befragt, teilte der BF1 abermals mit, dass er mit seinen Eltern und Geschwistern im Jahr 1993 den Lebensmittelpunkt in den Irak verlegt habe. Sein Vater sei 1986 oder 1987 zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, weil er die PKK unterstützt habe. Es habe sich dabei aber nur um Vorwürfe gehandelt. Die gesamte Familie sei in XXXX unterdrückt und verfolgt worden. Viele seien in Großstädte gegangen. Eine konkrete individuelle Verfolgungs- oder Bedrohungssituation konnte der BF1 neuerlich nicht einmal ansatzweise schildern.
Weiter wurde der BF1 befragt, ob gegen ihn in der Türkei ein Gerichtsverfahren anhängig ist, woraufhin er angab, dass sein Onkel ihm gesagt habe, dass der Bürgermeister nach ihm gefragt habe. Der Onkel habe aber den Grund der Nachfrage nicht gewusst. Er habe den Bürgermeister zwar gefragt, dieser habe ihm mitgeteilt, dass er es selbst nicht wisse, die Region XXXX würde den BF1 einfach suchen. Hinsichtlich einer Vermutung, warum er gesucht werden könnte, gab der BF1 an, dass sie ihm vielleicht vorwerfen, ein Mitglied der PKK zu sein. In der ersten Einvernahme teilte er konträr dazu mit, dass ihm der Onkel mitgeteilt habe, dass er nicht zurückkommen solle, weil sein Name auf einer Liste der PKK stünde. Auch hier bot der BF1 wieder zwei Varianten an, was ebenfalls nicht für seine Glaubwürdigkeit spricht. Jedenfalls sei die Anfrage des Bürgermeisters bereits vor drei oder vier Jahren gewesen. Dass seither offenbar nicht mehr nach dem BF1 gefragt wurde, deutet ebenfalls nicht auf ein gesteigertes Interesse des türk. Staates an der Person des BF1 hin.
Zu den Fluchtgründen befragt gab der BF1 an, dass er vor 30 Jahren die Türkei verlassen habe und nicht mehr darüber reden möchte. Aufgrund der langen Dauer könne man das bei Seite lassen. Festgehalten werden muss dazu, dass auch vom BF1 selbst offenbar kein zeitlicher Konnex mehr zu allfälligen Vorfällen in der Türkei hergestellt wird. Zu Vorfällen im Irak befragt gab der BF1 an, dass es bis zum Jahr 2014 keine Probleme gegeben habe. Dann sei das Lager XXXX vom IS eingenommen worden. Nachdem der IS vertrieben wurde, sei er mit seiner Familie wieder zurück, die Lage sei aber beunruhigend gewesen. 2018 sei XXXX sogar bombardiert worden, es seien dabei viele Leute ums Leben gekommen. Die BF4 habe zudem die Asche einer Leiche gesehen bzw. wie ein Kopf abgeschnitten wurde, weswegen sie psychischen Stress bekommen habe. Die Kinder hätten die Schule nicht durchgehend besuchen können, weil sie sich bei Angriffen in den Kellern verstecken mussten. Weil er eine bessere Zukunft für seine Kinder wollte, habe er sich entschlossen, nach Europa zu gehen.
Weil in diesen allgemeinen Beschreibungen zur Lage im Nordirak nicht ansatzweise eine konkrete Verfolgung oder Bedrohung im Sinne der in der GFK genannten Gründe erkannt werden konnte, wurde der BF abermals aufgefordert, den konkreten Grund für die Ausreise aus dem Irak bekannt zu geben. Dazu führte er – lediglich wiederholend – aus, dass er in erster Linie Angst um das Leben seiner Kinder gehabt habe.
Zu Rückkehrbefürchtungen gefragt gab der BF1 an, dass seine Familie ruiniert würde, weil er wahrscheinlich verhaftet würde. Es würde behauptet werden, dass er Mitglied der PKK sei. Auch mit den HDP Leuten würde das gemacht, selbst der ehemalige HDP Chef sei jetzt in Haft. Dabei konnte der BF1 abermals nicht erklären, warum nach einer derart großen Zeitspanne noch ein so großes Interesse an seiner Person bestehen sollte. In diesem Sinne antwortete er auch, dass das Ganze eine Vermutung sei. Er würde für mindestens zehn Jahre inhaftiert. Widersprüchlich dazu teilte er jedoch in der ersten Einvernahme mit, dass er für mindestens 15 Jahre inhaftiert würde. Tatsächlich basieren diese Angaben des BF1 jedoch lediglich auf allgemein zugänglichen Informationen und massiven Spekulationen. Aber selbst bei Wahrunterstellung wäre es dem BF1 möglich und zumutbar, sich in einer Großstadt wie etwa Istanbul, Izmir oder Ankara niederzulassen. In Verbindung mit dem nichtfunktionierenden Meldesystem in der Türkei ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der BF1 nicht gefunden würde.
Hinsichtlich des Irak äußerte der BF1 bei der ebenfalls dezidiert gestellten Frage keinerlei Rückkehrbefürchtungen.
Von der BF2 wurde gegenüber dem BFA angegeben, dass sie zu keiner Zeit Probleme aufgrund ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit hatte, sie würde im Heimatland auch nicht von den Behörden gesucht. Zur Situation in XXXX befragt teilte die BF2 mit, dass es grundsätzlich ganz gut gewesen sei. Es habe aber nach dem IS niemand mehr geholfen und jeder ab 14 habe dann versucht, Arbeit zu finden. Wenn sie jetzt mit ihrer Familie noch dort wäre, müsste auch ihr ältester Sohn bereits arbeiten. Diese Angaben demonstrieren relativ deutlich, dass für die Ausreise wohl wirtschaftliche Gründe verantwortlich waren und nicht Gründe iSd GFK.
Zum Fluchtgrund befragt, teilte sie im Rahmen der freien Erzählung mit, dass ihr Leben von ihrem Mann und den Kindern abhänge. Sie alle hätten dort keine Zukunft, deshalb seien alle gegangen. Sie seien dort auch nicht richtig sicher gewesen, deswegen hätten sie den Irak verlassen. Erneut zum Ausreisegrund befragt gab die BF2 an, dass der BF1 10 Jahre in einem Krankenhaus beschäftigt gewesen sei, in welches auch verletzte PKK Kämpfer zur Behandlung gebracht wurden. Deswegen sei der BF1 von der PDK bedroht worden und habe er deswegen auch seinen Job verloren. Die Familie habe auch nicht in der Türkei leben können. Als Grund dafür gab die BF2 an, dass ihr Mann dort Angst habe, weil er vor 27 oder 28 Jahren dort weggegangen ist. Die Türkei behaupte, dass jeder aus XXXX ein PKK Kämpfer sei. Wenn der BF1 in die Türkei zurückkehren würde, habe er damit zu rechnen, dass er für 30 Jahre inhaftiert wird. Dazu gab der BF1 in seiner ersten Einvernahme an, dass er mit 15 Jahren Haft, in der zweiten Einvernahme, dass er mit zehn Jahren Haft rechnen müsse. Diese Widersprüche demonstrieren einmal mehr, dass die Angaben des BF1 und der BF2 lediglich spekulativ sind und mit der Realität nicht übereinstimmen. Zudem ist den aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation zum Lager XXXX Folgendes zu entnehmen: Auch Flüchtlingslager im Ausland können Ziele der türkischen Sicherheitsbehörden sein. - So nahm 2022 der türkische Geheimdienst MİT bei einem Einsatz im Lager XXXX im irakischen Gouvernement Ninewa (auch: Nineveh) zwei PKK-Mitglieder fest und verbrachte diese in die Türkei (Shafaq 14.9.2022). Dabei handelte es sich aber eben um zwei tatsächliche Mitglieder der PKK und nicht um Personen, die mit der PKK sympathisieren.
Zu Gründen, die gegen eine Rückkehr in den Irak sprechen befragt, teilte die BF2 mit, dass sie die Heimat mit ihrem Mann verlassen hat, sie könne nicht alleine mit den Kindern zurückkehren. Sie lebe mit ihrem Gatten bis zum Tod, wenn er in Österreich ist, müsse sie auch hierbleiben. Sie hätten im Irak viel Schlechtes erlebt, die Kinder hätten dort keine Zukunft.
Zu den Ausreisegründen der Kinder befragt, gab die BF2 bekannt, dass diese keine eigenen Gründe haben. Abermals teilte sie mit, dass sie wegen der Kinder hier wäre, diese sollen sich weiterbilden und gute Berufe haben können, sie sollen eine gute Zukunft haben. Eine konkrete Verfolgung oder Bedrohung aus einem der in der GFK genannten Gründe die BF2 auch die Kinder betreffend nicht ansatzweise darlegen.
Zur Staatsangehörigkeit der Kinder befragt, gab die BF2 ausweichend an, dass sie irakische Staatsbürgerin, Kurdin und Muslima ist. Weiter gab sie an, dass die Kinder eigentlich türkische Staatsbürger sein sollte. In Österreich wurde angenommen, dass sie für die Kinder zuständig sei, weswegen die Kinder als irakische Staatsbürger eingestuft wurden. Die BF2 wurde in weiterer Folge darauf aufmerksam gemacht, dass bereits bei der Erstbefragung von der irakischen Staatsangehörigkeit der Kinder ausgegangen wurde, was weder von ihr noch vom Gatten trotz erfolgter Rückübersetzung und der Möglichkeit zur Vornahme von Korrekturen richtig gestellt wurde. Dazu führte sie ausweichend aus, dass ihr Mann Fotokopien dabei habe.Vorgehalten wurde der BF2 weiter, dass bei der in Österreich geborenen BF8 anlässlich der Einbringung des Antrages auf internationalen Schutz von ihr bzw. ihrem Gatten die irakische Staatsbürgerschaft angegeben wurde. Dazu führte sie aus, dass sie das auch nicht wisse. Weiter gab sie bekannt, dass vielleicht ihr Mann als Staatenloser angenommen worden sei und die Kinder deswegen als irakische Staatsangehörige geführt werden. Sie glaube jedenfalls, dass die Kinder staatenlos seien. Dazu bleibt festzuhalten, dass der BF1 nicht staatenlos, sondern eindeutig türkischer Staatsbürger ist. Zudem ist den Länderinformationen der Staatendokumentation Folgendes zu entnehmen: Artikel 18 der irakischen Verfassung besagt, dass jede Person, die zumindest über einen irakischen Elternteil verfügt, die Staatsbürgerschaft erhält und somit Anspruch auf Ausweispapiere hat (RIL 15.10.2005; vgl. USDOS 20.3.2023, DFAT 16.1.2023, S.41). Dazu befragt, warum die Kinder dann nicht irakische Staatsbürger sein sollten, teilte die BF2 ausweichend mit, dass ihr das bekannt und bewusst ist. Türkische Kurden aus dem Lager XXXX , welche dort mindestens 30 Jahre leben, würden eben keine Papiere bekommen. Dazu bleibt lediglich festzuhalten, dass die BF2 weder türkische Kurdin ist noch länger als 30 Jahre in XXXX gelebt hat. Die BF1 und BF2 versuchen mit ihren Darlegungen zur Staatsangehörigkeit der Kinder offenbar lediglich, deren irakische Staatsangehörigkeit zu verschleiern, um so eine Abschiebung in den Irak zu vereiteln.
Die BF2 behauptete zudem noch Probleme mit staatlichen Behörden. Konkret dazu befragt gab sie an, dass sie es deswegen vermeiden wollte, das Elternhaus in XXXX zu verlassen. So sei sie an einem Checkpoint angehalten worden. Weil ihre Kinder keine Dokumente hatten, seien ihr die Kinder beinahe abgenommen worden. Belegen konnte sie diese unsubstantiierten Ausführungen jedoch nicht.
Im Rahmen der freien Erzählung des Ausreisegrundes gab sie abermals an: „Mein Fluchtgrund ist nur, dass ich wegen der besseren Zukunft meiner Kinder und meines Mannes hergekommen bin. Sie haben im Irak keine Rechte. Wir sind verheiratet und ich bin deswegen mitgekommen“. Nochmal einmal dazu befragt, ob es einen speziellen auslösenden Grund für die Ausreise aus dem Irak gegeben hat, teilte sie mit, dass sie wegen der allgemeinen Situation der Familie und der erhofften besseren Zukunft der Kinder den Irak verlassen habe. Somit konnte die BF2, wie auch der BF1, keine Fluchtgründe iSd GFK glaubhaft geltend machen, sondern wiederholte sie mehrfach die lediglich wirtschaftlichen Aspekte der Ausreise.
II.2.5. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vermochten der BF1 und die BF2 nicht, eine asylrelevante Verfolgung oder Bedrohung glaubhaft vorzubringen bzw. die Widersprüche zu entkräften. Zudem ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die ebenfalls ordnungsgemäß zur Verhandlung geladenen BF4, BF5 und BF6 unentschuldigt gleich gar nicht erschienen sind, was deutlich zeigt, dass ihnen am Ausgang ihrer Verfahren wohl nicht sonderlich viel gelegen ist.
Zu Problemen in der Türkei befragt teilte der BF1 mit, dass er Ende 1993 mit seinen Eltern in den Irak gezogen sei, weil die türkischen Behörden die Familie als Terroristen bezeichnet habe und das Heimatdorf zerstört worden sei. Sie seien deswegen als Terroristen bezeichnet worden, weil die Behörden davon ausgingen, dass die Familie die PKK mit Essen unterstützt habe. Er habe das ohnehin nicht gemacht, weil er damals noch zu jung dafür war. Zum ausschlaggebenden Ereignis für die Ausreise aus dem Irak gab der BF1 an, dass die Türken im Camp geschossen hätten, weswegen sich die Männer nicht mehr aus dem Camp herausgewagt hätten. Zum Gesundheitszustand teilte er mit, dass er zuckerkrank sei und dagegen Medikamente nehme. Insulin benötige er nicht.
Der BF1 wurde in weiterer Folge dazu befragt, wer ihn in der Türkei bzw. im Irak verfolgt hat bzw. bei einer Rückkehr dorthin verfolgen würde. Der BF1 teilte daraufhin mit, dass ihn die türkischen Behörden verfolgen würden. Im Camp im Irak sei von den türkischen Behörden geschossen worden und einige Personen seien dabei ums Leben gekommen. Zu Rückkehrbefürchtungen hinsichtlich Türkei/Irak befragt gab er an, dass er es nicht zu 100% sagen könne, aber einige Freunde von ihm seien in der Türkei für zehn Jahr inhaftiert worden. Im Irak wiederum würde geschossen und viele Iraker seien jetzt Spione für die Türken. Aufgrund der vagen und allgemeinen Angaben wurde der BF1 dezidiert gefragt, ob es in der Vergangenheit konkret gegen seine Person gerichtete Vorfälle gegeben habe. Dazu teilte er mit, dass er damals in der Türkei klein und jung gewesen sei und das Dorf zerstört worden sei, weswegen er mit seiner Familie in den Irak geflüchtet wäre. Im Irak hätten ihm die Behörden mitgeteilt, dass er nicht mehr arbeiten und das Camp nicht verlassen dürfe. Es ginge um politische Interessen, die sich im Irak ändern würde. Die Behörden würden ihnen unterstellen, dass sie die PKK unterstützen.
Nach allfälligen rechtskräftigen Verurteilungen gefragt gab der BF1 an, dass solche weder in der Türkei noch im Irak existieren. Er habe auch weder in der Türkei noch im Irak an Demonstrationen oder sonstigen Veranstaltungen teilgenommen. Im Camp habe es hin und wieder Demonstrationen gegeben, er habe aber deswegen keine Probleme gehabt. Er sei auch weder in der Türkei noch im Irak Mitglied einer Partei gewesen. Nach aktuellen Fahndungsmaßnahmen oder Haftbefehlen gefragt führte er aus, dass im Jahr 2020 einmal ein in der Türkei aufhältiger Onkel befragt worden sei, ob sich der BF1 sich im Camp XXXX aufhalten würde. Der Onkel habe ihnen jedoch nichts gesagt. Konträr zu den Angaben vor dem BFA brachte der BF1 demnach jetzt nicht mehr vor, dass sein Name auf einer Liste möglicher PKK Mitglieder stünde.
Zu Problemen wegen der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit gefragt, teilte der BF1 allgemein mit, dass sein Vater in der Türkei inhaftiert und das Dorf zerstört worden sei. Konkrete Verfolgungs- oder Bedrohungsszenarien seine Person betreffend konnte er abermals nicht schildern.
Zu den vorgelegten Fotos gab er bekannt, dass er damit letzlich nur den Aufenthalt im Camp XXXX bestätigen bzw. belegen wolle.
Der BF1 wurde von der Richterin in weiterer Folge noch zu seinem Verhältnis zur PKK gefragt. Dazu teilte er unter anderem mit, dass er mit den politischen Ansichten der PKK einverstanden gewesen sei. Die PKK würde sich um das Volk und die Kurden kümmern. Auch heute würde er die PKK noch mögen, weil sie die Kurden vertreten. Aus diesem Grund wurde er von der Richterin befragt, ob er schon wisse, dass die PKK auf der Liste der Terrororganisationen in Europa steht und es sich um Kriminelle handelt. Vollkommen ungerührt führte er daraufhin aus, dass er dies wisse, er persönlich sehe sie aber nicht als Terroristen. Er sei aber zu keiner Zeit ein Mitglied der PKK gewesen und habe sich auch nie an Kämpfen beteiligt. Lediglich mit Essen habe er sie versorgt. Weiter wurde der BF1 damit konfrontiert, dass er seinen Angaben nach seit über 30 Jahren nicht mehr in der Türkei gewesen ist und nicht ersichtlich sei, weswegen er von den türkischen Behörden nunmehr verfolgt werden sollte. Wie bereits in den Ausführungen in der Beschwerde teilte er mit, dass die Bewohner des Camps XXXX als Unterstützer der PKK angesehen würden. Höchst spekulativ teilte er auf die Frage, woher die türkischen Behörden wissen sollten, dass er in diesem Camp gelebt hat, noch mit, dass es ausreichend Spione im Irak gäbe, welche Informationen vermitteln.
Festzuhalten bleibt deswegen, dass der BF1 wie schon im erstinstanzlichen Verfahren keine konkrete Verfolgungs- oder Bedrohungshandlung aus den in der GFK angeführten Gründen plausibel und glaubhaft schildern konnte.
Von der BF2 wurde zum ausschlaggebenden Ereignis für die Ausreise aus dem Irak mitgeteilt, dass das Camp von Türken beschossen worden sei und sich die irakischen Behörden bzw. die PKK eingemischt hätten. In ihr Elternhaus in XXXX seien sie deswegen nicht gezogen, weil ihr Gatte das Camp nicht verlassen durfte. Dabei verkennt die BF2 zum einen, dass der BF1 das Camp trotzdem verlassen und zudem über eine Niederlassungsbewilligung für die Autonome Region Kurdistan verfügt hat. Aus diesem Grund wurde die BF2 von der Richterin gefragt, wie es ihm dann gelang, das Camp zu verlassen, woraufhin sie, sichtlich ertappt, bekannt gab, dass er nicht zu einem anderen Haus oder Ort gehen durfte, um dort zu wohnen, aber das Camp verlassen habe er schon dürfen. Offensichtlich versuchte die BF2 mit ihren Ausführungen lediglich erfolglos, die Situation im Irak so schlimm wie möglich darzustellen.
Nochmals explizit zu ihren Gründen und denen der Kinder für das Verlassen des Irak befragt, teilte sie unmissverständlich mit, dass alle die gleichen Fluchtgründe wie der BF1 hätten. Zu konkret gegen ihre Person gerichteten Vorfällen gefragt gab sie bekannt, dass sie bei Checkpoints immer wieder kontrolliert und nach Dokumenten gefragt worden sei. Demnach können auch bei der BF2 keine glaubhaften Verfolgungs- oder Bedrohungshandlungen aus den in der GFK genannten Gründen festgestellt werden.
Die BF2 gab auch noch bekannt, dass es keine sie betreffenden Verurteilungen gäbe und sie auch an keinen Demonstrationen oder sonstigen Veranstaltungen teilgenommen habe. Es existiere zudem kein Haftbefehl und sei sie auch zu keiner Zeit Mitglied bei einer Partei gewesen. Zu Rückkehrbefürchtungen befragt führte sie aus, dass sie nicht zurück möchte, sie könne nicht. Ihre Familie würde auseinandergerissen, ihre Kinder hätten keine Zukunft und keine Rechte.
Der mittlerweile volljährige BF3 gab zu eigenen Fluchtgründen befragt an: „Nein. Dort wurde geschossen, ich war jung und ich sagte auch zu meinem Vater, dass wir weggehen sollen“. Danach gefragt, was er bei einer Rückkehr befürchte, teilte er mit, dass er es nicht wisse. Er hätte jedenfalls an keinen Demonstrationen oder sonstigen Veranstaltungen teilgenommen und sei auch weder Mitglied oder Sympathisant einer Partei gewesen.
Zu den vorgebrachten Problemen hinsichtlich der Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe konnten die BF ebenfalls nicht einen einzigen konkreten Vorfall angeben. Dazu ist festzuhalten, dass es durchaus vereinzelt zu Diskriminierungen von Kurden kommen kann. Allerdings ist den Länderinformationen nicht entnehmbar, dass hinsichtlich der kurdischen Volksgruppe eine Gruppenverfolgung erkannt werden kann, obwohl nicht verkannt wird, dass Kurden teilweise aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Hinsichtlich des BF1 darf zudem nicht übersehen werden, dass in der Türkei über 15 Millionen Kurden leben. Auch kann ausgeschlossen werden, dass die BF bloß aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie in den Fokus der staatlichen Behörden geraten würden.
Hinsichtlich der Symphatie des BF1 für die PKK bleibt festzuhalten, dass dem BF1 deswegen ebenfalls keinerlei Verfolgung oder Bedrohung in der Türkei drohte bzw. droht. Der BF1 gab selbst bekannt, dass er nur Symphatisant war, eine Mitgliedschaft bestand zu keinem Zeitpunkt. Auch erhellt sich dem Bundesverwaltungsgericht nicht, wie der BF1 im Fall einer Ansiedlung in einer der zahlreichen Großstädte in der Türkei mit der PKK in Verbindung gebracht werden sollte.
Zum Vorbringen des BF1 bzw. der BF2, auf das sich auch die restlichen Familienmitglieder beziehen, wird abschließend ausgeführt, dass dieses teils enorme Widersprüche aufweist. Zudem brachten die BF1 und BF2 nicht einmal ansatzweise eine Verfolgung oder Bedrohung aufgrund eines der in der GFK genannten Gründe vor. Vielmehr wurden einzig wirtschaftliche Gründe vorgebracht und behauptet, dass das Leben im Irak schlecht sei und die Kinder in Österreich eine bessere Zukunft hätten.
II.2.6. In den Beschwerden wurde moniert, dass das Ermittlungsverfahren mangelhaft gewesen sei. Vom Bundesverwaltungsgericht wird dazu festgestellt, dass die belangte Behörde ein mängelfreies und ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und in der Begründung der angefochtenen Bescheide die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung in der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammengefasst hat. Den BF ist es nicht gelungen, der Beweiswürdigung der belangten Behörde dermaßen konkret und substantiiert entgegen zu treten, dass Zweifel an der Beweiswürdigung der belangten Behörde aufgekommen wären. Von den BF wurde es unterlassen, durch klare, konkrete und substantiierte Ausführungen darzulegen, warum sie vom Vorliegen einer mangelhaften Ermittlungstätigkeit durch die belangte Behörde ausgehen. Da somit weder aus dem amtswegigen Ermittlungsergebnis im Beschwerdeverfahren noch aus den Ausführungen der BF ein substantiierter Hinweis auf einen derartigen Mangel vorliegt, kann ein solcher nicht festgestellt werden
Das BVwG geht daher zusammenfassend davon aus, dass die BF den Irak bzw. der BF1 1993 die Türkei lediglich aus persönlichen Motiven heraus bzw. aus wirtschaftlichen Gründen verlassen haben. Aus diesem Grund sah das erkennende Gericht, ebenso wie bereits das BFA auch keine Veranlassung für weitergehende Erhebungen in den Herkunftsstaaten der BF. Zusammenfassend ist zum Vorbringen der BF auszuführen, dass das erkennende Gericht zur Überzeugung gelangte, dass in den Angaben der BF glaubwürdige Anknüpfungspunkte oder Hinweise für eine individuelle Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention nicht ansatzweise erkennbar waren.
II.2.7. Unter Heranziehung dieses Sachverhaltes, einer nicht ansatzweise vorgebrachten Verfolgung oder Bedrohung aufgrund der in der GFK genannten Gründe und der offensichtlich missbräuchlichen Asylantragstellung im Zusammenhang mit der allgemein gehaltenen und widersprüchlichen Begründung der Anträge auf internationalen Schutz, ist daher davon auszugehen, dass das Vorbringen der BF nicht den Tatsachen entspricht und lediglich zur Begründung der Asylanträge und unter Umgehung der fremdenrechtlichen sowie niederlassungsrechtlichen Bestimmungen zur Erreichung – wenn nicht sogar zur absichtlichen Erschleichung – von Aufenthaltstiteln für Österreich nach dem Asylgesetz frei konstruiert wurde.
Dazu ist grundsätzlich in diesem Zusammenhang auszuführen, dass etwaige wirtschaftliche oder private Schwierigkeiten objektiv nicht dazu geeignet sind, die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der GFK zu begründen. Der bloße Wunsch in Österreich ein besseres Leben aufgrund eines erhofften leichteren Zugangs zum Arbeitsmarkt zu haben, vermag die Gewährung von Asyl jedenfalls nicht zu rechtfertigen.
Selbst wenn die Erstbefragung keine detaillierte Aufnahme des Ausreisegrundes umfasst, wäre dennoch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes jedenfalls zu erwarten gewesen, dass von Asylwerbern schon in der Erstbefragung zuerst die unmittelbar erlebten Vorfälle dargelegt werden, anstatt sich auf allgemeine Aussagen zu beziehen und erst in Folge, nämlich anlässlich der Befragung des belangten Bundesamtes ein stark gesteigertes und zudem in sich widersprechendes Vorbringen zu erstatten.
Im gegenständlichen Fall wurden die BF einerseits ausführlich über die Bedeutung vollständiger Angaben belehrt und andererseits in den Einvernahmen auch befragt, ob sie alles vortragen konnten, was für das Verfahren erheblich erscheint. Dies wurde von ihnen mehrfach bejaht. Angesichts der Angaben der BF bestand aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes jedenfalls kein Anlass zur Nachfrage, ob den BF noch andere Nachteile in der Türkei bzw. dem Irak als die von ihnen geschilderten befürchten würden. Die behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens kann somit nicht erkannt werden. Dass die BF etwa aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht in der Lage gewesen sein sollen, bestimmte Tatsachen vorzubringen, wurde im Beschwerdeverfahren nicht substantiiert behauptet und wurden den Einvernahmen auch Dolmetscher für die Sprache Kurdisch-Kumanci beigezogen.
II.2.8. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein gesteigertes Vorbringen nicht als glaubhaft anzusehen. Vielmehr müsse grundsätzlich den ersten Angaben des Asylwerbers ein erhöhter Wahrheitsgehalt zuerkannt werden. Es entspricht der Lebenserfahrung, dass Angaben, die in zeitlich geringerem Abstand zu den darin enthaltenen Ereignissen gemacht werden, der Wahrheit in der Regel am nächsten kommen (VwGH 11.11.1998, 98/01/0261, mwH). Vor diesem Hintergrund bestehen bereits im Hinblick auf die Steigerung des Vorbringens massive Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussagen der Beschwerdeführer.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt es nun für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an (VwGH 27.06.2019, Ra 2018/14/0274; 26.06.2018, Ra 2018/20/0307 mwN). Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung (Vorverfolgung) für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn eine Person im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob die Person im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (VwGH 25.9.2018, Ra 2017/01/0203 mwN). Das Bundesverwaltungsgericht hat daher auch zu prüfen, ob den Beschwerdeführern zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in ihrem Heimatstaat Verfolgung zu befürchten haben.
Das Bundesverwaltungsgericht kann keine Rückkehrgefährdung erkennen, da die BF kein exponiertes persönliches Profil aufweisen, welches auf eine gegenüber der Durchschnittsbevölkerung höheres Risiko hindeutet.
II.2.9. Bezüglich der Situation von Frauen im Irak ist festzuhalten, dass, wenn sich die weiblichen BF wegen ihrer Eigenschaft als irakische Frauen als verfolgt erachten, eine Gruppenverfolgung sämtlicher Angehöriger des weiblichen Geschlechts im Irak ausweislich der Feststellungen nicht vorliegt. Festzuhalten bleibt weiter, dass nach der Rechtsprechung des VwGH Frauen Asyl beanspruchen können, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden (vgl. etwa VwGH vom 28.05.2014, Ra 2014/20/0017-0018, m.w.N.). Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen (zuletzt VwGH 28.06.2018, Ra 2017/19/0579). Dabei führt nicht jede Änderung in der Lebensführung während ihres Aufenthaltes in Österreich, die im Fall der Rückkehr nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, dazu, dass der Asylwerberin internationaler Schutz gewährt werden muss, sondern nur eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung, in der die Inanspruchnahme oder Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt und die im Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (zuletzt VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0315).
Die weibliche BF2 konnte für sich und ihre Töchter nicht glaubhaft machen, dass sie im Bundesgebiet einen Lebensstil tatsächlich leben, der einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein anerkannten und verbreiteten Werten im Herkunftsstaat darstellen würde, ein entsprechendes Vorbringen wurde auch nicht erstattet, wobei insbesondere in diesem Punkt der persönliche Eindruck in der Verhandlung zu berücksichtigen war.
Der allgemeine Hinweis darauf, dass es für Frauen im Irak gefährlich sei bzw. der pauschale Verweis auf die „Zugehörigkeit der sozialen Gruppe der Frauen im Irak“ ist für sich alleine nicht geeignet, eine Gefährdung im Rückkehrfall glaubhaft zu machen (vgl. dazu VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009, worin der Grundsatz wiederholt wird, dass das Vorbringen des Asylwerbers eine entsprechende Konkretisierung aufweisen muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen und dass die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, dem nicht gerecht wird).
Auch wenn das Gericht nicht verkennt, dass es im Irak in den vergangenen Jahren vor dem Hintergrund des starken Einflusses von nicht nur in religiöser Hinsicht radikalen politischen Kräften zu einer "Islamisierung" der Gesellschaft im Allgemeinen gekommen ist und dabei auch die Frauen als solche ein Änderung des früheren - unter Saddam Hussein entwickelten - säkulareren Rollenbildes der Frau hinzunehmen hatten, so stellt sich die aktuelle Situation im Irak mangels dahingehender stichhaltiger Hinweise nicht so dar, dass es Frauen per se nicht (mehr) möglich wäre am allgemeinen öffentlichen wie auch beruflichen Leben teilzunehmen oder besonders drakonischen Praktiken sowie Sanktionen in punkto Bekleidung u.ä. unterworfen zu sein.
Die weiblichen BF sind im Fall einer Rückkehr in den Irak auch nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt aufgrund ihres weiblichen Geschlechts oder ihres westlichen Lebensstils gefährdet, wie bereits erörtert wurde.
Darüber hinaus konnten die BF keine mit ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit oder ihrer sunnitischen Religionszugehörigkeit, wie bereits umfassend erörtert wurde, in Zusammenhang stehenden Schwierigkeiten vor der Ausreise glaubhaft machen.
Im Übrigen ist diesbezüglich grundsätzlich festzuhalten, dass allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung, für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen können. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, Schikanen, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit) bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt des Beschwerdeführers im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre (vgl VwGH 07.10.1995, 95/20/0080; 23.05.1995, 94/20/0808), sind dahingehend hinzunehmen. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist die schwierige allgemeine Lage einer ethnischen Minderheit oder der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft im Heimatland eines Asylwerbers für sich allein nicht geeignet, die für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorauszusetzende Bescheinigung einer konkret gegen den Asylwerber gerichteten drohenden Verfolgungshandlung darzutun (VwGH 31.01.2002, Zl. 2000/20/0358). So hat der Verwaltungsgerichtshof beispielsweise im Erkenntnis vom 23.06.1998, Zl. 96/20/0144, ausgesprochen, dass die bloße Zugehörigkeit türkischer Staatsangehöriger zur Volksgruppe der Kurden und das alevitische Religionsbekenntnis samt der damit einhergehenden Diskriminierung noch keinen ausreichenden Grund für die Asylgewährung bilden.
Da die BF keine staatliche Strafverfolgung im Irak, bzw. der BF1 auch in der Türkei, aufgrund eines Kapitalverbrechens in den Raum gestellt haben und die Todesstrafe im Irak und in der Türkei darüber hinaus abgeschafft ist, war dem folgend zur Feststellung zu gelangen, dass die BF im Fall einer Rückkehr nicht der Todesstrafe unterzogen würden. Ebenso kann aus dem Vorbringen keine anderweitige individuelle Gefährdung durch drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe abgeleitet werden, zumal keine aktuellen polizeilichen Maßnahmen wider die BF glaubhaft gemacht wurden und auch andere begangene Delikte nicht hervorgekommen sind.
II.2.10. Hinsichtlich der gesundheitlichen Leiden des BF1, der BF2 und der BF4 sind folgende Überlegungen massgeblich: der BF1 leidet seit 12 Jahren an Diabetes und nimmt dafür erforderliche Medikamente. Weiters wurde ihm BS-Prolaps L4/5 (Bandscheiben) mit Tangieren der Nevenwurzel L5 links, Lumboischialgie sin. (Schmerzen im unteren Rücken) und vertebrogene (wohl vertebragene) Schmerzen (Schmerzen, die von der Wirbelsäule ausgehen). Die BF2 klagt über Probleme mit der Schilddrüse und wird medikamentös behandelt. Sie wurde diesbezüglich bereits im Irak behandelt. Die BF4 leidet unter Problemen mit der Schilddrüse. Hinsichtlich psychischer Probleme ist einem Schreiben des Vereins ZEBRA vom 28.12.2023 zu entnehmen ist, dass sie sich aktuell nicht mehr in psychotherapeutischer Behandlung befindet und mit Belastungen im weiteren Lebensweg umgehen kann.
Festgehalten werden kann, dass es sich bei den Leiden der BF um keine lebensbedrohlichen Krankheiten handelt. Den Länderinformationen der Türkei ist zudem zu entnehmen, dass die medizinische Primärversorgung flächendeckend ausreichend ist. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Hinsichtlich dem Irak wird in den Länderinformationen angeführt Das öffentliche Gesundheitssystem in der Kurdistan Region Irak (KRI) wird durch das Gesundheitsministerium (MoH) in Erbil verwaltet. Es gibt fünf Gesundheitsdirektionen (DoH) des MoH, eine in Dohuk, eine in Erbil und drei in Sulaymaniyah: das Slemani DoH, das Germian DoH und das Rania DoH. Unter jeder der Direktionen gibt es Gesundheitssektoren auf Distriktebene. Finanziert wird das öffentliche Gesundheitssystem durch eine Haushaltszuweisung der Kurdischen Regionalregierung (KRG), aus der die Gehälter der im öffentlichen Sektor tätigen medizinischen Fachkräfte, sowie Medikamente, Verbrauchsmaterialien und Investitionen in die Infrastruktur des Gesundheitswesens, wie Gebäude und Geräte bezahlt werden. Die Gesundheitsversorgung in der KRI ist dreigeteilt. Primäre Gesundheitsversorgung wird durch Hauptzentren der primären Gesundheitsversorgung (PHC) sowie PHC-Unterzentren bereitgestellt. Im Jahr 2017 gab es in der KRI 548 PHCs. Diese sind mit mindestens einem Allgemeinmediziner besetzt und bieten eine medizinische Grundversorgung. Die BF1 und BF2 wurden bereits vor der Ausreise im Irak bezüglich ihrer Leiden behandelt. Die BF3 klagt, wie die BF2, ebenfalls über Probleme mit der Schilddrüse, weswegen auch ihr Leiden im Irak behandelbar ist.
Zudem hat nach der ständigen Rechtsprechung der Höchstgerichte im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Eine Verletzung der Art. 2 und 3 der EMRK kann fallbezogen nicht festgestellt werden.
II.2.11. Schließlich ist im vorliegenden Beschwerdefall zu beachten, dass es sich bei den beschwerdeführenden Parteien um ein Ehepaar mit minderjährigen Kindern und damit um besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personen handelt. Diese besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob den beschwerdeführenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besonders zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die BF tatsächlich vorfinden (siehe dazu statt aller VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0336 mwN; VfGH 11.12.2018, E 2025/2018).
Im gegenständlichen Fall ist festzuhalten, dass die minderjährigen BF4 bis BF8 keiner besonders gefährdeten Gruppe angehören und ist auch von einer Rückkehr der minderjährigen Kinder gemeinsam mit der Mutter davon auszugehen, sodass die Betreuung, Erziehung und Beaufsichtigung der Minderjährigen sichergestellt ist.
Die Eltern der minderjährigen BF vermitteln den Eindruck, am Wohlergehen ihrer Kinder interessiert zu sein. Hinweise auf gewalttätige Übergriffe auf die Minderjährigen im Bundesgebiet liegen nicht vor. Ausgehend davon ist auch nicht zu besorgen, dass die minderjährigen BF im Rückkehrfall einem davon abgeleiteten Risiko ausgesetzt wären oder sie sonst von häuslicher Gewalt betroffen wären.
Sowohl in der Türkei als auch im Irak ist die Grundversorgung mit Nahrung und medizinischer Versorgung gegeben und steht den schulpflichtigen Kindern auch ein diskriminierungsfreier Zugang zum Schulsystem offen.
Ob der obenstehenden Erwägungen und den getroffenen Feststellungen zur Sicherheitslage in der Herkunftsregion der BF ist nicht zu besorgen, dass die minderjährigen BF als besonders vulnerable Personen im Rückkehrfall von terroristischen oder kriminellen Aktivtäten betroffen wären. Aufgrund der Verfahrensergebnisse ist auch nicht davon auszugehen, dass sie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit sonstiger Gewalt, wie etwa Blutrache oder einem Ehrenmord, zum Opfer fallen würden. Das Bundesverwaltungsgericht kann in Ansehung der persönlichen Profile der BF auch kein amtswegig wahrzunehmendes besonderes Gefährdungsmoment erkennen.
Aufgrund der oben dargelegten Erwägungen zur sozioökonomischen Lage kann schließlich nicht die reale Gefahr erkannt werden, dass die BF im Rückkehrfall von einer unzureichenden Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern oder von Unterernährung betroffen wären. Hinweise auf Versorgungsengpässe bzw. Engpässe bei der Versorgung mit Gütern, die Kinder für ihre Bedürfnisse benötigen, liegen ausweislich der Feststellungen nicht vor.
Im Irak sind die Grundversorgung mit Nahrung und die medizinische Versorgung gegeben und steht den schulpflichtigen Kindern laut Länderinformationsblatt auch ein diskriminierungsfreier Zugang zum Schulsystem offen. Die UNO-Unterstützungsmission für den Irak (UNAMI) und das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (Office of the High Commissioner for Human Rights, OHCHR) fassen im Februar 2020 die rechtliche Grundlage des Schulbesuchs im Irak wie folgt zusammen: Artikel 34 der irakischen Verfassung garantiere das Recht auf Bildung. Darüber hinaus sehe die Verfassung vor, dass die Grundschulbildung obligatorisch sei und garantiere das Recht auf Bildung in der Muttersprache. Alle Irakerinnen hätten außerdem das Recht auf kostenlose Bildung in allen Stufen. Diese verfassungsrechtlichen Garantien würden von föderalen und regionalen Vorschriften und Richtlinien begleitet. (UNAMI/OHCHR, 17. Februar 2020, S. 7) Das Planungsministerium veröffentlicht 2018 Zahlen zum nationalen Schulbesuch im Schuljahr 2016/2017. In Bagdad hätten 97 Prozent der Kinder im Alter von 6 bis 11 eine Volksschule (öffentlich, privat oder waqf [Schulen mit religiösem Fokus, Anm. ACCORD]) besucht. Die Mittelschule wurde in Bagdad von 67,7 Prozent der 12 bis 14-Jährigen besucht und die höheren Schulstufen von 34,6 Prozent der 15 bis 17-Jährigen. (MOP, Juni 2018, S. 169) Das zentrale irakische Statistikbüro des Planungsministeriums gab bekannt, dass es im Schuljahr 2016/2017 mehr als 2.300 öffentliche Volksschulen in Bagdad und mehr als 1.200 weiterführende Schulen gegeben habe.
Die minderjährigen BF befinden sich im anpassungsfähigen Alter, sodass die Anpassung an jene Lebensverhältnisse, in denen sie vor ihrer Ausreise gelebt haben, bei einer Rückkehr mit ihren Eltern zumutbar ist.
Ausgehend von den persönlichen Profilen der BF und den Erwägungen zur Lebensgrundlage im Herkunftsstaat geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die minderjährigen BF im Wege der Versorgung durch ihre Eltern und der durch die im Irak bzw. der Türkei wohnhaften Verwandten erlangbare Hilfe nicht nur eine hinreichende Absicherung im Hinblick auf die Güter des täglichen Bedarfs, sondern insbesondere auch im Hinblick auf ihre altersgerechten Bedürfnisse erfahren werden.
An dieser Stelle ist eine Auseinandersetzung mit der im Mai 2019 veröffentlichten und in der Stellungnahme vom 19.05.2019 in der Vorgängerversion ziterten Position des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge „International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq“ erforderlich, da Empfehlungen internationaler Organisationen Indizwirkung nach der Rechtsprechung zukommt (VwGH 13.03.2019, Ra 2018/18/0500) und sich die angeführte Position von UNHCR ausführlich mit potentiellen Verfolgungsszenarien im Irak auseinandersetzt. Die zitierte Indizwirkung bedeutet jedoch nicht, dass das Bundesverwaltungsgericht in Bindung an entsprechende Empfehlungen etwa des UNHCR Asyl zu gewähren hat. Vielmehr ist, wenn in den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat der Einschätzung des UNHCR nicht gefolgt wird, beweiswürdigend darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte von einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat ausgegangen wird (VwGH 13.12.2010, Zl. 2008/23/0976; 06.02.2017, Ra 2017/20/0016, zur Lage im Irak).
In der Folge identifiziert der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zwölf Personengruppen, die als besonders schutzbedürftig angesehen werden (siehe die Seiten 58 ff des Berichtes). In Ansehung der beschwerdeführenden Parteien ist festzustellen, dass diese keiner dieser Gruppen angehören. Die beschwerdeführenden Parteien haben sich nicht als Kritiker des kurdischen politischen Systems exponiert oder anderweitig oppositionell betätigt, sodass eine diesbezügliche Gefährdung (deren Bezeichnung im Original: „Persons Opposing, or Perceived to Be Opposing, the KRG or Those Affiliated with the KRG“) ausgeschlossen werden kann. Des Weiteren können die minderjährigen BF keinem der auf Seite 99 f angeführten Risikoprofile zugeordnet werden. Die minderjährigen BF waren und sind nicht von Kinderarbeit, geschlechtsspezifischer oder häuslicher Gewalt, Zwangsprostitution oder Zwangsheirat betroffen, ebenso ist keine Zwangsrekrutierung zu besorgen. Die minderjährigen BF entspringen außerdem keiner außerehelichen bzw. nicht offiziell registrierten Beziehung. Sie sind nicht vom Zugang zu Bildung ausgeschlossen. Ansatzpunkte für eine aufgrund der Ausführungen im Berichts „International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq“ des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge vom Mai 2019 amtswegig wahrzunehmende Gefährdung der beschwerdeführenden Parteien liegen zusammenfassend nicht vor.
II.2.12 In Ansehung der BF sind folgende Erwägungen zu im Rückkehrfall zu erwartenden sozioökonomischen Lage maßgeblich:
Der BF1 wurde am XXXX in XXXX /Türkei geboren. Der BF1 besuchte fünf Jahre lang die Schule. Der BF lebte in XXXX bis zum Jahr 1993, danach verzog er mit seinen Eltern und Geschwistern in den lrak. Ab dem Jahr 1998 lebte der BF1 im Irak im Camp XXXX . Berufstätig war er als Hilfsarbeiter und die letzten Jahre als Vorarbeiter einer Reinigungsgruppe im Krankenhaus. Im XXXX leben noch die Eltern, vier Schwestern und ein Bruder.
Die BF2 wurde am XXXX in XXXX geboren. Die BF2 besuchte keine Schule und absolvierte keine Berufsausbildung, sie war als Hausfrau tätig. In XXXX leben noch die Mutter, drei Schwestern und acht Brüder. Die Mutter, drei Schwestern und vier Brüder leben gemeinsam im Elternhaus. Vier Brüder wohnen mit ihren Familien in eigenen Häusern. Die Geschwister arbeiten als Reinigungskräfte im Krankenhaus, bzw. besuchen noch die Schule. Die Mutter wird von den Söhnen versorgt.
Der BF3 wurde am XXXX in XXXX geboren. Der BF3 besuchte sieben Jahre lang im Irak die Schule. Die BF4 wurde am XXXX in XXXX geboren. Die BF4 besuchte fünf Jahre lang im Irak die Schule. Die BF5 und der BF6 sind am XXXX in XXXX , der BF7 am XXXX in XXXX und die BF8 im XXXX in XXXX geboren.
Die BF haben regelmäßigen Kontakt zu den Verwandten. Alle Verwandten sind Angehörige der kurdischen Volksgruppe.
Der BF1 ist mit der BF2 verheiratet und sind beide die Eltern des mittlerweile volljährigen BF3 und der minderjährigen BF4 bis BF8. Die BF2 und die BF3 bis BF6 wurden im Irak geboren und besuchten vor der Ausreise die ihrem Alter entsprechenden Schulstufen. Der BF3 und die minderjährigen BF leben seit ihrer Geburt bei und von den Eltern.
Sämtliche BF sind mit der Sprache sowie den Gebräuchen im jeweiligen Herkunftsstaat vertraut.
Den volljährigen BF steht es frei, im Rückkehrfall einer Beschäftigung nachzugehen. Auch ist es ihnen zumutbar, zumindest eine Teilzeitbeschäftigung aufzunehmen, um Beruf und Kindererziehung vereinen zu können. Die minderjährigen BF können nach der Rückkehr die Schule besuchen.
Zwar kann die wirtschaftliche Situation für den Großteil der Bevölkerung durchaus als angespannt bezeichnet werden und wird die Wirtschaftsentwicklung sicherlich durch die Corona-Pandemie – wie in anderen Staaten der Erde auch – weiter gedämpft. Dass es Menschen im Irak bzw. der Türkei grundsätzlich nicht möglich wäre, einer Arbeit nachzugehen oder dort massenhaftes Elend und Hunger herrschen würden, lässt sich der Quellenlage und der aktuellen Medienberichterstattung jedoch nicht entnehmen.
Im Hinblick auf den Bezug von Wasser kommt es den eingesehenen Dokumenten zufolge im Irak, vor allen in den Sommermonaten, immer wieder zu Unterbrechungen. Auch die mitunter schlechte Wasserqualität bedingt die Notwendigkeit, Wasser in Flaschen und Medikamenten gegen Auswirkungen von verunreinigtem Wasser zu beziehen. Zudem leidet die Nahrungsmittelproduktion im Irak unter der Trockenheit und versalztem Wasser, was eine hohe Importrate bei bestimmten Nahrungsmitteln, wie etwa Zucker, Öl, Reis, Milchprodukte und Weizenmehl, bedingt und vor allem bei ausgeprägten Trockenperioden die Preise für gewisse Lebensmittel in die Höhe treiben kann.
Es ist zudem auch anzunehmen, dass die BF im Irak auch über einen gewissen Bekanntenkreis verfügen. Die BF werden deshalb auch wieder sozialen Anschluss finden und kann daher auch davon ausgegangen werden, dass den BF – zumindest für die Phase einer ersten Orientierung – Unterstützung durch die Verwandten des BF1 oder auch der BF2, sowie den gemeinsamen Bekanntenkreis zuteilwerden wird.
Dessen ungeachtet vertritt das Bundesverwaltungsgericht auch ob des von den BF in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks die Auffassung, dass diese anpassungsfähig und arbeitsfähig sind. Es ist daher davon auszugehen, dass die BF daher selbst in der Lage sein werden, für ihr Auskommen im Fall der Rückkehr zu sorgen, so wie ihnen dies bereits vor der Ausreise möglich war.
Den BF steht es auch frei, am ERIN-Programm teilzunehmen. ERIN ist ein Rückkehr- und Reintegrationsprogramm auf europäischer Ebene mit dem Hauptziel, Reintegrationsunterstützung im Herkunftsland anzubieten. ERIN ist eine Spezifische Maßnahme (Specific Action) im Rahmen des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der EU, wird von den Niederlanden (Repatriation and Departure Service (R&DS) – Ministry of Security and Justice of the Netherland) geleitet und zu 90% aus Europäischen Mitteln finanziert.
Im Rahmen des ERIN Programms erhält jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin eine Reintegrationsleistung in der Höhe von 3.500 Euro, wobei 500 Euro als Bargeld und 3.000 Euro als Sachleistung vom Service Provider im Herkunftsland ausgegeben werden. Während die Geldleistung grundsätzlich dazu gedacht ist die unmittelbaren Bedürfnisse nach der Rückkehr zu decken, dient die Sachleistung insbesondere als Investition zur Schaffung einer Existenzgrundlage und trägt somit zu einer nachhaltigen Rückkehr bei. Von Juni 2016 bis Jänner 2018 erhielten 843 Personen im Rahmen ihrer Rückkehr von Österreich in ihr Heimatland Reintegrationsunterstützung über das ERIN-Programm. Unter Berücksichtigung von Familienangehörigen kehrten im selben Zeitraum sogar 1.254 Personen freiwillig in ihr Heimatland zurück. Aktuell wird ERIN-Reintegrationsunterstützung im Zentralirak und in der autonomen Region Kurdistan zur Verfügung gestellt (http://www.bmi.gv.at/107/EU_Foerderungen/Finanzrahmen_2014_2020/AMIF/ERIN.aspx ). Die Teilnahme an diesem Programm vermittelt etwa hinreichende Starthilfe für eine selbständige Tätigkeit und den neuerlichen Aufbau eines eigenen Geschäftes.
Die BF2 bis BF8 sind als irakische Staatsbürger außerdem berechtigt, am Public Distribution System (PDS) teilzunehmen, einem sachleistungsorientierten Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft und an die Bevölkerung verteilt. Auch wenn das Programm von schlechter Organisation gekennzeichnet ist und Verzögerungen bei der Ausgabe der Rationen dokumentiert sind, ist zumindest von einer grundlegenden Absicherung im Hinblick auf den existenziellen Bedarf an Grundnahrungsmitteln auszugehen.
Dass Rückkehrer aus dem westlichen Ausland besonders vulnerabel wären, kann den zur Rückkehr getroffenen Feststellungen zur Lage im Irak nicht entnommen werden. Seitens der BF wurde letztlich auch nicht vorgebracht, im Rückkehrfall in eine ausweglose Lage zu geraten oder in ihren Grundbedürfnissen nicht abgesichert zu sein, sodass insgesamt eine gesicherte Existenzgrundlage als erwiesen anzusehen ist.
Hinsichtlich des BF1 ist darüber hinaus ist davon auszugehen, ihm im Rückkehrfall als türkischem Staatsbürger der Zugang zum dortigen Sozialsystem (siehe dazu die Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Türkei) offensteht, sodass insgesamt eine gesicherte Existenzgrundlage in der Türkei als erwiesen anzusehen ist. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt in diesem Zusammenhang nicht, dass in der Türkei (wie nahezu weltweit) infolge der gegen die Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 ergriffenen Maßnahmen mit wirtschaftlich nachteiligen Entwicklungen zu rechnen ist. Da die Türkei eine Industrienation ist, der OECD angehört und vom IWF unter die zwanzig Staaten mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt weltweit gereiht wird, geht das Bundesverwaltungsgericht indes nicht davon aus, dass die aktuellen Ereignisse zu einem dermaßen gravierenden Zusammenbruch der türkischen Wirtschaft führen werden, der mit einem Entzug der Lebensgrundlage für breite Bevölkerungsschichten verbunden ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Staat Türkei (wie nahezu alle anderen Staaten weltweit) entsprechende Maßnahmen zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage einerseits und zur Absicherung der eigenen Staatsangehörigen in ihren Grundbedürfnissen andererseits ergreifen wird. Da für den BF1 darüber hinaus im Fall einer Rückkehr in den Häusern und Wohnungen der Verwandtschaft eine Wohnmöglichkeit besteht, ist jedenfalls von einer Deckung der Grundbedürfnisse auszugehen. Dass der BF1 im Fall einer Rückkehr in die Türkei in eine existentielle Notlage im Hinblick auf die Versorgung mit Lebensmitteln und mit Wohnraum geraten würden, wurde im Übrigen auch nicht substantiiert vorgebracht.
Das Bundesverwaltungsgericht hält schließlich fest, dass eine besondere Auseinandersetzung mit der Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit des Staates einschließlich diesbezüglicher Feststellungen nur dann erforderlich ist, wenn eine Verfolgung durch Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen festgestellt wird (vgl. VwGH 02.10.2014, Ra 2014/18/0088). Da der BF1 jedoch nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes keine von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehende Verfolgung zu gewärtigen hatte, sind spezifische Feststellungen zum staatlichen Sicherheitssystem sowie zur Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit im Herkunftsstaat des BF nicht geboten. Selbiges gilt im Übrigen für die Frage bezüglich des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Herkunftsstaat des BF1.
Die Sicherheitslage in der Türkei ist als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder der PKK konfrontiert. Der BF1 hat indes diesbezüglich jedoch nicht dargetan, dass er von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wäre. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Artikels 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren.
Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung der BF sind zur Vollständigkeit folgende Überlegungen massgeblich: Schätzungen zufolge sind 15-20 % der irakischen Bevölkerung Kurden, die mehrheitlich im Norden des Irak leben. Auch Kurden sind von ethnisch-konfessionellen Auseinandersetzungen betroffen, wenn sie außerhalb der Kurdistan Region Irak (KRI) leben. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum von 2017 hat die föderale Armee die zwischen der KRI und der föderalen Regierung sogenannten "umstrittenen Gebiete" größtenteils wieder unter die Kontrolle Bagdads gebracht. Das Verhältnis zwischen Kurden und Arabern in den Gebieten ist generell angespannt. Es gibt Berichte über willkürliche Festnahmen von Kurden, insbesondere in Ninewa, durch mit dem Iran verbündete PMF-Milizen (Volksmobilisierungskräfte) (USDOS 20.3.2023). Kurden beklagen Landraub und Vertreibung (Rudaw 9.12.2020; vgl. AA 28.10.2022, S.16). So gibt es immer wieder Meldungen über Landstreitigkeiten zwischen Kurden und Arabern, insbesondere im Gouvernement Kirkuk (Rudaw 9.12.2020). Im Dezember 2020 wurden beispielsweise die kurdischen Einwohner des Dorfes Palkana im Gouvernement Kirkuk gezwungen, ihre Häuser zu verlassen (USDOS 30.3.2021; vgl. K24 15.12.2020, Rudaw 9.12.2020). Ein Kontingent bestehend aus Angehörigen der Irakischen Armee, der PMF und der Bundespolizei hat das Dorf gestürmt und unter Androhung von Haft und Gewalt von den kurdischen Einwohnern die Räumung ihrer Häuser verlangt (K24 15.12.2020; vgl. Rudaw 9.12.2020). Personen, die sich weigerten, wurden festgenommen (Rudaw 9.12.2020). Zu Hilfe gerufene lokale Polizei hat nicht eingegriffen (USDOS 30.3.2021).
Hinsichtlich des BF1 und der Türkei bleibt festzuhalten, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte und aktuellen Medienberichte die Situation für Kurden – abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche Anhängerschaft hinsichtlich des BF1 nicht festgestellt werden konnte – nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgeblichen Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an der Person der BF haben sollten, wurden nicht glaubhaft vorgebracht.
II.3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
II.3.2. Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten
II.3.2.1. Die hier maßgeblichen Bestimmungen des § 3 AsylG lauten:
(1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) …
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. | dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder |
2. | der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat. |
...“
Gegenständliche Anträge waren nicht wegen Drittstaatsicherheit (§ 4 AsylG), des Schutzes in einem EWR-Staat oder der Schweiz (§ 4a AsylG) oder Zuständigkeit eines anderen Staates (§ 5 AsylG) zurückzuweisen. Ebenso liegen bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Asylausschlussgründe vor, weshalb die Anträge der BF inhaltlich zu prüfen waren.
Flüchtling im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380).
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194)
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Konvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes befindet.
II.3.2.2. Einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung kommt Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (VwGH vom 16.11.2016, Zl. Ra 2016/18/0233).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (in etwa VwGH vom 01.02.1995, Zl. 94/18/0731; vom 16.11.2016, Zl. Ra 2016/18/0233 und vom 10.08.2017, Zl. Ra 2017/20/0153). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht - diesfalls wäre überhaupt fraglich, ob unter solchen Umständen noch von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann -, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (vgl. VwGH vom 20.05.2015, Zl. Ra 2015/20/0030 und vom 10.08.2017, Zl. Ra 2017/20/0153).
Die StatusRL 2011/95/EU sieht einerseits vor, dass die staatliche Schutzfähigkeit zwar generell bei Einrichtung eines entsprechenden staatlichen Sicherheitssystems gewährleistet ist, verlangt aber anderseits eine Prüfung im Einzelfall, ob der Asylwerber unter Berücksichtigung seiner besonderen Umstände in der Lage ist, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (VwGH vom 16.11.2016, Zl. Ra 2016/18/0233).
Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH vom 08.06.2000, Zl. 99/20/0597 und vom 01.09.2005, 2005/20/0357).
Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes erweisen sich die gegenständlichen Beschwerden als unbegründet:
Es ist festzuhalten, dass der BF1 zur Furcht im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat vorbringt, dass er es nicht zu 100% sagen könne, aber einige Freunde von ihm seien in der Türkei für zehn Jahre inhaftiert worden. Die BF2 gab diesbezüglich bekannt, dass sie nicht in den Irak zurück will, sie könne das nicht. Ihre Familie würde auseinandergerissen, ihre Kinder hätten keine Zukunft, keine Dokumente und keine Rechte. Der BF3 gab an, dass er es nicht wisse. Wie bereits in der Beweiswürdigung umfangreich erörtert, konnten die vorgebrachten Gründe nicht glaubhaft und in substantiierter Weise belegt werden. Die Hoffnung auf ein besseres Leben und eine gesicherte Zukunft für die Kinder ist menschlich verständlich, ist aber für die Gewährung von internationalen Schutz nicht ausreichend. Eine Verfolgung oder Bedrohung der BF aufgrund eines der in der GFK genannten Gründe ist jedoch nicht ansatzweise ersichtlich und wurde Derartiges auch nicht vorgebracht.
Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft, wobei als zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes die „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ erachtet wird. Diese ist dann gegeben, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes erschließt sich jedoch, dass die behauptete Furcht der BF, aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, in Bezug auf die Herkunftsstaaten Türkei bzw. Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht begründet ist.
Im Bewusstsein dessen, dass die politische Lage im Irak bzw. der Türkei angespannt und die Sicherheitsverwaltung im Irak stark schiitisch geprägt ist, muss auch darauf hingewiesen werden, dass sich beschwerdegegenständlich keine konkreten Anhaltspunkte dafür ergaben, dass die örtlichen Sicherheitskräfte der Herkunftsstaaten den BF gegenüber nicht schutzfähig oder schutzwillig wären.
II.3.2.3. Dem Vorbringen der BF zum behaupteten Ausreisegrund war insgesamt die Glaubwürdigkeit abzusprechen, weshalb die Glaubhaftmachung eines Asylgrundes von vornherein ausgeschlossen werden kann. Selbst bei Wahrheitsunterstellung kann keine Verfolgung oder Bedrohung aufgrund der in der GFK genannten Gründe erkannt werden. Es sei an dieser Stelle betont, dass die Glaubwürdigkeit des Vorbringens die zentrale Rolle für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Asylgewährung [nunmehr „Status eines Asylberechtigten“] einnimmt (vgl. VwGH v. 20.6.1990, Zl. 90/01/0041).
Im gegenständlichen Fall erachtet das erkennende Gericht in dem im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegten Umfang die Angaben als unwahr, sodass die von den BF behaupteten Fluchtgründe nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden können, und es ist auch deren Eignung zur Glaubhaftmachung wohl begründeter Furcht vor Verfolgung nicht näher zu beurteilen (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380).
Im vorliegenden Fall gelangt das Bundesverwaltungsgericht daher zum Ergebnis, dass die Beschwerdeführer keiner individuellen Verfolgung im jeweiligen Herkunftsstaat ausgesetzt waren oder im Fall der Rückkehr ausgesetzt wären, sodass internationaler Schutz nicht zu gewähren ist. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100). Ferner liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass den Beschwerdeführern eine über die allgemeinen Gefahren der im Irak gebietsweise herrschenden bürgerkriegsähnlichen Situation hinausgehende Gruppenverfolgung droht. Auch der BF1 ist in der Türkei von keiner wie auch immer gearteten Verfolgung betroffen.
Da sich auch im Rahmen des sonstigen Ermittlungsergebnisses bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise auf das Vorliegen der Gefahr einer Verfolgung aus einem in Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK genannten Grund ergaben, scheidet die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten aus.
Bezüglich der Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder unruhebedingten Lebensbedingungen zurückzuführen sind, bleibt festzuhalten, dass diese keine Verfolgungshandlungen im Sinne des Asylgesetzes darstellen, da alle Bewohner gleichermaßen davon betroffen sind.
Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass bestehende schwierige Lebensumstände allgemeiner Natur hinzunehmen sind, weil das Asylrecht nicht die Aufgabe hat, vor allgemeinen Unglücksfolgen zu bewahren, die etwa in Folge des Krieges, Bürgerkrieges, Revolution oder sonstiger Unruhen entstehen, ein Standpunkt den beispielsweise auch das UNHCR-Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft in Punkt 164 einnimmt (VwGH 14.03.1995, Zl. 94/20/0798).
II.3.3. Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die jeweiligen Herkunftsstaaten:
II.3.3.1. Die hier maßgeblichen Bestimmungen des § 8 AsylG lauten:
„§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. | der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder |
2. | … |
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 … zu verbinden.
(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offensteht.…“
Bereits § 8 AsylG 1997 beschränkte den Prüfungsrahmen auf den „Herkunftsstaat“ des Asylwerbers. Dies war dahingehend zu verstehen, dass damit derjenige Staat zu bezeichnen war, hinsichtlich dessen auch die Flüchtlingseigenschaft des Asylwerbers auf Grund seines Antrages zu prüfen ist (VwGH 22.4.1999, 98/20/0561; 20.5.1999, 98/20/0300). Diese Grundsätze sind auf die hier anzuwendende Rechtsmaterie insoweit zu übertragen, als dass auch hier der Prüfungsmaßstab hinsichtlich des Bestehend der Voraussetzungen, welche allenfalls zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führen, sich auf den Herkunftsstaat beschränken.
Art. 2 EMRK lautet:
„(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. (2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt:
a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen;
b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern;
c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.“
Während das 6. ZPEMRK die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft wurde, erklärt das 13. ZPEMRK die Todesstrafe als vollständig abgeschafft.
Art. 3 EMRK lautet:„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
Folter bezeichnet jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind (Art. 1 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984).
Unter unmenschlicher Behandlung ist die vorsätzliche Verursachung intensiven Leides unterhalb der Stufe der Folter zu verstehen (Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht 10. Aufl. (2007), RZ 1394).
Unter einer erniedrigenden Behandlung ist die Zufügung einer Demütigung oder Entwürdigung von besonderem Grad zu verstehen (Näher Tomasovsky, FS Funk (2003) 579; Grabenwarter, Menschenrechtskonvention 134f).
Art. 3 EMRK enthält keinen Gesetzesvorbehalt und umfasst jede physische Person (auch Fremde), welche sich im Bundesgebiet aufhält.
Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Ausweisung (nunmehr Rückkehrentscheidung) eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der betroffenen Person im Falle seiner Ausweisung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).
Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (für viele: VfSlg 13.314; EGMR 7.7.1989, Soering, EuGRZ 1989, 314). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat der bP zu berücksichtigen, auch wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein „ausreichend reales Risiko“ für eine Verletzung des Art. 3 EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes („high threshold“) dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (vgl. Karl Premissl in Migralex „Schutz vor Abschiebung von Traumatisierten in „Dublin-Verfahren““, derselbe in Migralex: „Abschiebeschutz von Traumatisieren“; EGMR: Ovidenko vs. Finnland; Hukic vs. Scheden, Karim, vs. Schweden, 4.7.2006, Appilic 24171/05, Goncharova & Alekseytev vs. Schweden, 3.5.2007, Appilic 31246/06.
Der EGMR geht weiters allgemein davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische od. sonst. unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen (vgl für mehrere. z. B. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“], oder auch Application no. 7702/04 by SALKIC and Others against Sweden oder S.C.C. against Sweden v. 15.2.2000, 46553 / 99).
Gem. der Judikatur des EGMR muss ein BF die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darstellen (vgl. EKMR, Entsch. Vom 7.7.1987, Nr. 12877/87 – Kalema gg. Frankreich, DR 53, S. 254, 264). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus (vgl. EKMR, Entsch. Vom 12.3.1980, Nr. 8897/80: X u. Y gg. Vereinigtes Königreich), wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (vgl. EKMR, Entsch. Vom 17.10.1986, Nr. 12364/86: Kilic gg. Schweiz, DR 50, S. 280, 289). So führt der EGMR in stRsp aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller „Beweise“ zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt -so weit als möglich- Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (z. B. EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005)
Auch nach Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 26.6.1997, Zl. 95/18/1293, VwGH 17.7.1997, Zl. 97/18/0336). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre (VwGH 14.2.2002, 99/18/0199 ua), gesundheitliche (VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601) oder finanzielle (vgl VwGH 15.11.1994, 94/07/0099) Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann (vgl auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279).
Voraussetzung für das Vorliegen einer relevanten Bedrohung ist auch in diesem Fall, dass eine von staatlichen Stellen zumindest gebilligte oder nicht effektiv verhinderbare Bedrohung der relevanten Rechtsgüter vorliegt oder dass im Heimatstaat des Asylwerbers keine ausreichend funktionierende Ordnungsmacht (mehr) vorhanden ist und damit zu rechnen wäre, dass jeder dorthin abgeschobene Fremde mit erheblicher Wahrscheinlichkeit der in [nunmehr] § 8 Abs. 1 AsylG umschriebenen Gefahr unmittelbar ausgesetzt wäre (vgl. VwGH 26.6.1997, 95/21/0294).
Der VwGH geht davon aus, dass der Beschwerdeführer vernünftiger Weise (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380) damit rechnen muss, in dessen Herkunftsstaat (Abschiebestaat) mit einer über die bloße Möglichkeit (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262) hinausgehenden maßgeblichen Wahrscheinlichkeit von einer aktuellen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194) Gefahr betroffen zu sein. Wird dieses Wahrscheinlichkeitskalkül nicht erreicht, scheidet die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten somit aus.
Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solch innerstaatlich bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (VG München 13.05.2016, M 4 K 16.30558).
Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des Beschwerdeführers so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH U. 17.02.2009, C-465/07). Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen: ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind; ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind; ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden; schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07).
Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwGH 17.09.2008, Zl. 2008/23/0588). Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt jedoch nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09). Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137, zur Lage in Bagdad). Die bloße Möglichkeit einer den betreffenden Bestimmungen der EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht (VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427).
Im Hinblick der Gefahrendichte ist auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die der Beschwerdeführer typischerweise zurückkehren wird. Zur Feststellung der Gefahrendichte kann auf eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung zurückgegriffen werden. Zu dieser wertenden Betrachtung gehört jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann (dt BVerwG 17.11.2011, 10 C 13/10).
Dessen ungeachtet sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auch dann abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht (§ 8 Abs. 3 AsylG 2005).
Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen im Übrigen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141).
II.3.3.2. Umgelegt auf den gegenständlichen Fall werden im Lichte der dargestellten nationalen und internationalen Rechtsprechung folgende Überlegungen angestellt:
Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage (allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse) liegen weder in der Türkei noch im Irak vor, weshalb hieraus aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Vorliegen eines Sachverhaltes gem. Art. 2 bzw. 3 EMRK abgeleitet werden kann.
Aufgrund der Ausgestaltung des Strafrechts der Herkunftsstaaten der BF scheidet das Vorliegen einer Gefahr im Sinne des Art. 2 EMRK, oder des Protokolls Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe aus.
Da sich weder der Irak noch die Türkei im Zustand willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes befinden, kann bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht festgestellt werden, dass für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines solchen internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes besteht.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass den Beschwerdeführern im Falle einer Rückkehr in den Irak bzw. die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), haben doch die BF selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihnen im Falle einer Rückführung in den Irak jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und sie in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wären.
In der Türkei hat sich die Sicherheitslage zwar seit Juli 2015 verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der PKK, des Islamischen Staates und (in sehr viel geringerem Ausmaß) von Terroranschlägen linksextremistischer Gruppierungen. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 ausweislich einer aktuellen Einschätzung des Auswärtigen Amtes nachgelassen.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass den BF im Falle einer Rückkehr in den Irak bzw. der Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), haben doch die volljährigen BF selbst vorgebracht, dass sowohl im Irak als auch in der Türkei noch zahlreiche Verwandte mit Unterkunftsmöglichkeiten leben, den BF somit Wohnmöglichkeiten zur Verfügung stehen würde. Den BF würde somit im Falle einer Rückführung nicht jegliche Existenzgrundlage fehlen und wären sie in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) keiner lebensbedrohenden Situation ausgesetzt.
Hinsichtlich der Tükei bleibt festzuhalten, dass auch nichts gegen eine Ansiedlung in einem anderen Landesteil der Türkei spricht. Darüber hinaus steht dem BF1 die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter offen, da er über die türkische Staatsbürgerschaft verfügt. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 3294 bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt demgemäß nicht vor.
Auch wenn sich die Lage der Menschenrechte im Irak bzw. der Türkei in einigen Bereichen als problematisch darstellt, kann nicht festgestellt werden, dass eine nicht sanktionierte, ständige Praxis grober, offenkundiger, massenhafter Menschenrechtsverletzungen (iSd VfSlg 13.897/1994, 14.119/1995, vgl. auch Art. 3 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984) herrschen würde und praktisch, jeder der sich im Hoheitsgebiet dieser Staaten aufhält schon alleine aufgrund des Faktums des Aufenthaltes aufgrund der allgemeinen Lage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, von einem unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalt betroffen ist.
Aus der sonstigen allgemeinen Lage im Irak bzw. der Türkei kann ebenfalls bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Bestehen eines unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhaltes abgeleitet werden. Weitere, in der Person der BF begründete Rückkehrhindernisse können bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen ebenfalls nicht festgestellt werden.
Zur individuellen Versorgungssituation der BF wird weiter festgestellt, dass diese im jeweiligen Herkunftsstaat über eine hinreichende Existenzgrundlage verfügen. Bei den volljährigen BF handelt es sich um mobile, gesunde und arbeitsfähige Personen. Einerseits stammen die BF aus Staaten, auf deren Territorium die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleistet ist und andererseits gehören sie keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellt als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann.
So war es den BF auch vor der Ausreise möglich, ihr Leben und das ihrer Kinder erfolgreich zu meistern. In XXXX (Türkei) leben noch Onkel des BF1, zu denen er Kontakt hat. Im Lager XXXX leben die Eltern, vier Schwestern und ein Bruder des BF1. In XXXX leben die Mutter, fünf Schwestern und acht Brüder der BF2. Die Mutter, drei Schwestern und vier Brüder leben gemeinsam im Elternhaus. Vier Brüder wohnen mit ihren Familien in eigenen Häusern. Die Geschwister arbeiten als Reinigungskräfte im Krankenhaus bzw. besuchen noch die Schule. Die Mutter wird von den Söhnen versorgt.
Zur Erkrankung bzw. zum Gesundheitszustand der BF1, BF2 und BF4 wird festgehalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Höchstgerichte im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. die Beschlüsse des VwGH vom 21. Februar 2017, Ro 2016/18/0005 und Ra 2017/18/0008 bis 0009, unter Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 13. Dezember 2016, Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien; auch Beschluss des VwGH vom 23.3.2017, Ra 2017/20/0038; siehe auch Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“]; Erk. d. VfGH 06.03.2008, Zl: B 2400/07-9). Bloß spekulative Überlegungen über einen fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung sind ebenso unbeachtlich wie eine bloße Minderung der Lebensqualität (Urteil des EGMR (Große Kammer) vom 27. Mai 2008, N. v. The United Kingdom, Nr. 26.565/05).
Die genannten allgemeinen Ausführungen gelten auch beim Vorliegen psychischer Erkrankungen bzw. Störungen. Zur Verdeutlichung der vom EGMR gesetzten Schwelle sei hier auf die Entscheidung SALKIC and others against Sweden (Application no. 7702/04) hingewiesen, wo die Zulässigkeit der Abschiebung schwer traumatisierter und teilweise suizidale Tendenzen aufweisende Bosnier nach Bosnien und Herzegowina bejaht wurde, wobei hier wohl außer Streit gestellt werden kann, dass das bosnische Gesundheitssystem dem schwedischen qualitätsmäßig unterliegt.
Dass sich der Gesundheitszustand durch die Abschiebung verschlechtert ("mentaler Stress" ist nicht entscheidend), ist vom Antragsteller konkret nachzuweisen, bloße Spekulationen über die Möglichkeit sind nicht ausreichend. In der Beschwerdesache OVDIENKO gg. Finland vom 31.05.2005 (Appl. 1383/04), wurde die Abschiebung des Beschwerdeführers, der sich seit 2002 in psychiatrischer Behandlung befunden hat und der selbstmordgefährdet war, für zulässig erklärt; mentaler Stress durch eine Abschiebungsdrohung in die Ukraine ist kein ausreichendes „real risk“.
Aufgrund der hier vorliegenden Krankheitsbilder ist jedenfalls nicht ableitbar, dass eine Überstellung in den Irak bzw. der Türkei zu einer Beeinträchtigung des gesundheitlichen Zustandes der betroffenen BF führen wird, womit folgerichtig keine Verletzung von Art 3 EMRK gegeben ist. Behandlungsmöglichkeiten sind sowohl im Irak als auch in der Türkei vorhanden, der BF1 und die BF2 wurden bereits vor der Ausreise medizinisch behandelt und erhielten die notwendige Medikation.
Es liegt aktuell auch bei den BF1, BF2 und BF4 keine derartige Erkrankung vor, welche das Risiko bergen würde, im Falle der Rückkehr unter qualvollen Umständen zu sterben. Es kann damit nicht von einem gänzlichen Fehlen von angemessenen Behandlungsmöglichkeiten ausgegangen werden und muss zwar eventuell mit einer Verschlechterung des persönlichen Zustandes des BF1, der BF2 und der BF4 gerechnet werden, diese ist jedoch nicht unwiederbringlich oder derart gravierend, dass eine Abschiebung als unzulässig zu erklären oder subsidiärer Schutz zu gewähren wäre.
Die BF konnten im Irak zudem auch trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor ihrer Ausreise für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder sorgen.
Neben den Möglichkeiten, Sozialleistungen zu beziehen, steht den BF damit auch ein Netz von Verwandten zur Verfügung, welche zur Finanzierung der etwaig teilweise kostenpflichtigen Behandlung beitragen können.
Im vorliegenden Fall konnten seitens der BF keine akut existenzbedrohenden Krankheitszustände oder Hinweise einer unzumutbaren Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Überstellung in den Irak bzw. der Türkei belegt werden, welche die Notwendigkeit weiterer Erhebungen seitens des Bundesverwaltungsgerichts notwendig machen würden.
Im gegenständlichen Fall besteht im Lichte der Berichtslage kein Hinweis, dass die BF1, BF2 und BF4 vom Zugang zu medizinischer Versorgung im Irak bzw. der Türkei ausgeschlossen wären und bestehen auch keine Hinweise, dass die seitens der BF beschriebenen und diagnostizierten Krankheiten nicht behandelbar wären. Auch faktische Hindernisse, welche das Fehlen eines Zugangs zur medizinischen Versorgung aus in der Person der BF gelegenen Umständen belegen würden, kamen nicht hervor.
Ebenso ist davon auszugehen, dass Österreich in der Lage ist, im Rahmen aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausreichende medizinische Begleitmaßnahmen zu setzen (VwGH 25.4.2008, 2007/20/0720 bis 0723, VfGH v. 12.6.2010, Gz. U 613/10-10 und die bereits zitierte Judikatur; ebenso Erk. des AsylGH vom 12.3.2010, B7 232.141-3/2009/3E mwN).
Zur individuellen Versorgungssituation der BF wird weiter festgestellt, dass diese im jeweiligen Herkunftsstaat über eine hinreichende Existenzgrundlage verfügen. Einerseits stammen die BF aus Staaten, auf deren Territorien die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleistet ist und andererseits gehören sie keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellt als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann.
II.3.3.3. Bei den BF4 bis BF8 handelt es sich um minderjährige Kinder, somit um besonders vulnerable Personen (vgl. dazu etwa die Begriffsdefinition in Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU ), sodass sich das Bundesverwaltungsgericht im Besonderen mit der Lage der minderjährigen BF im Rückkehrfall auseinandersetzen hat (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0089). In diesem Zusammenhang ist zunächst wesentlich, dass ausweislich der Feststellungen und der dazu angestellten beweiswürdigenden Erwägungen nicht nur von einer gesicherten Existenzgrundlage der Eltern auszugehen ist, sondern sich ein für eine bescheidene Lebensführung hinreichendes Einkommen für die gesamte Familie auch unter Berücksichtigung der minderjährigen BF erwarten lässt. Engpässe bei der Versorgung mit Gütern, die Kinder für ihre Bedürfnisse benötigen (Obst, Milch oder medizinische Produkte), konnten im Rahmen der Recherche nicht erhoben werden, sodass keine dahingehenden Schwierigkeiten im Herkunftsstaat feststellbar sind.
Im gegenständlichen Fall sind die Mutter und die sechs Kinder irakische Staatsbürger; es sind alle im selben Umfang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen und teilen die Kinder somit das sozioökonomische Schicksal der Mutter. Der Gatte der BF2 und Vater der Kinder lebte zudem wie auch seine Eltern und Geschwister die letzten 30 Jahre im Irak. Wie beweiswürdigend ausgeführt, ist die Grundversorgung mit Nahrung und medizinische Versorgung im Irak gegeben und steht den schulpflichtigen Kindern auch ein diskriminierungsfreier Zugang zum Schulsystem offen. Eine Verletzung des Kindeswohles ist daher nicht ersichtlich, weswegen auch keine reale Gefahr einer Verletzung des Art 3 EMRK erkennbar ist. Auch aufgrund der Sicherheitslage ist eine Verletzung des Kindeswohls nicht zu besorgen.
3.3.3. Aufgrund der oa. Ausführungen ist im Rahmen einer Gesamtschau davon auszugehen, dass die BF im Falle einer Rückkehr in den jeweiligen Herkunftsstaat die dringendsten Bedürfnisse befriedigen können und nicht über eine allfällige Anfangsschwierigkeiten überschreitende, dauerhaft aussichtslose Lage geraten.
Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die BF somit nicht in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden.
Weder droht in den Herkunftsstaaten das reale Risiko einer Verletzung der oben genannten gewährleisteten Rechte, noch bestünde die Gefahr, der Todesstrafe unterzogen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in die Herkunftsstaaten für die Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen, sodass die Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten zu Recht abgewiesen wurden.
II.3.4. Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidungen auf Dauer sowie Erteilung von Aufenthaltstiteln
II.3.4.1. Gesetzliche Grundlagen:
§ 10 AsylG 2005, Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme:
(1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,
3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.
(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des § 58 Abs. 9 Z 1 bis 3 vorliegt.“
§ 57 AsylG 2005, Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz:
(1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Abs. 1 Z 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Abs. 3 und § 73 AVG gehemmt.
(3) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 2 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.
(4) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 3 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können.“
§ 9 BFA-VG, Schutz des Privat- und Familienlebens:
(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 Abs. 1a FPG nicht erlassen werden, wenn
1. ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl. Nr. 311, verliehen hätte werden können, oder
2. er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.“
§ 55 AsylG 2005, Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK:
„§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn
1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I. Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.
(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.“
§ 58 AsylG 2005, Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln:
„§ 58. (1) Das Bundesamt hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt,
4. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird oder
5. ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt.
(2) Das Bundesamt hat einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG rechtskräftig auf Dauer für unzulässig erklärt wurde. § 73 AVG gilt.
(3) Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
(4) Das Bundesamt hat den von Amts wegen erteilten Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 oder 57 auszufolgen, wenn der Spruchpunkt (Abs. 3) im verfahrensabschließenden Bescheid in Rechtskraft erwachsen ist. Abs. 11 gilt.
(5) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 sowie auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 sind persönlich beim Bundesamt zu stellen. Soweit der Antragsteller nicht selbst handlungsfähig ist, hat den Antrag sein gesetzlicher Vertreter einzubringen.
(6) Im Antrag ist der angestrebte Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 bis 57 genau zu bezeichnen. Ergibt sich auf Grund des Antrages oder im Ermittlungsverfahren, dass der Drittstaatsangehörige für seinen beabsichtigten Aufenthaltszweck einen anderen Aufenthaltstitel benötigt, so ist er über diesen Umstand zu belehren; § 13 Abs. 3 AVG gilt.
(7) Wird einem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 stattgegeben, so ist dem Fremden der Aufenthaltstitel auszufolgen. Abs. 11 gilt.
(8) Wird ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 zurück- oder abgewiesen, so hat das Bundesamt darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
(9) Ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel nach diesem Hauptstück ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn der Drittstaatsangehörige
1. sich in einem Verfahren nach dem NAG befindet,
2. bereits über ein Aufenthaltsrecht nach diesem Bundesgesetz oder dem NAG verfügt oder
3. gemäß § 95 FPG über einen Lichtbildausweis für Träger von Privilegien und Immunitäten verfügt oder gemäß § 24 FPG zur Ausübung einer bloß vorübergehenden Erwerbstätigkeit berechtigt ist
soweit dieses Bundesgesetz nicht anderes bestimmt. Dies gilt auch im Falle des gleichzeitigen Stellens mehrerer Anträge.
(10) Anträge gemäß § 55 sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn gegen den Antragsteller eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig erlassen wurde und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG ein geänderter Sachverhalt, der eine ergänzende oder neue Abwägung gemäß Art. 8 EMRK erforderlich macht, nicht hervorgeht. Anträge gemäß §§ 56 und 57, die einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag (Folgeantrag) oder einer rechtskräftigen Entscheidung nachfolgen, sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn aus dem begründeten Antragsvorbringen ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.
(11) Kommt der Drittstaatsangehörige seiner allgemeinen Mitwirkungspflicht im erforderlichen Ausmaß, insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung und Überprüfung erkennungsdienstlicher Daten, nicht nach, ist
1. das Verfahren zur Ausfolgung des von Amts wegen zu erteilenden Aufenthaltstitels (Abs. 4) ohne weiteres einzustellen oder
2. der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückzuweisen.
Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren.
(12) Aufenthaltstitel dürfen Drittstaatsangehörigen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, nur persönlich ausgefolgt werden. Aufenthaltstitel für unmündige Minderjährige dürfen nur an deren gesetzlichen Vertreter ausgefolgt werden. Anlässlich der Ausfolgung ist der Drittstaatsangehörige nachweislich über die befristete Gültigkeitsdauer, die Unzulässigkeit eines Zweckwechsels, die Nichtverlängerbarkeit der Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 und 56 und die anschließende Möglichkeit einen Aufenthaltstitel nach dem NAG zu erlangen, zu belehren.
(13) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 begründen kein Aufenthalts- oder Bleiberecht. Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 stehen der Erlassung und Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht entgegen. Sie können daher in Verfahren nach dem 7. und 8. Hauptstück des FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten. Bei Anträgen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 hat das Bundesamt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über diesen Antrag jedoch mit der Durchführung der einer Rückkehrentscheidung umsetzenden Abschiebung zuzuwarten, wenn
1. ein Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung erst nach einer Antragstellung gemäß § 56 eingeleitet wurde und
2. die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 wahrscheinlich ist, wofür die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Z 1, 2 und 3 jedenfalls vorzuliegen haben.“
(14) Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, durch Verordnung festzulegen, welche Urkunden und Nachweise allgemein und für den jeweiligen Aufenthaltstitel dem Antrag jedenfalls anzuschließen sind. Diese Verordnung kann auch Form und Art einer Antragstellung, einschließlich bestimmter, ausschließlich zu verwendender Antragsformulare, enthalten.
§ 52 FPG, Rückkehrentscheidung:
„§ 52. (1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich
1. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder
2. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,
2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wirdund ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
(3) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs. 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels, Einreisetitels oder der erlaubten visumfreien Einreise entgegengestanden wäre,
2. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
3. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG erteilt wurde, er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre im Bundesgebiet niedergelassen ist und während der Dauer eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
4. der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 und 2 NAG) entgegensteht oder
5. das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG) aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde.
Werden der Behörde nach dem NAG Tatsachen bekannt, die eine Rückkehrentscheidung rechtfertigen, so ist diese verpflichtet dem Bundesamt diese unter Anschluss der relevanten Unterlagen mitzuteilen. Im Fall des Verlängerungsverfahrens gemäß § 24 NAG hat das Bundesamt nur all jene Umstände zu würdigen, die der Drittstaatsangehörige im Rahmen eines solchen Verfahrens bei der Behörde nach dem NAG bereits hätte nachweisen können und müssen.
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel “Daueraufenthalt – EU" verfügt, hat das Bundesamt eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.
(6) Ist ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates, hat er sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Dies hat der Drittstaatsangehörige nachzuweisen. Kommt er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 zu erlassen.
(7) Von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 ist abzusehen, wenn ein Fall des § 45 Abs. 1 vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll.
(8) Die Rückkehrentscheidung wird im Fall des § 16 Abs. 4 BFA-VG oder mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland gemäß unionsrechtlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 28 Abs. 2 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.
(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
(10) Die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 kann auch über andere als in Abs. 9 festgestellte Staaten erfolgen.
(11) Der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung deren Unzulässigkeit gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festgestellt wurde, hindert nicht daran, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten gesetzt hat, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde.“
§ 55 FPG, Frist für die freiwillige Ausreise
„§ 55. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird.
(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. § 37 AVG gilt.
(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG aberkannt wurde.
(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Abs. 1 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht.“
Art. 8 EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
„(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“
II.3.4.2. Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. und II. der angefochtenen Bescheide wurden als unbegründet abgewiesen.
II.3.4.3. Es liegen keine Umstände vor, dass den BF Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) zu erteilen gewesen wären.
Es erwies sich der bisherige Aufenthalt der BF im Bundesgebiet lediglich aufgrund der Asylantragstellung als legitimiert und liegt sohin aktuell keine Duldung iSd. § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG vor. Die BF waren auch weder Opfer noch Zeuge im Zusammenhang mit Menschenhandel, grenzüberschreitender Prostitution oder dergleichen.
II.3.4.4. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung daher mit der Prüfung einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.
Vom Begriff des 'Familienlebens' in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern zB auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, welche miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Art. 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig. Der Begriff des 'Familienlebens' in Art. 8 EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus; die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammengelebt haben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind (vgl. dazu EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215; EKMR 19.7.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.2.1979, 7912/77, EuGRZ 1981, 118; EKMR 14.3.1980, 8986/80, EuGRZ 1982, 311; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK- Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayr, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1, ebenso VwGH vom 26.1.2006, 2002/20/0423, vgl. auch VwGH vom 8.6.2006, Zl. 2003/01/0600-14, oder VwGH vom 26.1.2006, Zl.2002/20/0235-9, wo der VwGH im letztgenannten Erkenntnis feststellte, dass das Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern nicht automatisch mit Erreichen der Volljährigkeit beendet wird, wenn das Kind weiter bei den Eltern lebt).
Der Begriff des Familienlebens ist darüber hinaus nicht auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR Marckx, EGMR 23.04.1997, X ua). Bei dem Begriff „Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK“ handelt es sich nach gefestigter Ansicht der Konventionsorgane um einen autonomen Rechtsbegriff der Konvention.
II.3.4.5. Die BF möchten offensichtlich ihr künftiges Leben in Österreich gestalten und halten sich seit August 2020 im Bundesgebiet auf. Die BF1 bis BF7 befinden sich seit August 2020, der BF8 seit 18.08.2021 im Bundesgebiet. Die BF1, BF2 und BF4 bis BF8 sind nicht selbsterhaltungsfähig und beziehen Grundversorgung. In Österreich leben keine Verwandten der BF. Die BF besuchen fallweise Deutschkurse, Zertifikate wurden nicht in Vorlage gebracht. Die BF sind in keinen österr. Vereinen oder Organisationen Mitglieder. Der BF1 gab an, fünf Monate bei der Gemeinde und in einem Altenheim gemeinnützige Tätigkeiten verrichtet zu haben, alle anderen BF verrichten keine ehrenamtlichen oder gemeinnützigen Tätigkeiten. Der BF3 absolvierte die Pflichtschulabschlussprüfung vor einer Externistenprüfungskommission und befindet sich seit 19.02.2024 in einem Lehrverhältnis bei der Scania Österreich Ges.m.b.H., wo er zum Kraftfahrzeugtechniker ausgebildet wird. Eine entsprechende Beschäftigungsbewilligung des AMS, gültig von 12.02.2024 bis 11.08.2028, wurde in Vorlage gebracht. Für die BF4 wurde eine von einem Facharzt für ZMK-Heilkunde ausgestellte und mit 19.06.2024 datierte Lehrzusage als zahnärztliche Assistentin ab Herbst 2024 vorgelegt. Sie brachte ein Abschlusszeugnis der MS M. für das Schuljahr 2022/2023 in Vorlage. Es wurde ein Empfehlungsschreiben, jedoch keine Patenschaftserklärungen übermittelt. Die BF5 und BF6 besuchten die zweite Klasse der MS M., der BF7 besucht den Kindergarten. Bezüglich österreichischer Freunde gab der BF1 zwei weibliche Vornamen, die BF2 drei weibliche Vornamen und der BF3 fünf männliche Vornamen bekannt.
Die Rückkehrentscheidung stellt somit einen Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben dar.
II.3.4.6. Gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf das Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, welche in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, der Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Zweifellos handelt es sich sowohl beim BFA als auch beim ho. Gericht um öffentliche Behörden im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK und ist der Eingriff in § 10 AsylG gesetzlich vorgesehen.
Es ist in weiterer Folge zu prüfen, ob ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und/oder Familienlebens der BF im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Art. 8 EMRK gedeckt ist und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK, in verhältnismäßiger Weise verfolgt.
II.3.4.7. Im Einzelnen ergibt sich aus einer Zusammenschau der zu berücksichtigenden Kriterien Folgendes:
- Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt rechtswidrig war:
Die BF1 bis BF7 befinden sich seit August 2020, der BF8 seit 18.08.2021 im Bundesgebiet.
Die BF1 bis BF7 reisten rechtswidrig in das Bundesgebiet ein und konnten ihren Aufenthalt lediglich durch die Stellung unbegründeter Asylanträge vorübergehend legalisieren. Hätten sie diese unbegründeten Asylanträge nicht gestellt, wären sie rechtswidrig im Bundesgebiet aufhältig bzw. wäre davon auszugehen, dass der rechtswidrige Aufenthalt bereits durch entsprechende aufenthaltsbeendende Maßnahmen in der Vergangenheit beendet worden wäre und sie sich nicht mehr im Bundesgebiet aufhalten würden.
- das tatsächliche Bestehen eines Privatlebens:
Die BF verfügen über die festgestellten familiären und privaten Anknüpfungspunkte.
- die Schutzwürdigkeit des Privat- und Familienlebens
Die BF begründeten ihr Privatleben zu einem Zeitpunkt, als der Aufenthalt lediglich durch die Stellung der unbegründeten Asylanträge vorübergehend legalisiert war. Auch war der Aufenthalt der BF zum Zeitpunkt der Begründung der Anknüpfungspunkte im Rahmen des Privatlebens ungewiss und nicht dauerhaft, sondern auf die Dauer der Asylverfahren beschränkt.
Letztlich ist auch festzuhalten, dass die BF nicht gezwungen sind, nach einer Ausreise allenfalls bestehende Bindungen zur Gänze abzubrechen. So stünde es ihm frei, diese durch briefliche, telefonische, elektronische Kontakte oder durch Besuche aufrecht zu erhalten (vgl. Peter Chvosta: „Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK“, ÖJZ 2007/74 mwN).
- Grad der Integration
Die BF sind –in Bezug auf ihr Lebensalter- erst einen relativ kurzen Zeitraum in Österreich aufhältig.
Die BF1, BF2 und BF4 bis BF8 sind nicht selbsterhaltungsfähig und beziehen Grundversorgung. In Österreich leben keine Verwandten. Die BF besuchen fallweise Deutschkurse, Zertifikate wurden nicht vorgelegt. Die BF sind in keinen österr. Vereinen oder Organisationen Mitglieder. Der BF1 gab an, fünf Monate bei der Gemeinde und in einem Altenheim gemeinnützige Tätigkeiten verrichtet zu haben, alle anderen BF verrichten keine ehrenamtlichen oder gemeinnützigen Tätigkeiten. Der BF3 absolvierte die Pflichtabschlussprüfung und befindet sich seit 19.02.2024 in einem Lehrverhältnis als Kraftfahrzeugtechniker. Eine entsprechende Beschäftigungsbewilligung des AMS, gültig vom 12.02.2024 bis 11.08.2028, wurde in Vorlage gebracht. Für die BF4 wurde von einem Facharzt für ZMK-Heilkunde eine mit 19.06.2024 datierte Lehrzusage als zahnärztliche Assistentin ab Herbst 2024 vorgelegt. Sie brachte ein Abschlusszeugnis für das Schuljahr 2022/2023 in Vorlage. Es wurde ein Empfehlungsschreiben übermittelt. Die BF5 und BF6 besuchten die zweite Klasse der MS M., der BF7 besucht den Kindergarten. Bezüglich österreichischer Freunde gab der BF1 zwei weibliche Vornamen, die BF2 drei weibilche Vornamen und der BF3 fünf männliche Vornamen bekannt.
In diesem Zusammenhang sei auch auf die höchstgerichtliche Judikatur verwiesen, wonach selbst die –hier bei weitem nicht vorhandenen- Umstände, dass selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).
- Bindungen zum Herkunftsstaat
Die BF1 bis BF6 verbrachten den überwiegenden Teil ihres Lebens im Irak, der BF1 die ersten 13 Jahre seines Lebens in der Türkei. Der BF1 wurde in der Türkei, die BF2 bis BF6 im Irak sozialisiert, sie bekennen sich zum muslimischen Glauben und sprechen Kurdisch auf muttersprachlichem Niveau. In XXXX (Türkei) leben noch Onkel, zu denen der BF1 noch Kontakt hat. Im Lager XXXX leben noch die Eltern, vier Schwestern und ein Bruder des BF1. Zu den Verwandten in der Türkei und im Irak hat der BF1 Kontakt. In XXXX leben noch die Mutter, fünf Schwestern und acht Brüder der BF2. Die Mutter, drei Schwestern und vier Brüder leben gemeinsam im Elternhaus. Vier Brüder wohnen mit ihren Familien in eigenen Häusern. Die Geschwister arbeiten als Reinigungskräfte im Krankenhaus, bzw. besuchen noch die Schule. Die Mutter wird von den Söhnen versorgt. Die BF2 hat regelmäßigen Kontakt zu ihren Verwandten.
- strafrechtliche Unbescholtenheit
Die BF sind strafrechtlich unbescholten bzw. strafunmündig.
Diese Feststellung stellt laut Judikatur weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, Zahl 98/18/0420). Der VwGH geht wohl davon aus, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält.
- Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl- Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts
Die BF1 bis BF7 reisten schlepperunterstützt und unter Umgehung der Grenzkontrolle in das österreichische Bundesgebiet ein. Soweit die minderjährigen BF hierbei keinen Einfluss auf das Verhalten ihrer Eltern hatten, wird auf die noch zutreffenden Ausführungen hinsichtlich der objektiven Zurechenbarkeit des Verhaltens der Eltern hingewiesen, welche hier denklogisch sinngemäß gelten.- die Frage, ob das Privatleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren
Den BF musste bei der Antragstellung klar sein, dass der Aufenthalt in Österreich im Falle der Abweisung der Asylanträge nur ein vorübergehender ist. Ebenso indiziert die rechtswidrige und schlepperunterstützte Einreise den Umstand, dass den BF die Unmöglichkeit der legalen Einreise und dauerhaften Niederlassung bewusst war, da davon auszugehen ist, dass sie in diesem Fall diese weitaus weniger beschwerliche und kostenintensive Art der legalen Einreise und Niederlassung gewählt hätten.
- mögliches Organisationsverschulden durch die handelnden Behörden in Bezug auf die Verfahrensdauer
Ein derartiges Verschulden kann der Aktenlage nicht entnommen werden.
-Kindeswohl
Allfällige ungünstigere Entwicklungsbedingungen im Ausland begründen für sich allein noch keine Gefährdung des Kindeswohls, vor allem dann, wenn die Familie von dort stammt (OGH 08.07.2003, Zl. 4Ob146/03d unter Verweis auf Coester in Staudinger, BGB13 § 1666 Rz 82 mwN). Zudem gehören die Eltern und deren sozioökonomischen Verhältnisse grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes (ebd.).
Bei der Beurteilung, ob im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat eine Verletzung von durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechten droht, ist nach der Judikatur des VwGH eine eventuelle besondere Vulnerabilität der Betroffenen im Speziellen zu berücksichtigen, wobei der VwGH auch auf die Definition schutzbedürftiger Personen in Art. 21. Der Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) verweist (vgl. zuletzt VwGH vom 13.12.2018, Zl. Ra 2018/18/0336 sowie vom 30.08.2017, Zl. Ra 2017/18/0089 zum Irak sowie VwGH vom 06.09.2018, Ra 2018/18/0315 und diverse andere zu Afghanistan). Art. 21 der Aufnahmerichtlinie zählt als besonders schutzbedürftige Personen unter anderem Minderjährige auf.
Der Verfassungsgerichtshof hat - aufgrund der vom BVwG selbst herangezogenen UNHCR-Richtlinien- in seiner Entscheidung vom 12.12.2018, Zl E 667/2018 hinsichtlich einer Familie aus Kabul festgehalten, dass Familien mit besonderem Schutzbedarf - nach Ansicht des UNHCR - nur dann eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul offensteht, wenn sie Zugang zu einem traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie haben und davon ausgegangen werden kann, dass diese willens und in der Lage sind, die Zurückkehrenden tatsächlich zu unterstützen. Die zugrundeliegende Entscheidung des BVwG wurde behoben, da vom BVwG nicht näher begründet wurde, warum es davon ausging, dass der Bruder der Erstbeschwerdeführerin eine sechsköpfige Familie ausreichend unterstützen könne bzw wolle. Es sei verabsäumt worden, die Erstbeschwerdeführerin zur konkreten Lebenssituation ihres Bruders und ihrer Schwester zu befragen.
Demnach wird von der Judikatur – zuletzt auch in einer Einzelentscheidung hinsichtlich des sicheren Herkunftsstaates Georgien (VwGH vom 07.03.2019, Ra 2018/21/0216 bis 0217-13) - eine konkrete Auseinandersetzung damit gefordert, welche Rückkehrsituation eine Familie mit minderjährigen Kindern im Herkunftsstaat tatsächlich vorfindet, insbesondere unter Berücksichtigung der dort herrschenden Sicherheitslage und Bewegungsfreiheit (VwGH 21.03.2018, Ra 2017/18/0474 bis 0479) sowie der Unterkunftsmöglichkeit (VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0315).
Im vorliegenden Fall ist daher insbesondere zu berücksichtigen, dass unter den BF fünf minderjährige Kinder – somit Angehörige einer besonders vulnerablen und besonders schutzbedürftigen Personengruppe - sind. Daher ist eine konkrete Auseinandersetzung mit der Rückkehrsituation, die die minderjährigen BF bzw. die Familie mit ihren minderjährigen Kindern im Heimatstaat tatsächlich vorfinden würden, erforderlich.
Im gegenständlichen Fall sind die Mutter und die minderjährigen Kinder irakische Staatsbürger und sind alle im selben Umfang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen. Die minderjährigen BF teilen somit das sozioökonomische Schicksal der Mutter. Der Vater der unmündigen Kinder ist zwar Staatsanghöriger der Türkei, lebte jedoch die letzten ca. 30 Jahre mit seiner Gattin und den Kindern im Irak.
Den BF stehen nach der Rückkehr sowohl private, karitative als auch bei Bedarf staatliche Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie Unterkunft finden werden und wird auf die Beweiswürdigung oben verwiesen. Eine Verletzung des Kindeswohles ist daher nicht ersichtlich.
- Zurechenbarkeit des Verhaltens der Eltern
Das ho. Gericht verkennt zwar nicht, dass sich die Kinder das Verhalten der Eltern im Rahmen der Interessensabwägung gemäß Art. 8 EMRK nicht im vollen Umfang subjektiv verwerfen lassen müssen, doch ist dieses Verhalten dennoch nicht unbeachtlich.
Der Verfassungsgerichtshof hielt in seiner Entscheidung vom 10.03.2011, Zl. B1565/10 (betreffend einem im Alter von 8 Jahren mit seinen Eltern eingereisten, im Entscheidungszeitpunkt 17jährigen, welcher beinahe die gesamte Schullaufbahn in Österreich absolvierte und herausragende sportliche Leistungen für einen österreichischen Sportklub erbrachte) fest, dass es in der Verantwortung des Staates gelegen ist, Voraussetzungen zu schaffen, um Verfahren so effizient führen zu können, dass nicht bis zur ersten rechtskräftigen Entscheidung - ohne Vorliegen außergewöhnlich komplexer Rechtsfragen und ohne, dass dem 17jährigen die lange Dauer des Asylverfahrens anzulasten wäre, - neun Jahre verstreichen. Es sei die Aufenthaltsverfestigung des 17jährigen zwar überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgt, keine über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung sei vorgelegen; jedoch sei ihm als Minderjährigem, der seine Eltern nach Österreich begleitete, dies nicht in jenem Maße zuzurechnen wie seinen Obsorgeberechtigten. In diesem Fall wurde festgehalten, dass keine Anpassungsfähigkeit des 17jährigen mehr vorliege, der wesentliche Teile seiner Kindheit und Jugend in Österreich verbrachte (im Gegensatz zu Kindern, die sich im Zeitpunkt ihrer Ausweisung noch in anpassungsfähigem Alter befinden; vgl EMRK 26.01.99, Fall Sarumi, Appl 43279/98) und wurden grundsätzliche Ausführungen zur herabgesetzten Verantwortlichkeit von Minderjährigen getroffen.
Auch in der Entscheidung des VfGH vom 07.10.2010, Zl. B 950-954/10-08 wurde unter Bezugnahme auf das mangelnde Verschulden der Beschwerdeführer an der 7jährigen Verfahrensdauer festgehalten, dass die belangte Behörde bei ihrer Interessenabwägung zusätzlich stärker gewichten hätte müssen, dass die minderjährigen Beschwerdeführer den Großteil ihres Lebens ins Österreich verbracht haben, sich mitten in ihrer Schulausbildung befanden und sich hier sowohl schulisch als auch gesellschaftlich sehr gut integriert haben.
Insbesondere hätte die belangte Behörde nicht berücksichtigt, dass - anders als in Fällen, in denen die Integration auf einem nur durch Folgeanträge begründeten unsicheren Aufenthaltsstatus basierte (vgl. zB VfGH 12.6.2010, U614/10) – in diesem Fall die Integration der Beschwerdeführer während ihrer einzigen Asylverfahren, welche für die Bf. 1, 2, 3 und 4 sieben Jahre (in denen keine einzige rechtskräftige Entscheidung ergangen ist) dauerten, erfolgte. Dass dies auf eine schuldhafte Verzögerung durch die Beschwerdeführer zurückzuführen wäre, wurde von der belangten Behörde weder dargestellt, noch war es aus den dem Verfassungsgerichtshof vorliegenden Akten ersichtlich.
Obwohl der Verfassungsgerichtshof in diesen beiden Entscheidungen die den Beschwerdeführern nicht zurechenbarer Dauer der Asylverfahren als wesentliches Argument für eine Interessensabwägung zu Gunsten der Beschwerdeführer herangezogen hat, ist dennoch aus dem Beschluss des VfGH vom 12.6.2010, U614/10 ableitbar, dass in gewissen Fällen trotz fehlender subjektiver Vorwerfbarkeit des Verhaltens der Minderjährigen im Hinblick auf die Verfahrensdauer dennoch das Verhalten der Eltern im Rahmen der Interessensabwägung in Bezug auf die minderjährigen Kinder eine Rolle spielt.
Es wird in diesem Zusammenhang auf die Erkenntnisse des VfGH vom 12.6.2010, erstens Zl. U 614/10 (Beschwerdeführerin wurde 1992 geboren, war zum Zeitpunkt der Einreise nach Österreich minderjährig, hatte zumindest am Anfang ihres Aufenthaltes in Österreich keinen Einfluss auf das bzw. die Asylverfahren, entzog sich aufenthaltsbeendenden Maßnahmen im Alter der mündigen Minderjährigkeit und prolongierte ihren Aufenthalt durch die Stellung verschiedener Anträge), zweitens Zl. U613/10 (Beschwerdeführerin wurde 1962 geboren, war während des gesamten Verfahrens handlungsfähig und prolongierte ihren Aufenthalt durch die Stellung verschiedener Anträge) und den Beschluss desselben Tages Zl. U615/10 ua (minderjährige Asylwerber während des gesamten Asylverfahrens, welche auf den Verlauf des Verfahrens bzw. der Verfahren keinen Einfluss hatten) hingewiesen. In diesen Verfahren stellte der VfGH in Bezug auf die 1962 geborene Beschwerdeführerin im vollen Umfang und in Bezug auf die 1992 geborene Beschwerdeführerin (Tochter der 1962 geborenen Beschwerdeführerin) in einem gewissen eingeschränkten Umfang fest, dass sich diese das Verhalten, welches zum langen Aufenthalt in Österreich führte, zurechnen lassen müssen und es daher nicht zu ihren Gunsten im Rahmen der Interessensabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK geltend machen können. Obwohl die minderjährigen Beschwerdeführer auf das Verhalten ihrer 1962 geborenen Mutter und 1992 geborenen Schwester keinerlei Einfluss hatten und ihnen deren Verhalten, insbesondere jenes der Mutter, nicht subjektiv vorgeworfen werden konnte, wurde die Behandlung derer Beschwerden dennoch mit Beschluss U615/10 ua. abgewiesen.
II.3.4.8. Abschließende Erwägungen
Vor dem Hintergrund der getroffenen Sachlage ist unter Berücksichtigung der höchstgerichtlichen Judikatur (Erk. d. VwGH vom 10. Mai 2011, Zl. 2011/18/0100 sowie vom 04.08.2016, Zl. Ra 2015/21/0249, mwN.) im Rahmen einer Interessensabwägung davon auszugehen, dass die familiären Interessen im Rahmen einer Abwägung iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK überwiegen und dass Rückkehrentscheidungen zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das erkennende Gericht auf Dauer unzulässig ist.
Im Rahmen der Interessensabwägung des § 9 BFA-VG war demnach für einen Verbleib der BF im Bundesgebiet zu entscheiden, weil die drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern dauerhaft sind. Rückkehrentscheidungen würden zu einer Trennung des Vaters vom Rest der Familie führen, was nicht nur einen einen unzulässigen Eingriff in das Familienleben darstellt, sondern auch gröblich das Kindeswohl insbesondere der 5 Minderjährigen verletzen würde.
Es wird nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch überwiegen in der vorliegenden und speziellen Konstellation nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes die familiären Interessen der BF. Festgehalten werden muss, dass es bei den BF1 und BF2 noch einer deutlichen Steigerung ihrer Integrationsbemühungen bedarf. Im Gegensatz dazu bemühen sich die Kinder deutlich mehr, indem sie zB eine Lehre absolvieren, eine Einstellungszusage haben, einen Pflichtschulabschluss nachholen oder die Schule besuchen.
Tatsächlich besteht zudem zwischen den BF ein schützenswertes Familienleben iSd Art. 8 EMRK. Sämtliche minderjährigen Kinder und auch der mittlerweile volljährige BF3 haben eine entsprechende Beziehungsintensität zu den Eltern. Aus dieser Intenstität ergibt sich im konreten Fall ein intensives Familienleben iSd Art. 8 EMRK. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass der BF3 und die minderjährigen BF seit ihrer Geburt bei und von den Eltern im gemeinsamen Haushalt leben und großteils von ihren Eltern finanziell abhängig sind. Nachdem der BF1 ein Staatsangehöriger der Türkei ist und alle anderen BF Staatsangehörige des Irak, müsste die Familie bei einer Rückkehr bzw. Abschiebung in die Herkunftsstaaten getrennt werden. Diese Trennung ist im konkreten Fall aufgrund des schützenwerten Familienlebens jedoch nicht zulässig. Hinsichtlich des BF3 wird nicht verkannt, dass dieser mittlerweile volljährig ist, jedoch ist auch bei ihm das schützenwerte Familienleben höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.
Das vorhandene, schützenswerte Familienleben iSd Art. 8 EMRK überwiegt im konkreten Fall in seiner Gesamtheit die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens. Rückkehrentscheidungen würden sich daher zum maßgeblichen aktuellen Entscheidungszeitpunkt als unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK erweisen.
Im Rahmen einer Abwägung dieser jeweiligen Interessen iSd Art 8 Abs 2 EMRK gelangte das erkennende Gericht gegenständlich zu dem Ergebnis, dass die individuellen Interessen der BF iSd Art. 8 Abs. 1 EMRK in der speziellen Konstellation dieses Einzelfalles schon so ausgeprägt sind, dass sie insbesondere das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nach Abschluss des gg. Verfahrens überwiegen.
Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher aufgrund der vorgenommenen Interessenabwägung unter Berücksichtigung der genannten besonderen Umstände dieses Beschwerdefalles zum Ergebnis, dass Rückkehrentscheidungen unzulässig sind. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die drohende Verletzung des Privatlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer sind und es war daher gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass Rückkehrentscheidungen auf Dauer unzulässig sind.
Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist gemäß Abs. 2 eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen (vgl. VwGH vom 04.08.2016, Zl. Ra 2016/21/0203).
Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 sind im Falle der BF in Folge des Ausspruches der dauerhaften Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidungen gegeben.
Die gesetzlichen Bestimmungen des Integrationsgesetzes lauten:
§ 9.
(1) Drittstaatsangehörige (§ 2 Abs. 1 Z 6 NAG) sind mit erstmaliger Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 NAG zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung verpflichtet. Diese Pflicht ist dem Drittstaatsangehörigen nachweislich zur Kenntnis zu bringen.
(2) Der Erfüllungspflicht gemäß Abs. 1 haben Drittstaatsangehörige binnen zwei Jahren ab erstmaliger Erteilung des Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 NAG nachzukommen. Unter Bedachtnahme auf die persönlichen Lebensumstände des Drittstaatsangehörigen kann der Zeitraum der Erfüllungspflicht auf Antrag mit Bescheid verlängert werden. Diese Verlängerung darf die Dauer von jeweils zwölf Monaten nicht überschreiten; sie hemmt den Lauf der Fristen nach § 14.
(2a) Fällt das Ende der Erfüllungspflicht gemäß Abs. 1 in die Zeit von 22. März 2020 bis 30. Juni 2020, verlängert sich der Zeitraum der Erfüllungspflicht nach Abs. 2 bis zum 31. Oktober 2020; diese Verlängerung hemmt den Lauf der Fristen nach § 14.
(3) Für die Dauer von fünf Jahren ab Ablauf der Gültigkeit des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 NAG werden bereits konsumierte Zeiten der Erfüllungspflicht auf den Zeitraum der Erfüllungspflicht gemäß Abs. 2 angerechnet.
(4) Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige
1. einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 11 vorlegt,
(Anm.: Z 2 aufgehoben durch Art. III Z 15, BGBl. I Nr. 41/2019)
3. über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 Universitätsgesetz 2002, BGBl. I Nr. 120/2002, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht,
4.einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte“ gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt oder
5.als Inhaber eines Aufenthaltstitels „Niederlassungsbewilligung – Künstler“ gemäß § 43a NAG eine künstlerische Tätigkeit in einer der unter § 2 Abs. 1 Z 1 bis 3 Kunstförderungsgesetz, BGBl. I Nr. 146/1988, genannten Kunstsparte ausübt; bei Zweifeln über das Vorliegen einer solchen Tätigkeit ist eine diesbezügliche Stellungnahme des zuständigen Bundesministers einzuholen.
Die Erfüllung des Moduls 2 (§ 10) beinhaltet das Modul 1.
§ 10.
(1) Drittstaatsangehörige (§ 2 Abs. 1 Z 6 NAG) müssen mit der Stellung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 45 NAG das Modul 2 der Integrationsvereinbarung erfüllt haben.
(2) Das Modul 2 der Integrationsvereinbarung ist erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige
1. einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 12 vorlegt,
(Anm.: Z 2 aufgehoben durch Art. III Z 18, BGBl. I Nr. 41/2019)
3. minderjährig ist und im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht eine Primarschule (§ 3 Abs. 3 Schulorganisationsgesetz (SchOG), BGBl. Nr. 242/1962) besucht oder im vorangegangenen Semester besucht hat,
4. minderjährig ist und im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht eine Sekundarschule (§ 3 Abs. 4 SchOG) besucht und die positive Beurteilung im Unterrichtsgegenstand „Deutsch“ durch das zuletzt ausgestellte Jahreszeugnis oder die zuletzt ausgestellte Schulnachricht nachweist,
5. einen mindestens fünfjährigen Besuch einer Pflichtschule in Österreich nachweist und das Unterrichtsfach „Deutsch“ positiv abgeschlossen hat oder das Unterrichtsfach „Deutsch“ auf dem Niveau der 9. Schulstufe positiv abgeschlossen hat oder eine positive Beurteilung im Prüfungsgebiet „Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft“ im Rahmen der Pflichtschulabschluss-Prüfung gemäß Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz, BGBl. I Nr. 72/2012 nachweist,
6. einen positiven Abschluss im Unterrichtsfach „Deutsch“ nach zumindest vierjährigem Unterricht in der deutschen Sprache an einer ausländischen Sekundarschule nachweist,
7. über eine Lehrabschlussprüfung gemäß dem Berufsausbildungsgesetz, BGBl. Nr. 142/1969, oder eine Facharbeiterprüfung gemäß den Land- und forstwirtschaftlichen Berufsausbildungsgesetzen der Länder verfügt oder
8. mindestens zwei Jahre an einer postsekundären Bildungseinrichtung inskribiert war, ein Studienfach mit Unterrichtssprache Deutsch belegt hat und in diesem einen entsprechenden Studienerfolg im Umfang von mindestens 32 ECTS-Anrechnungspunkten (16 Semesterstunden) nachweist bzw. über einen entsprechenden postsekundären Studienabschluss verfügt.
(3) Abs. 1 gilt nicht für Drittstaatsangehörige,
1. die zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährig sind und noch nicht der allgemeinen Schulpflicht unterliegen;
2. denen auf Grund ihres physisch oder psychisch dauerhaft schlechten Gesundheitszustands die Erfüllung nicht zugemutet werden kann; der Drittstaatsangehörige hat dies durch ein amtsärztliches Gutachten nachzuweisen.
(4) Die Behörde kann von Amts wegen mit Bescheid feststellen, dass der Drittstaatsangehörige trotz Vorliegen eines Nachweises gemäß Abs. 2 Z 1 das Modul 2 der Integrationsvereinbarung mangels erforderlicher Kenntnisse gemäß § 7 Abs. 2 Z 2 nicht erfüllt hat.
§ 11
(1) Die Integrationsprüfung zur Erfüllung des Moduls 1 wird bundesweit nach einem einheitlichen Maßstab vom Österreichischen Integrationsfonds durchgeführt.
(2) Die Prüfung umfasst Sprach- und Werteinhalte. Mit der Prüfung ist festzustellen, ob der Drittstaatsangehörige über vertiefte elementare Kenntnisse der deutschen Sprache zur Kommunikation und zum Lesen und Schreiben von Texten des Alltags auf dem Sprachniveau A2 gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und über Kenntnisse der grundlegenden Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung der Republik Österreich verfügt. Der Prüfungserfolg ist mit „Bestanden“ oder „Nicht bestanden“ zu beurteilen. Zur erfolgreichen Absolvierung der Prüfung muss sowohl das Wissen über Sprach- sowie über Werteinhalte nachgewiesen werden. Wiederholungen von nicht bestandenen Prüfungen sind zulässig. Die Wiederholung von einzelnen Prüfungsinhalten ist nicht zulässig.
(3) Der Prüfungsinhalt, die Modalitäten der Durchführung, die Qualifikationen der Prüfer sowie die Prüfungsordnung zur Erfüllung des Moduls 1 werden durch Verordnung der Bundesministerin für Europa, Integration und Äußeres festgelegt.
(Anm.: Abs. 4 bis 6 aufgehoben durch Art. III Z 21, BGBl. I Nr. 41/2019)
§ 12.
(1) Die Integrationsprüfung zur Erfüllung des Moduls 2 wird bundesweit nach einem einheitlichen Maßstab vom Österreichischen Integrationsfonds durchgeführt.
(2) Die Prüfung umfasst Sprach- und Werteinhalte. Mit der Prüfung ist festzustellen, ob der Drittstaatsangehörige über vertiefte Kenntnisse der deutschen Sprache zur selbständigen Sprachverwendung auf dem Sprachniveau B1 gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und über vertiefte Kenntnisse der grundlegenden Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung der Republik Österreich verfügt. Der Prüfungserfolg ist mit „Bestanden“ oder „Nicht bestanden“ zu beurteilen. Zur erfolgreichen Absolvierung der Prüfung muss sowohl das Wissen über Sprach- sowie über Werteinhalte nachgewiesen werden. Wiederholungen von nicht bestandenen Prüfungen sind zulässig. Die Wiederholung von einzelnen Prüfungsinhalten ist nicht zulässig.
(3) Der Prüfungsinhalt, die Modalitäten der Durchführung, die Qualifikationen der Prüfer sowie die Prüfungsordnung zur Erfüllung des Moduls 2 werden durch Verordnung der Bundesministerin, die für die Angelegenheiten der Integration zuständig ist, festgelegt.
Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist gemäß § 9 Abs. 4 Integrationsgesetz erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 11 vorlegt, über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 Universitätsgesetz 2002, BGBl. I Nr. 120/2002, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht, einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte“ gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt oder als Inhaber eines Aufenthaltstitels „Niederlassungsbewilligung – Künstler“ gemäß § 43a NAG eine künstlerische Tätigkeit in einer der unter § 2 Abs. 1 Z 1 bis 3 Kunstförderungsgesetz, BGBl. I Nr. 146/1988, genannten Kunstsparte ausübt; bei Zweifeln über das Vorliegen einer solchen Tätigkeit ist eine diesbezügliche Stellungnahme des zuständigen Bundesministers einzuholen.
Das Modul 1 dient gemäß § 7 Absatz 2 Integrationsgesetz dem Erwerb von Kenntnissen der deutschen Sprache zur vertieften elementaren Sprachverwendung auf dem Sprachniveau A2 gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und der Vermittlung der grundlegenden Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung. Die näheren Bestimmungen zu den Inhalten der Module 1 und 2 der Integrationsvereinbarung hat der Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres durch Verordnung festzulegen.
Der BF3 absolvierte die Pflichtabschlussprüfung und befindet sich seit 19.02.2024 in einem Lehrverhältnis. Er hat sohin die Vorraussetzungen des § 10 Abs. 2 Z 5 IntG erfüllt (..positive Beurteilung im Prüfungsgebiet „Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft“ im Rahmen der Pflichtschulabschluss-Prüfung gemäß Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz, BGBl. I Nr. 72/2012..). Sohin erfüllt er in weiterer Folge das Modul 2 der Integrationsvereinbarung. Die Erfüllung des Moduls 2 beinhaltet das Modul 1.
Die BF4 brachte eine positive Schulnachricht der MS M. und die BF5 und BF6 ein positves Jahreszeugnis der MS M. in Vorlage. Die BF4 bis BF6 sind minderjährig und haben im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht eine Sekundarschule (§ 3 Abs. 4 SchOG) besucht und die positive Beurteilung im Unterrichtsgegenstand „Deutsch“ durch das zuletzt ausgestellte Jahreszeugnis oder die zuletzt ausgestellte Schulnachricht nachgewiesen, weswegen sie die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 Z 4 IntG erfüllen. Sohin erfüllen sie in weiterer Folge das Modul 2 der Integrationsvereinbarung. Die Erfüllung des Moduls 2 beinhaltet das Modul 1.
Es liegen sohin beim BF3 die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm § 10 Abs. 2 Z 5 IntG, bei den BF4, BF5 und BF6 die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm gemäß § 10 Abs. 2 Z 4 IntG vor, weswegen den BF3, BF4, BF5 und BF6 gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen ist.
Bezüglich den BF1, BF2, BF7 und BF8 liegen die Voraussetzungen des § 55 Abs 1 Z 1 AsylG 2005 vor, weswegen ihnen gemäß § 55 Abs 2 AsylG2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen ist.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat den BF die Aufenthaltstitel gemäß § 58 Abs. 7 AsylG 2005 auszufolgen, die BF haben hieran gemäß § 58 Abs. 11 AsylG 2005 mitzuwirken. Die Aufenthaltstitel gelten gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.
Folgerichtig waren die Spruchpunkte V. und VI. gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG ersatzlos zu beheben.
B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiter ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das ho. Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des VwGH, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe, zum Flüchtlingsbegriff, der hier vertretenen Zurechnungstheorie und den Anforderungen an einen Staat und dessen Behörden, um von dessen Willen und Fähigkeit, den auf seinem Territorium aufhältigen Menschen Schutz vor Übergriffen zu gewähren ausgehen zu können, dem Refoulementschutz bzw. zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben abgeht. Entsprechende einschlägige Judikatur wurde bereits zitiert.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
