AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:G315.2186283.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M., als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX (vormals: XXXX ), geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit: Türkei, vertreten durch Rechtsanwalt XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.01.2018, Zahl XXXX , betreffend die Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 18.07.2022, zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Türkei und reiste mit einem von der Österreichischen Botschaft in Istanbul ausgestellten Touristenvisum Mitte Oktober 2016 auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein.
2. Erst am 05.01.2017, kurz vor Ablauf der Gültigkeit ihres Visums, stellte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf internationalen Schutz. Noch am selben Tag fand vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes ihre Erstbefragung statt.
3. Am 09.11.2017 sollte die Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich – Außenstelle XXXX , zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen werden. Dazu wurde ein Kurdisch-Dolmetscher bestellt. Die Beschwerdeführerin gab jedoch an, nicht gut Kurdisch zu sprechen, sodass die Einvernahme unter Ladung eines Türkisch-Dolmetschers auf 23.11.2017 verschoben wurde.
4. Die Beschwerdeführerin sodann am 23.11.2017 vor dem Bundesamt niederschriftlich zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Türkisch einvernommen.
5. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom 16.01.2018 wurden der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz vom 05.01.2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.), als auch des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei (Spruchpunkt II.) jeweils abgewiesen, der Beschwerdeführerin gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Das Bundesamt führte im angefochtenen Bescheid zusammengefasst begründend aus, dass nicht festgestellt habe werden können, dass die Beschwerdeführerin in der Türkei von Behörden oder Privatpersonen bedroht oder verfolgt werde oder im Fall ihrer Rückkehr wäre. Die Beschwerdeführerin habe sich auf die Parteiaktivitäten ihres Ehemannes bei der HDP und darauf basierende staatliche Verfolgung gestützt, was angesichts des Umstandes, dass ihr Ehemann inzwischen freiwillig in die Türkei zurückgekehrt sei, nicht als glaubwürdig erachtet werde. Auch habe sich die Beschwerdeführerin erst kurz vor ihrer Ausreise im September 2016 bei türkischen Behörden problemlos einen Reisepass ausstellen lassen können und habe sie offensichtlich keine Bedenken gehegt, sich einer Passkontrolle bei der Ausreise zu unterziehen. Die Beschwerdeführerin sei persönlich nie von ihrem Ehemann bedroht worden und habe sich ihre Angabe, der Ehemann werde sie töten, lediglich auf Vermutungen gestützt. Der türkische Staat sei zudem diesbezüglich schutzfähig und auch schutzwillig. Es sei der Beschwerdeführerin zudem auch zumutbar, sich allenfalls an einem anderen Ort in der Türkei niederzulassen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den alevitischen Kurden einer Bedrohung oder Verfolgung in der Türkei ausgesetzt war oder im Fall ihrer Rückkehr wäre. Alleine die Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Minderheit sowie deren schlechte Allgemeinsituation rechtfertige keine Asylgewährung. Ein konkrete, gegen die Beschwerdeführerin selbst gerichtete Verfolgungshandlung aus diesen Gründen habe sie nicht vorgebracht. Allgemeine Diskriminierungen würden zudem für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung erreichen. Auch sonst hätten keine Gründe festgestellt werden können, die auf eine Verfolgung der Beschwerdeführerin aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung schließen lassen würden. Die Beschwerdeführerin habe ihr gesamtes Leben in der Türkei verbracht. Es sei ihr möglich und zumutbar, ihren Lebensunterhalt nach Rückkehr durch die Aufnahme einer Arbeit (wenn auch vorübergehend durch Gelegenheitsarbeiten) zu bestreiten. Es würden weiters noch neun Geschwister in der Türkei leben, sodass die Beschwerdeführerin dort über ein soziales Netz verfüge. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin oder ihre Familie im Fall ihrer Rückkehr in die Türkei in eine existenzielle Notlage geraten würden. In Österreich würden drei Brüder und eine Schwester der Beschwerdeführerin leben. Ein schützenswertes Familienleben iSd. Art. 8 EMRK liege vor, jedoch sei dieses insofern zu relativieren, als es erst nach illegaler Einreise der Beschwerdeführerin in das Bundesgebiet entstanden sei. Sie habe bisher auch keinen Deutschkurs, einen sonstigen Kurs oder eine Ausbildung besucht, sei in keinem Verein aktiv und gehe keiner ehrenamtlichen Beschäftigung nach. Die Beschwerdeführerin habe einen Lebensgefährten und einige Freundinnen in Österreich. Sie verfüge jedenfalls über stärkere Bindungen zur Türkei als zu Österreich. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sei daher im öffentlichen Interesse hinzunehmen und verhältnismäßig.
6. Mit Verfahrensanordnung vom 17.01.2018 wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beigegeben.
7. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz ihrer damaligen bevollmächtigten Rechtsvertretung vom 07.02.2018, am selben Tag beim Bundesamt einlangend, fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge der Beschwerde stattgeben und der Beschwerdeführerin den Status einer Asylberechtigten oder allenfalls einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen; in eventu den angefochtenen Bescheid aufheben und das Verfahren an das Bundesamt zurückverweisen; allenfalls die Rückkehrentscheidung aufheben; in eventu feststellen, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Türkei unzulässig ist; in eventu der Beschwerdeführerin einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 AsylG erteilen sowie jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchführen.
8. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 16.02.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt. Sie wurden ursprünglich der Gerichtsabteilung L526 zugewiesen.
9. Die Ehe der Beschwerdeführerin wurde mit türkischem Scheidungsurteil vom 16.03.2018, rechtskräftig am 10.04.2018, einvernehmlich geschieden. Die Beschwerdeführerin nahm in weiterer Folge wieder ihren Geburtsnamen als Nachnamen an.
10. Mit Abschluss-Bericht der LPD XXXX vom 29.06.2018, Zahl: XXXX , wurde die Beschwerdeführerin wegen des Verdachts der Körperverletzung am 13.06.2018 an ihrer Nichte durch Versetzen einer Ohrfeige bei der Staatsanwaltschaft angezeigt.
11. Mit Nachreichung des Bundesamtes vom 26.07.2020 wurde dem Bundesverwaltungsgericht ein Schreiben der zuständigen Gewerbebehörde sowie ein Auszug aus dem Gewerbeinformationssystem übermittelt, wonach der Beschwerdeführerin mit 24.07.2020 die Gewerbeberechtigung für das freie Gewerbe „Hausbetreuung“ zukommt.
12. Mit Wirksamkeit vom 31.12.2020 legte die bisherige Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin ihre Vertretungsvollmacht nieder.
13. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L526 abgenommen und am 01.02.2021 der nunmehr zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zugewiesen.
14. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.04.2022 wurde die Beschwerdeführerin über die Niederlegung der Vertretungsvollmacht der ehemaligen Rechtsvertretung sowie die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer weiteren Rechtsberatung bei der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH informiert. Unter einem wurde der Beschwerdeführerin ein entsprechendes Merkblatt in türkischer Sprache übermittelt und sie darüber hinaus im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht im Beschwerdeverfahren vom erkennenden Gericht dazu aufgefordert, konkret an sie gerichtete Fragen innerhalb einer Frist von drei Wochen schriftlich zu beantworten und näher genannte Nachweise dem Gericht vorzulegen.
15. Mit Schriftsatz vom 13.05.2022, beim Bundesverwaltungsgericht am 16.05.2022 einlangend, wurde die Vertretungsvollmacht der nunmehrigen bevollmächtigten Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin bekannt gegeben und unter einem ein Antrag auf Fristerstreckung zur Abgabe der geforderten schriftlichen Stellungnahme bis 03.06.2022 beantragt.
Die Frist wurde daraufhin seitens des Bundesverwaltungsgerichtes bis 03.06.2022 erstreckt.
16. Daraufhin langte die mit 02.06.2022 datierte Stellungnahme der Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin am selben Tag beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Unter einem wurden nachfolgende Unterlagen in Kopie vorgelegt:
- Teilnahmebestätigung der Beschwerdeführerin an einem von 04.04.2022 bis 26.05.2022 laufenden Kurs „Alpha Kurs Integration“ bei der Volkshochschule;
- Fotografie des von der Beschwerdeführerin einzunehmenden Medikaments;
- Gewerbeanmeldung vom 24.07.2020 (Hausbetreuung) und Information über die Zurücklegung dieses Gewerbes mit 27.11.2019;
- Antrag auf Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung für Fachkräfte aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten vom 13.05.2020 durch ein Gastronomie-Unternehmen;
- Rechnung und Stundenplan eines Deutsch-Integrationskurses auf Niveau A1/1 von 28.09.2020 bis 21.10.2020;
- Niederschrift über die Zeugeneinvernahme der Beschwerdeführerin vom 28.10.2020 vor dem Stadtpolizeikommando XXXX im Verfahren zur Zahl: XXXX , wegen des Verdachts auf gefährliche Drohung und Körperverletzung des damaligen Lebensgefährten und dessen Mutter
17. Das Bundesverwaltungsgericht holte sodann bei der Polizei eine Auskunft zum Verfahrensstand hinsichtlich der Anzeige der Beschwerdeführerin wegen Körperverletzung und des Verfahrens gegen ihren damaligen Lebensgefährten und dessen Mutter ein, welche am 22.06.2022 beim Bundesverwaltungsgericht einlangte.
18. Mit Ladungen vom 23.06.2022 beraumte das Bundesverwaltungsgericht für den 18.07.2022 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung an und übermittelte der Beschwerdeführerin vorab zugleich eine Linkliste mit relevanten und aktuellen Länderinformationen zum Herkunftsland Türkei zur Stellungnahme.
19. Am 14.07.2022 langte die Benachrichtigung der Staatsanwaltschaft XXXX (Bezirksanwalt) vom 08.08.2018 über die Einstellung des Verfahrens zur Zahl XXXX gegen die Beschwerdeführerin ein.
20. Am 14.07.2022 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine ebenfalls mit 14.07.2022 datierte ergänzende Stellungnahme der Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin samt einer weiteren Vorlage von Unterlagen ein.
Es wurden ein Konvolut an Unterstützungsschreiben, darunter insbesondere vom Bruder XXXX (nachfolgend: BU.) und dessen Kindern, die die Beschwerdeführerin in Österreich betreut, sowie weitere Unterstützungsschreiben sowie eine Besuchsbestätigung des „ XXXX “ für die Beschwerdeführerin vom 07.07.2022 vorgelegt, wonach diese sich dort in laufender „psychosozialer muttersprachlicher Beratung“ befinde, vorgelegt.
21. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 18.07.2022 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher die Beschwerdeführerin sowie eine studentische Mitarbeiterin ihrer Rechtsvertretung und eine Dolmetscherin für die Sprache Türkisch teilnahmen. Der Rechtsvertreter selbst blieb der Verhandlung fern. Das Bundesamt verzichtete auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.
Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG.
22. Am 20.07.2022 wurden seitens der Rechtsvertretung bereits aktenkundige medizinische Unterlagen der Beschwerdeführerin betreffend die Schilddrüsen-Teilresektion im Jahr 2017 sowie das ihr deswegen als Dauermedikation verordnete Medikament vorgelegt.
23. Mit Schriftsatz vom 01.08.2022 beantragte die Rechtsvertretung für die Beschwerdeführerin als Beteiligte am Verfahren einen Antrag auf Fahrtkostenersatz und legte unter einem noch eine Gebrauchsinformation des Schilddrüsenmedikaments Thyrex vor.
24. Der Antrag auf Fahrtkosten wurde zuständigkeitshalber an die zur Verrechnung zuständige Stelle des Bundesverwaltungsgerichtes weitergeleitet.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin und ihren Bindungen in der Türkei:
1.1.1. Die Beschwerdeführerin führt die oben im Spruch angeführte Identität, ist türkische Staatsangehörige und ist Angehörige der Volksgruppe der Kurden alevitischen Glaubens. Ihre Muttersprache ist Kurdisch-Kurmanji, sie spricht jedoch besser Türkisch. Sie ist geschieden und hat keine Kinder (vgl. etwa Erstbefragung vom 05.01.2017, AS 1; Niederschrift Bundesamt vom 09.11.2017, AS 59; Niederschrift Bundesamt vom 23.11.2017, AS 61 ff; aktenkundiger türkischer Personalausweis, OZ 13; Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 3 und 9).
Die Beschwerdeführerin ist in einem Dorf nahe der Stadt/Provinz XXXX (nachfolgend: B.) in der Türkei geboren und aufgewachsen. Sie hat in der Türkei nur ein oder zwei Jahre eine Grundschule besucht und darüber hinaus keine Schulbildung und keine Berufsausbildung genossen. Sie kann nur schlecht oder gar nicht lesen und schreiben. Vor ihrer Eheschließung lebte sie von den Einkünften ihrer Eltern aus deren Landwirtschaft und Tierzucht. Nach der Eheschließung zog die Beschwerdeführerin mit ihrem damaligen Ehemann nach Istanbul, wo sie zwischen 2010 und 2011 für etwa zweieinhalb Jahre als Küchenhilfe bzw. Köchin arbeitete. Von 2011 bis zur Ausreise der Beschwerdeführerin aus der Türkei im Oktober 2016 war sie jedoch Hausfrau (vgl. etwa Erstbefragung vom 05.01.2017, AS 1; Niederschrift Bundesamt vom 23.11.2017, AS 63; Stellungnahme vom 02.06.2020, OZ 20, samt Beilagen (darunter Zeugenvernehmung vom 28.10.2020); Stellungnahme vom 14.07.2022, OZ 30; Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 8 f).
1.1.2. Die Beschwerdeführerin heiratete am 29.09.2005 in der Türkei den türkischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX . Die Ehe wurde mit Scheidungsurteil des türkischen Familiengerichtes XXXX vom XXXX .2018, Zahl XXXX , rechtskräftig am XXXX .2018, einvernehmlich unter beiderseitigem Verzicht auf gegenseitigen Schadenersatz, Unterhalt und Ersatz von Verfahrenskosten geschieden (vgl. aktenkundiges türkisches Scheidungsurteil samt auszugsweiser deutscher Übersetzung, OZ 7; Auszug aus dem türkischen Personenstandsregister samt deutscher Übersetzung, OZ 9). Die Beschwerdeführerin nahm in der Folge wieder ihren Geburtsnamen XXXX an und ließ sich einen bis 05.05.2028 gültigen türkischen Personalausweis ausstellen (vgl. aktenkundige Kopie des neuen Nüfus, vom 24.09.2018, OZ 7; aktenkundige Kopie des neuen Personalausweises, OZ 13).
Der geschiedene Ehemann der Beschwerdeführerin kehrte am 09.08.2017 freiwillig unter Inanspruchnahme der Rückkehrhilfe in den Herkunftsstaat Türkei zurück. Das Asylverfahren des geschiedenen Ehemannes wurde daraufhin vom Bundesamt eingestellt. Die Beschwerdeführerin wird daher nicht weiter als Zeugin benötigt. Anfang des Jahres 2021 kehrte der geschiedene Ehemann mit einem von 20.01.2021 bis 19.05.2021 gültigen Visum D zur Abholung seines Aufenthaltstitels nach Österreich zurück, wo er seit 25.01.2021 mit einem Hauptwohnsitz gemeldet ist. Ihm wurde von der zuständigen Behörde aufgrund eines entsprechenden Antrages am 03.02.2021 ein bis 07.10.2022 gültiger Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG als Familienangehöriger eines aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen erteilt (vgl. aktenkundiger Auszug aus dem Zentralen Melderegister sowie dem Fremdenregister jeweils vom 22.04.2022; Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 10 f).
1.1.3. Die Eltern der Beschwerdeführerin sind bereits verstorben. In der Türkei leben noch vier Schwestern der Beschwerdeführerin, die alle verheiratet sind und mit ihren Familien in B. bzw. in Istanbul leben. Weiters leben in der Türkei noch fünf Brüder, davon vier in Heimatort B. und einer in Antalya. Die Brüder der Beschwerdeführerin leben in der Türkei alle von der Landwirtschaft. Zu den Geschwistern der Beschwerdeführerin in der Türkei besteht alle zwei bis sechs Monate Kontakt (vgl. etwa Erstbefragung vom 05.01.2017, AS 3 ff; Niederschrift Bundesamt vom 23.11.2017, AS 64; Stellungnahme vom 14.07.2022, OZ 30; Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 8 f).
1.1.4. Die Beschwerdeführerin befand sich von XXXX 2017 bis XXXX 2017 in stationärer Behandlung im Klinikum XXXX wegen der operativen Entfernung der rechten Schilddrüsen (ICD-10 KC.070) (vgl. aktenkundiger ärztlicher Kurzbericht vom XXXX 2017, AS 83). Sie nimmt seither das Schilddrüsenhormon „L-Thyroxin“ (THYREX Tabletten) als Dauermedikation ein (vgl. Foto der Medikamentenpackung als Beilage zur Stellungnahme vom 02.06.2022, OZ 20; Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 4 f). Sie besucht aktuell eine muttersprachliche psychosoziale Beratung durch einen Migrationsverein. Dass die Beschwerdeführerin ein einer psychischen oder psychiatrischen Erkrankung leidet, konnte hingegen nicht festgestellt werden. Darüber hinaus ist die Beschwerdeführerin gesund und arbeitsfähig (vgl. Besuchsbestätigung vom 07.07.2022, OZ 30; Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 4 f). Es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen im Endstadium leidet, die in der Türkei nicht behandelbar wären.
1.2. Zur Einreise der Beschwerdeführerin:
1.2.1. Die Beschwerdeführerin stellte bereits am 09.11.2001 einmal einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, den sie jedoch mit 05.02.2004 zurückzog (vgl. Fremdenregister- und Grundversorgungsdatenauszug jeweils vom 18.08.2022). Sie war laut Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 18.08.2022 dabei von 19.11.2001 bis 18.03.2004 in Österreich mit einem Hauptwohnsitz gemeldet, kehrte anschließend jedoch offensichtlich in die Türkei zurück, wo sie Ende September 2005 heiratete (vgl. auch Feststellungen zu Punkt 1.1.2.).
1.2.2. Die Beschwerdeführerin reiste mit einem von der Österreichischen Botschaft in Istanbul ausgestellten Schengenvisum der Kategorie C, gültig von XXXX bis XXXX , am 10.10.2016 auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein. Im Zuge der Antragstellung gab die Beschwerdeführerin als Reisezweck „Besuch von Familie und Freunden“ an (vgl. etwa Erstbefragung vom 05.01.2017, AS 5 ff & 11; Auszug des Bundesministeriums für Inneres, AS 31 ff; aktenkundige Kopie eines türkischen Reisepasses samt Visum und Ausreisestempel, AS 71 ff).
Tatsächlich kehrte die Beschwerdeführerin jedoch nicht wieder in die Türkei zurück, sondern stellte am 05.01.2017 (somit einen Tag vor Ablauf der Gültigkeit ihres Visums) den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz (vgl. etwa Erstbefragung vom 05.01.2017, AS 1 ff).
Die Beschwerdeführerin hat sich das Visum erschlichen.
1.3. Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates und zur Situation im Fall der Rückkehr:
Die Beschwerdeführerin war bisher kein Mitglied einer politischen Partei, einer anderen politisch aktiven Bewegung oder einer bewaffneten Gruppierung (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 17.08.2022, S 10; Niederschrift Bundesamt vom 23.11.2017, AS 64).
Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin in der Türkei vor ihrer Ausreise im Oktober 2016 Probleme mit türkischen Behörden oder dem Polizeiapparat wegen Parteiaktivitäten ihres damaligen Ehemannes für die kurdische Partei „HDP“ zu gewärtigen gehabt hatte.
Sie unterlag vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat keiner individuellen Gefährdung und war keiner psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt und wird im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat einer solchen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein
Die Beschwerdeführerin unterliegt bei einer Rückkehr in die Türkei auch nicht der Gefahr einer von staatlichen Organen oder von Privatpersonen ausgehenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie und zum alevitischen Glauben.
Sie gehörte weiters nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nach vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.
Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin von ihrem geschiedenen Ehemann jemals wegen des Eingehens der Beschwerdeführerin in eine Beziehung zu einem anderen Mann während noch aufrechter Ehe oder aus sonstigen Gründen bedroht oder verfolgt worden wäre oder, dass die türkischen Sicherheitsbehörden nicht willens oder fähig wären, die Beschwerdeführerin zu schützen.
1.4. Der Beschwerdeführerin droht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der Beschwerdeführerin festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder terroristische Anschläge in der Türkei.
Die Beschwerdeführerin ist eine arbeitsfähige Person mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherten Existenzgrundlage. Die Beschwerdeführerin verfügt zwar nur über geringe Arbeitserfahrung in der Gastronomie und als Reinigungskraft und war zuletzt vor ihrer Ausreise für fünf Jahre Hausfrau, jedoch sind ihr auch bei praktisch fehlender schulischer Ausbildung ganz einfache Tätigkeiten oder Gelegenheitsarbeiten zumutbar. Aufgrund der erheblichen familiären Bindungen der Beschwerdeführerin in der Türkei wird sie auch auf familiäre Unterstützung zurückgreifen können.
Die Beschwerdeführerin verfügt zudem über einen gültigen türkischen Personalausweis als Identitätsdokument, die sie im Rahmen des gegenständlichen Verfahrens vor dem Bundesamt im Original in Vorlage brachte.
1.5. Zur Einreise und zum Aufenthalt:
Die Beschwerdeführerin hält sich seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet am 10.10.2016 ununterbrochen im Bundesgebiet auf und verfügt hier seit 09.01.2017 über durchgehende Hauptwohnsitzmeldungen, wobei sie im Zeitraum von 09.05.2017 bis 09.05.2019 im gemeinsamen Haushalt mit einem ihrer Brüder, XXXX , und dessen Kindern lebte (vgl. Auszüge aus dem Zentralen Melderegister vom 18.08.2022 und vom 01.08.2022).
Die Beschwerdeführerin reiste mit einem Visum nach Österreich ein, verließ das Bundesgebiet bisher nicht mehr, hält sich hier seit ihrer Asylantragstellung vom 05.01.2017 als Asylwerberin auf und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel oder ein anderes Aufenthaltsrecht (vgl. Auszug aus dem Fremdenregister vom 18.08.2022).
Die Beschwerdeführerin ist bis dato strafgerichtlich unbescholten (vgl. Strafregisterauszug vom 18.08.2022).
Mit Abschluss-Bericht der LPD XXXX vom XXXX 2018, Zahl: XXXX , wurde die Beschwerdeführerin wegen des Verdachts der Körperverletzung am 13.06.2018 an ihrer Nichte durch Versetzen einer Ohrfeige bei der Staatsanwaltschaft angezeigt (vgl. aktenkundiger Abschlussbericht, OZ 6). Das Verfahren wurde am 08.08.2018 von der Bezirksanwältin gemäß § 190 Z 1 StPO eingestellt, da die dem Ermittlungsverfahren zugrundeliegende Tat nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht war oder sonst eine weitere Verfolgung aus rechtlichen Gründen unzulässig wäre (vgl. Benachrichtigung von der Einstellung des Verfahrens vom 08.08.2018, OZ 29).
In einem weiteren Verfahren des Stadtpolizeikommandos XXXX zur Zahl: XXXX , wegen des Verdachts auf gefährliche Drohung und Körperverletzung des damaligen Lebensgefährten und dessen Mutter wurde die Beschwerdeführerin am 28.10.2020 als Zeugin einvernommen (vgl. Einvernahmeprotokoll vom 28.10.2020 als Beilage zur Stellungnahme vom 02.06.2022, OZ 20). Das Verfahren gegen den ehemaligen Lebensgefährten der Beschwerdeführerin und dessen Mutter wurde am 21.12.2020 gemäß § 190 Z 2 StPO eingestellt. Die Beschwerdeführerin wird in diesem Verfahren nicht weiter als Zeugin benötigt (vgl. Auskunft der Polizei vom 15.07.2022, OZ 31; Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 10).
Ihr Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet. Der Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Die Beschwerdeführerin wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinne der §§ 382b oder 382e EO.
1.6. Zum Privat- und Familienleben in Österreich:
1.6.1. Seit der Asylantragstellung am 05.01.2017 bezieht die Beschwerdeführerin zudem ununterbrochen Grundversorgungsleistungen (vgl. Grundversorgungsdatenauszug vom 18.08.2022).
Hinsichtlich der Beschwerdeführerin liegen in Österreich nachfolgende Sozialversicherungszeiten vor (vgl. Sozialversicherungsdatenauszug vom 18.08.2022):
07.01.2017 bis 11.07.2019 Asylwerberin bzw. Flüchtlinge
09.09.2019 bis 30.11.2019 gewerbl. selbstständig Erwerbstätige
01.12.2019 bis 23.07.2020 Asylwerberin bzw. Flüchtlinge
24.07.2020 bis 30.11.2020 gewerbl. selbstständig Erwerbstätige
01.12.2020 bis 30.04.2021 gewerbl. selbstständig Erwerbstätige § 2 Abs. 1 Z 1 GSVG ohne GSVG-Kranken-Pflichtversicherung
17.05.2021 bis 30.11.2021 gewerbl. selbstständig Erwerbstätige § 2 Abs. 1 Z 1 GSVG ohne GSVG-Kranken-Pflichtversicherung
01.12.2020 bis laufend Asylwerberin bzw. Flüchtlinge
Die Versicherungszeiten nach dem GSVG resultieren aus den nachfolgend angeführten Gewerbeberechtigungen der Beschwerdeführerin ex lege gemäß § 2 Abs. 1 Z 1 GSVG.
1.6.2. Die Beschwerdeführerin meldete zwischenzeitlich ein Gewerbe für den Betrieb eines Cafés an, welches sie aber nie ausübte und mit 27.11.2019 wieder zurücklegte (vgl. Stellungnahme vom 02.06.2020, OZ 20, sowie entsprechende Beilage). Sie meldete daraufhin ein freies Gewerbe „Hausbetreuung, bestehend in der Durchführung einfacher Reinigungstätigkeiten einschließlich objektbezogener einfacher Wartungstätigkeiten“ an, welches ihr seit 24.07.2020 zukam, erwirtschaftete aber daraus aber ebenfalls keine Einkünfte. Auch dieses Gewerbe hat sie zwischenzeitlich wieder zurückgelegt. Offenbar ging die Beschwerdeführerin einige Monate einer geringfügigen Beschäftigung als Reinigungskraft nach, ohne ordnungsgemäß zur Sozialversicherung angemeldet worden zu sein (vgl. GISA-Auszug vom 24.07.2020, OZ 12; Stellungnahme vom 02.06.2020, OZ 20, samt Beilagen (darunter Zeugenvernehmung vom 28.10.2020); Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 17 f).
Für die Beschwerdeführerin wurde von einem Gastronomieunternehmen am 13.05.2020 der Antrag auf Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung für Fachkräfte aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten als Küchenhilfskraft gestellt [sic] (vgl. Beilage zur Stellungnahme vom 02.06.2022, OZ 20). Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin neuerlich einen Antrag auf eine Beschäftigungsbewilligung gestellt hätte.
Eine aktuelle Einstellungszusage oder ein Arbeitsvertrag liegen nicht vor. Der Bruder BU und Freunde unterstützen die Beschwerdeführerin derzeit finanziell, wenn sie etwa ein Kleidungsstück benötigt (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 18 f).
1.6.3. Zum Entscheidungszeitpunkt führt die Beschwerdeführerin in Österreich weder eine Beziehung noch eine Lebensgemeinschaft. Sie hat auch keine Kinder (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 9 f).
1.6.4. In Österreich leben mehrere Familienangehörige der Beschwerdeführerin, insbesondere ihr geschiedener Bruder XXXX (BU.), geboren am XXXX , österreichischer Staatsangehöriger, mit dessen drei minderjährigen Kindern (vgl. Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 01.08.2022):
- XXXX , geboren am XXXX österreichischer Staatsangehöriger,
- XXXX , geboren am XXXX , österreichische Staatsangehörige, sowie
- XXXX , geboren am XXXX , österreichischer Staatsangehöriger.
Mit dem Bruder BU und den drei Kindern lebte die Beschwerdeführerin 09.05.2017 bis 09.05.2019 im gemeinsamen Haushalt. Seither lebte sie vorübergehend von 15.04.2020 bis 05.10.2020 in XXXX und anschließend von 05.10.2020 bis 28.10.2021 mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten in XXXX . Seit 28.10.2021 lebt sie wieder in XXXX in einer eigenen Wohnung, hält sich jedoch oft bei m Bruder BU und dessen Kindern auf und unterstützt den alleinerziehenden und erwerbstätigen Bruder und seine drei Kinder. Sie wäscht etwa ihre Wäsche und übernimmt auch sonst Aufgaben, die eigentlich der Kindesmutter zukämen. Mit fortschreitendem Alter der Kinder und aufgrund ihres Schulbesuches hat sich das nötige Betreuungsausmaß durch die Beschwerdeführerin aber stetig reduziert (vgl. Unterstützungsschreiben des Bruders BU sowie der Kinder als Beilage zur Stellungnahme vom 14.07.2022, OZ 30; Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 10 & 16; Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 18.08.2022).
1.6.5. Ein weiterer Bruder der Beschwerdeführerin, nämlich XXXX (alias: XXXX ) XXXX , geboren am XXXX , türkischer Staatsangehöriger, stellte gemeinsam mit seiner Ehefrau, XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, sowie den gemeinsamen Kindern, und zwar
- XXXX , geboren am XXXX , türkische Staatsangehörige,
- XXXX , geboren am XXXX , türkischer Staatsangehöriger, sowie
- XXXX , geboren am XXXX , türkische Staatsangehörige,
in Österreich nach rechtwidriger Einreise im Jahr 2017 (bzw. Geburt im Jahr 2018) Anträge auf internationalen Schutz, welche schlussendlich rechtskräftig mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019, L526 2168076-1/16E, L526 2168081-1/16E, L526 2168079-1/13E, L526 2168073-1/13E und L526 2196719-1/11E, als unbegründet abgewiesen wurden. Die dagegen erhobene außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof (VwGH) wurde mit Beschluss vom 18.10.2019, Ra 2019/01/0385 bis 0389, zurückgewiesen (vgl. Einsicht in die elektronischen Gerichtsakten zu den angeführten Geschäftszahlen des Bundesverwaltungsgerichtes, Zugriff am 01.08.2022).
Die Familie kam in der Folge ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nach und stellte stattdessen am 15.11.2019 neuerlich Anträge auf internationalen Schutz (Folgeanträge) und weiters am 16.12.2019 Anträge auf Wiederaufnahme des bereits mit rechtskräftigem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019 abgeschlossenen ersten Asylverfahrens. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 02.07.2020, Zahlen: L526 2168076-2/6E, L526 2168081-2/6E, L526 2168079-2/6E, L526 2168073-2/6E und L526 2196719-2/6E, wurden die Wiedereinsetzungsanträge rechtskräftig als unzulässig zurückgewiesen. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.05.2022, Zahlen: L526 2168076-3/24E, L526 2168081-3/24E, L526 2168079-3/20E, L526 2168073-3/20E und L526 2196719-3/19E, wurden die Beschwerden betreffend die Abweisung des Asylfolgeantrages der Familie vom 15.11.2019 als unbegründet abgewiesen. Dagegen erhob die Familie eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, welcher der Beschwerde mit Beschluss vom 08.07.2022, E 1725-1729/2022-5, die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde. Das Verfahren ist zum gegenständlichen Entscheidungszeitpunkt noch nicht abgeschlossen (vgl. Einsicht in die elektronischen Gerichtsakten zu den angeführten Geschäftszahlen des Bundesverwaltungsgerichtes, Zugriff am 17.08.2022).
1.6.6. Weiters leben in Österreich noch drei weitere Brüder, nämlich XXXX , XXXX und XXXX mit ihren Kindern und Verwandten (vgl. Erstbefragung Stellungnahme vom 02.06.2022, OZ 20) sowie eine Schwester. Zwei weitere Schwestern leben in Deutschland (vgl. Erstbefragung vom 05.01.2017, AS 3 ff; Niederschrift Bundesamt vom 23.11.2017, AS 64; Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 8).
1.6.7. In Österreich ist die Beschwerdeführerin bisher keinerlei Hilfsarbeiten, ehrenamtlichen oder gemeinnützigen Tätigkeiten nachgegangen. Sie war oder ist bisher auch kein Mitglied in einem Verein und absolvierte – abgesehen von Alphabetisierungs- und Deutschkursen – auch keine Ausbildungen oder Kurse. Sie besucht ein Fitness-Center und kümmert sich überwiegend um die Kinder ihres Bruders BU (vgl. Niederschrift Bundesamt vom 23.11.2017, AS 67; Stellungnahme vom 02.06.2022, OZ 20; Stellungnahme vom 14.07.2022, OZ 30; Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 19).
Im Zeitraum von 28.09.2020 bis 21.10.2020 war die Beschwerdeführerin zu einem Deutschkurs auf Niveau A1/1 angemeldet (vgl. Rechnung und Stundenplan als Beilage zur Stellungnahme vom 02.06.2022, OZ 20). Es konnte jedoch nicht festgestellt werden, ob sie diesen Kurs tatsächlich besucht hat. Im Zeitraum von 04.04.2022 bis 26.05.2022 besuchte die Beschwerdeführerin jedenfalls einen Alphabetisierungskurs an der Volkshochschule (vgl. Teilnahmebestätigung als Beilage zur Stellungnahme vom 02.06.2022, OZ 20). Zumindest im Juli 2022 besuchte sie einen Deutschkurs auf Niveau A1 (vgl. Stellungnahme vom 14.07.2022, OZ 30; Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 19). Die Beschwerdeführerin verfügt jedoch über keinerlei maßgebliche Deutschkenntnisse (vgl. Stellungnahme vom 02.06.2022, OZ 20; Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 8).
1.7. Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der der abgekürzt zitierten und der Beschwerdeführerin offengelegten Quellen getroffen:
„Länderinformation der Staatendokumentation – Türkei zum 10.03.2022“
[…]
Länderspezifische Anmerkungen
Letzte Änderung: 10.03.2022
Zum Inhalt:
In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Somit ist, insbesondere was die COVID-19-Maßnahmen anlangt, das Datum der jeweiligen Quelle zu beachten, und nicht nur das Aktualisierungsdatum des Kapitels.
Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie auf die Bewegungs- und Reisefreiheit der Bürgerinnen und Bürger sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.
Nebst dem separaten Kapitel zur COVID-19-Situation, das eine aktuelle Momentaufnahme bzw. einen Überblick bietet, finden sich darüber hinaus spezifische Informationen zur COVID-19-Lage und deren Auswirkungen in eigenen Abschnitten folgender Kapitel bzw. Unter-Kapitel der vorliegenden Länderinformation:
- Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
- Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
- Opposition
- Haftbedingungen
- Roma
- Sexuelle Minderheiten
- Bewegungsfreiheit
- Flüchtlinge
- Grundversorgung / Wirtschaft
Auf die Justizreformstrategie 2019-2023 wird nur dann Bezug genommen, wenn tatsächlich Reformen zumindest in Gesetzestexte gegossen werden.
Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung: In der Türkei wird seitens der staatlichen Vertreter und der breiten Öffentlichkeit die Abkürzung "FETÖ", mitunter die vollständige Bezeichnung "Fetullahçı Terör Örgütü" verwendet, in deutscher Übersetzung: "Fetullahistische Terror Organisation". Da die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung weder in Österreich noch in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (auch nicht in den USA) als Terrororganisation eingestuft wird, was im gegenteiligen Fall unmittelbare Auswirkungen z.B. auf das Asylverfahren nach sich ziehen würde, wird von der Verwendung der Abkürzung "FETÖ" abgesehen, bzw. ist diese zu vermeiden. Die Abkürzung "FETÖ" tritt im Bericht lediglich dort in Erscheinung, wo aus dem Kontext eindeutig hervorgeht, dass diese von Institutionen oder Vertretern des türkischen Staates verwendet wird.
Zur Form:
Wie in allen Länderinformationen wird bei staatlichen nationalen Institutionen in der Quellenangabe das Land in eckiger Klammer genannt. Aus Gründen der Stringenz geschieht dies auch, wenn aus dem Quellennamen das Land bereits eindeutig hervorgeht.
Bei einer Vielzahl von Autoren bzw. Herausgebern wird in der Quellenangabe deren Nennung in der Regel auf zwei bis drei limitiert und mit der Abkürzung "u.a." indiziert, dass es Weitere gibt.
COVID-19-Pandemie
Letzte Änderung: 10.03.2022
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Im Februar 2022 verzeichnete die Türkei täglich im Schnitt rund 93.000 Neuinfektionen und 240 Tote. Bis Ende Februar 2022 waren rund 94.500 Menschen offiziell an den Folgen von COVID-19 verstorben (JHU 1.3.2022).
Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (DS 11.3.2020). Erst am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca die Aufnahme aller positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020, S.9).
Beginnend mit 1.7.2021 wurde ein fast vollständiger Normalisierungsprozess durchgeführt. Alle Ausgangsbeschränkungen unter der Woche sowie am Wochenende wurden aufgehoben. Einzig muss weiterhin ein Mindestabstand zur nächsten Person eingehalten werden. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Versammlungen und Hochzeiten sind unter Einhaltung der allgemeinen Regeln erlaubt. Mit 15.1.2022 wurde die Verpflichtung zur Vorlage eines negativen PCR-Tests für ungeimpfte Personen beim Besuch von Kinos, Konzerten, Theater oder anderen Events aufgehoben. Bei Inlands- oder internationalen Flügen müssen ungeimpfte Personen aber weiterhin einen negativen PCR-Test vorlegen. Für das Buchen und den Check-in bei Inlandsflügen sowie bei Überlandbussen, Schiffen und Bahn wird ein sogenannter HES-Code (Hayat Eve Sigar) benötigt. Der HES-Code wird auch beim Betreten von Amtsgebäuden und in Einkaufszentren verlangt (WKO 21.2.2022). Ärzte und Krankenhausangestellte kritisierten, dass die Regierung diese Lockerungen viel zu früh eingeleitet habe (DW 2.7.2021).
Die türkische Ärztekammer (TTB) kritisierte im Oktober 2021, dass die Türkei es versäumt hätte, im vergangenen Jahr mindestens 55.000 COVID-19-Todesfälle zu registrieren. Denn bei der Analyse aller Daten von Gemeinden, Regierung, Statistikamt und anderen offiziellen Quellen in 20 Provinzen (i.e. 42% der Bevölkerung) wurden im Jahr 2020 48.000 zusätzliche Todesfälle im Vergleich zum Durchschnitt der letzten drei Jahre verzeichnet. Auch 2021 seien ungewöhnlich hohe Sterberaten beobachtet worden (Ahval 20.10.2021).
Quellen:
- Ahval (20.10.2021): Turkey failed to register at least 55,000 COVID-19 deaths in 2020 - medical group, https://ahvalnews.com/turkey-covid-19/turkey-failed-register-least-55000-covid-19-deaths-2020-medical-group , Zugriff 28.2.2022
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, KW 49, COVID-19-Zahlen, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw49-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 28.2.2022
- DS – Daily Sabah (11.3.2020): Turkey remains firm, calm as first coronavirus case confirmed, https://www.dailysabah.com/turkey/turkey-remains-firm-calm-as-first-coronavirus-case-confirmed/news , Zugriff 28.2.2022
- DW – Deutsche Welle (2.7.2021): Corona: Trügerische Entwarnung in der Türkei? https://www.dw.com/de/corona-tr%C3%Bcgerische-entwarnung-in-der-t%C3%Bcrkei/a-58136817 , Zugriff 28.2.2022
- JHU - Johns Hopkins University & Medicine (1.3.2022): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html , Zugriff 28.2.2022
- WKO – Wirtschaftskammer Österreich (21.2.2022): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben , Zugriff 28.2.2022
Politische Lage
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, einen „Dauerwahlkampf“ sowie den Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu (ÖB 30.11.2021, S.4). Teilweise unter Polizeigewalt aufgelöste Demonstrationen und Proteste gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention und Femizide (ZO 27.3.2021, Standard 1.7.2021), studentischerseits gegen die Einmischung der Politik an den Universitäten (HRW 6.4.2021, RND 15.7.2021) sowie gegen Jahresende 2021 gegen die rapide Teuerung und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage prägten zuletzt das Land (DW 24.11.2021, DF 12.12.2021).
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident (AA 3.6.2021, S.6; vgl. DFAT 10.9.2020, S.14).
Das Funktionieren der demokratischen Institutionen weist gravierende Mängel auf. Der Demokratieabbau hat sich ebenso fortgesetzt wie die tiefe politische Polarisierung (EC 19.10.2021, S.3, 10f). Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2021, S.5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55; vgl. EC 19.10.2021, S.3, 10f). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt, u.a. indem das Verfassungsgericht die Annahme einer Anklage durch den Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts entgegennahm, die darauf abzielt, die zweitgrößte Oppositionspartei zu verbieten, was zur Schwächung des politischen Pluralismus in der Türkei beigetragen hat (EC 19.10.2021, S.3, 10f).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art.8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S.14).
Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S.20, Pt.57). Insgesamt fehlt es an einer umfassenden Reformagenda für die öffentliche Verwaltung. Nach wie vor bestehen Bedenken hinsichtlich der Rechenschaftspflicht der Verwaltung. Es fehlt der politische Wille zur Reform. Die Politikgestaltung ist weder faktenbasiert noch partizipativ (EC 19.10.2021, S.18). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020, S.12).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1; vgl. EP 19.5.2021, S.7-14).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteilisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz wiederholter Empfehlungen internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die noch unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem damals noch geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt, da die regierende AKP erfolgreich eine Annullierung durch die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 erwirkte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). Diese Wahl war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).
Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 19.10.2021, S.11; vgl. ÖB 30.11.2021, S.5). Präsidentendekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2021, S.5) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidentendekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments (EC 6.10.2020, S.12), nichtsdestotrotz hat das Parlament nur 61 von 821 vorgeschlagenen Gesetzen (im Berichtszeitraum der Europäischen Kommission) verabschiedet. Dem gegenüber stehen 77 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 19.10.2021, S.11). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S.14).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemalige Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft [Stand Februar 2022], im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020) sowie einer ebensolchen nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung des Antragstellers zu gewährleisten (CoE-CoM 2.12.2021). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S.2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 19.10.2021, S.3, 10). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um ein weiteres Jahr (EC 19.10.2021, S.3; vgl. HDN 19.7.2021). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 19.10.2021, S.5).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S.15). Mit Stand Oktober 2021 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Seit Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-BürgermeisterIn] verhaftet, sechs von ihnen befinden sich im Gefängnis und fünf unter Hausarrest (Stand Oktober 2021). Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen hätten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 19.10.2021, S.16). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S.13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 4.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 19.10.2021, S.11).
[siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
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- ZO – Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen , Zugriff 10.2.2022
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S.18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht, verbunden mit erheblichen Einschränkungen der Grundfreiheiten (AA 3.6.2021). Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren Ableger [TAK], den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau. Dennoch kommt es mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 18.3.2021, S.12; vgl. HRW 13.1.2022), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 19.10.2021, S.4, 15). Bestehende Spannungen werden auch durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak beeinflusst (EDA 11.11.2021), wo die Türkei ihre Militäraktionen einschließlich Drohnenangriffen auf die autonome Region Kurdistan im Irak konzentriert hat, in welcher sich PKK-Stützpunkte befinden (HRW 13.1.2022).
Die bewaffneten Auseinandersetzungen führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 19.10.2021, S.15). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vorgängig weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden (EDA 10.2.2022).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen in der Türkei 2020 230 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen (2019: 440) ums Leben, davon mindestens 55 Angehörige der Sicherheitskräfte (2019: 98), 167 bewaffnete Militante (2019: 324) und acht Zivilisten (2019:18) (İHD 4.10.2021, S.9, İHD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (İHD 19.4.2019). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe rund 5.858 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis 3.2.2022. Im Jahr 2021 wurden 392 Todesopfer (2020: 396) registriert, wobei 255 Opfer auf irakischem und 137 auf türkischem Territorium vermerkt wurden; alleine die Provinz Şırnak verzeichnete 45 Tote (ICG 3.2.2022). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 19.10.2021, S.15).
Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Şanlıurfa, Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mit Ausgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (AA 11.11.2021; vgl. USDOS 30.3.2021, S.25). Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak, in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Aǧrı (AA 10.2.2022).
Im Jänner 2022 wurden die Militäroperationen gegen die PKK im Südosten der Türkei und im Norden des Iraks fortgesetzt. Insbesondere wurden bei der Explosion eines Sprengsatzes Anfang Jänner drei türkische Soldaten im Bezirk Akçakale in Şanlıurfa an der türkisch-syrischen Grenze getötet. In den folgenden Tagen reagierte das Militär mit Operationen gegen PKK-Mitglieder im Grenzgebiet. Die Bodenoperationen im Südosten konzentrierten sich auf die ländlichen Gebiete der Provinzen Tunceli, Mardin und Şanlıurfa. Die Luftoperationen im Nordirak und in Nordsyrien wurden fortgeführt und richteten sich gegen hochrangige PKK-Mitglieder. In Syrien führten Bombenanschläge auf türkische Sicherheitskräfte und von Ankara unterstützte Rebellen in den türkisch kontrollierten Gebieten Afrin, al-Bab und Azaz Mitte des Monats zu Vergeltungsmaßnahmen des türkischen Militärs. Währenddessen wurde vermeldet, dass die Sicherheitskräfte im Jänner 2022 über 100 Verdächtige mit Verbindungen zum sog. Islamischen Staat festnahmen, allein am 12.1.2022 21 Personen in Mersin mit syrischer und irakischer Herkunft (ICG 1.2022).
Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).
Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vgl. Duvar 26.10.2021).
Quellen:
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- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.2.2022) [gültig seit 8.10.2021]: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/tuerkeisicherheit/201962#content_1 , Zugriff 10.2.2022
- AJ – Al Jazeera (12.12.2016): Turkey detains pro-Kurdish party officials after attack, https://www.aljazeera.com/news/2016/12/12/turkey-detains-pro-kurdish-party-officials-after-attack/ , Zugriff 10.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency [Türkei] (26.10.2021): Turkish parliament extends troop deployment in Iraq, Syria for 2 years, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkish-parliament-extends-troop-deployment-in-iraq-syria-for-2-years/2403689 , Zugriff 10.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency [Türkei] (7.4.2021): Turkey blocks assets of 377 members of terrorist groups, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-blocks-assets-of-377-members-of-terrorist-groups/2200499 , Zugriff 10.2.2022
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.4.2021): Briefing Notes KW 16, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw16-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 10.2.2022
- DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 10.2.2022
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- EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 10.2.2022
- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (10.2.2022) [gültig seit 30.8.2021): Reisehinweise Türkei, spezifische regionale Risiken, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html , Zugriff 10.2.2022
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- SDZ – Süddeutsche Zeitung (29.6.2016) [ANM.: Ohne ein Aktualisierungsdatum zu nennen, sind Ereignisse bis Jän. 2017 hinzugefügt]: Chronologie des Terrors in der Türkei, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-der-terror-begann-in-suruc-1.3316595 , Zugriff 10.2.2022
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Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Fethullah Gülen, muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor Kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung der Türkei war, wird von seinen Gegnern als Bedrohung der staatlichen Ordnung betrachtet (Dohrn 27.2.2017). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wird, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt (BBC 21.7.2016), und als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wird, beschreiben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regiert und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebt (Dohrn 27.2.2017). Vor dem Putschversuch vom Juli 2016 schätzten internationale Beobachter die Zahl der Gülen-Mitglieder in der Türkei auf mehrere Millionen (DFAT 10.9.2020).
Der gegenwärtige Staatspräsident Erdoğan und Gülen standen sich jahrzehntelang nahe. Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politische Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und welche die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016).
Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie Erdoğans (damals Ministerpräsident) sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020, S.4). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Untersuchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016). Seitdem wirft die Regierung Gülen und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen an sich unterwandert zu haben (AA 24.8.2020, S.4). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung hat ferner, unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung, Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet (AA 24.8.2020, S.4).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. die Hizmet-Bewegung, wie sie sich selber nennt, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Türkische Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Mitte Juni 2017 definierte das Oberste Berufungsgericht, i.e. das Kassationsgericht (türk. Yargıtay), die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018; vgl. Sabah 17.6.2017).
Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als "Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)", "Fetullahistische Terror Organisation", tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Paralel Devlet Yapılanması (PDY)", die "Parallele Staatsstruktur" bedeutet (AA 3.6.2021, S.4; vgl. UKHO 2.2018). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vgl. Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).
Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden - die Zahlen variieren - über 20.300 Armeeangehörige, darunter 150 der 326 Generäle und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte, mehr als 33.000 Polizeibeamte und mehr als 5.000 Akademiker entlassen. Über 540.000 Personen wurden (zeitweise) festgenommen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren geschlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete wurden entlassen (EC 6.10.2020, S.20; vgl. SCF 5.10.2020).
Nach Angaben des türkischen Innenministers, Süleyman Soylu, vom Februar 2021 wurden seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 gegen 622.646 Personen Ermittlungen durchgeführt (SCF 4.3.2021). Mitte November berichtete der Innenminister, dass im Zeitraum vom 15.7.2016 bis 15.11.2021 rund 320.000 Personen verhaftet wurden und fast 100.000 weitere im Gefängnis landeten. Gegenwärtig (Stand 15.11.2021) befänden sich noch 22.340 Personen wegen vermeintlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung im Gefängnis (SCF 22.11.2021).
Laut Staatspräsident Erdoğan sind die staatlichen Institutionen noch nicht vollständig von Mitgliedern der FETÖ "befreit" (Ahval 10.4.2019). Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung im Rahmen des sog. "Kampfes gegen den Terrorismus" dauert an (AA 3.6.2021, S.7; vgl. ÖB 30.11.2021, S.23 , EC 19.10.2021, S.45). Zwar wurde der größte Teil der Gülen-Aktivisten mittlerweile bereits verhaftet und verurteilt, doch kommt es weiterhin zu Festnahmen, insbesondere unter Lehrkräften, Soldaten und Polizisten (ÖB 30.11.2021, S.23). Laut Innenminister würde noch nach rund 25.000 Personen (Stand November 2021) wegen terroristischer Vergehen gefahndet (SCF 22.11.2021). Oft genügen zur Einleitung einer Strafverfolgung schon Informationen von Dritten, dass eine angeführte Person der Gülen-Bewegung angehört oder ihr nahesteht. Betroffen sind auch österreichische Staatsbürger sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich (ÖB 30.11.2021, S.23). Allein in Ankara kamen laut Meldung der Polizei über 1.200 vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung in den Genuss einer Amnestie, da aufgrund der Aussagen von Verdächtigen 19.856 weitere Gülen-Mitglieder identifiziert werden konnten. Darüber hinaus identifizierte die Polizei in der Hauptstadt aufgrund der Informationen insgesamt 4.780 bislang unbekannte Gülen-Mitglieder (Anadolu 17.2.2022).
Exemplarisch sind wegen der schieren Anzahl hier nur die umfangreichsten Operationen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder seit Sommer 2021 angeführt: Zwischen dem 28.6. und dem 3.7.2021 wurden in landesweit durchgeführten Razzien mindestens 146 Personen verhaftet, darunter aktive und entlassene Militär- und Polizeiangehörige, jedoch in der Mehrzahl ehemalige Beamte. Gegen 47 Personen ermittelte die Staatsanwaltschaft Istanbul wegen der konspirativen Benutzung von Münztelefonen. Basierend auf Gesprächsaufzeichnungen, ging die Staatsanwaltschaft davon aus, dass ein Mitglied der Gülen-Bewegung dasselbe Münztelefon benutzt hatte, um alle seine Kontakte nacheinander anzurufen, wobei angenommen wurde, dass andere Nummern, die direkt vor oder nach diesem Anruf angerufen wurden, ebenfalls zu Personen mit Gülen-Verbindungen gehörten (BAMF 5.7.2021, S.15; vgl. SCF 2.7.2021). Zwischen dem 12. und dem 17.7.2021 wurden in 47 Provinzen mindestens weitere 256 Personen, größtenteils Militärangehörige, verhaftet (BAMF 19.7.2021, S.16; vgl. SCF 16.7.2021). Zwischen dem 6. und 10.9.2021 ordneten die Behörden die Inhaftierung von insgesamt 279 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung an. Am 8.9.2021 erließ die Staatsanwaltschaft in mehreren Städten 65 Haftbefehle gegen Militäroffiziere, Richter und Staatsanwälte sowie Rechtsanwälte und Lehrer. Einige der Verdächtigten werden beschuldigt, über Münztelefone mit ihren Kontakten in der Gülen-Bewegung kommuniziert zu haben, weitere werden verdächtigt, die Handy-Anwendung ByLock genutzt zu haben (BAMF 13.9.2021, S.16; vgl. SDZ 7.9.2021). Bereits am 13.9.2021 wurden 33 entlassene und aktive Soldaten (Anadolu 13.9.2021), und am 24.9.2021 35 Personen, die Teil eines geheimen Netzwerks der Gülen-Bewegung innerhalb der türkischen Streitkräfte sein sollen, verhaftet (BAMF 27.9.2021, S.15). In der ersten Oktoberwoche 2021 wurden bei landesweiten Razzien über 100 Personen festgenommen. Bei den Verdächtigten handelt es sich hauptsächlich um Staatsbedienstete, darunter Angestellte des Militärs und der Luftwaffe, sowie derzeitige oder ehemalige Mitarbeiter des Petro-Chemie-Unternehmens „Petkim“. Letztere sollen Konten bei der inzwischen geschlossenen Asya-Bank geführt haben (BAMF 11.10.2021, S.13; vgl. DS 5.10.2021). Zudem wurden am 5.10.2021 durch den Rat der Richter- und Staatsanwälte (HSK) zehn Mitglieder der Staatsanwaltschaft und drei Mitglieder der Richterschaft ihres Amtes enthoben. Der HSK entschied, dass die Beschuldigten aufgrund ihrer mutmaßlichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung, nicht in der Lage seien, ihre Berufe auszuüben (BAMF 11.10.2021, S.13). Am 15.10.2021 erließ die Generalstaatsanwaltschaft Ankara wegen mutmaßlicher Tätigkeiten für die Gülen-Bewegung Haftbefehle gegen 98 Personen innerhalb des Generalkommandos der Gendarmerie. Weitere 46 Personen wurden bei Polizeieinsätzen in 45 Provinzen festgenommen (BAMF 18.10.2021, S.14), und am 19.10.2021 haben türkische Sicherheitskräfte auf der Basis von 158 Haftbefehlen der Staatsanwaltschaft in Izmir mindestens 97 Personen bei gleichzeitigen Operationen in 41 Provinzen verhaftet, darunter sowohl aktive Soldaten als auch Militärschüler (Anadolu 19.10.2021). Im Rahmen einer von der Generalstaatsanwaltschaft in İzmir eingeleiteten Untersuchung wurden am 20.10.2021 Haftbefehle aufgrund eines geheimen Zeugen gegen 39 Frauen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung erlassen. Während Razzien in fünf Provinzen wurden 32 von ihnen festgenommen (BAMF 25.10.2021, S.15f; vgl. DS 20.10.2021). Am 22.10.2021 wurde die landesweite Festnahme von 81 vermeintlichen Gülen-Mitgliedern vermeldet, nebst Militärangehörigen auch Mitarbeiter des Außenministeriums (DS 22.10.2021). Anfang November 2021 wurden 40 vermeintliche Führungsmitglieder der Gülen-Bewegung, welchen die Infiltration der Gendarmerie vorgeworfen wurde, verhaftet (Anadolu 2.11.2021). Am 23.11.21 erklärte die Polizei, bei Razzien in mehreren Städten in der Türkei mindestens 132 Personen festgenommen zu haben, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben. Hierbei handelt es sich um entlassene Kadetten und Soldaten sowie Soldaten im aktiven Dienst wie auch Angestellte der Gendarmerie (BAMF 29.11.2021, S.16; vgl. Anadolu 23.11.2021). In der Folgewoche wurden weitere rund 60 Personen verhaftet, unter dem Verdacht, das Generalkommando der Gendarmerie unterwandert zu haben (Anadolu 30.11.2021). Auch 2022 gingen die Verhaftungswellen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder weiter: Am 4.1.2022 wurden bei Razzien in zahlreichen Provinzen zunächst 80 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet, die meisten unter dem Verdacht, ein Netzwerk innerhalb der Gendarmerie aufgebaut zu haben (BAMF 10.1.2022, S.15; vgl. DS 4.1.2022). Bereits am 11.1.2022 wurde die Verhaftung von 113 von insgesamt 185 gesuchten Gülen-Mitgliedern, insbesondere in den Reihen des Militärs, bei Razzien in über 40 Provinzen vermeldet (Anadolu 11.1.2022), gefolgt von über 50 Festnahmen am 14.1.2022 (BAMF 24.1.2022, S.14). In der zweiten Februarhälfte wurden in Ankara und Balıkesir 123 vermeintliche Gülen-Mitglieder verhaftet (Ahval 22.2.2022).
Anwälte von angeblichen Gülen-Mitgliedern laufen Gefahr, selbst in den Verdacht zu geraten, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (NL-MFA 18.3.2021, S.40f.). Im September 2020 wurden 47 Rechtsanwälte festgenommen, weil diese angeblich durch ihre Rechtsberatung Gülen-Mitglieder unterstützt hätten (AM 16.9.2020; vgl. ICJ 14.9.2020) [hierzu siehe auch Kapitel: Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen].
Mit Stand 9.4.2021 waren laut einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu insgesamt 4.820 Putschverdächtige verurteilt. 1.626 hatten eine lebenslange Haftstrafe unter erschwerten Bedingungen erhalten, 1.373 weitere müssen eine gewöhnliche lebenslange Haft verbüßen und 1.821 wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt (TM 10.4.2021). Am 26.11.2020 endete einer der bislang größten Prozesse gegen 475 vermeintliche Gülen-Mitglieder, denen eine direkte Teilnahme am Putschversuch vorgeworfen wurde. 337 Angeklagte wurden unter anderem wegen "Umsturzversuchs", "Attentats auf den Präsidenten" und "vorsätzlicher Tötung" zu lebenslangen Haftstrafen, in der Mehrheit zu verschärften Bedingungen, verurteilt. Ein kleinerer Teil erhielt kürzere Haftstrafen. 75 Personen wurden freigesprochen (FAZ 26.11.2020; DS 26.11.2020). Am 30.12.2020 erfolgten die Urteile im letzten Massenprozess gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder des Jahres 2020. Von 132 Angeklagten wurden 92 zu lebenslangen Haftstrafen, darunter zwölf unter verschärften Bedingungen, wegen ihrer Aktivitäten als Mitglieder der Armee im Zuge des Putschversuches verurteilt. 22 Menschen erhielten wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zwischen 12,5 und 19 Jahren Gefängnis. Weitere Urteile ergingen wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und wegen versuchten Mordes. Neun Soldaten sind freigesprochen worden (Anadolu 30.12.2020; vgl. ZO 30.12.2020). Am 7.4.2021 wurden nach knapp 250 Verhandlungstagen die Urteile gegen 497 Angeklagte verkündet. In 38 Fällen verhängte das Gericht in Ankara lebenslange Haftstrafen, davon sechs unter erschwerten Bedingungen. Hierzu zählten vor allem jene Offiziere, die in der Putschnacht den Staatssender TRT besetzten und die Verlesung einer Erklärung erzwangen. 106 weitere Personen müssen bis zu 16 Jahre ins Gefängnis. 121 wurden freigesprochen und gegen 231 verhängte das Gericht keine Strafen (DW 7.4.2021; vgl. AP 7.4.2021). Somit waren von den 289 Prozessen hernach noch 14 ausständig (DPA 7.4.2021).
Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind (bzw. waren), sondern auch dann, wenn diese beispielsweise lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind (AA 24.8.2020, S.9). Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöpfende "Liste von sechzehn Kriterien", die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als "Terroristen" bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, "die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden" (JWF 1.2019). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Das Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App "ByLock"; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten "parallelen Struktur"; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen (AA 3.6.2021, S.7; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.38, JWF 1.2019), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes "Kimse Yok Mu" (JWF 1.2019); der Besuch der eigenen Kinder von Schulen, die der Gülen-Bewegung zugeordnet werden; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive Beschäftigungsverhältnisse und die Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung (AA 3.6.2021, S.7; vgl. JWF 1.2019). Weitere Kriterien sind u.a. die Unterstützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.2019). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 3.6.2021, S.7). Der Kassationsgerichtshof entschied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten noch die Einschreibung seines Kindes in einer Gülen-Schule als Beweis dienen kann, dass die Person in terroristische Aktivitäten verwickelt oder Mitglied einer terroristischen Vereinigung war (SCF 6.8.2019).
Laut Eigenangaben differenzieren die türkischen Behörden unterschiedliche Schweregrade der Beteiligung an der Gülen-Bewegung. Im März 2020 erklärte die 16. Strafkammer des Verfassungsgerichts, zuständig für Berufungen in allen Gülen-Fällen, dass es sieben Stufen der Beteiligung gäbe: Die erste Ebene besteht aus den Menschen, die die Gülen-Bewegung aus guter Absicht (finanziell) unterstützten. Die zweite Schicht besteht aus einer loyalen Gruppe von Menschen, die in Gülen-Organisationen arbeiteten und mit der Ideologie der Gülen-Bewegung vertraut war. Die dritte Gruppe besteht aus Ideologen, die sich die Gülen-Ideologie zu eigen machten und in ihrem Umfeld verbreiteten. Die vierte Gruppe waren Inspektoren, die die verschiedenen Formen von Dienstleistungen der Gülen-Bewegung überwachten. Die fünfte Gruppe setzte sich aus Beamten zusammen, die für die Erstellung und Umsetzung der Politik der Gülen-Bewegung verantwortlich war. Die sechste Gruppe bildet den elitären Kreis, der den Kontakt zwischen den verschiedenen Segmenten der Organisation aufrecht erhielt bzw. dies immer noch tut, aber auch Personen aus ihren Positionen entlassen konnte. Die siebte Gruppe besteht aus siebzehn Personen, die direkt von Fethullah Gülen ausgewählt wurden und an der Spitze der Gülen-Bewegung stehen. Zwar kann jeder mit einem Gülen-Hintergrund verfolgt werden, doch scheint eine Priorisierung nach Berufsgruppen zu bestehen, wonach Armee-, Polizei- und Angehörige des diplomatischen Corps, gefolgt von Juristen, stärker ins Visier genommen werden als beispielsweise Mitarbeiter im Medien- oder Bildungsbereich (NL-MFA 18.3.2021, S.38f.).
Die Entscheidung der türkischen Behörden, vermeintliche Gülen-Mitglieder strafrechtlich zu verfolgen oder nicht, scheint sehr willkürlich zu sein. Moderate Richter tendieren zwischen "passiven" und "aktiven" Gülen-Mitgliedern zu unterschieden, während Hardliner keine Unterscheidung hinsichtlich der Kriterien einer vermeintlichen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung machen. Infolgedessen ist der Ausgang der Strafverfahren, insbesondere hinsichtlich des Strafausmaßes, willkürlich (NL-MFA 18.3.2021, S.41).
Die Strafverfolgungsbehörden wenden zur Identifizierung vermeintlicher Gülen-Mitglieder eine Überwachungs-Software an, die anhand von 78 Haupt- und 253 Sekundärkriterien Verdächtigte ausfindig macht, der sog. "FETÖ-Meter". Dazu gehören etwa Daten über den Bildungswerdegang, die Verwandtschaft und den Vermögensstand. Verdächtige Merkmale sind beispielsweise der Dienst in einer NATO-Vertretung im Ausland oder ein Doktorat. Bei Militärangehörigen gilt die eigene Hochzeit außerhalb von Gebäuden im Besitz des Militärs als Verdachtsmoment, weil unterstellt wird, dass dies der Verschleierung der Identitäten der Hochzeitsgäste diente (TM 5.3.2021). Das FETÖ-Meter sammelte zu Beginn insbesondere nachrichtendienstliche Daten aus allen Bereichen der Armee sowie aus Ministerien und Behörden, um mögliche, aus der Sicht der Behörden, Infiltratoren aufzuspüren. Die Ermittler untersuchten mit dem Tool auch etwa 1 Million Handynummern, die auf ehemalige und noch dienende Marineoffiziere registriert waren, und fanden angeblich heraus, dass 1.500 von ihnen Nutzer der verschlüsselten Messenger-App "ByLock" waren. Ebenso wurden die Kontoinformationen von Offizieren bei der inzwischen aufgelösten Bank Asya zur Identifizierung verwendet (DS 12.9.2018). Der FETÖ-Meter inspirierte auch andere staatliche Stellen zu einer ähnlichen Politik, wie die Sozialversicherungsanstalt (SGK), die seit vier Jahren mutmaßliche Gülen-Sympathisanten in ihrer Datenbank mit dem "Code 36" kennzeichnet. Die Kennzeichnung ist automatisch für jeden potenziellen Arbeitgeber sichtbar, was zu Befürchtungen bei denjenigen führt, die erwägen, eine dieser Personen einzustellen (TM 5.3.2021).
Es ist ein soziales Stigma, ein Gülen-Mitglied zu sein, weshalb sich viele Bürger von ihnen distanzieren. Diese Haltung beruht nicht immer auf Hass und Abneigung, sondern ist eine Form des Selbstschutzes, aus Angst strafrechtlich verfolgt zu werden, wenn sie mit Personen der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden. Infolge der Anfeindungen und der Stigmatisierung haben vermeintliche oder tatsächliche Gülen-Mitglieder Schwierigkeiten, in der türkischen Gesellschaft zu überleben. Arbeitgeber sind nicht geneigt, diese einzustellen, aus Angst, selbst als Unterstützer oder Mitglieder der Gülen-Bewegung angesehen zu werden. Es gibt Berichte, wonach arbeitslose Gülen-Mitglieder zur Schattenwirtschaft auf der Straße oder zu einem Leben als Selbstversorger im Dorf ihrer Vorfahren verdammt sind (NL-MFA 18.3.2021, S.43).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 23.11.2021 ein Urteil zu 427 türkischen Richtern und Staatsanwälten gefällt, darunter Mitglieder des Kassationsgerichtshofs und des Staatsrates [oberstes Verwaltungsgericht], die wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung aus dem Staatsdienst entlassen und festgenommen worden waren. Gemäß EGMR-Urteil war deren Inhaftierung willkürlich und damit rechtswidrig. Die Türkei wurde deshalb zu Schadensersatzzahlungen von 5.000 EUR pro Person verurteilt. Im Verfahren ging es vor allem um die Frage, ob die besagten Vertreter der Justiz überhaupt in Untersuchungshaft genommen werden durften, da das türkische Recht dies für die Mitglieder der Justiz nicht erlaubt, mit Ausnahme bei unmittelbarer Verübung einer Straftat, worauf sich die türkische Regierung berief. Diese Begründung wies der EGMR als abwegig zurück, da die Mitgliedschaft in einer Organisation keine „in flagranti“-Tat sein könne (BAMF 6.12.2021, S.14).
ByLock
ByLock ist eine Handy-Applikation zur verschlüsselten, sicheren Kommunikation. Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis darstellt, um die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung festzustellen. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Allerdings urteilte der Verfassungsgerichtshof im Juni 2020 anlässlich eines Beschwerdeverfahrens, dass die Benutzung von ByLock als ausreichender Beweis für die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung gilt (Ahval 27.6.2020).
Laut Innenministerium wurden (Stand November 2021) mehr als 99.300 Nutzer von ByLock wegen Terrorismus angeklagt (SCF 22.11.2021). Auch 2021 und 2022 ist es zu Verhaftungen auf der Grundlage der Verwendung von ByLock gekommen. Beispielsweise ordnete die Staatsanwaltschaft von Konya im Jänner 2021 die Festnahme von 17 Verdächtigen in einem Untersuchungsverfahren wegen der Verwendung von ByLock an. 13 bereits Festgenommene sollen via ByLock Anordnungen von höher gestellten Mitgliedern der Gülen-Bewegung an niedere Ränge weitergeleitet haben (DS 26.1.2021). Im März erließ die Staatsanwaltschaft Ankara Haftbefehle gegen 15 Verdächtige (Anadolu 10.3.2021) und im Mai 2021 wurden neun vermeintliche Benutzer von ByLock festgenommen (Anadolu 25.5.2021). Am 10.2.2022 sind mindestens 21 Personen wegen der Nutzung der App ByLock als Beweis einer Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen worden (BAMF 14.2.2022, S.18).
Die Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zur willkürlichen Inhaftierung gab im Oktober 2019 eine Stellungnahme ab, wonach die Nutzung von ByLock unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fällt. Solange die türkischen Behörden nicht offen erklären würden, wie die Verwendung von ByLock einer kriminellen Aktivität gleichkommt, wären Verhaftungen aufgrund der Benutzung von ByLock willkürlich (TM 15.10.2019; vgl. UN-HRC 18.9.2019). Die Arbeitsgruppe bedauerte zudem, dass ihre Ansichten in vormaligen Stellungnahmen zu Fällen, die nach dem gleichen Muster abgelaufen waren, seitens der türkischen Behörden keine Berücksichtigung gefunden hatten (UN-HRC 18.9.2019).
Am 20.7.2021 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass sich der betroffene ehemalige Polizist, Tekin Akgün, zu Unrecht seit 2016 wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung in Untersuchungshaft befindet, und zwar, weil die Festnahme lediglich auf der Benutzung von ByLock fußt. Laut Urteil des EGMR verfügte das türkische Gericht nicht über ausreichende Informationen zu ByLock, um zu dem Schluss zu kommen, dass diese Messenger-Anwendung ausschließlich von Mitgliedern der Gülen-Bewegung zu Zwecken der internen Kommunikation verwendet wurde. In Ermangelung anderer Beweise oder Informationen könne das fragliche Dokument, in dem lediglich festgestellt werde, dass der Kläger ein Nutzer von ByLock sei, für sich genommen nicht darauf hindeuten, dass ein begründeter Verdacht bestehe, dass er ByLock tatsächlich in einer Weise nutzte, die den vorgeworfenen Straftaten gleichkommen könne. Der EGMR stellte dahingehend eine Verletzung von Artikel 5 § 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), von Artikel 5 § 3 (Recht auf ein Gerichtsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Freilassung bis zur Gerichtsverfahren) und eine Verletzung von Artikel 5 § 4 (Recht auf eine zügige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) der Europäischen Menschenrechtskonvention fest. Das Gericht entschied, dass die Türkei dem Kläger 12.000 Euro für den immateriellen Schaden und 1.000 Euro für Kosten und Auslagen zu ersetzen hat (ECHR 20.7.2021, S.1,6).
Asya Bank
Die von Gülen-Anhängern betriebene und getragene "Bank Asya" kam nach dem gescheiterten Putschversuch zunehmend unter Druck und wurde ab 22.7.2016 gänzlich unter Verwaltung des Staates gestellt. Mit dem Bankengesetz Nr. 5411 wurde der Bank die Betriebserlaubnis vollständig entzogen. Eine Kontoeröffnung ist seither nicht mehr möglich. Bis zum 22.7.2016 hatten neben Gülen nahestehenden Beamten vor allem Geschäftsleute und einige Privatpersonen Konten bei der Asya-Bank. In vielen Fällen reichte es, über ein Konto bei dieser Bank zu verfügen, um wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung angeklagt zu werden. Viele Angeklagte wurden jedoch nicht verurteilt, wenn keine weiteren Indizien vorlagen. Allerdings konnte die bloße Einzahlung von Geld bei der Asya-Bank nach dem 25.12.2013 zu einer Suspendierung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst führen (ÖB 30.11.2020, S.23).
Das Kassationsgericht entschied 2018, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt hatten, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018; vgl. TP 16.2.2019). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden der Bank Asya waren (TM 30.5.2018). Im September 2019 ordneten Staatsanwälte die Festnahme von 35 Personen an, die beschuldigt wurden, die Messenger-App ByLock verwendet und gleichzeitig Geld in der Asya Katılım Bank deponiert zu haben (DS 18.9.2019). [Mehr zu Verurteilungen siehe Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen.]
Gülen-Schulen
Die Gülen-Bewegung betrieb einst Schulen rund um den Globus (BBC 21.7.2016). Die Schließung der Schulen stellt die Gülen-Bewegung vor große Herausforderungen, da sie eine wichtige Rolle bei der Finanzierung und der Anwerbung neuer Anhänger spielten. Um den Zugang des türkischen Staates zu verhindern, erklärten sich viele Schulen nicht mehr als türkische, sondern als lokale Institutionen. Durch eine Mischung aus politischem Druck und wirtschaftlichen Anreizen hat die Türkei versucht, die Gastländer davon zu überzeugen, die Gülen-Schulen, Schülerwohnheime und Universitäten an die türkische Maarif-Stiftung zu übergeben (NZZ 14.2.2020), oder auf der Basis von bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Ländern zu schließen bzw. anderen Eigentümern zu übertragen (SCF 5.2.2019; vgl. DS 31.7.2018). Laut dem Leiter der Stiftung, Birol Akgün, wurden bis März 2021 216 Gülen-Schulen in 44 Ländern übernommen (TM 23.3.2021). Wann immer die Interventionen der türkischen Regierung, die Gülen-Schulen zu schließen, sich nicht als erfolgreich erweisen, strebt sie über die Maarif-Stiftung die Eröffnung eigener Schulen an. Bislang hat die Maarif-Stiftung etwa 100 Schulen selbst gegründet (NZZ 14.2.2020).
Verfolgung im Ausland: Auslieferungsanträge und Entführungen
Über 100 mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung wurden laut türkischem Außenminister vom Geheimdienst (MİT) im Ausland entführt und im Rahmen der globalen Fahndung der Regierung in die Türkei zurückgebracht (SCF 16.7.2018). Laut Justizminister Abdülhamit Gül waren es Ende März 2019 107 (Anadolu 27.3.2019). Demnach seien Menschen aus Malaysia, Pakistan, Kasachstan, dem Kosovo, Moldawien, Aserbaidschan, Ukraine, Gabun und Myanmar von der türkischen Regierung entführt worden. Ein weiterer Versuch in der Mongolei sei von der mongolischen Polizei im Juli 2018 verhindert worden (Welt 15.9.2019). Der türkische Nachrichtendienst MİT als Hauptakteur organisierte verdeckte Operationen, um hauptsächlich Personen mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu entführen und in die Türkei zu bringen, manchmal in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden des Landes und in einigen anderen Fällen, ohne sich überhaupt die Mühe zu machen, diese zu informieren. Etliche Regierungen unterstützten die türkische Seite, indem sie selbst die Verfolgung bzw. Auslieferung von vermeintlichen Gülen-Mitgliedern in ihren jeweiligen Ländern durchführten (AST 9.2020). Zu Beginn des Jahres 2021 wurden mindestens 17 Staaten gezählt, an deren Spitze Saudi-Arabien, die seit 2016 Personen mit Verbindungen zur Gülen-Bewegung an die Türkei auslieferten (FT 14.1.2021). So lieferte jüngst die Ukraine Anfang Jänner 2021 zwei hochrangige Mitglieder der Gülen-Bewegung, die zuvor im Irak tätig waren, an Ankara aus. Menschenrechtsaktivisten verurteilten den Schritt als illegale Überstellung ohne ordentliches Verfahren (AM 6.1.2021). Mitte Februar 2021 wurden im Rahmen einer Operation des MİT in Usbekistan zwei angebliche Gülen-Mitglieder in die Türkei verbracht (DS 15.2.2021). Im Mai 2021 entführte der türkische Geheimdienst einen Neffen von Fethullah Gülen. Die Frau des Festgenommenen erklärte, Selahaddin Gülen sei in Kenia entführt worden. Die türkischen Behörden warfen dem Neffen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vor. Unklar blieb, ob Kenia sein Einverständnis für die Aktion gab (DW 31.5.2021; vgl. France24 31.5.2021). Das Europäische Parlament verurteilte im Mai 2021 die Auslieferung bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit, der grundlegenden Menschenrechte und des Völkerrechts, wobei überdies in einigen Fällen lokale Rechtsvorschriften der Drittstaaten für Auslieferungsverfahren missachtet wurden (EP 19.5.2021, S.16, Pt.40).
Das Amt für Auslands-Türken (YTB) sowie die Türkische Agentur für Kooperation und Koordination (TİKA) sind ebenfalls aktiv an den verdeckten Geheimdienstoperationen in aller Welt beteiligt gewesen. Auch die Direktion für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) wirkt mit, unter Auslands-Türken Regierungskritiker ausfindig zu machen. Nicht zuletzt sammeln staatlich finanzierte private Denkfabriken und Organisationen wie die Union der Europäisch-Türkischen Demokraten (UETD) und die Stiftung für politische, wirtschaftliche und soziale Forschung (SETA) Informationen über Regierungskritiker [Anm.: nicht nur über Gülen-Mitglieder] (AST 9.2020).
Die Türkei hat nach dem Putschversuch von 2016 die Auslieferung von insgesamt 807 Putschverdächtigen aus 105 Ländern beantragt, doch keine dieser Nationen ist den Forderungen Ankaras nachgekommen (HDN 15.7.2020). Dem entgegengesetzt berichtete die regierungstreue Tageszeitung Daily Sabah zur gleichen Zeit, dass von den 807 nur 116 aus 27 Ländern an die Türkei ausgeliefert wurden (DS 13.7.2020). Die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (INTERPOL) lehnte es laut dem Leiter der INTERPOL-Abteilung des türkischen Innenministeriums in 773 Fällen ab, eine sogenannte Red Notice für Personen mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung auszustellen, nachdem INTERPOL diese Anträge als politisch eingestuft hatte (SCF 4.6.2021; vgl. Ahval 5.6.2021).
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Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die marxistisch orientierte Kurdische Arbeiterpartei (PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB 30.11.2021, S.21f). Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 15.6.2021, S.261; vgl. ÖB 30.11.2021, S.21f).
Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 30.11.2021, S.22).
2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“, bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 30.11.2021, S.22). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 30.11.2021, S.22).
Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 3.2.2022 3.717 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 "neutralisierten" PKK-Kämpfern, d.h. diese wurden getötet oder festgenommen. Seit Anfang Januar 2022 konzentrierte sich die Eskalation zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften weiterhin auf den Nordirak, während es im Südosten der Türkei, insbesondere in den ländlichen Gebieten von Şanlıurfa, Bingöl und Muş, und an der türkisch-syrischen Grenze weiterhin zu gelegentlicher Gewalt kam. Das türkische Militär setzte in dieser Zeit seine Taktik fort, durch den Einsatz von bewaffneten Drohnen auf höherrangige PKK-Mitglieder zu zielen (ICG 3.2.2022). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen „Adlerklaue“ und „Tigerkralle“ gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 15.6.2021, S.261).
Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vgl. Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021).
Zu Verhaftungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern und PKK-Unterstützern kommt es weiterhin. So wurden Mitte Februar 2022, am Vorabend des 23. Jahrestages der Festnahme Abdullah Öcalans Dutzende Personen festgenommen: 27 in Diyarbakır, neun in Siirt, darunter die ehemalige Ko-Vorsitzende der örtlichen Demokratischen Partei der Völker (HDP), 43 in Mersin, 24 in Van, darunter vier Mitglieder der lokalen HDP-Jugendorganisation, sowie eine weitere unbekannte Anzahl von Personen in Istanbul, Izmir, Batman, Diyadin, Ağrı und Turgutlu (MedyaNews 14.2.2022; vgl. NaT 14.2.2022).
In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich durchaus ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit „gefällt mir“ markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 30.11.2021, S.22).
Die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK)
Anfang der 2000er-Jahre versuchte die PKK sich neue Organisationsformen zu geben, begleitet von zahlreichen Umbenennungen, an deren Ende die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK), stand. 2005 gab sich die PKK im Rahmen des sogenannten KCK-Abkommens diese neue Organisationsform. Die Kontinuität PKK-KCK wurde im Abkommen festgeschrieben, wodurch jeder, der im Rahmen des KCK-Systems tätig ist, auch die ideologischen und moralischen Maßstäbe der PKK anwenden muss. So gesehen ist die KCK die ideologische und organisatorische Ummantelung der PKK (Posch 2016, S.140f). Bei der KCK handelt es sich um einen kurdischen Dachverband, dem neben der PKK auch ihre Schwesterparteien im Irak, im Iran und in Syrien sowie verschiedene gesellschaftliche Gruppen angehören (BMIBH 15.6.2021, S.261, FN 92). Die Türkei hat in den letzten Jahren zahlreiche kurdische Politiker, Aktivisten und Journalisten wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur KCK inhaftiert und verurteilt (Rudaw 3.10.2021). Dieser Trend setzte sich fort. So wurden beispielsweise im Oktober 2021 im sog. KCK-Yüksekova-Fall von einem Gericht in Hakkari 30 Personen wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu Haftstrafen zwischen acht Jahren und neuen Monaten - und 17,5 Jahren - verurteilt (Bianet 4.10.2021, vgl. WKI 5.10.2021). Remziye Yaşar, die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Yüksekova aus den Reihen der HDP, wurde zu 17,5 Jahren verurteilt (Rudaw 3.10.2021, vgl. TM 2.10.2021). Am 25.1.2022 wurde der Ko-Vorsitzende der HDP des Bezirks Iskenderun, Abdurrahim Şahin, wegen "Propaganda für eine illegale Organisation" zu zwei Jahren und einem Monat verurteilt (TİHV. 26.1.2022).
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- WKI - Washington Kurdish Institute (5.10.2021): Kurdistan’s Weekly Brief October 5, 2021, https://dckurd.org/2021/10/05/kurdistans-weekly-brief-october-5-2021/ , Zugriff 14.2.2022
Terroristische Gruppierungen: TAK – Teyrêbazên Azadiya Kurdistan (Freiheitsfalken Kurdistans)
Letzte Änderung: 10.03.2022
Während ihre Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) undurchsichtig bleiben und Gegenstand von Debatten unter Analysten sind, sind die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) am besten als halb-autonome Stellvertreter der PKK zu verstehen, die auf Distanz operieren (CTC 7.2016). Die TAK wurden Berichten zufolge 1999 von PKK-Führern gegründet, nachdem der PKK-Gründer, Abdullah Öcalan, verhaftet worden war. Im Jahr 2004 beschuldigten die TAK die PKK jedoch des Pazifismus und spalteten sich öffentlich von der PKK ab. Die TAK sollen aus jungen städtischen Rekruten bestehen. Seit 2004 haben sie mehr als ein Dutzend tödlicher Angriffe im ganzen Land verübt, darunter der Beschuss eines türkischen Militärkonvois im Februar 2016 in Ankara und die Bombenanschläge vom Dezember 2016 vor einem Sportstadion in Istanbul. Die türkische Regierung bestreitet die Trennung von TAK und PKK und behauptet, die TAK seien ein terroristischer Stellvertreter ihrer Mutterorganisation, der PKK. Sicherheitsanalysen zufolge sind die TAK mit der PKK durch die ideologische Doktrin, militärische Ausbildung, Rekrutierung und die Lieferung von Waffen verbunden, allerdings koordinieren und führen sie selbstständig Angriffe durch. Die TAK wurden von den USA, der Türkei (CEP 3.6.2021) und der EU als terroristische Organisation eingestuft (EU 4.2.2022; vgl. CEP 3.6.2021). Im Juli 2020 wurden drei Mitglieder wegen des Anschlages in Istanbul vom 7.6.2016, bei dem zwölf Menschen ums Leben kamen, zu mehrfachen lebenslangen Haftstrafen unter erschwerten Bedingungen verurteilt (DS 13.7.2020).
Die TAK gelten als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl unbekannt ist. Laut Personen, die der PKK nahestehen, operieren die TAK in isolierten Zwei- bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AM 29.2.2016).
Quellen:
- AM – Al Monitor (29.2.2016): Who is TAK and why did it attack Ankara? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/02/turkey-outlawed-tak-will-not-deviate-line-of-ocalan.html , Zugriff 14.2.2022
- CEP – Counter Extremism Project (3.6.2021): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/node/13523/printable/pdf , Zugriff 14.2.2022
- CTC – Combating Terrorism Center [Gurcan, Metin] (CTC 7.2016): The Kurdistan Freedom Falcons: A Profile of the Arm's-Length Proxy of the Kurdistan Workers' Party, https://ctc.usma.edu/the-kurdistan-freedom-falcons-a-profile-of-the-arms-length-proxy-of-the-kurdistan-workers-party/ , Zugriff 14.2.2022
- DS – Daily Sabah (13.7.2020): 3 PKK terrorists sentenced to life over 2016 Istanbul bombing, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/3-pkk-terrorists-sentenced-to-life-over-2016-istanbul-bombing , Zugriff 14.2.2022
- EU - Europäische Union (4.2.2022): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 3. Februar 2022, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2021/1192, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32022D0152 , Zugriff 9.2.2022
Terroristische Gruppierungen: MLKP – Marksist Leninist Komünist Parti (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei)
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) ist 1994 im Wesentlichen durch die Vereinigung der TKPML-Hareketi und der "Türkischen Kommunistischen Arbeiterbewegung" (TKIH) in der Türkei gegründet worden. Sie bekennt sich ideologisch zum revolutionären Marxismus-Leninismus. Sie strebt in der Türkei die gewaltsame Zerschlagung der staatlichen Ordnung und die Errichtung eines kommunistischen Gesellschaftssystems an. Nach eigenen Angaben versteht sich die MLKP als politische Vorhut des Proletariats der türkischen und kurdischen Nation sowie der nationalen Minderheiten (BMIBH 15.6.2021, S.297). "Die kommunistische Bewegung kämpft", laut MLKP, "für die Freiheit und Vereinigung der vier Teile Kurdistans." Denn die "Revolution des in Vier geteilten Kurdistans ist auch die Revolution der Türkei." Und auch die "Frauenrevolution ist eine Notwendigkeit zur Garantierung des endgültigen Sieges des revolutionären Proletariats" (MLKP 3.2019).
Die MLKP verfügt über einen bewaffneten Arm, die "Bewaffneten Kräfte der Armen und Unterdrückten" (FESK), die unter dem Kommando der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien von Kobanê bis Deir ez-Zour gemeinsam mit US-Truppen in Syrien gegen den sog. Islamischen Staat kämpften (TNA 17.5.2019), was bei der türkischen Regierung zu Irritationen führte (Anadolu 20.8.2019). Die MLKP bekämpft die türkischen Sicherheitskräfte auch im Irak (ANF 12.10.2021, HDN 20.7.2019, TNA 17.5.2019) und in Syrien (ANF 27.6.2021, TNA 17.5.2019, ANF 23.1.2018). In der Türkei selbst kämpfen die Mitglieder der MLKP zumal in den Reihen des bewaffneten Arms der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der Volksverteidigungskräfte (HPG) (TNA 17.5.2019), wovon Berichte der MLKP über ihre Gefallenen zeugen (MLKP 20.7.2019, 1.9.2018). Die MLKP/FESK reklamierte im September 2019 u.a. ein Bombenattentat auf eine Polizeistation in Adana für sich (MLKP 27.9.2019).
Die türkischen Behörden nehmen vereinzelt vermeintliche Mitglieder der MLKP fest. Im September 2020 wurden beispielsweise bei Razzien in sieben Provinzen 14 (Anadolu 8.9.2020) und im Oktober 2020 in Istanbul 24 vermeintliche MLKP-Mitglieder verhaftet (Anadolu 7.10.2020). Auch im Jänner 2021 wurde die Verhaftung von MLKP-Mitgliedern vermeldet, ohne jedoch eine genaue Zahl anzugeben, als bei Razzien in zwölf Provinzen 48 Verdächtigte mehrer verbotener links-extremer Gruppen verhaftet wurden (DS 14.1.2021). Am 10.9.2021 wurden im Rahmen einer vom Büro für die Untersuchung von Terrorverbrechen eingeleiteten Untersuchung in Ankara 17 von insgesamt 23 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur MLKP verhaftet (BAMF 13.9.2021, S.16, vgl. Anadolu 10.9.2021).
In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur MLKP in Untersuchungshaft genommen bzw. vor Gericht gestellt. Bei den MLKP-Fällen handelt es sich um Fälle mit mehreren Angeklagten, bei denen Anwälte, Vertreter politischer Parteien, Gewerkschaftsmitglieder, Studenten und Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur MLKP gemeinsam vor Gericht stehen. Aussagen von Geheimzeugen werden in diesen Fällen häufig als Beweismittel gegen Journalisten verwendet. Betroffen waren beispielsweise Reporter und Redakteure der Nachrichtenagentur Etkin (ETHA), wobei die Anklageschriften ETHA von vornherein als Nachrichtenagentur, die im Namen der MLKP arbeitet, definierten (IPI/MLSA 3.2020).
Quellen:
- Anadolu – Anadolu Agency (10.9.2021): 17 far-left terror suspects arrested in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/17-far-left-terror-suspects-arrested-in-turkey/2360890 , Zugriff 14.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency (7.10.2020): Police in Turkey arrest suspected leftist terrorists, https://www.aa.com.tr/en/turkey/police-in-turkey-arrest-suspected-leftist-terrorists/1998162 , Zugriff 14.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency (8.9.2020): Turkey: Police arrest 14 suspected leftist terrorists, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-police-arrest-14-suspected-leftist-terrorists/1966410 , Zugriff 14.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency (20.8.2019): US meets with far-left terror group in Syria: minister, https://www.aa.com.tr/en/turkey/us-meets-with-far-left-terror-group-in-syria-minister/1560965 , Zugriff 14.2.2022
- ANF - ANF News (12.10.2021): MLKP guerrilla: We will never allow Turkish occupation, https://anfenglish.com/kurdistan/mlkp-guerrilla-we-will-never-allow-turkish-occupation-55503 , Zugriff 14.2.2022
- ANF - ANF News (27.6.2021): MLKP pays tribute to martyr Zilan Destan, https://anfenglish.com/rojava-syria/mlkp-pays-tribute-to-martyr-zilan-destan-53069 , Zugriff 9.2.2022
- ANF - ANF News (23.1.2018): MLKP Rojava: Wir nehmen am Widerstand von Efrîn teil, https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/mlkp-rojava-wir-nehmen-am-widerstand-von-efrin-teil-1809 , Zugriff 9.2.2022
- BAMF (13.9.2021): Briefing Notes, KW 37, Verhaftung mutmaßlicher MLKP-Mitglieder, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw37-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 14.2.2022
- BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (15.6.2021): Verfassungsschutzbericht 2020, https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/2021/verfassungsschutzbericht-2020-startseitenmodul.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 14.2.2022
- DS – Daily Sabah (14.1.2021): Turkish security forces detain 48 suspects in counterterrorism operation, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/turkish-security-forces-detain-48-suspects-in-counterterrorism-operation , Zugriff 14.2.2022
- HDN - Hürriyet Daily News (20.7.2019): Turkish army ‘neutralizes’ 3 PKK terrorists in N Iraq, https://www.hurriyetdailynews.com/turkish-army-neutralizes-3-pkk-terrorists-in-n-iraq-145104 , Zugriff 14.2.2022
- IPI/MLSA – International Press Institute / Media and Law Studies Association (3.2020): TURKEY FREE EXPRESSION TRIAL MONITORING REPORT - FINAL REPORT, https://www.mlsaturkey.com/wp content/uploads/2020/06/ENG_TMReport_0623.pdf, Zugriff 14.2.2022
- MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (27.9.2019): Bomb Attack By FESK in Adana, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=11372&Bomb_Attack_By_FESK_in_Adana , Zugriff 14.2.2022
- MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (20.7.2019): MLKP/FESK Guerrillas Martyred In Turkish Airstrike In Dersim, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=11277&MLKP/FESK_Guerrillas_Martyred_In_Turkish_Airstrike_In_Dersim _, Zugriff 14.2.2022
- MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (3.2019): Programm der MLKP, http://www.mlkp-info.org/index.php?icerik_id=11254&Programm_der_MLKP , Zugriff 21.4.2021
- MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (1.9.2018): MLKP/FESK Rural Guerilla Units Fighter İrfan Çelik fell martyr, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=10678&MLKP/FESK_Rural_Guerilla_Units_Fighter_%C4%B0rfan_%C3%87elik_fell_martyr , Zugriff 14.2.2022
- TNA – The New Arab (17.5.2019): 'Communist militants' among US partners in Syria, https://www.alaraby.co.uk/english/indepth/2019/5/17/communist-militants-among-us-partners-in-syria , Zugriff 14.2.2022
- Terroristische Gruppierungen: DHKP-C – Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)
DHKP-C
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die marxistisch-leninistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C), hervorgegangen aus der politisch-militärischen Organisation "Devrimci Sol" (kurz: "Dev-Sol", Revolutionäre Linke), strebt die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Türkei an, und zwar durch die gewaltsame Beseitigung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung. Dies ist laut Parteiprogramm ausschließlich durch den „bewaffneten Volkskampf“ unter der Führung der DHKP-C möglich. Zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele hält die DHKP-C an der Durchführung von Terroranschlägen in der Türkei fest. Einrichtungen des türkischen Staates bleiben dabei vorrangige Angriffsziele. Organisatorisch untergliedert sich die DHKP-C in einen politischen Arm, die „Revolutionäre Volksbefreiungspartei“ (DHKP) sowie in einen ihr nachgeordneten militärisch-propagandistischen Arm, die „Revolutionäre Volksbefreiungsfront“ (DHKC). Hauptfeinde sind die als „faschistisch“ und „oligarchisch“ bezeichnete Türkei und der „US-Imperialismus“. Es gelingt der DHKP-C derzeit nicht mehr, an die Vielzahl der terroristischen Anschläge in den Jahren 2012 bis 2016 anzuknüpfen. Die seit dem gescheiterten Militärputsch von 2016 verschärfte Sicherheitslage und die damit verbundenen umfangreichen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden schränken die Handlungsfähigkeit der DHKP-C erheblich ein. Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIBH 15.6.2021, S.272-274, 295; vgl. CEP 21.4.2020; S.7).
Die Festnahmen von vermeintlichen DHKP-C-Mitgliedern setzten sich fort. Im Februar 2021 wurde Caferi Sadık Eroğlu, laut Behörden ein hochrangiges Mitglied der Gruppe, in Istanbul festgenommen (DS 12.2.2021). Am 29.3.2021 wurden zwei weitere operative Kader-Mitglieder in Istanbul verhaftet (HDN 30.3.2021). Am 22.09.21 nahmen türkische Sicherheitskräfte bei simultanen Razzien in Istanbul acht Personen fest, denen vorgeworfen wird, Verbindungen zur DHKP-C zu unterhalten (BAMF 27.9.2021, S.16). Mitte Oktober kam es zur Verhaftung von 54 Personen, welche laut Medienberichten Terroranschläge geplant hatten (BAMF 18.10.2021, S.14; vgl. Anadolu 15.10.2021). Und Anfang Dezember 2021 wurden mindestens 25 Verdächtige in sieben Provinzen wegen angeblichen Verbindungen zur DHKP-C festgenommen (Anadolu 3.12.2021).
Die türkische Regierung verdächtigt auch die Musikgruppe "Grup Yorum", die für ihre Kritik an der Regierung von Präsident Erdoğan bekannt ist, Verbindungen zur DHKP/C zu haben. Im Jahr 2020 starben drei Bandmitglieder an den Folgen eines Hungerstreiks aus Protest gegen die Inhaftierung mehrerer Bandmitglieder, wiederholte Razzien im Kulturzentrum von Grup Yorum und gegen das Verbot von Konzerten der Band (NL-MFA 18.3.2021). Der deutsche Verfassungsschutz sieht eine eindeutige Verbindung zwischen DHKP-C und Grup Yorum. Im September 2020 wurde die „Todesfastenkampagne“ für vorläufig beendet erklärt. Die DHKP-C verklärte sie als Sieg, da einige der übrigen Teilnehmer vorläufig aus dem Gefängnis entlassen worden waren oder Hafterleichterungen erhielten. Die im Rahmen des „Todesfastens“ Verstorbenen wurden von der DHKP-C als „Märtyrer“ und Vorbilder idealisiert (BMIBH 15.6.2021, S.275).
Quellen:
- Anadolu Agency (3.12.2021): 25 suspects linked to far-left terror group DHKP-C nabbed in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/25-suspects-linked-to-far-left-terror-group-dhkp-c-nabbed-in-turkey/2437601 , Zugriff 15.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency (15.10.2021): Over 50 far-left terror suspects arrested in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/over-50-far-left-terror-suspects-arrested-in-turkey/2392752 , Zugriff 15.2.2022
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (18.10.2021): Briefing Notes KW 42/2021, Verhaftung von mutmaßlichen DHKP-C-Mitgliedern, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw42-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 15.2.2022
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (27.9.2021): Briefing Notes KW 39/2021, Verhaftung mutmaßlicher DHKP-C-Mitglieder, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw39-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 15.2.2022
- BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (15.6.2021): Verfassungsschutzbericht 2020, https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/2021/verfassungsschutzbericht-2020-startseitenmodul.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 15.2.2022
- CEP – Counter Extremism Project (3.6.2021): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/node/13523/printable/pdf , Zugriff 15.2.2022
- DS – Daily Sabah (12.2.2021) Turkish police nab wanted DHKP-C terrorist in Istanbul, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/turkish-police-nab-wanted-dhkp-c-terrorist-in-istanbul , Zugriff 15.2.2022
- HDN – Hürriyet Daily News (30.3.2021): Turkey nabs senior far-left terror members, https://www.hurriyetdailynews.com/turkey-nabs-senior-far-left-terror-members-163536 , Zugriff 15.2.2022
- NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report
- Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 15.2.2022
Terroristische Gruppierungen: sog. IS – Islamischer Staat (alias Daesh)
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei ist ein Herkunfts- und Transitland für ausländische (terroristische) Kämpfer, sogenannte "Foreign Terrorist Fighters" (FTF), die sich dem sogenannten Islamischen Staat und anderen terroristischen Gruppen anschließen wollen und in Syrien und im Irak kämpfen, bzw. auch solche, welche die beiden Länder zu verlassen trachten (USDOS 16.12.2021). Die Türkei hat den sog. Islamischen Staat (IS, ISIS, Daesh) im Jahr 2013 als terroristische Organisation eingestuft, doch wird sie seit Langem beschuldigt, als "Dschihad-Highway" zu dienen, da die türkischen Sicherheitskräfte wegschauen, wenn Tausende von ausländischen Kämpfern und türkischen Staatsbürgern illegal über die 911 Kilometer lange, durchlässige Grenze nach Syrien strömen (AM 25.8.2020). Seit 2013 war die Türkei eine führende Quelle von Rekrutierungen für den sog. IS und eine Drehscheibe für den Schmuggel von Waffen, anderen Lieferungen und Menschen über die türkisch-syrische Grenze (ICG 29.6.2020, S.1). Der sog. IS nutzt weiterhin die Türkei als logistische Drehscheibe, um Gelder in den und aus dem Irak und Syrien zu verschieben. So sammelt und schickt der sog. IS häufig Gelder an Mittelsmänner in der Türkei, die das Geld nach Syrien schmuggeln (USDOT-OIG 4.1.2021, S.3).
Aus einem geleakten Bericht des MASAK (eng.: Financial Crimes Investigation Board) einer dem türkischen Finanzministerium unterstellten Behörde, vom 8.3.2021 geht hervor, dass IS-Mitglieder mit Hilfe von in der Türkei ansässigen Unternehmen Ausrüstung und Teile zur Herstellung von Drohnen und improvisierten Sprengsätzen erworben und Wechselstuben, Juweliergeschäfte, Postämter und Banken für Geldtransfers genutzt haben. Darüber hinaus hätten einige der untersuchten IS-nahen Personen die türkische Staatsbürgerschaft angenommen. Türkische Mitglieder der Gruppe waren laut Bericht aktiv an den Bemühungen des IS beteiligt, Geld zu beschaffen, um die Flucht von Mitkämpfern und ihren Angehörigen aus dem Lager al-Hol in Nordsyrien zu unterstützen (AM 15.2.2022).
Die Türkei leistet einen aktiven Beitrag in internationalen Foren zur Terrorismusbekämpfung. Nach Angaben des Innenministeriums hat die Türkei von 2015 bis Dezember 2020 8.143 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zum Terrorismus abgeschoben, wobei die türkische "Einreiseverbotsliste" Berichten zufolge rund 100.000 Namen enthält. Öffentlichen Angaben zufolge hatten die türkischen Behörden bis Ende 2020 2.343 mutmaßliche IS-Anhänger zwecks Verhörs festgenommen und gegen 333 von ihnen Anklage erhoben (USDOS 16.12.2021). Bis April 2017 haben nach offiziellen Zählungen der Regierung etwa 2.100 Türken das Land verlassen, um mit extremistischen Gruppen zu kämpfen, meist beim sog. IS (CEP 3.6.2021, S.7). Andere, regierungsunabhängige Schätzungen gehen von einer weit höheren Zahl von 5.000 bis 9.000 aus (ICG 29.6.2020, S.1, FN 2). Es wird angenommen, dass inzwischen mehr als 600 Personen in die Türkei zurückgekehrt sind (CEP 3.6.2021, S.7).
Das Verständnis der türkischen Behörden für die IS-Gefahr hat sich weiterentwickelt. Zunächst unterschätzten sie die Bedrohung, die von Rückkehrern ausgehen könnte, und blieben 2014-2015 weitgehend zwiespältig gegenüber der Rekrutierung durch den sog. IS. Diese Wahrnehmung begann sich im Laufe des Jahres 2016 zu verlagern, insbesondere nach dem ersten IS-Angriff im Mai 2016 auf eine staatliche Institution, der Polizeizentrale in Gaziantep (ICG 29.6.2020, S.2). Laut offiziellen Angaben gab es in der Türkei bislang mindestens zehn Selbstmordattentate, sieben Bombenanschläge und vier bewaffnete Angriffe, bei denen 315 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt wurden (TurkishPress 2.11.2020). Die türkischen Behörden machen den sog. IS seit Mitte 2015 für mehrere große Terroranschläge innerhalb des Landes verantwortlich. Im Juli 2015 starben bei einem Selbstmordattentat in Suruç 32 Menschen, und im Oktober desselben Jahres kamen ebenfalls durch ein Selbstmordattentat bei einer Friedenskundgebung in Ankara 102 Menschen ums Leben. Die türkischen Behörden brachten den sog. IS auch in Verbindung mit einem Selbstmordanschlag vom August 2016 auf eine Hochzeit in Gaziantep, bei dem 57 Menschen ums Leben kamen. Der sog. IS bekannte sich zum Angriff auf den Istanbuler Nachtclub Reina am Morgen des 1.1.2017, der 39 Tote und Dutzende weitere Verletzte zur Folge hatte (CEP 3.6.2021, S.4). Seitdem haben die Sicherheitsbehörden den IS in Schach gehalten, indem sie Anschläge durch Überwachung, Verhaftung und strengere Grenzsicherung vereitelt haben. Aber die Bedrohung ist nicht völlig verschwunden, wie türkische Beamte selbst zugeben (ICG 29.6.2020; S.i; vgl. CGRS-CEDOCA 5.10.2020). Ende Jänner 2021 nahmen die türkischen Behörden bei landesweiten Operationen 126 Personen fest, die verdächtigt wurden, Verbindungen zum sog. IS zu haben oder die Gruppe zu finanzieren. Dabei wurden auch Waffen, Dokumente, Pläne für Geldüberweisungen sowie größere Geldbeträge konfisziert (Anadolu 27.1.2021). Ende Juni 2021 wurden 26 Personen mit vermeintlichen IS-Verbindungen festgenommen, der überwiegende Teil Iraker. Dies bestätigt die Befürchtungen, dass der sog. IS weiterhin die Fähigkeit besitzt, innerhalb und nahe dem türkischen Territorium zu operieren (AM 28.6.2021). Die Polizei hat im Laufe des Oktobers 2021 bei landesweiten Razzien mehr als 130 Personen mit angeblichen IS-Verbindungen festgenommen (ICG 2.2022). Anfang November 2021 wurden in Kayseri 17 (DS 2.11.2021) und Mitte Dezember 14 Personen bei Razzien in Istanbul mit vermeintlichen IS-Verbindungen festgenommen, die u.a. beschuldigt wurden, Anschläge geplant zu haben (BAMF 20.12.2021, S.12, vgl. Anadolu 16.12.2021). Kurz vor Jahresende 2021 nahm die Polizei 16 Personen fest, nachdem Demonstranten mit Stöcken und Steinen gegen Sicherheitskräfte vorgegangen waren, die versuchten, einen nicht lizenzierten religiösen Buchladen in Bingöl, einer Stadt im Südosten des Landes, zu schließen, welcher laut Gouverneursamt Aktivitäten des sog. IS in der Türkei unterstützte (Reuters 28.12.2021).
Was IS-Rückkehrer, z.B. aus Syrien, anbelangt, so werden diese, wenn überhaupt - weniger als 10% oder etwa 450 türkischen Staatsbürger der geschätzten Tausenden Rückkehrer sind inhaftiert - wegen ihrer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung für drei oder vier Jahre ins Gefängnis gesteckt. Hunderte werden demnächst entlassen. Gleichzeitig haben die staatlichen Institutionen der Türkei erst vor Kurzem damit begonnen, über sogenannte Deradikalisierungsmaßnahmen nachzudenken (ICG 29.6.2020).
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) berichtete, dass nach der Gefängnisrevolte in Ghuwayran bei Hassakah in Syrien und den anschließenden Kämpfen (Jänner 2022) einige IS-Mitglieder in die Türkei und in Gebiete unter türkischer Kontrolle im Osten und Nordosten von Aleppo geflohen seien (SOHR 6.2.2022).
Quellen:
- AM – Al Monitor (15.2.2022): Islamic State collaborators received Turkish citizenship, official report shows, https://www.al-monitor.com/originals/2022/02/islamic-state-collaborators-received-turkish-citizenship-official-report-shows , Zugriff 24.2.2022
- AM – Al Monitor (28.6.2021): Turkey arrests 26 in raids against Islamic State, https://www.al-monitor.com/originals/2021/06/turkey-arrests-26-raids-against-islamic-state , Zugriff 15.2.2022
- AM – Al Monitor (25.8.2020): Islamic State operative planning 'sensational' attack nabbed in Istanbul, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/08/turkey-islamic-state-attack-istanbul-syria-gaziantep.html , Zugriff 15.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency (16.12.2021): At least 14 Daesh/ISIS suspects caught in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/at-least-14-daesh-isis-suspects-caught-in-turkey/2448832 , Zugriff 15.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency (27.1.2021): At least 126 Daesh/ISIS suspects nabbed in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/at-least-126-daesh-isis-suspects-nabbed-in-turkey/2124900 , Zugriff 15.2.2022
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (20.12.2021): Briefing Notes, KW 51, Verhaftungen mutmaßlicher IS-Mitglieder, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw51-2021.html , Zugriff 15.2.2022
- CGRS-CEDOCA – Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons [Belgien], COI unit (5.10.2020): Turquie; Situation sécuritaire, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038786/coi_focus_turquie._situation_securitaire_20201005.pdf , Zugriff 15.2.2022
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Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Rückschritte bei den Grundfreiheiten sind schwerwiegend und die Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und ihren Institutionen hält an. Die Verschlechterung der Lage der Grundfreiheiten hat bereits vor dem infolge des Putschversuchs von 2016 verhängten Ausnahmezustands eingesetzt (EP 19.5.2021, S.7, Pt.10, 12; vgl. HRW 13.1.2022, BS 29.4.2020) und markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschen- und Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam gar zu Rückschritten (EC 19.10.2021, S.2, 21; vgl. CoEU 14.12.2021, S.16, Pt.34). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 19.10.2021, S.21, USDOS 30.3.2021, S.1, 14f.). Das Europäische Parlament sah in der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und im systemischen Mangel an der Unabhängigkeit der Justiz die zwei dringlichsten und besorgniserregendsten Probleme und verurteilte die zunehmende Kontrolle durch die Exekutive sowie den politischen Druck, durch den die Tätigkeit von Richtern, Staatsanwälten, Rechtsbeiständen und Anwaltskammern beeinträchtigt wird (EP 19.5.2021, S.9, Pt.17).
Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2021 betrafen von den 76 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 22 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 2.2022, S.11).
Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (CoEU 14.12.2021, S.16, Pt.34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 30.11.2021, S.6). Das Europäische Parlament (EP) betrachtet die aktuellen Bestimmungen zur Terrorismusbekämpfung als zu weit gefasst, sodass "der Missbrauch der Antiterrormaßnahmen zum Fundament dieser staatlichen Politik der Unterdrückung der Menschenrechte und jeglicher kritischen Stimme im Land geworden sind, unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S.9, Pt.14).
Unter anderem auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht. Das EP verurteilt "die Auslieferung [durch Drittstaaten] bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger in die Türkei aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte" (EP 19.5.2021, S.16, Pt.40). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S.44). [Siehe auch die Kapitel: Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Das Europäische Parlament forderte in seiner Entschließung vom 19.5.2021 auch eine Reform des Artikels 299 des Strafgesetzbuches (über die Beleidigung des Präsidenten), der ständig zur Verfolgung von, insbesondere Schriftstellern, Reportern, Kolumnisten und Redakteuren missbraucht wird (EP 19.5.2021, S.11, Pt.25). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021). Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (DW 9.2.2022) und 9.773 strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021). Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt. Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022).
Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 30.11.2021, S.6). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie desEGMR (bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S.10, Pt.19).
Im vom World Justice Project jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2021 auf Rang 117 von 139 Ländern (2020: Platz 107 von 128 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator verschlechterte sich von 0,43 auf 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,31 (Rang 133 von 139) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 134 von 139) sowie bei der Strafjustiz mit 0,36 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,70, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 29.10.2021).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obwohl dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020, S.6). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S.5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).
Die Ernennung Tausender loyaler Richter, die potenziellen beruflichen Kosten einer richterlichen Entscheidung in einem wichtigen Fall entgegen den Interessen der Regierung sowie die Auswirkungen der Säuberungen nach dem Putsch haben die richterliche Unabhängigkeit in der Türkei stark geschwächt (FH 3.3.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission 3.968 Richter und Staatsanwälte wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen. Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken (EC 19.10.2021, S.4f, 23f).
Die in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 festgestellten Mängel in Bezug auf die Mindeststandards für die Entlassung von Richtern sowie die rechtlichen Garantien für die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten wurden nicht behoben. Einsprüche gegen solche Versetzungen sind möglich, aber in der Regel erfolglos. Während des gesamten Jahres 2020 wurden weiterhin Richter und Staatsanwälte ohne ihre Zustimmung und ohne jegliche Rechtfertigung, abgesehen von dienstlichen Erfordernissen, versetzt. Im Mai 2021 versetzte der HSK 3.070 Richter und Staatsanwälte (EC 19.10.2021, S.23). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.8). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weitverbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020, S.6, 21). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignoierten (EC 19.10.2021, S.23).
Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze im HSK gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB 30.11.2021, S.7f; vgl. SCF 3.2021, S.46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S.46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB 30.11.2021, S.7f).
Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 30.11.2021, S.7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP 10.6.2021, S.3).
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 30.11.2021, S.8).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) [Anm.: entspricht etwa dem hiesigen Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 30.11.2021, S.6).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sonder wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurde, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden. Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium im Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 30.11.2021, S.6f). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S.24).
Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 3.6.2021), eingeführt u.a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5% seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022).
Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100% (ÖB 30.11.2021, S.7).
Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nichtbeachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte (USDOS 30.3.2021, S.16; vgl. IPI 18.11.2019), wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 30.3.2021, S.16.). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 3.6.2021).
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden (USDOS 30.3.2021, S.17). Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 30.3.2021, S.12). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (HRW 13.1.2021). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben. Da die Ermittlungen einer Geheimhaltungsanordnung unterlagen, war es den Anwälten und ihren Rechtsvertretern nicht gestattet, die Ermittlungsakten einzusehen oder Informationen über den Inhalt der Vorwürfe zu erhalten, bis ihre Mandanten im Sicherheitsdirektorat von Ankara verhört wurden, wodurch ihnen das Recht auf angemessene Zeit zur Vorbereitung einer Verteidigung verweigert wurde (AI 26.10.2020).
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 30.11.2021, S.9). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 19.10.2021, S.31).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 30.11.2021, S.9).
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB 30.11.2021, S.15).
Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war. [Siehe auch Kapitel: Politische Lage] Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen bestimmte Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).
Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen
Die mittels Präsidentendekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission [türkische Abk.: OHAL] begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB 30.11.2021, S.15). Bis zum 31.12.2021 waren 126.783 Anträge gestellt worden. Davon hat die Untersuchungskommission bis zu 120.703 bearbeitet, wobei lediglich 16.060 positiv gelöst wurden. 6.080 Fälle waren mit Jahresende 2021 noch anhängig. 61 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen und Fernsehstationen (ICSEM 31.12.2021). Die Bearbeitungsrate der Anträge gibt laut Europäischer Kommission Anlass zur Sorge, ob jeder Fall einzeln geprüft wird (EC 19.10.2021; S.20). Am 21.1.2022 wurde die Funktionsdauer der Kommission mittels Präsidentendekret um ein Jahr verlängert (Ahval 23.1.2022).
Die Beschwerdekommission steht in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder werden von der Regierung ernannt (ÖB 30.11.2021, S.15). Betroffene haben keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrecht erhalten wird, stützt sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zieht an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB 30.11.2021, S.15; vgl. EC 19.10.2021, S.20). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen (einige warten nach über einem Jahr immer noch auf eine Entscheidung) kritisiert (ÖB 30.11.2021, S.15).
Quellen:
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Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Nationale Polizei und die "Jandarma" (Gendarmerie), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten respektive in ländlichen und Grenzgebieten zuständig (AA 3.6.2021, S.7; vgl. USDOS 30.3.2021, S.1, ÖB 30.11.2021, S.16), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 30.3.2021, S.1). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei (BICC 12.2021, S.2). Die Jandarma mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.000 und 186.170 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 30.11.2021, S.16; vgl. BICC 12.2021, S.25). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 12.2021, S.17, 25). Die Verantwortung für die Jandarma wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 12.2021, S.18). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sogenannten "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen "Dorfschützer", eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten des Landes sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019). Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Jandarma, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 12.2021, S.19). Polizei, Jandarma und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (AA 3.6.2021, S.7).
Die 2008 abgeschaffte "Nachtwache" (Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BI 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen, sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (NL-MFA 18.3.2021; S.19). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum (lediglich ein 90-tägiges Training) ausgebildet sein (AA 3.6.2021, S.7; vgl. BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Hinweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Istanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 30.11.2021, S.18).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Militär, Polizei und Nachrichtendiensten sind nach wie vor sehr eingeschränkt. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung weiterhin einen erheblichen gerichtlichen und administrativen Schutz. Im Juni 2021 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, mit dem Rechtsschutz und Ausnahmen für das Militärpersonal eingeführt wurden. Mit Ausnahme der Fälle von in flagranti begangenen Straftaten unterliegt die Untersuchung von Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, einer vorherigen Genehmigung. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsbehörden ist unwirksam (EC 19.10.2021, S.15).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S.15, Pt.38).
Quellen:
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Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 3.6.2021, S.17). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 30.11.2021, S.31).
Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin (ÖB 30.11.2021, S.31). Folter und Misshandlung kommen weiterhin in Haftzentren der Polizei, Gendarmerie, des Militärs sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, beim Transport und auf der Straße vor (NL-MFA 18.3.2021, S.34; vgl. EC 19.10.2021, S.16; İHD 4.10.2021, S.11, İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann dennoch nicht die Rede sein (ÖB 30.11.2021, S.31). Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß der Folter entsprechen (İHD 4.10.2021, S.11; vgl. TİHV 6.2021, S.13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 13.1.2021, vgl. İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). In einer Entschließung vom 19.5.2021 zeigte sich auch das Europäische Parlament "zutiefst besorgt über die anhaltenden Vorwürfe von gewaltsamen Verhaftungen, Schlägen, Folter, Misshandlungen und grausamer und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Polizei- und Militärgewahrsam und in Gefängnissen sowie über Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen in den vergangenen vier Jahren, über das Versäumnis der Staatsanwaltschaft, effektive Ermittlungen zu diesen Vorwürfen aufzunehmen, und über die allgegenwärtige Kultur der Straflosigkeit für die involvierten Mitglieder der Sicherheitskräfte und Amtsträger" (EP 19.5.2021; S.15, Pt.37). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte. Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weit verbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 13.1.2022).
Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten jener Kläger, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).
Opfer von Misshandlungen und Folter haben formal die Möglichkeit, sich bei verschiedenen Stellen zu beschweren, darunter bei der Ombudspersonstelle und der Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu - HREI). Beide Behörden stehen jedoch unter der Kontrolle der Regierung und sind nicht dafür bekannt, dass sie effizient gegen Missbräuche durch Regierungsmitarbeiter vorgehen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen. Es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (NL-MFA 18.3.2021, S.34). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S.30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vgl. EC 29.5.2019).
Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).
Nach Angaben der İHD wurden im Jahr 2020 776 Menschen in offiziellen oder informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 358 weitere in den Gefängnissen. 2.980 Demonstranten wurden während rund 850 Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 4.10.2021, S.11). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S.26).
Beispiele:
Infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa wurden 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Anwälte und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der Inhaftierten in der dortigen Gendarmeriewache von Bozova Yaylak gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vgl. WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete nach Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden (SCF 19.8.2019). Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).
Quellen:
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- CoE-CPT – Council of Europe – European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (5.8.2020): Report to the Turkish Government on the visit to Turkey carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 6 to 17 May 2019 [CPT/Inf (2020) 24], https://rm.coe.int/16809f20a1 , Zugriff 21.2.2022
- CİSST – Ceza İnfaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği – Civil Society in the Penal System Association (26.3.2021): Annual Report 2019, http://cisst.org.tr/en/wp-content/uploads/2020/11/cisst_2019_annual_report_rev08-1.pdf , 21.2.2022
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- TM – Turkish Minute (16.1.2021): 3,362 people killed, 3,534 mistreated or tortured in Turkey in 2020, opposition MP says, https://www.turkishminute.com/2021/01/16/3362-people-killed-3534-mistreated-or-tortured-in-turkey-in-2020-opposition-mp-says/ , Zugriff 21.2.2022
- WE – Washington Examiner (3.6.2019): A new phase in Turkey's crackdown: Torturing diplomats, https://www.washingtonexaminer.com/opinion/op-eds/a-new-phase-in-turkeys-crackdown-as-recep-tayyip-erdogan-tortures-diplomats , Zugriff 21.2.2022
Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland
Letzte Änderung: 10.03.2022
Zu unterscheiden ist zwischen den Entführungen in der Türkei selbst und jenen türkischer Staatsbürger im Ausland, um sie in ihr Heimatland zurückzubringen. In Bezug auf Erstere bestreitet die Türkei konsequent jede Beteiligung, in Bezug auf Letztere gibt sie offen zu, diese Entführungen durchgeführt zu haben. In beiden Fällen ist der Ablauf der Ereignisse identisch: (Vermeintliche) Gegner der Regierung werden entführt und verschwinden in der Folge von der Bildfläche, einige sind bis heute vermisst (Turkey Tribunal 7.2021, S.2). Die meisten von ihnen tauchen jedoch nach ein paar Monaten, z.B. in bestimmten Polizeistationen wieder auf (Turkey Tribunal 7.2021, S.2; vgl. FR 15.2.2021, TM 10.9.2021). Offenkundig eingeschüchtert, schweigen die meisten nach ihrem Wiederauftauchen (TM 10.9.2021). Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen werden jedenfalls weiterhin vermeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht (HRW 13.1.2022).
Gemeinsame Recherchen des ZDFs und acht internationaler Medien, koordiniert von dem gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben, dass ein Entführungsprogramm existiert, bei dem der Nationale Nachrichtendienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) nach politischen Gegnern, meist Gülen-Anhängern, sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und gefoltert werden, um etwa belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vgl. Correctiv 11.12.2018, Ha'aretz 11.12.2018). Laut Menschenrechtsorganisationen und Oppositionspolitikern gab es seit 2016 Dutzende mutmaßliche Fälle von Entführungen und des „gewaltsamen Verschwindenlassens“ (EC 19.10.2021, S.31; vgl. FR 15.2.2021, AM 17.9.2021) durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen, ohne dass angemessene Ermittlungen durchgeführt wurden (EC 19.10.2021, S.31; vgl. AM 17.9.2021, NL-MFA 18.3.2021, S.35), untermauert durch Aussagen von Augenzeugen, Familienmitglieder, wieder aufgetauchten Entführten sowie vereinzelt durch Videoaufnahmen (Turkey Tribunal 7.2021, S.3; vgl. HRW 29.4.2020).
Es gibt immer noch kein umfassendes, kohärentes Konzept in Bezug auf vermisste Personen, die Exhumierung von Massengräbern oder die unabhängige Untersuchung aller mutmaßlichen Fälle von außergerichtlicher Tötung durch Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamte. Die meisten Ermittlungen in Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen aus den 1990er Jahren sind nach 20 Jahren verjährt. In den mehr als 1.400 Fällen vermisster Personen wurden nur 16 Gerichtsverfahren eingeleitet (EC 19.10.2021, S.17). Laut der "UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen" (UN Working Group against Enforced and Involuntary Disappearances - UN-WGEID) galten mit Stand 2020 von fast 250 Fällen, die seit 1980 registriert wurden, noch immer fast 90 als ungelöst (OHCHR 4.8.2021, S.12, 24). Ömer Faruk Gergerlioğlu, Menschenrechtsaktivist und Abgeordneter der pro-kurdischen HDP geht davon aus, dass seit 2016 mindestens 30 Menschen in der Türkei „verschwunden“ sind. In vielen Fällen handle es sich um ehemalige Staatsbedienstete (FR 15.2.2021; vgl. TM 10.9.2021) oder um Anhänger der Gülen-Bewegung und Kurden (AM 17.9.2021; vgl. Turkey Tribunal 7.2021, S.50, TM 10.9.2021). Einige der Entführten werden Berichten zufolge immer noch vermisst. In jüngster Zeit wurden nach Angaben der türkischen Menschenrechtsstiftung (TİHV) neben HDP-Mitgliedern auch mehrere Aktivisten marxistischer Gruppen auf ähnliche Weise verschleppt. Dies bekräftigten auch die vermeintlich entführten Mitglieder der HDP und linker Organisationen selbst (AM 17.9.2021). Fast alle Entführten gaben an, dass sie unter Druck gesetzt wurden, ihre Organisationen zu verraten. Einige gaben an, sie seien schwer gefoltert worden (AM 17.9.2021; vgl. Turkey Tribunal 7.2021, S.2). Die Entführten werden auch unter Druck gesetzt, sich nicht umfassend zu verteidigen, und gezwungen, Beschwerden über Folter und Misshandlung zurückzuziehen. Außerdem ist es ihnen untersagt, unabhängige Ärzte zu konsultieren, um ihre Verletzungen zu bescheinigen (Turkey Tribunal 7.2021, S.2). Vielfach wurden die Betroffenen wegen Spionage angeklagt (FR 15.2.2021). Trotz mehrerer Anfragen von Abgeordneten der Opposition und Journalisten hat sich bisher kein Regierungsvertreter öffentlich zu den Entführungsvorwürfen geäußert (FR 15.2.2021; vgl. AM 17.9.2021). Laut Gülseren Yoleri vom türkischen Menschenrechtsverband İHD habe letztere in allen Entführungsfällen Strafanzeige erstattet, doch all diese Fälle seien eingestellt worden. Ein Gesetz, das die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes (MİT) vor Strafverfolgung schützt, sei ein wichtiger Faktor hierbei. Wenn die Entführung eine MİT-Aktivität ist, könne die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln, so Yoleri (AM 17.9.2021). Die türkischen Behörden haben laut Human Rights Watch noch keinen einzigen Fall wirksam untersucht, sodass mehrere Familien sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt haben (HRW 29.4.2020).
Entführungen und Verschwindenlassen im Ausland
Was die Entführungen türkischer Staatsbürger aus dem Ausland betrifft, so zeigte sich die UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen zutiefst besorgt darüber, dass eine Reihe von Staaten, namentlich auch die Türkei weiterhin extra-territoriale Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit rechtfertigen. Die Situation in der Türkei sei besonders besorgniserregend, da mindestens 100 türkische Staatsangehörige aus zahlreichen Staaten in die Türkei zwangsrückgeführt worden sein sollen, weil sie im Verdacht stehen, Mitglieder einer angeblichen terroristischen Organisation zu sein oder mit ihr zu sympathisieren (OHCHR 7.8.2020, S.16). 40 von den 100 entführten Personen verschwanden unter Gewaltanwendung, meist von der Straße, oder sie wurden aus ihren Häusern und Wohnungen in der ganzen Welt entführt, in mehreren Fällen zusammen mit ihren Kindern (OHCHR 5.5.2020, S.2).
Wenn es den türkischen Behörden nicht gelingt, die Auslieferung auf legalem Wege zu erwirken, greifen sie in Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden von Drittländern, einschließlich Geheimdiensten und Polizei, auf verdeckte Operationen zurück. Dazu gehören in erster Linie rasche illegale Aktionen, um gefährdete Personen dem Schutz des Gesetzes zu entziehen und sie anschließend zu überstellen (OHCHR 5.5.2020, S.3; vgl. FH 2.2021 ,S.10). In einigen Fällen haben diese Handlungen direkt gegen gerichtliche Anordnungen gegen illegale Abschiebungen verstoßen. Angesichts des zunehmenden Drucks seitens der Türkei führen die Aufnahmestaaten eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch, gefolgt von Hausdurchsuchungen und willkürlichen Verhaftungen in verdeckten Operationen. Die Namen der Personen werden mit vorbereiteten Listen abgeglichen, bevor sie gewaltsam zu nicht gekennzeichneten Fahrzeugen gebracht werden. Sie bleiben bis zu mehreren Wochen in geheimer oder Isolationshaft verschwunden, bevor sie in die Türkei abgeschoben werden. Während dieser Zeit sind sie häufig Zwang, Folter und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, um ihre Zustimmung zu einer freiwilligen Rückkehr zu erlangen und Geständnisse zu erpressen, die bei der Ankunft in der Türkei zur Strafverfolgung dienen sollen. In dieser Phase wird den Betroffenen der Zugang zu medizinischer Versorgung und Rechtsbeistand verwehrt, und sie können die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung nicht vor einem zuständigen Gericht anfechten, sodass sie de facto außerhalb des Schutzes des Gesetzes stehen. Ihre Familienangehörigen sind über ihr Schicksal und ihren Verbleib nicht informiert. Den Zeugenaussagen zufolge haben die Opfer dieser Operationen von unverminderten Misshandlungen durch Geheimdienstmitarbeiter berichtet, die vor allem darauf abzielen, ein Geständnis zu erzwingen. Zu den gängigsten Formen der Folter gehören Nahrungs- und Schlafentzug, Schläge, Waterboarding und Elektroschocks (OHCHR 5.5.2020, S.3). Was die Entführungen außerhalb des Hoheitsgebiets betrifft, so hat die Türkei durch mehrere ihrer höchsten Vertreter, inklusive Staatspräsident Erdoğan, die Verantwortung dafür übernommen (Turkey Tribunal 7.2021, S.50; vgl. FH 2.2021, S.39f) und hierbei insbesondere die Rolle des Geheimdienstes MİT hervorgestrichen, beispielsweise anlässlich der Entführung von sechs Lehrern aus dem Kosovo (FH 2.2021, S.39f). Die Entführungen werden in der Türkei öffentlich verkündet und von den Regierungsmedien gefeiert; die Opfer werden beispielsweise in Handschellen öffentlich präsentiert, bevor sie im Kerker verschwinden (DF 22.6.2021).
Die UN-Arbeitsgruppe wiederholte 2021 ihre Besorgnis über die fortgesetzte Rechtfertigung von extra-territorialen Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit. In diesem Zusammenhang fordert die Arbeitsgruppe die türkische Regierung auf, das gewaltsame Verschwindenlassen zu unterbinden bzw. zu beenden, wie es in Artikel 2 der Erklärung über den Schutz aller Personen vor dem gewaltsamen Verschwindenlassen vorgesehen ist (OHCHR 4.8.2021, S.26).
Vergleiche hierzu auch das Kapitel zu: Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Quellen:
- AM - Al Monitor (17.9.2021): Turkish civic groups protest abductions, forced disappearances, https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkish-civic-groups-protest-abductions-forced-disappearances , Zugriff 21.2.2022
- Corrective – Recherchen für die Gesellschaft (11.12.2018): BlackSitesTurkey, https://correctiv.org/top-stories/2018/12/06/black-sites/ , Zugriff 21.2.2022
- DF – Deutschlandfunk (22.6.2021): Türkei entführt systematisch Oppositionelle aus dem Ausland, https://www.deutschlandfunk.de/der-lange-arm-ankaras-tuerkei-entfuehrt-systematisch.795.de.html?dram:article_id=499152 , Zugriff 21.2.2022
- EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 21.2.2022
- FH – Freedom House (2.2021): Out of Sight, not out of Reach: the Global Scale and Scope of Transnational Repression, https://freedomhouse.org/sites/default/files/2021-02/Complete_FH_TransnationalRepressionReport2021_rev020221.pdf , Zugriff 21.2.2022
- FR – Frankfurter Rundschau (15.2.2021): Mysteriöse Vermisstenfälle in der Türkei: Was hat Erdoğans Regierung damit zu tun?, https://www.fr.de/politik/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-vermisste-gewaltsames-verschwindenlassen-putsch-90204396.html , Zugriff 21.2.2022
- Ha'aretz (11.12.2018): Kidnapped, Escaped, and Survived to Tell the Tale: How Erdogan's Regime Tried to Make Us Disappear, https://www.haaretz.com/middle-east-news/turkey/.premium.MAGAZINE-how-erdogan-s-loyalists-try-to-make-us-disappear-1.6729331 , Zugriff 21.2.2022
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- Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 21.2.20221
- OHCHR (4.8.2021): 2021 report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, https://undocs.org/A/HRC/48/57 , Zugriff 21.2.2022 [Das Dokument ist z.Z. nicht abrufbar, eine PDF-Kopie liegt jedoch bei der Staatendokumentation.]
- OHCHR (7.8.2020): 2020 report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, https://undocs.org/A/HRC/45/13 , Zugriff 21.2.2022 [Das Dokument ist z.Z. nicht abrufbar, eine PDF-Kopie liegt jedoch bei der Staatendokumentation.]
- OHCHR (5.5.2020): Mandates of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances; the Special Rapporteur on the human rights of migrants; the Special Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism; and the Special Rapporteur on torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment [letter to the Turkish Government], (AL TUR 5/2020), https://spcommreports.ohchr.org/TMResultsBase/DownLoadPublicCommunicationFile?gId=25209 , Zugriff 21.2.2022
- TM - Turkish Minute (10.9.2021): Turkish couple in exile protests enforced disappearances in front of European rights court, https://www.turkishminute.com/2021/09/10/kishcouple-in-exile-protests-enforced-disappearances-in-front-of-european-rights-court/ , Zugriff 21.2.2022
- Turkish Tribunal [Heymans Johan] (7.2021): Abductions in Turkey Today, https://turkeytribunal.org/wp-content/uploads/2021/11/AbductionsinTurkey_Turkey-Tribunal-Report_FINAL.pdf , Zugriff 21.2.2022
- ZDF – Zweiten Deutsches Fernsehen (11.12.2018): Kidnapping im Auftrag Erdogans, https://www.zdf.de/politik/frontal-21/die-verschleppten-100.html , Zugriff 21.2.2022
Korruption
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei ist ein Vertragsstaat der UN-Konvention gegen Korruption, der OECD-Konvention gegen Bestechung, des Strafrechtsübereinkommens und des Zivilrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption. Der Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung ist in mehreren nationalen Gesetzen enthalten (DFAT 10.9.2020).
Nichtsdestotrotz ist Korruption im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet (EP 19.5.2021, S.16, Pt.43; vgl. BACP 6.2020, DFAT 10.9.2020, FH 3.3.2021). Öffentliche Aufträge und Bauprojekte sind besonders anfällig für Korruption. Häufig werden Bestechungsgelder verlangt. Das türkische Strafgesetzbuch kriminalisiert verschiedene Formen korrupter Aktivitäten, darunter aktive und passive Bestechung, Korruptionsversuche, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch (BACP 6.2020; vgl. DFAT 10.9.2020, FH 3.3.2021). Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen. Unternehmen müssen mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen (USDOS 13.3.2019).
Es bestehen keine Anzeichen für Fortschritte bei der Beseitigung der zahlreichen Lücken im türkischen Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung (EP 19.5.2021, S.16, Pt.43). Die Durchsetzung der Anti-Korruptionsgesetze ist inkonsistent. Die türkischen Anti-Korruptionsbehörden sind im Allgemeinen ineffektiv und tragen zu einer Kultur der Straflosigkeit bei (FH 3.3.2021; vgl. BACP 6.2020, USDOS 30.3.2021, S.1, 57). Offizielle Aufsichtsorgane wie der Rechnungshof und der Ombudsmann veröffentlichen Berichte oft verspätet und decken nur selten Korruptionsvorwürfe ab (DFAT 10.9.2020).
Sorge besteht hinsichtlich der Unparteilichkeit der Justiz in der Handhabe von Korruptionsfällen (USDOS 30.3.2021, S.57; vgl. BACP 6.2020). Zudem gibt es ein hohes Korruptionsrisiko im Umgang mit der Justiz selbst. Bestechungsgelder und Zahlungen als Gegenleistung für günstige Gerichtsurteile werden von den durch das Business Anti-Corruption Portal (BACP) befragten Unternehmen als recht häufig eingeschätzt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung empfindet Richter und Gerichtsvollzieher als korrupt. Politische Einflussnahme, langsame Verfahren und ein überlastetes Gerichtssystem stellen ein hohes Risiko für Korruption in der türkischen Justiz dar. Korruption in der türkischen Polizei ist ein mittelgradiges Risiko (BACP 6.2020).
Laut Europäischer Kommission macht die Korruptionsbekämpfung keine Fortschritte. Dem Land fehle es nach wie vor an präventiv agierenden Antikorruptionsbehörden. Die Mängel des gesetzlichen Rahmens und der institutionellen Architektur ermöglichten eine ungebührliche politische Einflussnahme in der Ermittlungs- und Verfolgungsphase von Korruptionsfällen. Rechenschaftspflicht und Transparenz der öffentlichen Institutionen müssen, so die Kommission, verbessert werden. Das Fehlen einer Antikorruptionsstrategie und eines Aktionsplans deute auf den mangelnden politischen Willen hin, Korruption entschieden zu bekämpfen. Insgesamt ist Korruption weit verbreitet. Die meisten Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) des Europarates wurden noch nicht umgesetzt (EC 19.10.2021, S.5, 25). GRECO bemängelte insbesondere, dass innert zehn Jahren nur eine von neun Empfehlungen in Bezug auf die Transparenz der politischen Finanzierung, auch im Zusammenhang mit Wahlen, umgesetzt wurde (CoE-GRECO 18.3.2021).
Die seit dem Putschversuch 2016 durchgeführten Säuberungen haben die Möglichkeiten für Korruption angesichts der massiven Enteignung von betroffenen Unternehmen und NGOs stark erhöht. Milliarden von Dollar an beschlagnahmten Vermögenswerten werden von staatlich bestellten Treuhändern verwaltet, was die engen Beziehungen zwischen der Regierung und befreundeten Unternehmen weiter stärkt (FH 3.3.2021).
Die Schattenwirtschaft bleibt eine zentrale Herausforderung für die Türkei (EC 19.10.2021, S.95). Die Schattenwirtschaft soll in den letzten Jahren enorm expandiert sein. Der Anstieg der illegalen Einnahmen stammt nicht nur aus dem Untergrundsektor wie Prostitution, Drogenhandel und Kraftstoffschmuggel, sondern auch aus der Einflussnahme durch Bestechung bei öffentlichen Ausschreibungen und Schmiergeldzahlungen ausländischer Unternehmen, die in der Türkei Geschäfte machen wollen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 ist der Fluss illegaler Gelder um einen weiteren Aspekt erweitert worden. Im Rahmen der Säuberungsaktionen wurden Unternehmen, die sich im Besitz von Gülenisten befanden, beschlagnahmt und dann verkauft, meist an AKP-Kumpane. Wie sich später herausstellte, zahlten viele Geschäftsleute, denen Verbindungen zu den Gülenisten nachgesagt wurden, hohe Bestechungsgelder, um einer Untersuchung oder einem Prozess zu entgehen (AM 21.5.2021).
Die Regierung bestraft Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Fälle gegen Regierungsbeamte eingeleitet haben, und behauptet, dass erstere dies auf Veranlassung der Gülen-Bewegung taten. Journalisten, denen vorgeworfen wird, die Korruptionsvorwürfe veröffentlicht zu haben, werden ebenfalls strafrechtlich verfolgt. Gerichte und der Oberste Radio- und Fernsehrat (RTUK) blockierten regelmäßig den Zugang zu Presseberichten über Korruptionsvorwürfe (USDOS 30.3.2021, S.57f.).
Transparency International reihte die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 2021 mit einem Punktewert von 38 von 100 (bester Wert) auf Platz 96 von 180 untersuchten Ländern und Territorien ein (TI 25.1.2022), was einer Verschlechterung, verglichen zum Vorjahr, um zehn Ränge bzw. zwei Basispunkte entsprach (TI 2021).
Quellen:
- AM - Al Monitor (21.5.2021): Erdogan in hot spot as Turks question 'mafiazation' of politics, https://www.al-monitor.com/originals/2021/05/erdogan-hot-spot-turks-question-mafiazation-politics , Zugriff 21.2.2022
- BACP – GAN-Business Anti-Corruption Portal (6.2020): Turkey Country Profile, Business Corruption in Turkey, https://www.ganintegrity.com/portal/country-profiles/turkey/ , Zugriff 5.11.2020
- CoE-GRECO – Council of Europe – Group of States Against Corruption (18.3.2021): Third Evaluation Round, Second Addendum to the Second Compliance Report on Turkey - "Incriminations (ETS 173 and 191, GPC 2)", "Transparency of Party Funding" [GrecoRC3 (2020)5], https://rm.coe.int/third-evaluation-round-second-addendum-to-the-second-compliance-report/1680a1cac1 , Zugriff 21.2.2022
- DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 21.2.2022
- EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 21.2.2022
- EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 21.2.2022
- FH – Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046544.html , Zugriff 21.2.2022
- TI – Transparency International (25.1.2022): Corruption Perceptions Index 2021, https://www.transparency.org/en/countries/turkey , Zugriff 21.2.2022
- TI – Transparency International (2021): Corruption Perceptions Index 2020, https://www.transparency.org/en/cpi/2020/index/tur , Zugriff 21.2.2022
- USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 21.2.2022
- USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 21.2.2022
Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
Letzte Änderung: 10.03.2022
Zivilgesellschaftliche Organisationen stehen im Mittelpunkt des Demokratisierungsprozesses in der Türkei. Mit Stand Oktober 2021 gab es über 121.920 Vereine und 5.906 Stiftungen sowie zahlreiche informelle Organisationen wie Plattformen, Initiativen und Gruppen. Ihre Arbeitsbereiche konzentrieren sich vor allem auf gesellschaftliche Solidarität, soziale Dienste, Bildung, Gesundheit und verschiedene Rechtsthemen (ICNL 20.11.2021).
Infolge des Ausnahmezustands und der Anti-Terror-Maßnahmen der türkischen Regierung gerieten mehrere Aktivisten jedoch zunehmend unter Druck, unter anderem wurden sie festgenommen und inhaftiert. Vor allem jene NGOs, die ausländische Gelder erhalten, laufen Gefahr, der Spionage und Kollaboration mit ausländischen Feinden beschuldigt zu werden (BS 29.4.2020). Menschenrechtsverteidiger, etwa der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" (İHD) sowie zivilgesellschaftliche Akteure werden in der Türkei seit langem von Regierungsvertretern und regierungsnahen Medien als Verfechter ausländischer Interessen porträtiert, welche eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen und/oder die Ziele "terroristischer Organisationen" fördern (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, S.11). Im Juli 2020, beispielsweise, verurteilte ein Gericht vier Menschenrechtsverteidiger, darunter den ehemaligen Vorsitzenden von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation (FH 3.3.2021). Durch Notverordnungen wurden rund 1.400 bis 1.500 Vereinigungen ohne jeden Rechtsbehelf geschlossen (BS 29.4.2020; vgl. AA 3.6.2021, S.7, FH 3.3.2021) und deren Vermögen beschlagnahmt. Die NGOs arbeiten zu Themen wie Folter, häusliche Gewalt und Hilfe für Flüchtlinge und Binnenvertriebene. NGO-Führungskräfte sehen sich regelmäßig Schikanen, Verhaftungen und strafrechtlichen Verfolgungen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit ausgesetzt (FH 3.3.2021). Im kurdisch geprägten Südosten des Landes sind die Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen durch vermehrt ausgeübten Druck staatlicher Stellen noch wesentlich stärker eingeschränkt als im Rest des Landes (AA 3.6.2021, S.7).
Trotz dieses gravierenden Rückschritts sind zivilgesellschaftliche Organisationen nach wie vor aktiv. Es ist jedoch offensichtlich, dass regierungsnahe Organisationen eine größere Rolle übernehmen und sichtbarer sind (BS 29.4.2020). Menschenrechtsorganisationen, beispielsweise solche, die sich für Frauen- und Kinderrechte einsetzen, werden gegenüber regierungsnahen Organisationen benachteiligt. Zahlreiche NGOs mit Schwerpunkt auf Menschenrechten berichten, dass sie nicht in den Genuss öffentlicher Förderungen kommen. Sie sehen sich auch bürokratischen Hürden bei der Spendensammlung und der Finanzierung durch EU-Gelder ausgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.30). Im zunehmend repressiven politischen Umfeld verhindern die rechtlichen, politischen, finanziellen und administrativen Belastungen, die den zivilgesellschaftlichen Organisationen auferlegt werden, die Entwicklung einer lebendigen Zivilgesellschaft (BS 29.4.2020). Laut offiziellen Zahlen waren mit Stand Juli 2021 von allen eingetragenen Vereinigungen nur 1,22% (1.488 Vereinigungen) in den Bereichen Menschenrechte und Anwaltschaft aktiv (ICNL 20.11.2021).
Obwohl die verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Türkei mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) übereinstimmen, weist der Rechtsrahmen noch zahlreiche Unvereinbarkeiten mit internationalen Standards auf. Darüber hinaus bestehen trotz der verbesserten Gesetzgebung zu Vereinen und Stiftungen in den Jahren 2004 bzw. 2008 weiterhin Herausforderungen und Zwänge, insbesondere im Hinblick auf die Sekundärgesetzgebung und deren Umsetzung. Tatsächlich wurden seit 2008 keine weitreichenden Reformen durchgeführt. Eine Gesetzesänderung vom März 2020 verlangt die Registrierung aller Mitglieder einer Vereinigung unter Angabe personenbezogener Daten, sowie auch die Verständigung über einen Ausschluss oder Ausscheiden der Person binnen 30 Tagen (ICNL 20.11.2021).
Menschenrechtsorganisationen können wie andere Vereinigungen gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch wie alle Vereine nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet. Einige Menschenrechtsorganisationen und ihre Mitglieder sind (Ermittlungs-)Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt (AA 3.6.2021; S.6). Allgemein fehlen transparente und objektive Kriterien und Verfahren in Bezug auf die öffentliche Finanzierung, die Konsultation von und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie für deren Inspektion und Überprüfung (CoE-CommDH 19.2.2020).
Am 27.12.2020 wurde ein Gesetz verabschiedet, das angeblich der Bekämpfung der Terrorfinanzierung dienen soll. Dieses erlaubt dem Innenministerium, NGOs ohne Gerichtsbeschluss jährlich zu inspizieren und Mitglieder von Vereinen zu ersetzen, wenn gegen sie wegen Terrorismus ermittelt wird. Per Gerichtsbeschluss können Aktivitäten eines Vereins suspendiert und der Zugang zu Online-Spendenaktionen, so keine Genehmigung vorliegt, gesperrt werden (AP 27.12.2020, vgl. DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Das Innenministerium und die Provinz-Gouverneure sind außerdem befugt, die Spendensammlungen der NGOs zu überwachen und Strafen für nicht genehmigte Kampagnen zu verhängen (EC 19.10.2021, S.36). Dem Innenminister und den Provinzgouverneuren werden weitreichende Kompetenzen bei der Kontrolle von NGOs eingeräumt. Der Innenminister kann durch Verwaltungsentscheidung ohne vorhergehende Gerichtsverfahren die Tätigkeiten von NGOs suspendieren sowie Vereinsorgane ihrer Funktion entheben und durch Treuhänder ersetzen, wenn der Verdacht bestimmter Verbrechen vorliegt (ÖB 30.11.2021, S.30). Darüber hinaus werden alle Vereinigungen und Stiftungen verpflichtet, das Ministerium über Spenden aus dem Ausland zu informieren. Vor Verabschiedung des Gesetzes gaben 694 unabhängige Organisationen der Zivilgesellschaft eine Erklärung gegen den Gesetzentwurf ab. Selbst mehrere AKP-nahe Vereine und -Stiftungen führten ebenfalls eine Kampagne gegen das Gesetz. Nach der Verabschiedung des Gesetzes sahen sich viele NGOs mit Prüfungen durch das Ministerium konfrontiert, insbesondere diejenigen, die ausländische Mittel erhalten (EC 19.10.2021, S.36). Das Strafausmaß gegen Gesetzesverstöße wurde drastisch von einst maximal 700 auf bis zu 200.000 Lira erhöht (Independent 27.12.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff 21.2.2022
- AP – Associated Press (27.12.2020):Turkish lawmakers pass bill monitoring civil society groups, https://apnews.com/article/turkey-recep-tayyip-erdogan-terrorism-bills-europe-d4e48ebdbba76911dc6fb2a94b201ffd , Zugriff 2.2.2021
- BS – Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028926/country_report_2020_TUR.pdf Zugriff 21.2.2022
- CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 21.2.2022
- DW – Deutsche Welle (27.12.2020): Umstrittenes NGO-Gesetz in der Türkei beschlossen, https://www.dw.com/de/umstrittenes-ngo-gesetz-in-der-t%C3%BCrkei-beschlossen/a-56068756 , Zugriff 21.2.2022
- EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 21.2.2022
- FIDH/ OMCT/ İHD - International Federation for Human Rights/ World Organisation Against Torture/ İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (5.2021): TURKEY PART II - Turkey’s Civil Society on the Line: A Shrinking Space for Freedom of Association, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2021/05/OBS-%C4%B0HD-TURKEY.pdf , Zugriff 7.2.2022
- FH – Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046544.html , Zugriff 21.2.2022
- ICNL – The International Center for Not-for-Profit-Law (20.11.2021): Civic Freedom Monitor: Turkey, https://www.icnl.org/resources/civic-freedom-monitor/turkey#resources , Zugriff 4.2.2022
- Independent (27.12.2020): Turkish human rights groups face being shut down as Erdogan passes law stifling NGOs, https://www.independent.co.uk/news/world/europe/turkey-oversight-law-ngos-b1779231.html , Zugriff 21.2.2022
- NZZ – Neue Zürcher Zeitung (30.12.2020): Neues Gesetz alarmiert türkische Zivilgesellschaft, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-neues-gesetz-alarmiert-die-zivilgesellschaft-ld.1594276 , Zugriff 21.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 4.2.2022
Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Seit 2012 verfügt die Türkei über das Amt einer Ombudsperson (Kamu Denetçiliği Kurumu/ Ombudsmanlık), das organisatorisch beim türkischen Parlament verortet ist. Gemäß Eigendefinition besteht die Hauptaufgabe des Amtes der Ombudsperson darin, sich für Einzelpersonen gegenüber der Verwaltung einzusetzen sowie die Menschenrechte zu schützen und zu fördern. Explizit außerhalb der Zuständigkeit des Organs sind Handlungen, die die Ausübung der gesetzgebenden und justiziellen Gewalt betreffen, sowie die Handlungen der türkischen Streitkräfte, die rein militärischer Natur sind (OI o.D.).
Trotz des Anstiegs der Fallzahlen blieb die Institution bei politisch heiklen Fragen, die die Grundrechte betreffen, stumm. Die Ombudsperson ist immer noch nicht befugt, von Amts wegen Untersuchungen einzuleiten und in Fällen mit Rechtsbehelfen zu intervenieren (EC 19.10.2021, S.12). Die Ombudsperson behandelt lediglich Beschwerden hinsichtlich des Vorgehens der öffentlichen Verwaltung (EC 19.10.2021, S.29), insbesondere bei Menschenrechtsproblemen und Personalfragen. Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten fallen allerdings nicht in ihren Zuständigkeitsbereich (USDOS 30.3.2021, S.60).
Die 2012 gegründete Menschenrechtsinstitution der Türkei (Insan Hakları Kurumu) wurde 2016 durch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (Human Rights and Equality Institution of Turkey - HREI; Insan Hakları ve Eşitlik Kurumu) ersetzt. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Ihr kommt die Rolle des "Nationalen Präventionsmechanismus" gemäß OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor (AA 3.6.2021, S.7). Einige HREI-Mitglieder zeigten eine negative Haltung gegenüber den grundlegenden Menschenrechten, einschließlich der Gleichstellung der Geschlechter, der Rechte der Frauen und der Rechte von sexuellen Minderheiten. Zudem sprachen sie sich für den Austritt aus der Istanbul-Konvention aus. All dies widerspricht den erklärten Zielen dieser Institution (EC 19.10.2021, S.29).
Weder die Ombudsperson noch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung sind operativ, strukturell oder finanziell unabhängig. Ihre Mitglieder sind nicht nach den Pariser Prinzipien akkreditiert. Bislang hat die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung keine Akkreditierung bei der globalen Allianz für nationale Menschenrechtsinstitutionen beantragt und sie entspricht nicht der Empfehlung der Europäischen Kommission hinsichtlich der Standards für Gleichbehandlungsstellen. Beide Institutionen zeigten sich hinsichtlich ihrer Effektivität bei der Behandlung von Anträgen als begrenzt (EC 19.10.2021, S.29).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 14.6.2021
- EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 3.11.2021
- OI - Ombudsman Institution of the Republic of Turkey (o.D.): About The Institution, https://www.ombudsman.gov.tr/English/about-the-institution , Zugriff 7.2.2022
- USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 2.4.2021
Wehrdienst
Letzte Änderung: 10.03.2022
In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen.
[…]
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 10.03.2022
Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam zu weiteren Rückschritten, vor allem in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Verfahrensrechte, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 19.10.2021, S.18, 21, 28, 31, 36, 40). Viele Menschenrechtsverletzungen werden zudem nicht geahndet und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen (ÖB 30.11.2021, S.30). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021; vgl. EC 19.10.2021, S.4, 13). Sie "und ihre Organisationen sind bei ihren Tätigkeiten anhaltendem Druck ausgesetzt und arbeiten in einem zunehmend schwierigen Umfeld" (EU-Rat 14.12.2021, S.16, Pt.34). Menschenrechtsverteidiger sehen sich zunehmendem Druck durch Einschüchterung, gerichtliche Verfolgung, gewalttätige Angriffe, Drohungen, Überwachung, längere willkürliche Inhaftierung und Misshandlung ausgesetzt (EC 19.10.2021, S.29f). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (EU-Rat 14.12.2021, S.16, Pt.34).
Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 19.10.2021, S.5). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 3.6.2021, S.16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S.10).
Das harte Durchgreifen gegen tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende wurde trotz des Endes des zweijährigen Ausnahmezustands fortgesetzt. Tausende Menschen werden in langer Untersuchungshaft mit Sanktionscharakter festgehalten, oft ohne glaubwürdige Beweise dafür, dass sie eine völkerrechtlich anerkannte Straftat begangen hatten. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Personen, die als kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung gelten – vor allem Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger – werden inhaftiert oder mit erfundenen Anklagen konfrontiert. Die Behörden verbieten auch weiterhin willkürlich Demonstrationen und wenden bei der Auflösung friedlicher Protestaktionen unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an. Es gibt glaubwürdige Berichte über Folter und Verschwindenlassen (AI 7.4.2021).
Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen werden weiterhin gemeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht. Hiervon sind vor allem mutmaßliche Mitglieder der Gülenbewegung betroffen (HRW 13.1.2022; vgl. ÖB 30.11.2021, S.31).
Eine Reihe negativer Entwicklungen, insbesondere die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen, haben einen abschreckenden Effekt erzeugt und zu einem zunehmend feindseligen Umfeld für Menschenrechtsverteidiger beigetragen. Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020).
Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlamanets vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach "die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen" (EP 19.5.2021, S.17, Pt.45).
Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z.B. Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 30.11.2021, S.30) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen im großen Umfang hält an. Neben Tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen [siehe Kapitel Gülen- oder Hizmet-Bewegung], befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021).
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S.20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert. Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S.16f). Der Europarat setzte der Türkei im Dezember 2021 eine Frist, Kavala bis 19.1.2022 freizulassen oder eine Begründung für seine Inhaftierung vorzulegen. Ein Gericht in Istanbul lehnte dem zum Trotz die Enthaftung Kavalas ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den EGMR mit der Frage zu befassen (CoE 3.12.2021), verwies dieses nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE 3.2.2022).
Mit Stand 30.11.2021 waren 14.950 Verfahren beim EGMR aus der Türkei, das waren 21,4% aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 30.11.2021), was neuerlich eine Steigerung zum Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutete, als mit Stand 30.11.2020 11.150 Verfahren aus der Türkei, das waren damals 18,1% aller am EGMR anhängigen Fälle, stammten (ECHR 30.11.2020). Im Jahr 2020 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 104) Verletzungen der EMRK fest (EC 19.10.2021, S.28). Hiervon betrafen 31 Urteile das Recht auf freie Meinungsäußerung, 21 Urteile das Recht auf ein faires Verfahren und 16 das Recht auf Freiheit und Sicherheit (ECHR 17.2.2021).
Quellen:
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- AA – Auswärtiges Amt [Deutschaland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 28.2.2022
- AI – Amnesty International (7.4.2021): Türkei 2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048610.html , Zugriff 28.2.2022
- CoE - Council of Europe (3.2.2022): Committee of Ministers refers Kavala v. Turkey case to the European Court of Human Rights, https://www.coe.int/en/web/portal/-/committee-of-ministers-refers-kavala-v-turkey-case-to-the-european-court-of-human-rights , 28.2.2022
- CoE - Council of Europe (3.12.2021): Implementing ECHR judgments: Council of Europe ministers serve formal notice on Turkey in the Kavala case [Ref. DC 224(2021)], https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=0900001680a4c19d , Zugriff 21.1.2022
- CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 28.2.2022
- DW - Deutsche Welle (17.1.2022): Türkei ignoriert Frist zur Freilassung von Kavala, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-ignoriert-frist-zur-freilassung-von-kavala/a-60455412 , Zugriff 21.1.2022
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- ECHR – European Court of Human Rights (30.11.2021): Pending Applications Allocated To A Judicial Formation 30/11/2021, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2021_BIL.PDF , Zugriff 21.1.2022
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- EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 28.2.2022
- EP - European Parliament (21.1.2021): Human rights situation in Turkey, in particular the case of Selahattin Demirtaş and other prisoners of conscience [(2021/2506(RSP)], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0028_EN.pdf , Zugriff 28.2.2022
- EU-Rat - Rat der Europäischen Union (14.12.2021): Schlussfolgerungen des Rates zur Erweiterung sowie zum Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess [15033/21], https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-15033-2021-INIT/de/pdf , Zugriff 21.1.2022
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- HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043511.html , Zugriff 7.2.2022
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Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die gesamte traditionelle Medienlandschaft, vom Fernsehen über das Radio bis hin zu den Printmedien, steht unter mehr oder weniger direkter Kontrolle der Regierung (EJO 5.8.2020; vlg. ÖB 30.11.2021, S.33). Der Druck auf unabhängige Medienorganisationen ist in den vergangenen Jahren immer größer geworden (DW 4.5.2021; vgl. FH 2.2022, D1). Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK), eine Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk, wurde zu einem Überwachungs- und Kontrollinstrument umfunktioniert. Lizenzen und Genehmigungen, die von Medien beantragt werden, müssen vom RTÜK abgesegnet werden (DW 4.5.2021). Die Mitglieder des RTÜK werden vom Parlament ernannt und sind fast ausschließlich Mitglieder der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) oder ihres politischen Verbündeten, der ultra-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) (FH 3.3.2021). Im Jahr 2021 verhängte der RTÜK insgesamt 71 Bußgelder, die sich alle gegen fünf kritische Fernsehsender richteten, während regierungsfreundliche Medien keine Strafen erhielten. Seit 2019 müssen auch Online-Videoproduzenten eine RTÜK-Lizenz erhalten, um in der Türkei zu senden (FH 2.2022, D1). Das Europäische Parlament zeigte sich "zutiefst besorgt über die mangelnde Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von öffentlichen Einrichtungen wie dem Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) und der staatlichen Werbeagentur (BİK), die als Instrument benutzt werden, um als regierungskritisch geltende Medien willkürlich auszusetzen, zu verbieten, mit Geldstrafen zu belegen oder durch die Auferlegung finanzieller Bürden in ihrer Arbeit zu behindern, was ihr eine fast vollständige Kontrolle der Massenmedien ermöglicht" (EP 19.5.2021, S.12, Pt.27; vgl. ÖB 30.11.2021, S.33).
In den letzten zehn Jahren haben Präsident Erdoğans Familie und Verbündete aus der Privatwirtschaft mehr als 90% der türkischen Nachrichtensender und Zeitungen erworben und kontrolliert (MDC 15.6.2020; vgl. FH 2.2022, D1). Diese Kontrolle verschafft Erdoğan einen entscheidenden Vorteil bei der Gestaltung des öffentlichen Diskurses zu seinen Gunsten. Die beiden meistverkauften Zeitungen, Sabah und Hürriyet, sind mittlerweile im Besitz von regierungsfreundlichen Medienmogulen (MDC 15.6.2020). Die wichtigsten Printmedien und Fernsehsender werden weitgehend von staatlichen Holdinggesellschaften kontrolliert, die wiederum unter massivem Einfluss der regierenden AKP stehen (USDOS 30.3.2021, S.30). Die Mainstream-Medien, insbesondere die Fernsehsender, spiegeln die Positionen der Regierung wider und bringen routinemäßig identische Schlagzeilen. Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Websites weiterhin tätig sind, stehen sie unter enormem politischen Druck, werden routinemäßig strafrechtlich verfolgt (FH 2.2022, D1; vgl. HRW 13.1.2022, BS 29.4.2020) oder deren Inhalte werden entfernt, insbesondere bei Nachrichten, die sich kritisch über hochrangige Regierungsmitglieder und Mitglieder der Familie von Präsident Erdoğan äußern, oder die nach dem äußerst restriktiven Anti-Terror-Gesetz als strafbar gelten (HRW 13.1.2022). Der Druck auf Journalisten dauert an. Sie sehen sich Einschüchterungen, Festnahmen, Anklagen und Entlassungen ausgesetzt. Auch werden immer wieder gewaltsame Übergriffe gegen Journalisten verzeichnet, welche jedoch oftmals nicht geahndet werden (ÖB 30.11.2021, S.33). Human Rights Watch zählte Anfang 2022 58 Journalisten und Medienmitarbeiter, welche wegen ihrer journalistischen Arbeit in Untersuchungshaft waren oder Strafen wegen Terrorismusdelikten verbüßten (HRW 13.1.2022).
Während die Regierung 90% der nationalen Medien mit Hilfe von Regulierungsbehörden wie dem RTÜK kontrolliert, wenden der Pressewerberat (BİK), der staatliche Werbeaufträge vergibt, und die Präsidialdirektion für Kommunikation (CIB), die Presseausweise ausstellt, eindeutig diskriminierende Praktiken an, um die Medienkritiker des Regimes zu marginalisieren und zu kriminalisieren (RSF 4.2021). Von Dezember 2018 bis Dezember 2020 wurden z.B. 1.239 Pressekarten türkischer Journalisten annulliert. Ausländische Journalisten, die jährlich eine neue Pressekarte beantragen müssen, warten zum Teil mehrere Monate auf deren Ausstellung (ÖB 30.11.2021, S.34).
In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko zivil- oder strafrechtlicher Klagen bzw. Ermittlungen in Kauf zu nehmen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Personen ein, die bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten wohlwollend gegenüberstehen. Sich zu heiklen Themen oder in regierungskritischer Weise zu äußern, zieht mitunter Ermittlungen, Geldstrafen, strafrechtliche Anklagen, Arbeitsplatzverlust und Haftstrafen nach sich. Auf regierungskritische Äußerungen reagiert die Regierung häufig mit Strafanzeigen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, Terrorismus oder sonstiger Gefährdung des Staates. Die Regierung hat Hunderte von Personen wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verurteilt und bestraft. Laut einer Umfrage von MetroPOLL im Juli 2020 betrachteten 62% die Medien des Landes als "nicht frei" (USDOS 30.3.2021, S.28f.). Im Jahr 2020 betrafen laut Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allein 31 von insgesamt 97 Fällen von Verletzungen der EMRK durch die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung (ECHR 17.2.2021).
Die Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit sind Ausfluss des weit ausgelegten Terrorismusbegriffs in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelner Artikel des türkischen Strafgesetzbuches (ÖB 30.11.2021, S.32). Die geltenden Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten und zum Strafgesetzbuch behindern die freie Meinungsäußerung und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards (EC 19.10.2021, S.33). Problematisch ist die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs durch die Gerichte. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.6.2021, S.9f.). Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) gab es keine Fortschritte bei der Auslegung der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung, welche nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) übereinstimmt (PACE 22.4.2021, S.3).
Politisch motivierte Gerichtsverfahren gegen Journalisten und Medienschaffende, wie z. B. der Fall der Journalistin Melis Alphan, die wegen Verbreitung terroristischer Propaganda angeklagt wurde und mit bis zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis rechnen muss, halten an (EP 21.1.2021). Die unverhältnismäßige Umsetzung der restriktiven Maßnahmen wirkt sich weiterhin negativ auf die freie Meinungsäußerung und die Verbreitung der Stimmen der Opposition aus. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen nach wie vor gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und andere internationale Standards und weichen von der Rechtsprechung des EGMR ab. Strafverfahren und Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Anwälten, Schriftstellern und Nutzern sozialer Medien finden nach wie vor statt (EC 19.10.2021, S.5, 32; vgl. PACE 3.1.2020). Laut Media and Law Studies Association (MLSA) ist in der zweiten Jahreshälfte 2020 die Zahl der Beschuldigten, die sich in Untersuchungshaft befanden, deutlich zurückgegangen. Allerdings wurden Journalisten weiterhin wegen ihrer Berichterstattung oder Beiträgen in den sozialen Medien nach dem Anti-Terrorgesetz angeklagt. Im erwähnten Zeitraum machten Anklagen im Zusammenhang mit Terrorismus 46% der Fälle gegen Journalisten aus, während Anklagen wegen "Beleidigung des Präsidenten" 10% umfassten. In 71 der 74 beobachteten Fälle, die unter das Anti-Terrorgesetz fielen, wurden Medienberichte der Angeklagten als Beweismittel für die vermeintliche Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder terroristische Propaganda angeführt (MLSA 7.9.2021, S.4). Dem BIA Media Monitor 2021 Report des unabhängigen Nachrichtenportals Bianet zufolge wurden 35 Journalisten in der Türkei im Jahr 2021 zu insgesamt 92 Jahren Gefängnis verurteilt (BI 25.1.2022). Die Türkei verbesserte sich lediglich um einen Rang im World Press Freedom Index 2021 im Vergleich zum Vorjahr [1. Rang = bester Rang], den Platz 153 von 180 Ländern belegend (RSF 4.2021).
Der EGMR hat am 13.4.2021 im Sinne zweier prominenter Journalisten, Ahmet Altan und Murat Aksoy, entschieden, dass deren Inhaftierung unter anderem einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Sicherheit darstelle, und die Türkei beiden Männern eine Entschädigung zahlen müsse, denn in beiden Fällen habe es keine konkreten Beweise für die zur Last gelegten Straftaten gegeben (DW 13.4.2021; vgl. ECHR 13.4.2021). Das Gericht stellte im Falle Aksoy, der nach dem Putschversuch wegen angeblicher Verbindung zur Gülen-Bewegung bis 2017 - bzw. neuerlich bis Jänner 2019 - in Haft saß, fest, dass es keine plausiblen Gründe für die Inhaftierung gegeben hätte. Altan wurde hingegen wegen Unterstützung des Putschversuches zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach einem Freispruch durch das Oberste Berufungsgericht (Kassationsgericht) wurde er 2019 wegen "Unterstützung einer Terrorgruppe" zu zehneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (DW 13.4.2021; vgl. bianet 13.4.2021). Der EGMR stellte in seinem Urteil fest, dass kein "hinreichender Verdacht" vorlag, dass Altan vom Putschversuch im Vorhinein wusste, weshalb dessen Inhaftierung unbegründet war (DW 13.4.2021; vgl. ECHR 13.4.2021). Bereits tagsdarauf, am 14.4.2021 wurde Altan freigelassen, da das Kassationsgericht die bestehende Verurteilung mit der Begründung aufhob, dass Artikel 220/7 des Strafgesetzbuches, der eine Strafminderung vorsieht, ignoriert wurde bzw. die bereits verbüßte Haft ausreiche (Duvar 14.4.2021; vgl. SDZ 14.4.2021). Zudem hätte es für die Altan zur Last gelegten Straftaten wie Terrorunterstützung keine Beweise gegeben (DW 14.4.2021).
Im Oktober 2019 führte die Justizreformstrategie zu einer geringfügigen Einengung der Definition terroristischer Propaganda und zu einer Ausweitung des Rechts auf Berufung für diejenigen, die zu einer Haftstrafe von weniger als fünf Jahren verurteilt wurden. Trotzdem wird die überarbeitete Definition von terroristischer Propaganda weiterhin zur Kriminalisierung und strafrechtlichen Verfolgung von Journalisten verwendet. Entgegen klarer Bestimmungen hinsichtlich der Dauer einer Untersuchungshaft werden Journalisten weiterhin willkürlich verhaftet und monatelang eingesperrt (IPI 30.11.2020).
Aufgrund ihrer Berichterstattung werden Journalisten, meist aus den pro-kurdischen Medien, der Beleidigung des Präsidenten und der Nation, der Gefährdung der nationalen Sicherheit und in den letzten Jahren mehr denn je der Propaganda, der Kollaboration mit oder der Zugehörigkeit zu terroristischen Organisationen beschuldigt (EJO 5.8.2020). Selbstzensur ist weit verbreitet aus Angst, dass die Kritik an der Regierung zu Vergeltungsmaßnahmen führen könnte (USDOS 30.3.2021, S.28; vgl. EJO 5.8.2020). Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen, da deren journalistische Tätigkeiten als Terrorismus-bezogene Vergehen gewertet wurden (HRW 13.1.2022; vgl. IPI 30.11.2020). Hinzukommt meist ein Reiseverbot (IPI 30.11.2020). Journalisten, die für kurdische Medien in der Türkei arbeiten, werden weiterhin unverhältnismäßig stark ins Visier genommen. Eine kritische Berichterstattung aus dem Südosten des Landes ist stark eingeschränkt (HRW 14.1.2020). Einige Personen, die in der linken oder kurdischen Politik aktiv sind, berichteten, dass sie von Sicherheitskräften in Zivil entführt und an unbekannten Orten für kürzere Zeit festgehalten wurden (HRW 13.1.2022). Mehr als ein Jahr vor dem Prozess im Gefängnis zu verbringen, ist die neue Norm, und lange Gefängnisstrafen sind üblich, in einigen Fällen bis zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer Begnadigung (RSF 2020). Beweise zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft und terroristischer Anschuldigungen bestehen in erster Linie aus Produkten journalistischer Arbeit, einschließlich veröffentlichter Artikel und Fotos, Kontakten zu Quellen, Social Media-Posts oder TV-Auftritten (SCF 3.1.2022; vgl. IPI 18.11.2019).
Journalisten, welche vormalige Aktionen der Regierung, die angeblich der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staat dienten - z.B. Waffenlieferungen nach Syrien - oder Missstände bei den Sicherheitskräften untersuchen, werden systematisch der "Spionage", der "terroristischen Propaganda", der "Diffamierung" des Justizsystems oder der Sicherheitskräfte oder sogar des "Angriffs auf einen Anti-Terror-Agenten" beschuldigt (RSF 15.6.2021). Im Allgemeinen kann öffentliche Kritik an Themen, die für die Regierung sensibel sind, strafrechtlich verfolgt werden. Journalisten, die z.B. über die militärischen Aktivitäten der Türkei in Syrien oder Libyen berichteten, wurden einer Reihe von Verbrechen angeklagt, darunter Verstöße gegen das Geheimhaltungsgesetz oder das Schüren von Hass (IPI 30.11.2020). Auch die Kritik an der Wirtschaftspolitik kann zur Verhaftung führen. Am 12.12.2021 wurden drei Youtube-Journalisten in der türkischen Provinz Antalya verhaftet, nachdem sie Passanten auf der Straße zu deren Meinung zur Wirtschaftskrise in der Türkei interviewt hatten. Bei Razzien in ihren Wohnungen wurden Mobiltelefone und Computer beschlagnahmt. Den festgenommenen Personen wird vorgeworfen, „den Staat und die Regierung zu verunglimpfen“. Sie wurden zwischenzeitlich wieder freigelassen, jedoch unter Hausarrest gestellt (BAMF 20.12.2021, S.12; vgl. Independent 13.12.2021).
Am 8.4.2021 hob das türkische Verfassungsgericht einen Artikel eines Regierungsdekrets auf, das nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 erlassen wurde und zur Schließung von Dutzenden von Medienhäusern führte. Die Begründung hierfür und die anschließende Beschlagnahmung des Eigentums war die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" (PACE 22.4.2021, S.4; vgl. CCRT 8.4.2021, TM 8.4.2021). Unbenommen der rechtlich möglichen Einschränkungen der Grundfreiheiten während des Ausnahmezustandes sah das Verfassungsgericht infolge der Beendigung des letzteren, die verfassungsmäßig garantierten grundlegenden Freiheiten ab diesem Zeitpunkt als verletzt an (CCRT 8.4.2021). Das Urteil könnte laut Aussagen von Juristen für mehr als zehn Medien positive rechtliche Konsequenzen haben, nicht jedoch für jene Medienhäuser, denen meist ein Naheverhältnis zur Gülen-Bewegung unterstellt wurde, die namentlich im Dekret genannt werden (TM 8.4.2021).
Soziale Medien
Die Internetfreiheit in der Türkei hat weiter abgenommen. Hunderte von Websites wurden gesperrt, in einigen Fällen aufgrund eines neuen Gesetzes über soziale Medien. Online-Inhalte, die als kritisch gegenüber der regierenden AKP oder Präsident Erdoğan angesehen wurden, wurden von Webseiten und Social-Media-Plattformen entfernt. Online-Aktivisten, Journalisten und Social-Media-Nutzer wurden sowohl physisch als auch online wegen ihrer Social-Media-Beiträge schikaniert. Staatlich geförderte Medien und die Manipulation von Inhalten sozialer Medien durch die Regierung haben sich negativ auf die Online-Informationslandschaft ausgewirkt. Insbesondere die Medienberichterstattung über die kurdisch besiedelte südöstliche Region wird stark von der Regierung beeinflusst (FH 21.9.2021, B5). Die Sperrung und Löschung von Online-Inhalten ohne gerichtliche Anordnung aus einer unangemessen breiten Palette von Gründen, die sich auf das Internetgesetz und den allgemeinen Rechtsrahmen stützen, wurde fortgesetzt. Die derzeitige Gesetzgebung zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten sowie das Strafgesetzbuch behindern die Meinungsfreiheit und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards (EC 19.10.2021, S.32f). Das Europäische Parlament brachte im Jänner 2021 seine ernste Besorgnis über die Überwachung von Social-Media-Plattformen zum Ausdruck und verurteilte die Schließung von Social Media-Konten durch die türkischen Behörden. Es betrachtete dies als eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit und als ein Instrument zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft (EP 21.1.2021). Freedom House sah die Türkei 2021 nur mehr bei 34 von 100 möglichen Punkten hinsichtlich der Freiheit im Internet (FH 21.9.2021).
Staatspräsident Erdogan bezeichnete im Dezember 2021 die sozialen Medien als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie und verkündete, dass die Regierung eine Gesetzgebung plane, um die Verbreitung von Fake News und Desinformationen im Internet zu kriminalisieren. Kritiker jedoch sahen die vorgeschlagenen Änderungen als Verschärfung der Einschränkung der Meinungsfreiheit (AP 11.12.2021; vgl. AM 13.12.2021).
Am 1.10.2020 trat in der Türkei das Gesetz Nr. 7253 über die Beschränkung von sozialen Medien in Kraft. Es zwingt Betreiber von Plattformen mit mehr als einer Million Nutzer täglich, mindestens einen Repräsentanten in der Türkei zu ernennen. Dieser muss türkischer Staatsbürger sein und seine Daten müssen auf der Webseite angegeben sein. Bei Nicht-Einhaltung der Vorgaben drohen Geldstrafen, Bandbreitenreduktion oder auch Verbot von Werbeanzeigen. Bei Anträgen von Einzelnen betreffend die Entfernung von Inhalten oder Zugriffsblockierung wegen Verletzungen der Privatsphäre muss der Provider dem Antragsteller innerhalb von längstens 48 Stunden antworten, andernfalls kann die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie eine Strafe von fünf Mio. Lira verhängen. Das Gesetz fordert, dass Unternehmen alle Daten türkischer Kunden in der Türkei speichern müssen (ÖB 30.11.2021, S. 32). Als Verstoß gegen das Gesetz zählen zum Beispiel die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, die Förderung des Terrorismus sowie Gewalt, die Störung der öffentlichen Ordnung, Fluchen sowie der Missbrauch von Frauen und Kindern (FNS 25.11.2020). Die betroffenen Online-Plattformen sind gezwungen, Berichte an die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) über ihre Reaktion auf Anfragen von Verwaltungs- oder Justizbehörden hinsichtlich Zensur oder Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten zu senden. Auf Anordnung eines Richters oder der BTK wird die Union der Zugangsanbieter (ESB) auch verpflichtet sein, Internet-Hosts oder Suchmaschinen anzuweisen, Entscheidungen über Zugangssperren innerhalb von vier Stunden unter Androhung einer Verwaltungsstrafe zu vollstrecken. Empfindliche Geldstrafen drohen auch, wenn die Internet-Plattformen Benutzerdaten nicht speichern (RSF 1.10.2020). Trotz durchaus begrüßenswerter Bestimmungen zum Schutz persönlicher Rechte ist zu befürchten, dass - vor allem angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz - durch das neue Gesetz die Regierung die Kontrolle über die Medienlandschaft weiter ausbauen und die Möglichkeiten zur Meinungsäußerung reduzieren wird. Kritik in sozialen Medien soll eingeschränkt und die Identität von anonymen Nutzern schnell ausfindig gemacht werden können (ÖB 30.11.2021, S.32). Bereits einen Monat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen wurden jeweils 10 Millionen Lira (1,17 Mio. US-Dollar) an Bußgeldern gegen Social Media-Giganten wie Facebook, Twitter, Instagram, TikTok und YouTube verhängt, weil sie gegen das Gesetz verstoßen hatten (TM 4.11.2020), gefolgt von einer erneuten Strafe im Ausmaß von 30 Mio. Lira, weil die Firmen immer noch keinen offiziellen Repräsentanten, wie vom Gesetz verlangt, ernannt hatten (BI 11.12.2020).
Klagen gegen Internetzensur vor dem Verfassungsgericht werden meist zugunsten der Kläger entschieden, jedoch fällt das Verfassungsgericht jährlich nur wenige Urteile. Darüber hinaus besteht das Problem darin, dass der vom Verfassungsgericht entwickelte prinzipielle Ansatz im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit von den Friedensrichtern in Strafsachen in deren Rechtssprechung ignoriert wird. Diese verhängen Sperren regelmäßig so, als ob das Verfassungsgericht kein Urteil zu irgendeiner Praxis in dieser Angelegenheit erlassen hätte (IFÖD 10.2021, S.101-104).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Anlässlich der Corona-Krise hat die Regierung versucht, die öffentliche Debatte über das Virus zu kontrollieren. Dies ging so weit, dass Personen wegen kritischer, laut Regierung "grundloser und provokativer" Beiträge in den sozialen Medien verhaftet wurden (AM 24.3.2020). So teilte das türkische Innenministerium am 21.5.2020 mit, dass in den 65 Tagen zuvor 510 Personen wegen „haltloser“ und „provokativer“ Beiträge im Netz betreffend COVID-19 festgenommen worden wären. 10.111 Social Media Accounts wären überprüft, und dabei 1.105 Verdächtige identifiziert worden. Von diesen wären wiederum 510 festgenommen worden (ÖB 30.11.2021, S.32). Zu den Betroffenen gehörten auch Mediziner, die in ihren Beiträgen die Bürger über grundlegende Gesundheitsvorkehrungen informierten, und vor der Unzulänglichkeit staatlich empfohlener Maßnahmen warnten (POMED 17.4.2020).
Der Ausbruch des Coronavirus in der Türkei veranschaulichte den Anstieg des öffentlichen Misstrauens gegenüber den Medien als auch die Fragmentierung hinsichtlich des Weges, wie die Bürger ihre Informationen beziehen. Viele Türken, die an der Integrität der traditionellen Medien zweifeln, haben die rosige Berichterstattung über die Reaktion der Türkei auf die Pandemie mit Skepsis betrachtet und sich stattdessen den sozialen Medien zugewandt (CAP 10.6.2020).
Im Herbst 2020 standen medizinische Vereinigungen, wie die Türkische Ärztekammer (TTB), im Schussfeld der Kritik seitens der Staatsspitze, da sie die Maßnahmen der Regierung zur Bewältigung der Corona-Krise ebenso kritisierten, wie etwa die mangelnde Daten-Transparenz des Gesundheitsministeriums. Mitte Oktober 2020 verlangte Staatspräsident Erdoğan den Einfluss der Ärztekammer und anderer Berufsverbände gesetzlich einzuschränken, da diese seiner Meinung nach in einem unerträglichen Ausmaß gegen die Verfassung handelten. Überdies warf der Staatspräsident der Spitze der Ärztekammer die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor. Der Vorsitzende der ultra-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Regierungspartner der AKP, Davlet Bahçeli, beschuldigte die Ärztekammer, "den Terrorismus zu preisen" (AM 15.10.2020; vgl. BI 14.10.2020).
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Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Allerdings bestehen für viele verfassungsmäßige Rechte Ausnahmen, nämlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit (DFAT 10.9.2020, S.16, 27; vgl. AA 3.6.2021), der öffentlichen Moral oder der Verbrechensverhütung Versammlungen zu verbieten, ohne die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen nachzuweisen. Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).
Im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es weitere gravierende Rückschritte angesichts wiederholter Verbote, unverhältnismäßiger Eingriffe und übermäßiger Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Bußgelder und strafrechtlicher Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf terrorismusbezogener Aktivitäten. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung stehen nicht im Einklang mit der türkischen Verfassung, den europäischen Standards und den internationalen Konventionen (EC 19.10.2021, S.5). Infolgedessen haben viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).
Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt, sodass mittlerweile auch bekanntermaßen friedliche Kundgebungen mit langer Tradition verboten werden. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB 30.11.2021, S.34; vgl. EC 19.10.2021, S.16, 37). Die seit langem bestehenden Versammlungsverbote im Südosten des Landes blieben auch 2020 in Kraft. Das ganze Jahr 2020 über haben die Gouverneure von Van, Tunceli, Muş, Hâkkari und mehreren anderen Provinzen öffentliche Proteste, Demonstrationen, Versammlungen jeglicher Art und die Verteilung von Broschüren verboten (USDOS 30.3.2021, S.42). Im Jahr 2020 wurden 253 Mal pauschale und 115 Mal gezielte Versammlungsverbote verhängt (EC 19.10.2021, S.37).
In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 3.6.2021, S.9). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, werden regierungskritische Versammlungen routinemäßig verboten. Die Stadt Ankara schränkte 2021 Feierlichkeiten zum 1. Mai ebenso ein wie Studentenproteste (FH 2.2022, E1). Versammlungen von linken und gewerkschaftlichen Gruppen, Proteste von Opfern staatlicher Säuberungen, Parteiversammlungen der Opposition wurden ebenso verboten wie Demonstrationen oder Festivitäten von Kurden (FH 3.3.2021, E1; vgl. BS 29.4.2020). Einschränkungen der Versammlungsfreiheit betreffen nicht selten Frauen und besonders vulnerable Gruppen wie LGBTI-Personen und Minderheiten (ÖB 30.11.2021, S.34; vgl. FH 2.2022, E1). Auch Proteste für politische und sozio-ökonomische Rechte wurden in mehreren Provinzen immer wieder verboten. Demonstrationen entlassener Beamter, die ihre Wiedereinstellung forderten, und von Arbeitnehmern, die für ihre Gesundheitsrechte demonstrierten, wurden unterbunden (EC 19.10.2021, S.36). Demonstrationen von Umweltaktivisten oder solche, welche die militärischen Interventionen der Türkei in Syrien zum Thema hatten, sowie Proteste gegen die Absetzung von Bürgermeistern meist der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) bzw. die Ernennung von Regierungssachwaltern an deren Stelle, wurden von den Behörden aus Sicherheitsgründen verboten (EC 6.10.2020, S.37).
Nach den vom Justizministerium veröffentlichten offiziellen Zahlen wurden 2020 Ermittlungen gegen 6.770 Personen wegen Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Kundgebungen eingeleitet, während gegen 3.171 dieser Personen Strafanzeige erstattet wurde (İHD 4.10.2021, S.28). Unabhängigen Angaben zufolge nahmen die Behörden bei mindestens 320 friedlichen Versammlungen mindestens 2.123 Demonstranten wegen des Verdachts der "Aufstachelung zum Hass", des "Verstoßes gegen das Demonstrationsgesetz" und des "Widerstands gegen polizeiliche Anordnungen" fest (EC 19.10.2021, S.34).
Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei auch, Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in "Schutzhaft" zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 30.3.2021, S.40).
Am 30.4.2021 erließ das Innenministerium ein Verbot der Sprach- und Filmaufnahme von Polizeibeamten während Protesten und Demonstrationen. Verstöße gegen das Verbot sollten künftig strafrechtlich geahndet werden (BAMF 3.5.2021, S.12; vgl. BI 30.4.2021). Allerdings entschied der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] am 15.12.2021 infolge einer Klage der Media and Law Studies Association (MLSA), dass der Vollzug des Rundschreibens auszusetzen sei, weil dieses die Informations- und Pressefreiheit einschränke. Der Staatsrat wies in seinem Urteil darauf hin, dass Einschränkungen der Grundrechte nur in vom Gesetzgeber vorgesehenen Fällen verhängt werden können. Außerdem verstoße das Rundschreiben gegen Artikel 7 der türkischen Verfassung, nach dem jegliche Handlungen verboten sind, die keine Grundlage in der Verfassung haben, sowie gegen Artikel 13, der die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger schützt (FNS 1.2.2022).
Die extensive Auslegung des unklar formulierten Art. 220 des Strafgesetzbuches hinsichtlich krimineller Vereinigungen durch den Kassationsgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Teilnehmer müssen, auch bei Demonstrationen im Ausland, mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen (AA 3.6.2021).
Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies war das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020, S.37). In einem weiteren Fall urteile das Verfassungsgericht am 8.9.2021, dass das vom Gouverneursamt verhängte Verbot aller Proteste in der südöstlichen Stadt Kahramanmaraş das verfassungsmäßige Recht der Kläger auf Versammlung und Demonstration verletzt habe. Das Verfassungsgericht ordnete zudem eine Schadensersatzzahlung an jeden der vier Kläger an, welche eine Klage beim Verfassungsgericht einbrachten, nachdem andere Rechtsmittel nicht dazu geführt hatten, dass die Entscheidung des Gouverneursamtes von Kahramanmaraş, alle Proteste in der Stadt für einen Monat zu verbieten und anschließend viermal zu verlängern, aufgehoben wurde (BAMF 13.9.2021, S.16f; vgl. TM 8.9.2021).
Ein türkisches Gericht in der östlichen Provinz Erzincan hat im Oktober 2021 15 Angeklagte zu insgesamt 93 Jahren und 10 Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie an den massiven regierungsfeindlichen Demonstrationen von 2013, den sogenannten Gezi-Protesten, teilgenommen hatten. Die Angeklagten bekamen Haftstrafen zwischen sechs Jahren und acht Monaten und zweieinhalb Jahren wegen der Teilnahme an einer illegalen Demonstration, Widerstand gegen einen diensthabenden Polizeibeamten und Beschädigung öffentlichen Eigentums (Ahval 27.10.2021)
[Anm.: Zum Thema Versammlungsfreiheit siehe auch die Kapitel "Frauen" sowie "Sexuelle Minderheiten"]
Vereinigungsfreiheit
Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte (USDOS 30.3.2021, S.42).
Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020, S.15; vgl. USDOS 30.3.2021, S.44). Diese Gesetzesänderung verpflichtet die Vereine, die lokalen Verwaltungsbehörden innerhalb von 30 Tagen über Änderungen in der Mitgliedschaft zu informieren, sonst drohen Strafen (USDOS 30.3.2021, S.44).
Gesetze und Verordnungen erlegen Vereinigungen zahlreiche administrative Anforderungen auf. Komplexe Bestimmungen, die unterschiedlich ausgelegt werden können und über verschiedene Rechtsvorschriften verstreut sind, sowie der Mangel an Fachleuten, die sich mit diesem Bereich befassen, führen dazu, dass Vereinigungen in ihrem Bemühen um die Einhaltung der Gesetze in einem Zustand der Unsicherheit verharren. Die Vereinigungen unterliegen der Prüfung durch mehrere Behörden, darunter das Finanzamt, die Nationale Bildungsdirektion, die zuständigen Gouvernements sowie die Direktion für Zivilgesellschaft, zuständig für Vereinigungen im Innenministerium sowie die Generaldirektion für Stiftungen im Kulturministerium (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, S.26).
Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarates stellte in ihrem 2020 veröffentlichten Bericht zu ihrem Besuch der Türkei 2019 fest, dass die völlige Schließung einer großen Zahl von NGOs sowie die Liquidation ihres Vermögens durch Notverordnungen, und zwar durch eine einfache Entscheidung der Exekutive ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Kontrolle, ein besonderes Vermächtnis des Ausnahmezustands war. Trotz des dringenden Aufrufs bereits des vormaligen Kommissars gleich zu Beginn des Ausnahmezustands, diese Praxis unverzüglich zu beenden, schlossen die Behörden, ohne Erklärung oder Begründung, 1.410 Vereine, 109 Stiftungen und 19 Gewerkschaften (CoE-CommDH 19.2.2020). Laut Bericht der Berufungskommission zum Ausnahmezustand [türk. OHAL] waren mit Jahresende 2020 von 1.598 Vereinigungen, welche durch die Notstandsdekrete aufgelöst wurden, 188 wieder zugelassen worden. Von den 129 aufgelösten Stiftungen waren 20 rehabilitiert, während keine der 19 Gewerkschaften und 23 Föderationen bzw. Konföderationen wieder zugelassen wurde (ICSEM 31.12.2021b, S.9 Tab.). Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verlaufen intransparent und bleiben unwirksam (USDOS 30.3.2021, S.42).
Gewerkschaftsaktivitäten, einschließlich des Streikrechts, sind gesetzlich und in der Praxis eingeschränkt. Gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten der Arbeitgeber sind weit verbreitet, und der gesetzliche Schutz wird nur unzureichend durchgesetzt. Gewerkschaften und Berufsverbände haben unter Massenverhaftungen und Entlassungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand 2016-18 und dem allgemeinen Zusammenbruch der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gelitten (FH 2.2022, E3; vgl. EP 19.5.2021, S.19, Pt.53).
Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 30.3.2021, S.42).
Siehe auch Kapitel: Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Pandemie-bedingte Regeln zur sozialen Abstandsregelung sind oft selektiv angewandt worden, um die Auflösung von nicht genehmigten Demonstrationen im Jahr 2020 zu rechtfertigen (FH 3.3.2021; vgl. USDOS 30.3.2021, S.41). So haben, unter dem Vorwand von Covid-19, Provinzgouverneure friedliche Proteste von Frauenrechtsaktivisten, Studenten, Arbeitern, Oppositionsparteien, und Vertretern sexueller Minderheiten verboten (HRW 13.1.2022).
Quellen:
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- Ahval (27.10.2021): Eight-year-long Gezi trial ends in 93 year sentence for 15 defendants, https://ahvalnews.com/gezi-protests/eight-year-long-gezi-trial-ends-93-year-sentence-15-defendants , Zugriff 1.3.2022
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- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (3.5.2021): Briefing Notes KW 18, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw18-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 1.3.2022
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Opposition
Letzte Änderung: 10.03.2022
Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein, dazu gehören die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer und Funktionäre. Dies geschieht auch durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt. Restriktive Verordnungen der Regierung beeinträchtigen die Möglichkeit vieler Oppositioneller, politische Aktivitäten durchzuführen, wie z.B. das Organisieren von Protesten oder Veranstaltungen für politische Kampagnen und die Verbreitung kritischer Botschaften in den sozialen Medien (USDOS 30.3.2021, S.53).
Während die Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind, haben auch andere Oppositionsführer politisch motivierte Verfolgung und gewalttätige Angriffe erlebt. Auch Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP) wurden verhaftet und aus dem Parlament verwiesen, und deren Parteivorsitzender wurde bei Kundgebungen tätlich angegriffen. Im August 2021 wurde die Vorsitzende der İyi-Partei, Meral Akşener, während einer politischen Kundgebung in Sivas attackiert (FH 2.2022, B1). Die Justiz geht auch systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben (EC 19.10.2021, S.11; vgl. BI 1.2.2022). Am 4.1.2021 hat das Büro des Parlamentspräsidenten 40 neue Verfahren zur Aufhebung der Immunität von 28 Oppositionsabgeordneten eingeleitet, davon allein 26 HDP-Parlamentarier (einer hiervon aus den Reihen der regionalen Schwesterpartei DBP), inklusive der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan (Duvar 4.1.2022; vgl. HDN 4.1.2022).
Die Regierung hat die Suspendierungen demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, fortgesetzt, und diese durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses Vorgehen richtet sich am häufigsten gegen Politiker und Politikerinnen der HDP und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) (USDOS 30.3.2021, S.53). Laut Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister (zusammengerechnet in den beiden Perioden nach den Lokalwahlen 2014 und 2019), fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020). 48 HDP-Bürgermeister wurden seit den letzten Lokalwahlen 2019 wegen angeblicher terrorismusbezogener Aktivitäten ihres Amtes enthoben. Außerdem wurde ein Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) in der Region Izmir wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung abberufen (EC 19.10.2021, S.13).
Fallweise werden auch andere (parlamentarische) Oppositionsparteien - als jene der HDP - sowie deren Vertreter in die Nähe des Terrorismus gerückt und mitunter verfolgt. So bezeichnete Staatspräsident Erdoğan am 5.11.2021 in einer öffentlichen Rede sowohl die größte Oppositionspartei CHP und ihren Vorsitzenden Kılıçdaroğlu als auch die rechts-konservative oppositionelle İYİ-Partei als Unterstützer der PKK (Duvar 5.11.2021). Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, wurde im September 2019 zu fast zehn Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 3.3.2021), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017. Kaftancıoğlu kann während ihres zweiten Berufungsverfahrens auf freiem Fuß bleiben (ZO 23.6.2020; vgl. FH 3.3.2021). Allerdings wurde gegen sie im Dezember 2020 eine weitere Anklage wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und wegen des "Lobens einer Straftat und eines Verbrechers" erhoben (Duvar 14.12.2020). Das Europäische Parlament sah die Anklagen gegen Canan Kaftancıoğlu als politisch motiviert an (EP 21.1.2021).
Vorgehen gegen die HDP
Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş, als Terrorist (TM 25.11.2020) und Anfang November 2021 als Marionette der PKK (Ahval 6.11.2021). Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Dazu beigetragen hat, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) geäußert hatten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen erstere systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI 3.2.2020).
Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah", stellen, auch unter Berufung auf Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Vertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar (DS 8.12.2021; vgl. DS 24.1.2021). Während des Wahlkampfes zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 präsentierten laut Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nationale Fernsehsender die HDP und ihren inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Demirtaş überwiegend in einem negativen Ton, wobei oft beide mit einer terroristischen Organisation gleichgesetzt wurden (OSCE 21.9.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 1.10.2019, S.69).
Laut Angaben der HDP waren seit 2015 mehr als 10.000 HDP-Mitglieder inhaftiert. Einige Tausend HDP-Mitglieder wurden freigelassen, nachdem sie - manchmal jahrelang - hinter Gittern saßen, dennoch befinden sich immer noch mehr als 4.000 HDP-Mitglieder, darunter Abgeordnete und Ko-Bürgermeister, im Gefängnis (HDP 18.5.2021; vgl. EC 19.10.2021, S.11). Außerdem leben Tausende HDP-Mitglieder im Ausland, darunter Abgeordnete und ehemalige Ko-Bürgermeister, die nach HDP-Angaben vor politisch motivierten Haftbefehlen der AKP-nahen Justiz fliehen mussten (HDP 18.5.2021).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität vor Strafverfolgung aufgehoben hatte. Der Beschluss zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 40 Abgeordneten der HDP (im Mai 2016), darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, verstößt laut EGMR gegen die türkische Verfassung (BI 1.2.2022; vgl. Evrensel 2.2.2022). Schon zuvor verlangte das Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 die unverzügliche Freilassung von Demirtaş (CoE-CM 2.12.2021). Auch das Europäische Parlament (EP) forderte 2021 mehrmals auf Basis des EGMR-Urteils das Fallenlassen aller Anklagepunkte und die sofortige Freilassung sowohl von Demirtaş als auch von Yüksekdağ sowie auch anderer HDP-Mitglieder, die sich seit November 2016 in Haft befinden (EP 21.1.2021; vgl. EP 19.5.2021, S.13, Pt.33). Zudem verurteilte das EP die Entscheidung des 46. Strafgerichtshofs erster Instanz in Istanbul, Selahattin Demirtaş zur maximalen Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren für die angebliche Beleidigung des Präsidenten zu bestrafen (EP 19.5.2021, S.13, Pt.33). Dieses Urteil wurde im Februar 2022 durch ein Gericht in Istanbul bekräftigt (Duvar 21.2.2022).
HDP-Mitglieder sehen sich mit dem Vorgehen seitens der türkischen Behörden gegen sie konfrontiert. Dazu gehören auch nächtliche Razzien am Wohnort u.a. durch maskierte Anti-Terror-Spezialeinheiten. Auch Angehörige von HDP-Mitgliedern, die selbst nicht formell der HDP angehören, werden von den türkischen Behörden misstrauisch beäugt, was in Folge zu diversen Problemen führen kann. Zum Beispiel können Angehörigen von HDP-Mitgliedern bestimmte Dienstleistungen verweigert werden, wie zum Beispiel ein Kredit, eine Baugenehmigung oder eine Subvention. Es kann auch vorkommen, dass der Passantrag eines Angehörigen eines HDP-Mitglieds absichtlich verzögert wird, und in einigen Fällen können Angehörige von HDP-Mitgliedern ihren Arbeitsplatz verlieren, nur weil ihr Verwandter für die HDP aktiv ist (NL-MFA 18.3.2021, S. 51f.). Laut dem Direktor einer türkischen Organisation mit Sitz im Vereinigten Königreich sind Angehörige von HDP-Mitgliedern gefährdet, wenn sie sich für das Gerichtsverfahren ihres Verwandten interessieren, sich in den sozialen Medien politisch äußern oder an politischen Kundgebungen teilnehmen. Handelt es sich um ein HDP-Mitglied mit hohem Bekanntheitsgrad, nehmen die Behörden zuerst das schwächste Familienmitglied ins Visier, um dann, wenn nötig, zu einem anderen Familienmitglied überzugehen. Ist das HDP-Mitglied unauffällig, kann versucht werden, einen Verwandten zu zwingen, ein Informant für die Behörden zu werden; weigert er sich, wird er mitunter inhaftiert oder ist physischer Gewalt ausgesetzt. Ein Menschenrechtsanwalt bestätigte das behördliche Vorgehen, wonach Familienmitglieder von Menschen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, ins Visier genommen werden. Und so die Polizei die gesuchte Person nicht findet, nimmt sie ein anderes Familienmitglied mit. Dies war während des Notstands sehr häufig der Fall. Die Familien wurden telefonisch bedroht und ihre Häuser wurden durchsucht (UKHO 1.10.2019, S.20).
Bei den letzten Lokalwahlen Ende März 2019 wurden im ersten Fall HDP-Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl zunächst als gültig erklärt worden war (CoE 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 3.6.2021, S.8). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismus-bedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE 19.6.2020; vgl. AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019).
Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vgl. DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt (Bianet 9.3.2020), ehe er Ende September 2021 vom Vorwurf der "Propaganda für eine Terrororganisation" freigesprochen wurde (Bianet 30.9.2021). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer groß angelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in den drei besagten und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakır gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppeln vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AM 21.1.2020).
In Folge setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDP-Bürgermeistern ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (ZO 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP Mitte Mai 2020 wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt (Duvar 19.5.2020). Im Juli 2020 wurden mehr als 50 Personen in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, wurden Verbindungen zur PKK vorgeworfen (AM 14.7.2020). Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobane einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobane zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet (FAZ 27.9.2020; vgl. HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellt), im Zusammenhang mit den Kobane-Protesten 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vgl. SDZ 7.1.2021). Ende Februar 2022 fand die zehnte Anhörung statt (Bianet 28.2.2022).
Mitte Februar 2021 wurden als Reaktion auf die vermeintliche Exekution von 13 PKK-Geiseln während einer Operation der türkischen Armee im Nordirak über 700, darunter führende Vertreter der HDP festgenommen (DW 15.2.2021; vgl. Duvar 15.2.2021). Laut Angaben der HDP wurden mindestens 139 ihrer Funktionäre und Mitglieder in diversen Provinzen verhaftet (HDP 17.2.2021). Vertreter der Regierung stellten hierbei die HDP als Unterstützerin der PKK dar (National 15.2.2021). Im Februar 2021 wurde die 2019 aus ihrem Amt enthobene Ko-Bürgermeisterin von Sur in der Provinz Diyarbakır, Filiz Buluttekin, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt (Ahval 22.2.2021). Die EU zeigte sich in einer Stellungnahme vom 23.2.2021 zutiefst besorgt ob des anhaltenden Drucks gegen die HDP und mehrere ihrer Mitglieder, der sich in letzter Zeit in Form von Verhaftungen, dem Ersetzen gewählter Bürgermeister, offensichtlich politisch motivierten Gerichtsverfahren und dem Versuch der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Großen Nationalversammlung manifestiert hat. Hinzukommt die Weigerung, dem Urteil des EGMR zur Freilassung von Selahattin Demirtaş nachzukommen (EU 23.2.2021). Nichtsdestotrotz verurteilte ein Strafgericht in Van im Oktober 2021 den ehemaligen kurdischen HDP-Bürgermeister des Bezirks Özalp, Yakup Almaç, wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis (WKI 12.10.2021; vgl. KN 12.10.2021). Im Dezember 2021 wurden laut dem HDP-Bürgermeister von Cizre zwölf HDP-Mitglieder bzw. -Anhänger bei einer Polizeiaktion in Cizre und Silopi (Provinz Şırnak) im Südosten des Landes verhaftet (Rudaw 11.12.2021). In diesem Zusammenhang soll es laut Angaben des HDP-Parlamentsabgeordneten, Hüseyin Kaçmaz, zu vermehrten Festnahmen gekommen sein. Laut Berichten pro-kurdischer Medien sollen innerhalb von drei Monaten bis Jänner 2022 in der Provinz Şırnak 160 HDP-Anhänger festgenommenen und hiervon 67 inhaftiert (bzw. 93 wieder freigelassen) worden sein, und zwar meist auf der Basis anonymer Anzeigen meist im Vorfeld von lokalen HDP-Kongressen (Mezopotamya 21.1.2022).
Am 14.9.2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der unrechtmäßigen Amtsenthebung und Inhaftierung des Bürgermeisters von Siirt, Tuncer Bakırhan, zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 10.000 EUR und einer Aufwandsentschädigung von 3.000 EUR. Das Gericht erklärte die Amtsenthebung und Verhaftung im November 2016 sei unverhältnismäßig gewesen und eine Verletzung seiner Freiheit (Art. 5 EMRK) und seines Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK). Bakırhan, ein Mitglied der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), der Vorgängerin der HDP, wurde beschuldigt, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzugehören, und saß zwei Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft. Im Oktober 2019 wurde er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt (ECHR 14.9.2021; vgl. BAMF 20.9.2021, S.14f).
Siehe auch das Kapitel: Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Verbotsverfahren gegen die HDP
Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichts, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB 18.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). Der amtierende Generalstaatsanwalt wurde erst 2020 von Staatspräsident Erdoğan ernannt (SWP 10.6.2021; S.3). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u.a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Qandil-Bergen im Nordirak ansässige PKK-Führung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDP-Mitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AM 9.4.2021). Der Generalstaatsanwalt beantragte den Ausschluss von jeglicher staatlicher finanzieller Unterstützung (DS 18.3.2021) und die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus forderte er ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDP-Mitglieder. Darunter befinden sich Abgeordnete und Mitglieder des Vorstands (DW 20.3.2021; vgl. Duvar 18.3.2021).
In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (Reuters 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB 18.3.2021). Die EU erklärte, dass die Schließung der zweitgrößten Oppositionspartei die Rechte von Millionen von Wählern in der Türkei verletzen würde. Zudem verstärke dies die Besorgnis der EU über den Rückschritt bei den Grundrechten in der Türkei und untergrübe die Glaubwürdigkeit des erklärten Engagements der türkischen Behörden für Reformen (EU 18.3.2021).
Nachdem das Verfassungsgericht am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (ZO 31.3.2021; vgl. AM 9.4.2021) verwiesen hatte, erfolgte am 7.6.2021 ein neuer Antrag zwecks Verbot der HDP, der Konfiszierung der Bankkonten der Partei sowie zwecks eines Politikverbots für mehrere Hundert Mitglieder der HDP (FAZ 8.6.2021; vgl. Duvar 7.6.2021). Die 843-seitige Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes forderte, dass nunmehr 451 Personen aus der Politik verbannt werden. Außerdem sind 69 HDP-Mitglieder wegen ihrer vermeintlichen Pro-Terror-Aussagen in der Anklageschrift aufgeführt (HDN 10.6.2021). Am 21.6.2021 nahm das Verfassungsgericht einstimmig die Anklage an, ohne jedoch dem Begehr der Generalstaatsanwaltschaft nach Schließung der HDP-Parteikonten nachzukommen (Duvar 21.6.2021). Bei der Erörterung des Antrags der HDP auf Verlängerung der Verteidigungsfrist beschloss das Verfassungsgericht Mitte Februar 2022 der Partei weitere 60 Tage zu gewähren. Nach Ablauf der 60-Tage-Frist muss die Verteidigung in der Sache abgeschlossen und dem Gericht vorgelegt werden (247NewsBulletin 16.2.2022).
Für ein Verbot der HDP ist eine Zweidrittelmehrheit der 15 Richter erforderlich (FAZ 8.6.2021; vgl. 247NewsBulletin 16.2.2022). Das Gericht kann je nach Schwere der Verstöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen. Im zweiten Fall kann es anordnen, die Unterstützung im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung teilweise oder vollständig zu versagen. Funktionären, wie in der Anklageschrift angestrebt, darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich politisch zu betätigen (SWP 10.6.2021, S.4).
Gewaltakte gegen die HDP und ihre Vertreter
In Izmir hat ein Angreifer Mitte Juni ein Büro der Oppositionspartei HDP gestürmt und dabei eine Mitarbeiterin erschossen. Zur Tatzeit hätten sich eigentlich 40 Politiker darin befinden sollen. Der HDP-Ko-Vorsitzende, Mithat Sancar, sah auch die Regierung in der Verantwortung, weil diese durch ihre Daueranschuldigungen, wonach die HDP ein nationales Sicherheitsrisiko und verlängerter Arm der PKK sei, die Stimmung angeheizt hätte. Der Angriff kam kurz vor einem möglichen Verbotsverfahren gegen die HDP. Mehrere Oppositionspolitiker hegten Zweifel an der Einzeltäterthese und forderten weitere Untersuchungen, insbesondere nachdem der Täter erwiesenermaßen in Manbij, Syrien mit Waffen posierte (AM 17.6.2021, vgl. ZO 17.6.2021). Am 14.7.2021 verübte ein später festgenommener Täter in der Stadt Marmaris mit einem Schrotgewehr einen Anschlag auf das HDP-Büro. Der Täter hatte 2018 schon einmal das HDP-Büro angegriffen (Bianet 14.7.2021; vgl. AsiaNews 15.7.2021). In Istanbul hat ein bewaffneter Mann Ende Dezember 2021 ein HDP-Büro angegriffen. Dabei seien laut HDP zwei Mitglieder der Partei verletzt worden. Der Angreifer wurde festgenommen (ZO 28.12.2021; vgl. Bianet 28.12.2021). Nicht identifizierte Personen verübten im Februar 2022 einen Angriff mit einem Molotow-Cocktail auf das Gebäude der HDP-Bezirksorganisation Yüreğir in Adana (Duvar 17.2.2022; Bianet 17.2.2022). Mitunter kommt es zu physischen Attacken auf Vertreter und Vertreterinnen der HDP. So wurde im September 2021 die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları in Ankara angegriffen, als zwei Männer sich als "Zivilpolizisten" ausgaben und versuchten, in ihr Haus einzubrechen. In einer Pressekonferenz sagte Hatimoğulları, die Staatsanwaltschaft habe ihren Fall vor Gericht nicht anerkannt (WKI 28.9.2021).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Die Spannungen zwischen der Regierung und der Opposition während der COVID-19-Krise sind deutlicher geworden. Die bürgerlichen Freiheiten wurden weiter beschnitten (IDEA 6.4.2021). Spannungen zwischen Erdoğan und dem oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, von der CHP wurden im Frühjahr 2020 evident. Entgegen Erdoğans Weisungen hatte der Bürgermeister eine Abriegelung Istanbuls befürwortet und eine eigene Spendenkampagne gestartet (Reuters 1.4.2020). Im weiteren Verlauf nutzte die türkische Regierung die Corona-Krise, um noch stärker gegen die Opposition vorzugehen. Sie verbot mehrere kommunale Spendenkampagnen der Opposition und leitete Ermittlungen gegen die Bürgermeister von Istanbul und Ankara ein, die Spenden für Pandemie-Opfer sammelten (AI 7.4.2021). Die Regierung hat auch unter Hinweis auf die COVID-19-Pandemie regierungskritische Demonstrationen und Versammlungen, vor allem der HDP, verboten, regierungsfreundliche Veranstaltungen hingegen erlaubt (USDOS 30.3.2021, S.41).
Quellen:
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- TM – Turkish Minute (26.11.2020): Turkey has removed 151 mayors on 'terror charges' since 2014: Interior Ministry, https://www.turkishminute.com/2020/11/26/turkey-has-removed-151-mayors-on-terror-charges-since-2014-interior-ministry/ , Zugriff 2.3.2022
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- WKI – Washington Kurdish Institute (28.9.2021): Kurdistan’s Weekly Brief September 28, 2021 – Turkey, https://dckurd.org/2021/09/28/kurdistans-weekly-brief-september-28-2021/ , Zugriff 2.3.2022
- ZO – Zeit Online (17.6.2021): Eine Tote bei Angriff auf Büro der pro-kurdischen HDP, https://www.zeit.de/politik/2021-06/tuerkei-hdp-kurdisch-oppositionspartei-angriff-tote , Zugriff 2.3.2022
- ZO – Zeit Online (31.3.2021): Türkei: Verfassungsgericht gibt HDP-Verbotsklage zurück, https://www.zeit.de/news/2021-03/31/tuerkei-verfassungsgericht-gibt-hdp-verbotsklage-zurueck , Zugriff 2.3.2022
- ZO - Zeit Online (28.12.2021): Zwei Verletzte bei Angriff auf Büro der HDP in Istanbul, https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-12/tuerkei-istanbul-hdp-buero-angriff
- ZO – Zeit Online (23.6.2020): Türkisches Gericht bestätigt Urteil gegen Oppositionspolitikerin, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/canan-kaftancioglu-tuerkei-oppositionspolitikerin-chp-haststrafe-gericht-bestaetigung-urteil , Zugriff 2.3.2022
- ZO – Zeit Online (24.3.2020): Acht Bürgermeister der prokurdischen HDP abgesetzt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/tuerkei-buergermeister-hdp-pro-kurdisch-terrorvorwuerfe-razzien , Zugriff 2.3.2022
- ZO – Zeit Online (19.8.2019): Recep Tayyip Erdoğan setzt drei prokurdische Bürgermeister ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/tuerkei-buergermeister-hdp-amtsenthebung-kurden-opposition , Zugriff 2.3.2022
Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland
Letzte Änderung: 10.03.2022
Der UN-Menschenrechtsrat veröffentlichte Mitte September 2020 einen Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien, wonach letztere Informationen erhielt, die darauf hindeuten, dass syrische Staatsangehörige, darunter auch Frauen, die von der (pro-türkischen) Syrischen Nationalarmee (SNA) in der Region Ra's al-'Ayn festgenommen wurden, anschließend von türkischen Streitkräften in die Türkei überstellt, und dort nach türkischem Strafrecht wegen vermeintlicher Verbrechen in der syrischen Region Ra's al-'Ayn angeklagt wurden, unter anderem wegen Mordes oder der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Kommission stellte ferner fest, dass die Überstellung von Syrern, die von der SNA inhaftiert wurden, auf türkisches Hoheitsgebiet dem Kriegsverbrechen der unrechtmäßigen Deportation geschützter Personen gleichkommen kann (UN-HRC 14.8.2020). Sowohl Araber als auch Kurden wurden zwischen Oktober und Dezember 2019 im Nordosten Syriens festgenommen, nachdem die Türkei nach ihrem Einmarsch in Nordsyrien die effektive Kontrolle über das Gebiet übernommen hatte (HRW 3.2.2021). Die Verhaftungen erfolgten hauptsächlich in den Vororten von Tell Abiad und Ra's al-'Ayn. Bei den Betroffenen handelte es sich auch um Personen, die für die Institutionen der Autonomieverwaltung arbeiteten, und andere, die keinerlei militärische oder politische Verbindungen zu dieser hatten. Unter den in die Türkei Überstellten befanden sich auch Kämpfer der Volksschutzeinheiten (YPG) und der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (SfDJ 10.7.2020; vgl AM 14.5.2020). Die Gefangenen wurden in das Hochsicherheitsgefängnis in Hilvan in der türkischen Provinz Şanlıurfa transferiert (AM 14.5.2020; vgl. HRW 3.2.2021). Bereits Ende April 2020, anlässlich der Überstellung von 90 festgenommenen Syrern in die Türkei, richteten 41 Organisationen einen Appell an den UN-Generalsekretär und an die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, u.a. willkürliche Gerichtsverfahren zu verhindern und die Freilassung bzw. Rückkehr der Gefangenen zu erwirken (SfDJ 10.7.2020). Human Rights Watch geht davon aus, dass (Stand Jahresbeginn 2021) bis zu 200 Syrer in Syrien festgenommen und in die Türkei verbracht wurden. Im Oktober 2020 wurden 63 Syrer vom Schwurgericht in Şanlıurfa verurteilt, fünf von ihnen zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit auf Begnadigung (HRW 3.2.2021). Ähnliche Urteile folgten 2021. So wurde am 23.3.2021 ein weibliches Mitlgied Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) Dozgin Temmo, bekannt als Cicek Kobani, von einem türkischen Gericht zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt (NPA 24.3.2021). Im Juni 2021 wurden drei Mitglieder des sog. Militärrats der Suryoye (MFS), einer christlichen, assyrischen-aramäischen Miliz der SDF, die 2019 von pro-türkischen Kämpfern in Nordsyrien festgenommen worden waren, von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt (Rudaw 30.6.2021).
Das Europäische Parlament verurteilt in einer Entschließung vom März 2021, "dass die Türkei kurdische Syrer aus dem besetzten Nordsyrien zum Zwecke der Inhaftierung und Strafverfolgung rechtswidrig in die Türkei überführt und dadurch gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes im Rahmen der Genfer Konventionen verstößt; fordert nachdrücklich, dass alle syrischen Häftlinge, die in die Türkei verbracht wurden, unverzüglich in die besetzten Gebiete in Syrien zurückgeführt werden" (EP 11.3.2021, Pt.7).
- Quellen:
- AM – Al Monitor (14.5.2020): Syrians held in Turkish prison 'in breach of international law,' advocates say, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/05/syria-turkey-detainees-prison-breach-international-law.html , Zugriff 28.2.2022
- EP - Europäisches Parlament (11.3.2021): Der Konflikt in Syrien: 10 Jahre nach dem Aufstand - Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. März 2021 zu dem Konflikt in Syrien zehn Jahre nach dem Aufstand (2021/2576(RSP)) [P9_TA(2021)0088], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0088_DE.pdf , Zugriff 3.3.2022
- HRW – Human Rights Watch (3.2.2021): Illegal Transfers of Syrians to Turkey, https://www.hrw.org/news/2021/02/03/illegal-transfers-syrians-turkey , Zugriff 28.2.2022
- NPA - North Press Agency (24.3.2021): Turkey sentences Syrian Kurdish SDF member to life imprisonment, https://npasyria.com/en/56509/ , Zugriff 28.2.2022
- Rudaw (30.6.2021): Three Syriac fighters from Rojava sentenced to life terms in Turkey, https://www.rudaw.net/english/middleeast/30062021 , Zugriff 28.2.2022
- SfTJ – Syrians for Truth and Justice (10.7.2020): https://stj-sy.org/en/illegal-transfer-of-dozens-of-syrian-detainees-into-turkey-following-operation-peace-spring/#_ftnref11 , Zugriff 28.2.2022
- UN-HRC – United Nations Human Rights Council (14.8.2020): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [A/HRC/45/31], https://www.ecoi.net/en/file/local/2037646/A_HRC_45_31_E.pdf , Zugriff 28.2.2022
Todesstrafe
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d.h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vgl. ÖB 30.11.2021, S.12).
Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der EMRK beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019). Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vgl. FIDH 13.10.2020).
Quellen:
- Duvar (29.9.2020): Turkish Parliament speaker announces support for return of death penalty, https://www.duvarenglish.com/politics/2020/09/29/turkish-parliament-speaker-announces-support-for-return-of-death-penalty/ , Zugriff 23.2.2022
- EC – European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 23.2.2022
- FIDH - International Federation for Human Rights 813.10.2020): Death Penalty Cannot be Reinstated in Turkey, https://www.fidh.org/en/region/europe-central-asia/turkey/death-penalty-cannot-be-reinstated-in-turkey , Zugriff 3.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 3.2.2022
- OSCE – Organization for Security and Co-operation in Europe (17.9.2019): The Death Penalty in the OSCE Area: Background Paper 2019, https://www.osce.org/files/f/documents/a/9/430268_0.pdf , Zugriff 23.2.2022
Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei definiert sich zwar als säkularer Staat, dessen Verfassung die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Religionsausübung garantiert und Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet (USDOS 12.5.2021), de facto besteht jedoch keine Trennung von Religion und Staat (BMZ 10.2020). Das Land ist von der jahrzehntelangen kemalistischen Tradition geprägt mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde (ÖB 30.11.2021, S.23; vgl. BMZ 10.2020). Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB 30.11.2021, S.23). Der Staat beansprucht das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens (BMZ 10.2020).
Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind nur armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Christen sowie Juden (USDOS 12.5.2021; vgl. ÖB 30.11.2021, S.23). Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'i, Protestanten, römische Katholiken oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status. Davon unabhängig kommt zudem im türkischen Recht keiner nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft als solcher Rechtspersönlichkeit zu (ÖB 30.11.2021, S.23). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Da die Regierung seit 2013 keine neue Wahlregelung für diese Stiftungen erlässt, können die Mitglieder des Stiftungsrates nicht bestellt werden. In der Praxis wird dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB 30.11.2021, S.23f; vgl. DFAT 10.9.2020). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethno-religiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgemeinschaften, darunter auch römisch-katholische und protestantische Christen, dürfen keine Stiftungen gründen. Seit 2004 dürfen sie sich allerdings legal als Vereine organisieren (AA 3.6.2021, S.11).
Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) sowie Logen (Cemaats), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 12.5.2021).
In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt. Es gibt jedoch weit verbreitete Berichte über Druck in der Familie, am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld, insbesondere auf Personen, die eine andere Religion, einen anderen Glauben oder eine andere Weltanschauung als den Islam haben - einschließlich der Angst, diskriminiert zu werden. Für Atheisten, Konvertiten zum Christentum, Aleviten und Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten sind diese Erfahrungen weit verbreitet. Die rechtlichen Instrumente zur Wiedergutmachung von diesbezüglichen Rechtsverletzungen sind nicht effektiv (NHC 11.9.2020, S.10).
Es gibt kein eigenes Blasphemiegesetz. Das Strafgesetzbuch sieht Strafen für Taten im Zusammenhang mit der "Provozierung von Hass und Feindseligkeit" vor, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Strafgesetzbuch verbietet es, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden (USDOS 12.5.2021), oder die Störung von religiösen Veranstaltungen (z.B. Gottesdienste) einer Glaubensgemeinschaft bzw. die Beschädigung deren Eigentums (USDOS 10.6.2020). Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert (USDOS 12.5.2021). Nach einer Flut von Strafverfolgungen zwischen 2014 und 2016 - darunter Journalisten, die 2016 französische Charlie-Hebdo-Karikaturen des Propheten Mohammad nachgedruckt haben - ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Beschwerden, Strafverfolgungen und Verurteilungen zu verzeichnen (DFAT 10.9.2020).
Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird (USDOS 12.5.2021). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).
In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, geschätzte 77,5% davon sind Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Vertreter anderer, nicht-muslimischer Religionsgruppen schätzen ihren Anteil auf 0,2% der Bevölkerung. Die Aleviten-Stiftung geht davon aus, dass 25 bis 31% der Bevölkerung Aleviten sind, während andere Quellen davon ausgehen, dass die Aleviten nur 5% aller Muslime ausmachen. 4% der Muslime sind schiitische Dschafari (USDOS 12.5.2021; vgl. BMZ 10.2020). Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha'i. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000-10.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.500 sind griechisch-orthodoxe Christen (USDOS 12.5.2021).
Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (NL-MFA 31.10.2019). Laut einer aktuellen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Konda gibt es in der Türkei immer mehr Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen - in den vergangenen zehn Jahren habe sich ihre Zahl verdreifacht (DW 9.1.2019). 3% bezeichnen sich mittlerweile als Atheisten - 2008 waren es nur 1% - und 2% als nicht gläubig (AM 9.1.2019; vgl. USDOS 12.5.2021). Der Prozentsatz derjenigen, die sich als Muslime verstehen, sank dagegen von 55% auf 51%, was im Widerspruch zu den offiziell kolportierten 99% steht. Allerdings sehen sich viele soziologisch und kulturell als Muslime, ohne religiös zu sein. Schätzungen zu Folge gelten 60% als praktizierende Muslime (DW 9.1.2019).
Kritiker behaupten, dass die AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u.a. die Vergrößerung des Diyanet und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 2.2022, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie die Darwin'sche Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (NL-MFA 31.10.2019).
Neben der Rhetorik gegen Minderheitengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt sowie ein anti-westlicher, insbesondere gegen Europa gerichteter Islamophobie-Narrativ Anlass zu Besorgnis. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begünstigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet - von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert - und ermutigt implizit zu Gewalt und Aggression (ÖB 30.11.2021, S.24).
Religiöse und ethno-religiöse Minderheiten sind Aggressionen, Intoleranz und Diskriminierung ausgesetzt (NL-MFA 18.3.2021, S.53). Im Jahr 2020 hat sich die Lage der Religionsfreiheit in der Türkei weiterhin besorgniserregend entwickelt. Die Regierung unternahm wenig bis gar keine Anstrengungen, um viele seit Langem bestehende Probleme im Bereich der Religionsfreiheit anzugehen, und sie ignorierte die anhaltenden Angriffe auf und die Zerstörung von Eigentum religiöser Minderheiten im ganzen Land. Trotz wiederholter Bitten seitens der Gemeinden religiöser Minderheiten, um die Erlaubnis, interne Vorstandswahlen für nicht-muslimische Stiftungen abzuhalten, hat die Regierung diese Wahlen 2020 nicht zugelassen. Viele religiöse Minderheiten fühlten sich weiterhin im Zusammenhang mit Vorfällen bedroht, die von nicht-staatlichen Akteuren oder aufgrund von direktem Druck seitens des Staates verübt wurden. Alevitische, armenische und protestantische Gemeinden und Organisationen berichteten, dass sie Morddrohungen erhalten haben. Die Behörden erhoben politisch motivierte Anklagen wegen Blasphemie gegen Einzelpersonen und Gruppen, während offizielle Vertreter des Staates durch Hassreden und die Verunglimpfung nicht-religiöser Personen auffielen. Religiöse Stätten - einschließlich Gotteshäuser und Friedhöfe - waren Vandalismus, Beschädigung und in einigen Fällen Zerstörung ausgesetzt, was die Regierung regelmäßig nicht verhinderte oder bestrafte (USCIRF 4.2021, S.82).
Hassreden und Hassverbrechen gegen Christen und Juden (EC 19.10.2021, S.32; vgl. BMZ 10.2020), inklusive solcher Äußerungen seitens Regierungsvertreter und Politiker, auch der Opposition (USCIRF 4.2020; vgl. BMZ 10.2020), sowie Angriffe oder Vandalenakte auf Kultstätten von Minderheiten werden weiterhin verübt. Nur sehr wenige Täter wurden tatsächlich strafrechtlich verfolgt. Es wurden keine Schritte zur Überarbeitung der Schulbücher unternommen, um die Reste diskriminierender Anspielungen zu streichen (EC 19.10.2021, S.40).
Die antisemitische Rhetorik in Printmedien und in sozialen Medien hält an, wobei diese nun auch Verschwörungstheorien hinsichtlich der Ausbreitung von COVID-19 beinhaltet (USDOS 30.3.2021, S.68; vgl. USCIRF 4.2021, S.82). In TV-Shows und Interviews werden Juden und dem Staat Israel die absichtliche Verbreitung des Virus unterstellt. Laut einem Bericht der armenischen Hrant-Dink-Stiftung über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, S.68).
Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (NL-MFA 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht (USDOS 12.5.2021). Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist ausschließlich sunnitisch-hanafitisch. Das Erziehungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr in dem Personalausweis, wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung und die Polizei einsehbar. Die Freistellung von alevitischen Kindern vom obligatorischen Religionsunterricht muss in der Regel auf dem Klageweg erstritten werden, da sie im Register als Muslime erfasst werden. Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung (BMZ 10.2020). Atheisten, Agnostiker, Baha'i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 12.5.2021).
Es gibt glaubwürdige Berichte über staatliche Diskriminierung von Nicht-Muslimen und Aleviten bei der Anstellung im öffentlichen Dienst (FH 2.2022, F4; vgl. AA 3.6.2021, S.11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften weder im öffentlichen Dienst noch in der Armee zu finden. Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. Im türkischen Parlament zählt lediglich die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht-muslimische Abgeordnete in ihren Reihen (ÖB 30.11.2021, S.26).
Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 3.6.2021, S.11; vgl. BMZ 10.2020; USDOS 12.5.2021) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 10.2020). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 3.6.2021, S.11).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff 1.3.2022
- AM – Al Monitor (9.1.2019): Turks losing trust in religion under AKP, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/01/turkey-becoming-less-religious-under-akp.html , Zugriff 1.3.2022
- BMZ – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [Deutschland] (10.2020): Zweiter Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit, https://religionsfreiheit.bmz.de/de/der-bericht/Zweiter-Religionsfreiheitsbericht.pdf , Zugriff 8.2.2022
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- DW – Deutsche Welle (9.1.2019): Zahl der Atheisten in Erdogans Türkei steigt, https://www.dw.com/de/zahl-der-atheisten-in-erdogans-t%C3%BCrkei-steigt/a-46992921 , Zugriff 1.3.2022
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- EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 1.3.2022
- FH – Freedom House (2.2022): Freedom in the World 2022 – Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2022 , Zugriff 1.3.2022
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Aleviten
Letzte Änderung: 10.03.2022
Alevi ist die Bezeichnung für eine große Zahl von heterodoxen schiitischen Gemeinschaften mit unterschiedlichen Merkmalen. Damit bilden die Aleviten die größte religiöse Minderheit in der Türkei. Technisch gesehen fallen sie unter die schiitische Konfession des Islam, folgen aber einer grundlegend anderen Interpretation als die schiitischen Gemeinschaften in anderen Ländern. Sie unterscheiden sich auch erheblich in ihrer Praxis und Interpretation des Islam von der sunnitischen Mehrheit (MRGI 6.2018a). Während die meisten Aleviten ihren Glauben als eigenständige Religion betrachten, identifizieren sich einige als Schiiten oder Sunniten oder sehen ihre alevitische Identität überwiegend in einem kulturellen und nicht religiösen Rahmen. Aleviten sind meist säkular und unterstützen eine strikte Trennung von Religion und Politik (DFAT 10.9.2020, S.24).
Die Zahl der Aleviten ist umstritten. Schätzungen aus verschiedenen Quellen variieren beträchtlich, von etwa 10% bis zu 40% der Gesamtbevölkerung. Aktuelle Zahlen deuten auf eine Zahl von 20 bis 25 Millionen hin (MRGI 6.2018a). Die türkische Regierung erkennt die Aleviten nicht offiziell an, weshalb sie bei Volkszählungen zu den Muslimen hinzugezählt werden (Gatestone 18.1.2018; vgl. DFAT 10.9.2020, S.24). Viele Aleviten sind auch Kurden, obwohl die geschätzten Zahlen wiederum sehr unterschiedlich sind (zwischen einer halben und mehreren Millionen). Kurdische Aleviten identifizieren sich primär eher als Aleviten (DFAT 10.9.2020, S.24). Politisch stehen die kurdischen Aleviten vor dem Dilemma, ob sie ihrer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft gegenüber loyal sein sollen. Einige kümmern sich mehr um die religiöse Solidarität mit den türkischen Aleviten als um die ethnische Solidarität mit den Kurden, zumal viele sunnitische Kurden sie missbilligen (MRGI 6.2018a). Während die Aleviten über die ganze Türkei verstreut sind, konzentrieren sich die alevitischen Kurden auf Zentral- und Ost-Anatolien, Istanbul und andere Großstädte. Tunceli (Dersim) ist das Zentrum des alevitischen Glaubens. Seine Bevölkerung ist überwiegend (zu 95%) alevitisch. Durchschnittliche Aleviten verhalten sich in der Gesellschaft in der Regel unauffällig und betonen ihre religiöse Identität nicht (DFAT 10.9.2020, S.24).
Das Alevitentum wird offiziell weiterhin als heterodoxe muslimische "Sekte" behandelt, nicht jedoch als religiöses Bekenntnis anerkannt. Dies führt dazu, dass alevitische Gebetshäuser (Cemevi) in vielen Gemeinden nicht als Gotteshäuser anerkannt sind, und dies trotz anderslautender Urteile des Obersten Berufungsgerichtes (Kassationsgericht) vom November 2018 und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (USDOS 12.5.2021; vgl. ÖB 30.11.2021, S.27, FH 2.2022, D2). Infolgedessen stehen die Gebetshäuser nicht unter dem Schutz des türkischen Strafgesetzes (ÖB 30.11.2021, S.27). Dies hat auch den Ausschluss von staatlichen Zuwendungen zur Folge (FH 2.2022, D2). Mitglieder der Regierungspartei (AKP) und ihres Koalitionspartners (MHP) lehnen Bestrebungen ebenso ab, alevitische Versammlungshäuser als Gebetsstätten anzuerkennen, wie andere Belange der Religionsfreiheit, die Aleviten betreffend, zu lösen (USCIRF 4.2021, S.82). Führungspersönlichkeiten der Aleviten nannten die Anzahl der 2.500 bis 3.000 Gebetshäuser als unzureichend, um die Bedürfnisse der Gläubigen zu befriedigen. Der Leiter der staatlichen Religionsbehörde Diyanet erklärte im März 2018, dass Moscheen der geeignete Ort der Religionsausübung sowohl für Sunniten als auch für Alevis seien. Diese Position wird auch weiterhin von der Regierung eingenommen. Abweichend von der Regierungslinie, wurden den Aleviten vereinzelt auf lokaler Ebene Rechte und Unterstützung eingeräumt. In Izmir erhielten sieben Cemevis den Status einer Kultstätte. In Istanbul wurden kostenlose kommunale Dienstleistungen wie den anderen Religionsgemeinschaften auch den Gebetshäusern der Aleviten zugestanden (USDOS 12.5.2021).
Die türkische Regierung hat den Aktionsplan, der 2016 dem Ministerkomitee des Europarates vorgelegt wurde und sich auf Entscheidungen des EGMR über Cemevi und obligatorischen Religionsunterricht bezieht, nicht umgesetzt. Andererseits dürften inzwischen erste Schritte zur Umsetzung eines EGMR-Urteils aus 2016 hinsichtlich der Verletzung der Religionsfreiheit und des Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot gesetzt worden sein (ÖB 30.11.2021, S.27). Allerdings sah Ende September 2021 das Ministerkomitee des Europarates laut eigenen Angaben in der ungerechtfertigten und diskriminierenden Weigerung, den Glauben der alevitischen Gemeinschaft als Religion anzuerkennen, einen Grund, das Monitoring der Türkei fortzusetzen (CoE 27.9.2021, S.3).
Als zweitgrößte religiöse Gruppe des Landes werden die Aleviten von Teilen der Mehrheitsgesellschaft als fremd und unzuverlässig angesehen (BMZ 10.2020). Die Aleviten sehen sich weiterhin mit Hassverbrechen konfrontiert, jedoch haben sich die Ermittlungen bisher als ineffektiv erwiesen (EC 19.10.2021, S.32). Wenn auch nicht in verbreitetem Ausmaß, so werden Aleviten auch das Ziel von Bedrohungen und Gewalt. So wurden auch 2021 Häuser von Aleviten in Istanbul, Adana und Yalova mehrfach mit roten Kreuzen gekennzeichnet und Drohparolen besprüht (ÖB 30.11.2021, S.26f). Mehrfach waren Einrichtungen des alevitischen Kulturverbandes, Pir Sultan Abdal, das Ziel von Drohbotschaften. Im Jänner 2020 wurden Böden und Fenster der Kulturverbandes in Istanbul mit Drohbotschaften beschmiert (Ahval 8.2.2020). Im Oktober 2020 schrieben Unbekannte an die Tür des Hauses des Vorsitzenden des Pir Sultan Abdal Vereins in Bursa: "Es ist deine Zeit für den Tod" (USDOS 12.5.2021). Im Jänner 2021 wurden Häuser in der Provinz Yalova in roter Farbe mit einem "X" und der Bezeichnung "Alevi" markiert (TM 26.1.2021). 2020 erfolgte ein Angriff auf den Oppositionsführer der Republikanische Volkspartei (CHP) Kılıçdaroğlu – ein Alevit – durch ein Mitglied der Gruppierung "Graue Wölfe". Ein Teil der Aleviten bemüht sich um Anerkennung als eigene Konfession und Gleichstellung mit dem sunnitischen Islam. Das Thema Aleviten und Anerkennung ihrer Rechte bzw. Reformen zur Gleichstellung ihres Status verschwand seit dem Putschversuch 2016 gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs (ÖB 30.11.2021, S.27). Allerdings wurden nach dem Putschversuch tausende Aleviten festgenommen oder verloren ihre Arbeit. Sie wurden von Staatspräsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) pauschal verdächtigt, mit dem Militär und mit den Putschisten sympathisiert zu haben (Gatestone 18.1.2018).
Quellen:
- Ahval (8.2.2020): Turkey: Alevi community exposed to physical, psychological violence, https://ahvalnews.com/religion/turkey-alevi-community-exposed-physical-psychological-violence , Zugriff 1.3.2022
- BMZ – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [Deutschland] (10.2020): Zweiter Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit, https://religionsfreiheit.bmz.de/de/der-bericht/Zweiter-Religionsfreiheitsbericht.pdf , Zugriff 8.2.2022
- CoE - Council of Europe (Department For The Execution Of Judgments Of The European Court Of Human Rights) (27.9.2021): Turkey - main issues before the Committee of Ministers - ongoing supervision, https://rm.coe.int/mi-turkey-eng/1680a23cae#page=1&zoom=auto ,-275,848, Zugriff 22.2.2022
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- FH – Freedom House (2.2022): Freedom in the World 2022 – Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2022 , Zugriff 1.3.2022
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- MRGI – Minority Rights Group International (6.2018a): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey – Alevis, http://minorityrights.org/minorities/alevis/ , Zugriff 1.3.2022
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- TM – Turkish Minute (26.1.2021): Houses belonging to Alevis marked with X’s in western Turkey, https://www.turkishminute.com/2021/01/26/houses-of-alevis-marked-with-crosses-in-western-turkey/ , Zugriff 1.3.2022
- USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2021): United States Commission on International Religious Freedom 2021 Annual Report; USCIRF – Recommended for Special Watch List: Turkey, ,https://www.uscirf.gov/sites/default/files/2021-04/2021%20Annual%20Report.pdf , Zugriff 1.3.2022
- USDOS – US Department of State (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2051585.html , Zugriff 1.3.2022
Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden (USDOS 30.3.2021, S.70). Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 30.3.2021, S.70).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren, Syriaken und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 3.6.2021, S.11). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRGI 6.2018b).
Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 30.3.2021, S.71).
Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 19.10.2021, S.40). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S.40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).
Nicht-Muslime wurden im Jahr 2020 zunehmend mit Hassreden bedacht, wobei insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt waren, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 2.2022, D2). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan Ende September 2020 verstärkte sich die anti-armenische Rhetorik, sowohl in traditionellen als auch in sozialen Medien. Allerdings verurteilten Regierungsvertreter wiederum die Einschüchterung ethnischer Armenier scharf (USDOS 30.3.2021, S.73).
Die Regierung hat die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Gesetzliche Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen blieben in Kraft. Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf. An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki. Im März 2021 gab das Ministerium Quoten für die Einstellung von Lehrkräften bekannt, jedoch wurden nur drei Lehrkräfte für kurdische Wahlfächer in der gesamten Türkei zugewiesen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten ausgewirkt, die bereits durch die COVID-19-Pandemie beeinträchtigt wurden (EC 19.10.2021, S.41).
Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2021; S.28).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 25.2.2022
- bpb – Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr-2017-2018#footnode12-12 , Zugriff 25.2.2022
- EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 25.2.2022
- EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 25.2.2022
- FH – Freedom House (2.2022): Freedom in the World 2022 – Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2022 , Zugriff 28.2.2022
- HDF – Hrant Dink Foundation (3.11.2020): Hate Speech and Discriminatory Discourse in Media 2019 Report, https://hrantdink.org/attachments/article/2728/Hate-Speech-and-Discriminatory-Discourse-in-Media-2019.pdf , Zugriff 25.2.2022
- MRGI – Minority Rights Group International (6.2018b): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/ , Zugriff 25.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
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Kurden
Letzte Änderung: 10.03.2022
Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S.20).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 30.11.2021, S.27). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen, mehrheitlich kurdischen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt (USDOS 30.3.2021, S.70), auch 2020, wenn auch von kürzerer Dauer und im kleineren Umfang. 2020 wurden mindestens 19 Ausgangssperren verhängt, die kürzeste für 24 Stunden und die längste für 15 Tage, und zwar vom 23. März bis Ende 2020 in Dörfern der Provinzen Bitlis, Mardin, Siirt, Şırnak und Cizre (İHD 4.10.2021, S.18). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 19.10.2021, S.4). [Anm.: für weiterführende Informationen siehe Kapitel "Sicherheitslage" und Unterkapitel "Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)"]
Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "zutiefst besorgt über die Lage im Südosten der Türkei und die Kurdenfrage, [...] insbesondere in Hinblick auf den Schutz der Menschenrechte, der politischen Partizipation, der Meinungsfreiheit und der Religions- und Glaubensfreiheit; [...] über die Einschränkungen der Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, sowie über den anhaltenden Druck auf kurdische Medien, Kultur- und Sprachinstitutionen und Ausdrucksformen im ganzen Land, der eine weitere Beschneidung der kulturellen Rechte zur Folge hat", und, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 10.5.2021, S.16f, Pt.44). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 10.5.2021, S.17, Pt.44).
Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 30.3.2021, S.71) und die meisten blieben es auch (EC 19.10.2021, S.16). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete (EC 19.10.2021, S.16; vgl. CCRT 8.4.2021)
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 19.10.2021, S.16). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). Allerdings entschied das Verfassungsgericht im Juli 2021, dass die Schließung der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem per Notstandsdekret im Zuge des Putsches vom Sommer 2016 das verfassungsmäßige Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzte. Ein türkisches Gericht hatte am 16.8.2016 die Schließung der Tageszeitung mit der Begründung angeordnet, dass diese eine Propagandaquelle der PKK sei (Ahval 4.7.2021).
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S.36f). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.6.2021, S.9f.).
Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S.21).
Übergriffe
Während beispielsweise das niederländische Außenministerium davon spricht, dass vereinzelte gewalttätige Übergriffe mit einer anti-kurdischen Dimension ohne politischen Kontext immer wieder vorkommen (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f), veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern im Juli 2021 eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB 30.11.2021, S.27; vgl. Bianet 22.7.2021).
Beispiele: Im Mai 2020 wurde ein zwanzigjähriger Kurde in einem Park in Ankara erstochen, vermeintlich weil er kurdische Musik spielte (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f.). Anfang September 2020 wurde eine Gruppe von 16 kurdisch-stämmigen Saisonarbeitern aus Mardin bei der Haselnussernte gefilmt, wie sie von acht Männern tätlich angegriffen wurden (France24 15.9.2021; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.48). Entgegen den Betroffenen haben die türkischen Behörden einen ethnischen Kontext der Vorfälle bestritten (NL-MFA 18.3.2021, S.47f.; France24 15.9.2021). Regierungskritiker verzeichneten im Juli 2021 innerhalb von zwei Wochen vier Übergriffe auf kurdische Familien und Arbeiter, inklusive eines Toten bei einem Vorfall in Konya (Duvar 22.7.2021). So wurden laut der HDP-Abgeordneten, Ayşe Sürücü, eine Gruppe kurdischer Landarbeiter in der Provinz Afyonkarahisar von einem nationalistischen Mob physisch angegriffen, weil sie kurdisch sprachen. Sieben Personen, darunter zwei Frauen, mussten in Folge ins Krankenhaus (HDP 21.7.2021; vgl. TP 20.7.2021). Im September wurde das Haus von kurdischen Landarbeitern in Düzce von einem Mob umstellt, der ein Fenster einschlug und die Kurden aufforderte, zu gehen, da hier keine Kurden geduldet seien. Nach Angaben der Opfer stellte sich die Polizei auf die Seite der Angreifer und schloss den Fall ab (WKI 28.9.2021). Im Februar brachte die HDP den Vorfall einer vermeintlich rassistischen Attacke einer Gruppe von 30 Personen auf drei kurdische Studenten auf dem Campus der Akdeniz-Universität in der Provinz Antalya auf die Tagesordnung des Parlaments (Duvar 23.2.2022).
Verwendung der Kurdischen Sprache
Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18% der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 30.11.2021, S.28). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch und Zazaki. Die Schließung kurdischer Kultur- und Sprachinstitutionen und kurdischer Medien sowie zahlreicher Kunsträume nach dem Putschversuch von 2016 führte zu einer weiteren Schmälerung der kulturellen Rechte. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirkten sich jedoch weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus. Frühere Bemühungen der entmachteten HDP-Gemeinden, die Schaffung von Sprach- und Kultureinrichtungen in diesen Provinzen zu fördern, wurden weiter unterminiert (EC 19.10.2021; S.41). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung - oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 30.11.2021, S.28). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der der türkischen Behörden geschlossen (NL-MFA 18.3.2021, S.46).
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 30.11.2021, S.28).
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S.21; vgl. TM 17.9.2020).
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 3.6.2021, S.11). So kündigte die türkische Regierung 2013 im Rahmen einer Reihe von Reformen an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022).
Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S.71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im privaten Bereich vollständig (AA 3.6.2021, S.11) und im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2021 immer wieder von Gewaltakten, mitunter mit Todesfolge, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 30.11.2021, S.27).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Durvar 30.8.2021).
[Anm.: siehe auch Kapitel "Opposition"]
Quellen:
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Relevante Bevölkerungsgruppen
Letzte Änderung: 10.03.2022
Frauen
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die türkische Gesetzgebung verankert die Gleichheit von Mann und Frau in Art. 10 der Verfassung. Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung - auch in der Ehe - sind unter Strafe gestellt. Allerdings werden diese Bestimmungen nicht immer effektiv umgesetzt. Ursache hierfür ist, dass in bestimmten Teilen der Gesellschaft verankerte Stereotype ebenso ein Hindernis bei der Umsetzung der Rechte der Frauen bleiben (ÖB 30.11.2021, S.35) wie der mangelnde politische Wille und der patriarchale Zugang der Regierung zur Problematik (MEI 18.12.2019).
Im Bereich der Gleichstellung der Geschlechter gab es erhebliche Rückschritte bei den Rechten der Frauen. Der Austritt der Türkei aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, der sogenannten Istanbul-Konvention, gefolgt von der Verabschiedung eines Präsidentendekretes im März 2021, stellt einen klaren Rückschritt bei den Rechten von Frauen und Mädchen dar. Dieser Beschluss gefährdet laut Europäischer Kommission die Rechte von Frauen und Mädchen und die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt in der Türkei und schafft einen gefährlichen Präzedenzfall. Nach dem Austritt kam es in den Medien vermehrt zu Hassreden gegen Frauenorganisationen (EC 19.10.2021, 38).
Seinerzeit wurde die Istanbul-Konvention als erste internationale völkerrechtsverbindliche Vereinbarung vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan als einem der ersten 2011 unterschrieben und im Parlament 2012 ratifiziert. Seit Jahren wurde insbesondere von den Islamisten innerhalb und außerhalb der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Kritik an der Konvention immer lauter, nämlich dahingehend, dass diese die Ordnung in der Familie untergrabe, die Scheidungsrate steigere und überhaupt hierdurch die Frau dem Manne den Gehorsam verweigere. Außerdem sahen islamisch-konservative Kreise in der Konvention auch einen Türöffner für die von ihnen verhasste "LGBTIQ-Kultur" und überhaupt für das Vordringen vermeintlicher westlicher Dekadenz (Standard 20.3.2021; vgl. AP 20.3.2021, NZZ 21.3.2021). So erklärte der Kommunikationschef des Präsidenten, die Konvention sei missbraucht worden, um "Homosexualität zu normalisieren", was mit den gesellschaftlichen Werten der Türkei unvereinbar sei. Die Ministerin für Familie, Arbeit und Sozialpolitik, Zehra Zumrut, argumentierte den Austritt damit, dass die Garantie von Frauenrechten in den türkischen Gesetzen und in der Verfassung ausreiche (DW 20.3.2021).
Die Generalsekretärin des Europarates, Marija Pejčinović Burić, titulierte die Entscheidung als verheerend, da dieser Schritt die Bemühungen hinsichtlich des Schutzes von Frauen in der Türkei, aber auch in ganz Europa und darüber hinaus gefährde (AP 20.3.2021; vgl. MEE 20.3.2021). Das Europäische Parlament "verurteilt aufs Schärfste die Entscheidung der türkischen Regierung, vom Übereinkommen von Istanbul zurückzutreten, wodurch sich die Türkei weiter von EU- und internationalen Standards entfernt und ihre Verpflichtung zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und zur Förderung der Rechte von Frauen ernsthaft infrage gestellt wird, und das ist ein klares Zeichen für die gravierende Verschlechterung der Menschenrechte in dem Land" (EP 19.5.2021, S.17, Pt.46).
Kinder-, Früh- und Zwangsehen geben nach wie vor Anlass zur Besorgnis, ebenso wie die willkürliche Strafminderung bei Gewalt gegen Frauen in Gerichtsverfahren, die möglicherweise Ausdruck sexistischer Vorurteile und Schuldzuweisungen an die Opfer sind. Insgesamt mangelt es an politischem Engagement, sich mit Fragen der Geschlechtergleichstellung zu befassen, und es herrscht eine wachsende Abneigung, den Begriff "Geschlechtergleichstellung" in offiziellen Dokumenten zu verwenden. Unabhängige Frauenrechtsorganisationen werden weitgehend vom Prozess der Ausarbeitung von Gesetzen und der Entwicklung von Politiken und Vorschriften zu Frauenfragen ausgeschlossen, während regierungsnahe, konservativere Organisationen konsultiert werden (EC 6.10.2020, S.39).
Während ihrer langjährigen Regierungsherrschaft hat die konservative AK-Partei bzw. die Regierung der AKP eine starke Agenda der Familienwerte vorangetrieben: Frauen sollten heiraten und drei Kinder bekommen, so Präsident Erdoğan (NYRB 20.2.2019), weil sie ansonsten "unvollständig" seien. Das Frau-Sein wird mit der Mutterschaft gleichgesetzt. Laut Erdoğan können Frauen und Männer nicht gleich behandelt werden, da dies gegen die Natur sei. Kurz nachdem Präsident Erdoğan im Jahr 2012 Abtreibung mit Mord gleichgesetzt hatte, sank die Zahl der staatlichen Krankenhäuser, die Abtreibungsdienste anbieten, dramatisch ab, sodass einige Frauen wie auch Mediziner im Zweifel sind, ob die Abtreibung, die 1983 legalisiert wurde, immer noch legal ist oder nicht (MEI 18.12.2019).
Das Gesetz verpflichtet sowohl die Polizei als auch die lokalen Behörden, Opfer von Gewalt oder Personen, die von Gewalt bedroht sind, Schutz und Unterstützung zu gewähren. Vorgesehen sind auch staatliche Leistungen, wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für die Opfer. Ferner ist auch vorgesehen, dass Familiengerichte Sanktionen gegen Täter verhängen. Das Gesetz schreibt die Einrichtung von Zentren zur Gewaltprävention und Gewaltüberwachung vor, die wirtschaftliche, psychologische, rechtliche und soziale Hilfe anbieten (USDOS 30.3.2021, S.62).
Mit dem vierten Justizreformpaket vom Juli 2021 wurden die Verbrechen der vorsätzlichen Tötung, vorsätzlichen Körperverletzung, Verfolgung und Freiheitsentziehung einer ehemaligen Ehepartnerin/eines ehemaligen Ehepartners in die Liste der sog. „qualifizierten Verbrechen“ aufgenommen, was bisher nur während aufrechter Ehe galt. Die Strafen wurden angehoben. Experten begrüßen, dass der Anwendungsbereich auf frühere Ehepartner erstreckt wurde, sehen die Änderung jedoch als nicht weitreichend genug an und kritisieren die Beschränkung auf das formale Kriterium einer (früheren) Ehe unter Nichtbeachtung anderer partnerschaftlicher Verbindungen (ÖB 30.11.2021, S.35).
Es kommt immer noch zu sogenannten Ehrenmorden an Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies schließt auch Vergewaltigungsopfer mit ein (AA 3.6.2021, S.14f). Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben, sind oft unmittelbar bedroht (AA 24.8.2020, S.18). Im Jahr 2020 wurden offiziell rund 300 Frauen umgebracht, wobei die Dunkelziffer viel höher liegt, denn viele Opfer werden laut Frauenorganisationen zu Selbstmörderinnen erklärt. Frauenvereine, wie Kadın Kültür Evi Dernegi, sehen darin ein strukturelles Problem im Justizsystem. Misstrauen sei angesagt, wenn Frauenmord als Suizid klassifiziert wird. Es handele sich immer häufiger um einen Deckmantel für einen Femizid [Anm.: Tötung von Frauen oder Mädchen aufgrund ihres Geschlechts] (DW 4.3.2021). Nach Angaben der Frauenplattform "Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu" (Plattform Wir werden den Femizid stoppen) wurden im Jahr 2021 280 Frauen ermordet. Von ihnen wurden 124 von ihren Ehegatten, 37 von ihrem Freund und 21 von ihren Ex-Ehemännern getötet. Nur elf der Frauen wurden nicht von einem ihnen nahestehenden Mann getötet. Auch die Zahl der zweifelhaften Todesfälle von Frauen hat während der COVID-19-Pandemie zugenommen (SCF 21.1.2022). Das regierungskritische Nachrichtenportal Bianet zählte 2021 auf der Basis von Medienberichten sogar 339 Frauenmorde, wobei 20 Frauen trotz einer Schutzanordnung getötet wurden (Bianet 14.2.2022).
Die unzureichende Umsetzung der Rechtsvorschriften und die geringe Qualität der verfügbaren Unterstützungsdienste, die auch durch eine negative Rhetorik hochrangiger Beamter und einiger Teile der Gesellschaft gegen die Gleichstellung der Geschlechter verschärft wird, geben laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zu ernster Sorge. Dies gilt auch für die mangelnde Abschreckung von Straftätern, die Verbrechen gegen Frauen begehen, durch Justiz und Verwaltung. Eine parlamentarische Kommission wurde eingesetzt, um die Ursachen der Gewalt gegen Frauen zu untersuchen und die zu ergreifenden Maßnahmen festzulegen. Der Türkei fehlt ein umfassendes Datenerfassungssystem in diesem Bereich, um das Ausmaß und die Art des Problems zu bewerten. In Gerichtsfällen von Gewalt gegen Frauen wurde weiterhin eine Strafmilderung angewandt (EC 19.10.2021, 38).
Die Hilfsangebote für Frauen, die Gewalt überlebt haben, sind nach wie vor sehr begrenzt, und die Zahl der Zentren, die solche Dienste anbieten, ist weiterhin unzureichend (EC 6.10.2020, S.38; vgl. ÖB 30.11.2021, S.36, USDOS 30.3.2021, S.62). Das dortige Personal, insbesondere im Südosten des Landes, kann keine angemessene Betreuung und Dienste anbieten. Unterkünfte in mehreren südöstlichen Provinzen wurden während des Ausnahmezustands 2016-2018 und den jüngsten COVID-19-Lockdowns 2020 geschlossen, während andere Einrichtungen nach der Absetzung der gewählten Bürgermeister Probleme mit den von der Regierung eingesetzten Treuhändern hatten, da diese Mittel kürzten und die Partnerschaften mit den lokalen NGOs beendeten. Laut einigen NGOs ist der Mangel an Dienstleistungen für ältere Frauen, LGBTI-Frauen sowie für Frauen mit älteren Kindern noch akuter (USDOS 30.3.2021, S.62).
2021 existierten im ganzen Land lediglich 149 Frauenhäuser mit einer Kapazität von 3.624 Plätzen für weibliche Opfer von Gewalt und deren Kinder. Allgemein werden Maßnahmen in diesem Bereich im Zusammenwirken mit dem Innenministerium, dem Gesundheitsministerium, dem Justizministerium, dem Verteidigungsministerium sowie dem Amt für Religiöse Angelegenheiten Diyanet) gesetzt. 71.000 Polizeibeamte, 65.000 Beschäftigte des Gesundheitsbereichs sowie 47.566 Religionsvertreter wurden entsprechend geschult (ÖB 30.11.2021, S.36). Es fehlt jedoch bislang an ausreichender Koordination zwischen einzelnen Institutionen sowie Sensibilisierung von Exekutivbeamten, wie mit Fällen von Gewalt umzugehen ist (ÖB 30.11.2021, S.36; vgl. EC 6.10.2020, S.38). NGOs beklagen, dass religiöse Würdenträger, denen offenbar leichterer Zugang zu Frauenhäusern gewährt wird als Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, Frauen oftmals zu einer Rückkehr in die Familie überreden. Hingewiesen wurde auch auf den fehlenden Zugang zu Frauenhäusern für Frauen mit körperlichen Einschränkungen (ÖB 30.11.2021, S.36).
Laut Frauenorganisationen gibt es eine Zunahme an Scheidungen infolge der ebenfalls wachsenden häuslichen Gewalt. Umgekehrt behauptet die Regierung, dass die häusliche Gewalt zugenommen hat, weil sich Frauen scheiden lassen wollen. Wahr ist, dass die Zahl der Frauenmorde in der Türkei in den letzten zehn Jahren stetig zugenommen hat. Das Problem im türkischen Recht besteht darin, dass die Beweislast in Fällen häuslicher Gewalt auf die Opfer fällt, die, wie Frauenrechtlerinnen argumentieren, durch die Justiz wie Paria behandelt werden. Wenn ein Mann behauptet, dass seine Partnerin ihn in einer Auseinandersetzung verflucht oder "provoziert" hat, entscheidet der Richter im Zweifel für den Angeklagten. Es gibt oft auch kulturelle Barrieren aus dem familiären Umfeld. Trotz offensichtlicher Gewalt sehen sich einige der Frauen mit Missbilligung ihrer Familien konfrontiert, die der Meinung sind, dass die Frauen für die Gewalt verantwortlich sind, die sie erlebt haben (NYRB 20.2.2019).
Die Gerichte urteilen oft milde über die Täter sexueller Gewalt, darunter auch über diejenigen, die wegen der Vergewaltigung minderjähriger Mädchen verurteilt wurden, und die Strafen werden oft herabgesetzt, wenn der Angeklagte während des Prozesses "gutes Benehmen" an den Tag legt (DFAT 10.9.2020, S.35). Laut einem Bericht aus den Reihen der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), jedoch unter Verwendung offizieller Daten des Justizministeriums, entschied die Justiz in den letzten acht Jahren in 73% von fast 26.000 Fällen von Gewalt gegen Frauen, von einer Verfolgung der Täter abzusehen. Die Staatsanwälte ließen zwischen 2012 und 2020 18.551 Verdächtige häuslicher Gewalt frei, was einer Straffreiheit für sieben von zehn Gewalttätern gleichkommt, wobei es 2012 noch in über der Hälfte der Fälle zu einer Strafverfolgung kam, währenddessen 2019 in 82% der Fälle von einer solchen abgesehen wurde (TM 25.11.2020). In Teilen der Bevölkerung findet allerdings eine wachsende Sensibilisierung zum Thema Gewalt an Frauen statt. Medien begannen Mitte der 2000er Jahre über Vorfälle zu berichten und stärkten so das gesellschaftliche Bewusstsein für das bis dahin als Familienangelegenheit gehandhabte Thema. Projekte von NGOs zielen ebenso auf eine weitere Bewusstseinsbildung für das Problem ab (ÖB 10.2020, S.30f).
Am 29.9.2021 entschied der Verfassungsgerichtshof, dass mehrere Beamte, die vor dem Mord an einer Frau keine angemessenen Präventions- und Schutzmaßnahmen ergriffen hatten, um die Tat zu verhindern, strafrechtlich verfolgt werden sollen. S. Erfındık war 2013, einen Tag nachdem eine einstweilige Verfügung gegen ihren geschiedenen Ehemann ausgelaufen war, ermordet worden. Vor der Tat hatte sie nach Morddrohungen mehrfach eine Verlängerung der einstweiligen Verfügung sowie Schutzmaßnahmen beantragt, die jedoch von den Behörden abgelehnt wurden. Der Verfassungsgerichtshof urteilte, dass der Mord auf Fahrlässigkeit der Amtsträger und deren Versäumnis, geeignete Maßnahmen durchzuführen, zurückzuführen sei (BAMF 4.10.2021, S.13f).
Im März 2020 untersagten die Behörden zum zweiten Mal in Folge Demonstrationen zum Internationalen Frauentag in Istanbul. Eine Versammlung friedlich Demonstrierender, die sich dem Verbot widersetzt hatten, löste die Polizei mit Tränengas und Plastikgeschossen auf (AI 7.4.2021; vgl. NZZ 8.3.2020). Auch in Izmir ging die Polizei im Juli 2020 gewaltsam gegen Demonstrantinnen vor (DW 24.7.2020). Am 5.4.2021 wurden während einer Razzia in der Provinz Diyarbakır im Frauenrechtsverein Rosa, der sich für Opfer von Gewalt einsetzt, 22 Frauen verhaftet, denen von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird, Mitglieder für die PKK zu rekrutieren und politischen Propaganda für diese zu verbreiten (BAMF 12.4.2021, S.16; vgl. SCF 9.4.2021). Erklärungen des Innenministeriums, die Frauenorganisationen und Feministinnen wegen angeblicher terroristischer Verbindungen ins Visier nahmen, bedrohen die Existenz von Frauenverbänden. Unabhängige Frauenrechtsorganisationen werden weiterhin weitgehend vom Prozess der Ausarbeitung einschlägiger Gesetze und der Entwicklung politischer Strategien und Vorschriften zu Frauenfragen ausgeschlossen (EC 19.10.2021, S.38).
Auch die Gewalt gegen Journalistinnen hat in der Türkei zugenommen. Nach Angaben der Koalition für Frauen im Journalismus (CFWIJ) wurden allein in der ersten Hälfte des Jahres 2021 44 Journalistinnen Opfer von Polizeigewalt und 13 verhaftet, während sie über Ereignisse vor Ort berichteten. Nach Angaben der CFWIJ hat die Gewalt gegen Journalistinnen im Jahr 2021 im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2020 um fast 160% zugenommen (SCF 21.1.2022).
Frauen haben überdurchschnittliche Schwierigkeiten beim Zugang zu höherer Bildung und zum Arbeitsmarkt. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote der Frauen (15,1%) blieb auch 2020 nachhaltig höher als jene der Männer (12,6%). Nicht einmal ein Drittel der Frauen (32%) ist in Beschäftigung im Vergleich zu mehr als 70% der Männer (EC 19.10.2021; S.53, 92).
Mit einem Wert von 0,638 (1 = bester Wert) liegt die Türkei auf Platz 133 von 156 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index 2021. In den Sub-Indices lag die Türkei bei der "Wirtschaftlichen Teilhabe und Chancen" nur auf Platz 140. Währenddessen sahen die Platzierungen beim "Bildungsstand" (Rang 101), bei der "Politischen Ermächtigung" (Platz 114) und bei der "Gesundheit" (Position 105) besser aus (WEF 3.2021).
[zu allgemeinen Situation der kurdischen Frauen siehe Kapitel: Kurden]
Quellen:
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- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 23.2.2022
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- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (12.4.2021): Briefing Notes, KW 15, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw15-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 23.2.2022
- Bianet (14.2.2022): Men kill at least 339 women in 2021, https://m.bianet.org/english/women/257657-men-kill-at-least-339-women-in-2021, Zugriff 1.3.2022
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- TM – Turkish Minute (25.11.2020): Most domestic violence suspects go unprosecuted in Turkey, report reveals, https://www.turkishminute.com/2020/11/25/most-domestic-violence-suspects-go-unprosecuted-in-turkey-report-reveals/ , Zugriff 23.2.2022
- USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 23.2.2022
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Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 10.03.2022
Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern. In der Türkei sind die Richter befugt, ein Ausreiseverbot zu verhängen (ÖB 30.11.2021, S.10; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45). Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MFA-NL 18.3.2021, S.27f). Es ist zudem gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat (ÖB 30.11.2021, S.10).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MFA-NL 18.3.2021, S.27f).
Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das galt auch für deren Familienangehörige. Die Behörden haben auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran gehindert, das Land zu verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 30.3.2021, S.45f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45). Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war, und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).
Allerdings entschied das Verfassungsgericht Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 3.6.2021, S.23, 26). Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde (AA 24.8.2020, S.27).
Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 30.11.2021, S.6).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Der Innenminister und die Provinzbehörden schränkten den Reiseverkehr zwischen den Provinzen zwischen März und Mai 2020 ein, gefolgt von begrenzten Bewegungseinschränkungen in und aus den Großstädten als Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie. Einige Gouverneure, insbesondere im Nordwesten und Südosten, verhängten weitere Reiseverbote als Maßnahmen gegen COVID-19 während des ganzen Jahres 2020 (USDOS 30.3.2021, S.45).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 15.6.2021
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 15.6.2021
- Duvar (29.1.2022): Turkey’s top court rules passport cancellation for sacked civil servants unconstitutional, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-passport-cancellation-for-sacked-civil-servants-unconstitutional-news-60256 , Zugriff 8.2.2022
- HDN – Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000 , Zugriff 16.10.2019
- MFA-NL – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report
- Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 16.11.2021
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
- TM – Turkish Minute (22.6.2020): Turkey removes passport restrictions for 28,000 more citizens, https://www.turkishminute.com/2020/06/22/turkey-removes-passport-restrictions-for-28000-more-citizens/ , Zugriff 11.12.2020
- TM – Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects' spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regulation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/ , Zugriff 16.10.2019
- TM – Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkey-lifts-restrictions-on-more-than-50000-passports/ , Zugriff 16.10.2019
- TM – Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictions-from-155350-passports/ , Zugriff 16.10.2019
- USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 12.4.2021
- USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 16.10.2019
Grundversorgung / Wirtschaft
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei war eines der wenigen Länder, die 2020 ein Wachstum verzeichneten, vor allem dank günstiger Kredite nach einer Reihe von Zinssenkungen durch die Zentralbank, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzuwehren. Im Jahr 2021 nahm das Wachstum wieder zu, da die COVID-19-Beschränkungen weitgehend aufgehoben wurden. Doch eine Währungskrise Ende 2021, die die Inflation auf fast 50% ansteigen ließ, hat die Wachstumserwartungen für 2022 gedämpft (Reuters 22.2.2022). Das 2021 starke Wachstum von 8,5% des Bruttoinlandsprodukts dürfte sich 2022 deutlich auf prognostizierte 3,3% abschwächen. Der Türkei droht eine Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Situation hat sich im letzten Quartal 2021 zugespitzt. Das Wirtschaftswachstum wird teuer erkauft durch niedrige Zinsen, hohe Inflation und eine starke Abwertung der Währung. Die Auslandsschulden der Unternehmen und des Staates sind hoch. Die Währungsreserven hingegen sind gering und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 14.1.2022).
2020 mussten rund hunderttausend kleine Betriebe schließen. In den ersten drei Monaten von 2021 machten 30.000 Gewerbebetriebe zu, neun Millionen Menschen sind erwerbslos. In jedem Haushalt sucht statistisch mindestens eine Person Arbeit. Laut Umfragen im April können 53,6% der Bürger gerade ihre Bedürfnisse decken. 26,6% haben nicht genug für ihre Grundbedürfnisse. Wer in der Lage ist, Lebensmittel zu kaufen, hat aus Mangel seine Ernährungsgewohnheiten umgestellt. Laut einer von der EU finanziell unterstützten Studie ist in den letzten zwölf Monaten der Konsum von Hühnerfleisch von 18,5% auf 4% gesunken, der von Fisch von 10,4% auf 2,9%. Der Konsum von Pflanzenöl ging um 32% zurück (FAZ 20.5.2021). Präsident Erdoğan hat angesichts der hohen Inflation von zuletzt 50% und des steigenden Unmuts in der Bevölkerung eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel von acht auf ein Prozent angekündigt (DW 12.2.2022).
Die Arbeitslosigkeit in der Türkei betrifft insbesondere die jüngere Generation. Die türkische Plattform für Jugendarbeitslosigkeit schätzt, dass im November 2021 mehr als elf Millionen Menschen zwischen 15 und 34 Jahren arbeitslos waren. Im dritten Quartal 2021 lag die offizielle Jugendarbeitslosenquote bei 22% (AT 3.1.2022). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73% "gerne in einem anderen Land leben würden". 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).
Laut Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Aksoy Research vom Jänner 2022 gaben nur 4% an, dass sie alle ihre grundlegenden Lebenshaltungskosten decken können, weitere 13,7% zumindest "die meisten". Währenddessen sagten 17%, keines ihrer Grundbedürfnisse decken zu können. Weitere 36,6% meinten, ihre Grundbedürfnisse nur "sehr wenig" befriedigen zu können, immerhin 28,5% zumindest "einige" davon (TM 27.1.2022)
Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialprodukts für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).
In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1% des BIP (ÖB 30.11.2021, S.39).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5% aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Eine Simulationsanalyse der Auswirkungen der Pandemie deutet darauf hin, dass es in der Türkei im Jahr 2021 1,6 Millionen mehr arme Menschen geben wird als 2020, womit die höchste Armutsquote seit 2012 erreicht wird. Rasches und frühzeitiges Handeln der Regierung, einschließlich Maßnahmen zur Unterstützung der Haushalte, verhinderte laut Weltbank Schlimmeres. Diese Maßnahmen liefen jedoch im Juli 2021 aus, und die zunehmenden COVID-19-Fälle und Schließungen werden zusätzliche Unterstützung zum Schutz gefährdeter Haushalte erfordern. Der starke Aufschwung des Wirtschaftswachstums, des Arbeitsmarktes und der Haushaltseinkommen wird die Armutsquote voraussichtlich von 12,2% im Jahr 2020 auf 11,6% im Jahr 2021 senken. Die weitere Verringerung der Armut hängt davon ab, so die Weltbank, ob ein umfassender Aufschwung mit angemessener Unterstützung für gefährdete Gruppen gewährleistet wird (WB 12.10.2021).
Auch 2021 verblieb die Türkei im Bann der COVID-19-Pandemie. Nach Angaben des türkischen Finanzministeriums wurden bis August 2021 zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Krise insgesamt 70,55 Mrd. Euro an fiskalen Maßnahmen in Form von öffentlichen Unterstützungen und Steuererleichterungen aufgewendet, welche 10,6 % des BIP ausmachen (WKO 14.10.2021).
Quellen:
- AM - Al Monitor (27.1.2021): COVID-19 pandemic expands poverty in Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2021/01/turkey-pandemic-pandemic-expands-poverty-high-inflation.html , Zugriff 24.2.2022
- AT – Asia Times (3.1.2022): Turkey needs a long-term plan for its young Syrians, https://asiatimes.com/2022/01/turkey-needs-a-long-term-plan-for-its-young-syrians/ , Zugriff 31.1.2022
- DW - Deutsche Welle (12.2.2022): Türkei senkt Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-senkt-mehrwertsteuer-auf-grundnahrungsmittel/a-60759240 , Zugriff 24.2.2022
- FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung [Mumay Bülent] (20.5.2021): Brief aus Istanbul : Du gehörst mir oder der schwarzen Erde, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istanbul/brief-aus-istanbul-erdogans-politische-taktik-in-der-tuerkei-17348835-p2.html , Zugriff 24.2.20221
- GTAI – Germany Trade and Invest (14.1.2022): Türkische Wirtschaft wächst trotz Coronakrise, https://www.gtai.de/gtai-de/trade/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsausblick/tuerkei/tuerkische-wirtschaft-waechst-trotz-coronakrise-247908 , Zugriff 24.2.2022
- KAS - Konrad-Adenauer-Stiftung (15.2.2022): Jugendstudie Türkei 2021, https://www.kas.de/de/web/tuerkei/publikationen/einzeltitel/-/content/jugendstudie-tuerkei-2021-2 , Zugriff 24.2.2022
- OECD – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2019): Society at a Glance 2019: OECD Social Indicators, https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/soc_glance-2019-en.pdf?expires=1573813322&id=id&accname=guest&checksum=2EE74228759055A97295ED4460FC22E0 , Zugriff 24.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
- Reuters (22.2.2022): Turkey's economy grew 11% in 2021; to cool to 3.5% in 2022, https://www.reuters.com/markets/asia/turkeys-economy-grew-11-2021-cool-35-2022-2022-02-22/ , Zugriff 24.2.2022
- TM - Turkish Minute (27.1.2022): Only 4 pct of Turks say they can meet all their basic needs: survey, https://www.turkishminute.com/2022/01/27/ly-4-pct-of-turks-say-they-can-meet-all-their-basic-needs-survey/ , Zugriff 28.1.2022
- WB – World Bank (12.10.2021): The World Bank in Turkey - Overview - Recent Economic Developments, https://www.worldbank.org/en/country/turkey/overview#3 , Zugriff 24.2.2022
- WKO – Wirtschaftskammer Österreich (14.10.2021): Die türkische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-tuerkische-wirtschaft.html#heading_wirtschaftslage , Zugriff 24.2.2022
Sozialbeihilfen / -versicherung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 3.6.2021, S.21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 3.6.2021, S.21f). Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2021 alle zwei Monate Anspruch auf 650 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 5.641 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 30.11.2021, S.40).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 24.2.2022
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 24.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
- SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016a): Das Türkische Soziale Sicherheitssystem, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/de/detail/das_turkische , Zugriff 24.2.2022
- SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016b): Financing of Social Security, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/social_security_system/social_security_system , Zugriff 24.2.2022
- SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://web.archive.org/web/20210909030059/https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 24.2.2022 [Der Originallink ist z.Z. nicht verfügbar.]
Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40% des Durchschnittslohns, maximal jedoch 80% des Bruttomindestlohns. Nach Erhöhung des Mindestlohns beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 1.420 TL, der Maximalbetrag 2.840 TL. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (ÖB 30.11.2021, S.39). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2021; vgl. ÖB 30.11.2021, S.39).
Quellen:
- IOM – International Organization for Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf , Zugriff 24.2.2022
- IOM – International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 24.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
Pension
Letzte Änderung: 10.03.2022
Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung.
Berechtigung:
- Staatsbürger über 18 Jahre
- Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar)
- Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben.
Voraussetzungen:
- Anmelden bei der Sozialversicherung SGK
- Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden
- Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr
Personen älter als 65 Jahre, Menschen mit Behinderungen über 18 und Personen mit Verwandten unter 18 Jahren mit Behinderungen, für die sie die gesetzliche Vormundschaft übernehmen, können eine regelmäßige monatliche Zahlung erhalten. Unmittelbare Familienmitglieder von Versicherten, die nach ihrer Pensionierung verstorben sind und/oder mindestens zehn Jahre gearbeitet haben, haben Anspruch auf Witwen- oder Waisenhilfe. Wenn der/die Verstorbene länger als fünf Jahre gearbeitet hat, haben seine/ihre Kinder unter 18 Jahren, Kinder in der Sekundarschule unter 20 Jahren und Kinder, die unter 25 Jahre alt sind und an einer Hochschule eingeschrieben sind, Anspruch auf Waisenhilfe (IOM 2021).
Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2% für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90%. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018).
Obwohl die staatliche Mindestpension zu Beginn des Jahres 2022 von 1.500 auf 2.500 Lira gestiegen ist, blieb sie hinter dem Mindestlohn zurück, der im Dezember 2021 um 50 % auf 4.250 Lira angehoben wurde. Und dies angesichts einer offiziellen Inflationsrate von rund 40%, die von unabhängigen Instituten auf über 80% im Jahr 2021 geschätzt wurde. Etwa 1,3 Millionen der 13,4 Millionen türkischen Sozialhilfeempfänger erhalten den niedrigsten Satz der staatlichen Pension (AM 19.1.2022; vgl. Bianet 4.1.2022). Die übrigen Pensionen wurden um 25-30% erhöht (Bianet 4.1.2022) Die türkischen Pensionisten gehören zu den ärmsten der Welt. Das Pensionsniveau in der Türkei liegt bei knapp 22% des Wertes der nationalen Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Pension nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern (ILO 2021 S.56f).
Quellen:
- AM - Al Monitor (19.1.2022): Inflation crisis hits Turkey's retirees hardest of all, https://www.al-monitor.com/originals/2022/01/inflation-crisis-hits-turkeys-retirees-hardest-all , Zugriff 9.2.2022
- Bianet (4.1.2022): Turkey raises lowest pension by 66 percent, https://bianet.org/english/labor/255697-turkey-raises-lowest-pension-by-66-percent , Zugriff 9.2.2022
- ILO - International Labour Organization (2021): World Social Protection Report 2020–22:
- Social Protection at the Crossroads – in Pursuit of a Better Future, https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/---publ/documents/publication/wcms_817572.pdf , Zugriff 9.2.2022
- IOM – Internationale Organisation für Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf , Zugriff 24.2.2022
- SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://web.archive.org/web/20210909030059/https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 24.2.2022 [Der Originallink ist z.Z. nicht verfügbar.]
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10% tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70%, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3% des Bruttomindestlohnes der Türkei. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 30.11.2021, S.40).
Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).
Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden (MPI-SR 3.2021). Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen (MPI-SR 20.6.2020). Mit Stand März waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SR 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020). Die neuen Stadtkrankenhäuser leisten mit ihren Kapazitäten einen großen Beitrag in der Corona-Krise. In einigen davon wurden sogenannte Corona-Zentren eingerichtet (MPI-SR 3.2021).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB 30.11.2021, S.40). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 3.6.2020, S.22). Zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wird allerdings nicht Methadon, sondern entweder eine Kombination aus Buphrenorphin+Naloxan oder Morphin angewandt (MedCOI 18.2.2020)
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Das Gesundheitsministerium plant, bis 2021 in weiteren 19 Provinzen noch jeweils ein AMATEM-Zentrum mit einer Gesamtkapazität von 725 Betten einzurichten. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 3.6.2021, S.22f.).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Die Beiträge für die allgemeine Krankenversicherung (GSS) hängen vom Einkommen des/der Begünstigten ab und beginnen bei 107,32 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 2021). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SR 3.2021, S.15).
Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (IOM 2021).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 24.2.2022
- IOM – International Organization for Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf , Zugriff 24.2.2022
- MedCOI (18.2.2020): BMA 13335, Zugriff 24.2.2022 [Das Dokument liegt in der Staatendokumentation auf.]
- MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (3.2021): Social Law Report No. 4/2021 - Sozialrechtliche Entwicklungen in der Türkei Berichtszeitraum: April 2020 – März 2021, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_4_2021__T%C3%BCrkei.pdf , Zugriff 9.2.2022
- MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April 2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_T%C3%BCrkei__final.pdf , Zugriff 24.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
- SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016c): Universal Health Insurance, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins , Zugriff 24.2.2022
Behandlung nach Rückkehr
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S.49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S.27).
Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbullah [Anm.: auch als kurdische Hisbullah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbullah im Libanon verbunden], al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2021, S.38). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. der militärische Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 4.2.2022).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z.B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 3.6.2021, S.16; vgl. AA 16.11.2021). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 16.11.2021). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, S.52; vgl. AA 16.11.2021). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen gar Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 16.11.2021).
Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 16.11.2021).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2021, S.10).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2021, S.37). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S.50; vgl. ÖB 30.11.2021, S.38). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. §3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 30.11.2021, S.42). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S.50; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, S.71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt. Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d.h. wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
- Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
- Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/
- TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 30.11.2021, S.39).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Art. 9 des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S.50).
Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9) (ÖB 30.11.2021, S.38). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Art. 9 Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben (DFAT 10.9.2020, S.50). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11 (1)). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben (ÖB 30.11.2021, S.38).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d.h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat entweder begangen wird: gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.2.2022) [gültig seit 8.10.2021]: Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962 , 24.2.2022
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 24.2.2022
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 24.2.2022
- CoE – Council of Europe – Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-en.pdf , Zugriff 24.2.2022
- DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 24.2.2022
- EU - Europäische Union (4.2.2022): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 3. Februar 2022, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2021/1192, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32022D0152 , Zugriff 24.2.2022
- Independent [türkische Ausgabe] (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/295631/yurtd%C4%B1%C5%9F%C4%B1nda-ya%C5%9Fayan-binlerce-ki%C5%9Fiye-t%C3%BCrkiye-giri%C5%9Flerinde-sosyal-medya-payla%C5%9F%C4%B1mlar%C4%B1 , Zugriff 24.2.2022 (Übersetzung mittels webtran.de)
- NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey,https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 24.2.2022
- NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf , Zugriff 24.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
- SCF – Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-or-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/ , Zugriff 24.2.2022
- TR-MFA – Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (o.D.): PKK, http://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa , Zugriff 24.2.2022
- VB - Verbindungsbeamter des BMI für die Türkei [Österreich] (1.3.2022): Auskunft des VB, per Mail“
2. Beweiswürdigung:
2.1. Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in die von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakten unter zentraler Zugrundelegung der niederschriftlichen Angaben der Beschwerdeführerin, der im Gefolge ihrer Einvernahmen sowie im Beschwerdeverfahren in Vorlage gebrachten Unterlagen sowie des Inhalts der gegen den angefochtenen Bescheid erhobenen Beschwerde und den im Rechtsmittelverfahren eingebrachten Stellungnahmen und den durch Einsichtnahme in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat, die der Beschwerdeführerin zur Kenntnis gebracht und die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt wurde. Dabei handelt es sich um folgende Berichte:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei vom 10.03.2022 (generiert aus dem COI-CMS) (https://www.ecoi.net/de/laender/tuerkei/coi-cms )
- Berichte des British Home Office zur Lage in der Türkei (www.gov.uk )
o Gesundheit:
Medical and healthcare provision, April 2021
o Politische und sonstige Situation:
People’s Democratic Party (HDP), März 2020
Kurds, Turkey, Februar 2020
Kurdistan Wokers’s Party (PKK), Turkey, Februar 2020
Turkey: fact finding report on Kurds, the HDP and the PKK, Oktober 2019
Military Service, September 2018
Background note, Turkey, Juni 2021
Alevis, Turkey, August 2017
People’s Democratic Party (HDP), März 2020
- Länderinformationsblatt von IOM betreffend die Situation für freiwillige Rückkehrer, 2018 (https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf )
2.2. Der eingangs angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbestrittenen Inhalt der vorgelegten Verfahrensakten der belangten Behörde und des Gerichtsaktes.
Die Feststellungen zur Person, der Herkunft, der Volksgruppen und Religionszugehörigkeit der Beschwerdeführerin ergeben sich aus den diesbezüglichen Angaben in den bislang geführten Verfahren.
Zur Feststellung betreffend die Identität und Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführerin ist zudem festzuhalten, dass diese bereits vor Bundesamt – auch infolge der Scheidung der Beschwerdeführerin erfolgten Namensänderung (Wiederannahme Nachnamens vor der Eheschließung) – von der Beschwerdeführerin entsprechende Dokumente vorgelegt und geprüft wurden. Die Unterlagen, insbesondere ein Auszug aus dem türkischen Geburtenregister, eine Kopie des Scheidungsurteils sowie eine Kopie des nunmehr bis 2028 gültigen, neuen türkischen Personalausweises liegen zudem im Gerichtakt ein.
Das Bundesverwaltungsgericht nahm weiters hinsichtlich der Beschwerdeführerin Einsicht in das Fremdenregister, das Strafregister, das Zentrale Melderegister und die Grundversorgungs- sowie Sozialversicherungsdaten und holte die aktenkundigen Auszüge ein. Auch hinsichtlich der angeführten Brüder, insbesondere des BU. und seiner drei Kinder, nahm das Bundesverwaltungsgericht Einsicht in das Zentrale Melderegisters, hinsichtlich des anderen Bruders (BA.) und dessen Familie auch in das elektronische Aktenverwaltungssystem des Bundesverwaltungsgerichtes.
Die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin sich ein Schengenvisum erschlichen hat, ist daraus erschließbar, dass die Beschwerdeführerin ihren Angaben zufolge mit der Absicht nach Österreich reiste, um ihrem Ehemann zu folgen und sich hier niederzulassen, wohingegen dem aktenkundigen Auszug des BMI entnehmbar ist, dass sie bei den Visa-Behörden angegeben hatte, zu Besuchszwecken einzureisen. Laut Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) muss von der Auslandsvertretungsbehörde u.a. Folgendes festgestellt werden: die Plausibilität und Nachvollziehbarkeit des Reisezwecks sowie die Bereitschaft des Visumsinhabers, vor Gültigkeitsablauf des Visums den Schengenraum wieder zu verlassen. Daraus ist erschließbar, dass die Beschwerdeführerin im Rahmen des Ermittlungsverfahrens die Vertretungsbehörden über ihre tatsächlichen Absichten täuschte bzw. diese verschleierte, um ein Visum zu erlangen, indem sie ihre Niederlassungsabsicht und den Unwillen, den Schengenraum wieder zu verlassen verschwieg (dieses Verhalten hätte einen Visa-Versagungsgrund gemäß Art. 32 des oben genannte Visakodex dargestellt, wenn er der Behörde bekannt geworden wäre) und dieses Visum widmungswidrig einsetzte, indem sie nicht in Reise- sondern in Niederlassungsabsicht in das Bundesgebiet einreiste. Ferner haben Antragsteller nachzuweisen, dass sie über die Mittel verfügen, die für ihren Aufenthalt notwendig sind und kann aus dem Verhalten der Beschwerdeführerin – diese bezog seit ihrer Asylantragstellung durchgehend Mittel aus der Grundversorgung – ebenfalls geschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin über das Vorliegen der notwendigen finanziellen Mittel täuschte.
Mangels Vorlage entsprechend konkreter Befunde oder Therapieberichte konnte nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin an einer diagnostizierten psychischen oder psychiatrischen Erkrankung leidet und/oder deswegen in medikamentöser oder ärztlicher Behandlung stünde. Auch hat sich nicht ergeben, dass die Beschwerdeführerin aktuell an einer schweren physischen oder psychischen Erkrankung leidet, die im Herkunftsstaat nicht behandelbar wäre.
Aus den vom Bundesverwaltungsgericht bereits vor der mündlichen Verhandlung gemeinsam mit der Ladung in das Verfahren eingebrachten Länderinformationen, konkret aus dem in der mündlichen Verhandlung erörterten Bericht des British Home Office – Medical and healthcare provision (April 2021), ist zudem ersichtlich, dass Schilddrüsen-Untersuchungen (auch mittels Ultraschall), Schilddrüsen-Operationen und insbesondere auch Schilddrüsen-Hormone wie Thyroxin in der Türkei verfügbar bzw. erhältlich sind. Abgesehen von der Dauereinnahme des Schilddrüsen-Hormons Thyroxin hat die Beschwerdeführerin weder eine laufende medizinische Behandlung nach Entfernung der rechten Schilddrüse 2017 wahrzunehmen, noch hat sie vorgebracht, sie könne deswegen in der Türkei nicht behandelt werden bzw. würde das nötige Medikament nicht erhalten. Auch wurde mit der Beschwerdeführerin und ihrer Vertretung in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 18.07.2022 erörtert, dass auf diversen türkischen Internetseiten ein Äquivalent von L-Thyroxin in der Türkei angeboten wird, und zwar Euthyrox. Dieses ist in der Türkei in Apotheken zu kaufen (pillintrip.com). Unter https://www.exportgenius.in/turkey-importers-of-euthyrox kann man sich verschiedene Importeure in der Türkei suchen und über herbsandmeds.com und anderen Webseiten kann man sich über das Internet das Medikament auch bestellen. Ferner ist es möglich, dass die Verwandten der Beschwerdeführerin in Österreich das Medikament beziehen und der Beschwerdeführerin in die Türkei schicken. Weder seitens der Rechtsvertretung noch der Beschwerdeführerin wurden diesbezüglich in der mündlichen Verhandlung Einwendungen erhoben. Die Beschwerdeführerin brachte dazu nur vor, nicht in die Türkei zurückkehren zu wollen (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 5). Insgesamt ergeben sich daher für das Bundesverwaltungsgericht keinerlei Hinweise darauf, dass die Beschwerdeführerin die nötigen Medikamente nicht auch in der Türkei weiterhin erhalten kann bzw. an einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Endstadium leiden würde, die in der Türkei nicht behandelbar wäre.
Es wurde auch festgestellt, dass die Beschwerdeführerin in der Türkei weiterhin über ein familiäres Netzwerk verfügt, von welchem sie unterstützt werden kann. Als türkische Staatsbürgerin verfügt die Beschwerdeführerin auch über einen Zugang zum Gesundheits- sowie Sozialsystem.
Im Zuge des gegenständlichen Verfahrens und den nachfolgenden Stellungnahmen wurde auch kein Vorbringen erstattet, aus welchem abzuleiten wäre, dass die Beschwerdeführerin hinsichtlich einer möglichen Infektion mit dem Corona-Virus einer Risikogruppe angehören würde oder warum sonst davon auszugehen wäre, dass konkret die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr mit einer Gesundheitsgefährdung zu rechnen hätten, zumal sie selbst keinerlei, hinsichtlich einer COVID-19-Erkrankung relevante, Erkrankungen vorgebracht hat. Es kann nicht erkannt werden, dass die Beschwerdeführerin durch eine Rückkehr in die Türkei einem höheren Risiko ausgesetzt wären, an COVID-19 zu erkranken, als in Österreich.
Im Hinblick auf die zur Zeit vorherrschende Pandemie wegen des Corona-Virus und der daraus resultierenden Krankheit COVID-19 – statistische Daten über die Infektionslage in der Türkei sowie Berichte über die dort getroffenen Maßnahmen sind für die Allgemeinheit über das Netz leicht zugänglich – und der Situation in der Türkei kann aufgrund der Zahl der Infektionen sowie des typischen Krankheitsverlaufes und der persönlichen Situation der Beschwerdeführerin (aus den Altersangaben und den Angaben der Beschwerdeführerin zu ihrem Gesundheitszustand kann nicht geschlossen werden, dass diese zur Gruppe der von COVID-19 besonders Gefährdeten gehört) und des Umstandes, dass der türkische Staat auf die Situation bisher angemessen reagierte, nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefahr iSd Art. 2 bzw. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Ebenfalls kann dies nicht aus der Verpflichtung, sich anlässlich der Einreise einer Untersuchung zu unterziehen, bzw. sich in Quarantäne zu begeben, abgeleitet werden.
Die Feststellungen zu den (nicht) vorhandenen Deutschkenntnissen der Beschwerdeführerin ergeben sich überwiegend aus dem persönlichen Eindruck der erkennenden Richterin in der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Die Beschwerdeführerin konnte die an sie auf Deutsch gerichteten und nicht übersetzten Fragen weder verstehen noch beantworten (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 8).
Der Umstand, dass nicht festgestellt werden konnte, dass für die Beschwerdeführerin entsprechend ihrem Vorbringen in der schriftlichen Stellungnahme vom 14.07.2022 (OZ 30) neuerlich ein Antrag auf Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung gestellt worden ist, ergibt sich daraus, dass entsprechende Nachweise im Verfahren nicht vorgelegt wurden und in der Stellungnahme auch sonst keine weitere Präzisierung dahingehend erfolgte, von wem und für welche Art bzw. welches Ausmaß der Beschäftigung ein solcher Antrag gestellt worden wäre. Auch konnte die Beschwerdeführerin keine aktuelle Einstellungszusage vorlegen und hat auch kein entsprechendes Vorbringen erstattet.
Die übrigen Feststellungen hinsichtlich den Sprachkenntnissen, Lebensumständen, familiären Bindungen und dem Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin ergeben sich aus den im Verwaltungs- bzw. Gerichtsakt einliegenden Beweismitteln und insbesondere den im gesamten Verfahren von der Beschwerdeführerin gemachten Angaben, welche jeweils in Klammer zitiert und von der Beschwerdeführerin zu keiner Zeit bestritten wurden.
2.3. Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates und den geäußerten Rückkehrbefürchtungen:
2.3.1. Im Zuge der Erstbefragung am 05.01.2017 (vgl. AS 9) brachte die Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen befragt vor, sie selbst habe keine Probleme in der Türkei gehabt, aber ihr Ehemann sei politischer Aktivist bei der kurdischen Partei (HDP) gewesen. Deswegen habe der türkische Geheimdienst die gemeinsame Wohnung in Istanbul kontrolliert. Der Ehemann habe sich in der Türkei immer versteckt und sei zwischenzeitlich nach Österreich geflüchtet. Weil sie eine Frau sei, habe die Beschwerdeführerin Probleme mit dem türkischen Geheimdienst und sei sie dadurch psychisch erkrankt sowie seither in Behandlung. Sie habe sich entschlossen, die Türkei zu verlassen. Im Falle einer Rückkehr würde sie zu 100 Prozent ins Gefängnis kommen. Weil sie eine Frau sei, wäre in einem türkischen Gefängnis alles möglich. Ihr drohe keine Todesstrafe, aber mit Sicherheit unmenschliche Behandlung und eine lange Gefängnisstrafe.
Im Zuge ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt am 23.11.2017 (vgl. AS 61 ff) gab die Beschwerdeführerin auf Türkisch im Wesentlichen an, sie sei in der Türkei nicht vorbestraft oder inhaftiert gewesen und habe keine Probleme mit den dortigen Behörden. Gegen sie selbst bestünden keine staatlichen Fahndungsmaßnahmen, jedoch gegen ihren Ehemann, der sich derzeit in der Türkei in Istanbul aufhalte. Sie selbst sei auch nicht politisch tätig oder Mitglied einer Politischen Partei gewesen, ihr Ehemann aber schon. Sie sei kurdische Alevitin und habe daher aufgrund ihres Religionsbekenntnisses und ihrer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei Probleme gehabt. Sie habe in der Türkei an keinen bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen aktiv teilgenommen. Ihr Ehemann habe mit der HDP zu tun und wegen seiner Tätigkeiten für die Partei große Probleme bekommen. Welche Tätigkeiten der Ehemann für die Partei verübt habe, wisse sie jedoch nicht. Soweit sie wisse, sei er von staatlichen Organen verfolgt worden. Er sei deshalb oft nicht zuhause gewesen, sie kenne die genauen Probleme aber nicht. Die Sicherheitskräfte seien oft zur Beschwerdeführerin gekommen und hätten nach ihrem Ehemann gefragt. Sie habe ihnen aber nichts sagen könne, weil sie selber nicht gewusst habe, wo er sich aufhalte. Deshalb sei es der Beschwerdeführerin auch psychisch nicht so gut gegangen. Sie habe daher daran gedacht, nach Österreich zu kommen, weil hier einige Geschwister leben würden. Sie sei mit einem Visum nach Österreich gereist. Ihr Ehemann sei ihr daraufhin illegal nach Österreich gefolgt; sie hätten sich hier aber nicht gut miteinander verstanden und habe sich ihr Verhältnis immer weiter verschlechtert. Trotz seiner Probleme sei er dann freiwillig in die Türkei zurückgekehrt, zumal der Ehemann bemerkt habe, dass sie in Österreich eine neue Lebensgemeinschaft begonnen und mit diesem Mann zusammengezogen sei. Der Ehemann habe es nicht verkraftet, dass sie ihn nicht mehr liebe. Sie habe dieselben Probleme wie ihr Ehemann und wolle daher in Österreich bei ihren Geschwistern bleiben. Auch wegen ihrer Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit habe sie in der Türkei etwa bei der Arbeitsaufnahme Probleme gehabt. Auch Bevölkerung habe schlecht über sie [gemeint: alevitische Kurden, Anm.] geredet. Die Geschwister der Beschwerdeführerin hätten keinen Kontakt mit ihrem Ehemann, sodass diese wegen ihm keine Probleme hätten. Sie könne auch nicht in die Türkei zurückkehren, so lange ihr Ehemann dort lebe, dieser würde sie umbringen. Außerdem wolle sie nicht zurückkehren. Die Polizei könne eine Bedrohung durch ihren Ehemann nicht verhindern. Persönlich bedroht habe er sie bisher nicht. Sie sei auch in der Türkei niemals persönlich bedroht worden.
2.3.2. Beweiswürdigend führte das Bundesamt bezogen auf die von der Beschwerdeführerin dargelegten Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen im angefochtenen Bescheid aus, dass es der Beschwerdeführerin nicht gelungen sei, den von ihr vorgebrachten Fluchtgrund glaubhaft und in sich schlüssig darzulegen. Das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin sowohl in der Erstbefragung als auch der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt habe sich darauf bezogen, dass ihr (damaliger) Ehemann bei der HDP politisch aktiv gewesen wäre und deswegen von türkischen Behörden verfolgt worden sei. Die türkischen Sicherheitsbehörden wären immer wieder zur Beschwerdeführerin nach Hause gekommen und hätten nach ihrem Ehemann gefragt. Der Ehemann der Beschwerdeführerin sei jedoch am 09.08.2017 freiwillig in die Türkei ausgereist, sodass das Bundesamt davon ausgehe, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin tatsächlich ohne Probleme in der Türkei leben könne. Es sei für die Behörde daher nicht nachvollziehbar, weshalb vor diesem Hintergrund die Beschwerdeführerin Probleme mit türkischen Behörden haben sollte, zumal sie ihren Angaben nach jetzt keinen Kontakt mehr zum Ehemann habe. Sie habe sich zudem im September 2016 problemlose einen neuen Reisepass ausstellen lassen und in der Folge legal mit einem Visum aus der Türkei ausreisen können. Dass die Beschwerdeführerin dabei offenbar keine Bedenken gehegt habe, sich einer Passkontrolle bei der Ausreise zu unterziehen, deute darauf hin, dass sie Verfolgungshandlungen seitens der türkischen Behörden weder selbst befürchtet haben noch solche zu befürchten gehabt hätte. Darüber hinaus sei der türkische Staat auch fähig und willens, im Falle einer tatsächlichen Bedrohung durch den Ehemann den erforderlichen Schutz zu gewähren bzw. wäre ein entsprechendes Verhalten auch in der Türkei strafrechtlich sanktioniert. Zudem habe die Beschwerdeführerin selbst angegeben, bisher nie vom Ehemann bedroht worden zu sein, sondern nur von sich aus zu glauben, dass er sie töten wolle. Es sei zudem nicht glaubwürdig, dass die Beschwerdeführerin der ihr angeblich drohenden Gefahr im gesamten Staatsgebiet der Türkei ausgesetzt wäre und sie keine Möglichkeit hätte, innerhalb der Türkei einen sicheren Aufenthaltsort zu finden. Eine Niederlassung an einem anderen Ort der Türkei der ihr zuzumuten. Soweit die Beschwerdeführerin geltend mache, Angehörige einer Minderheit zu sein, so könne dieser Umstand bzw. eine allgemein schlechte Situation für Angehörige von Minderheiten nicht eine Asylgewährung rechtfertigen. Allgemeine Diskriminierungen und soziale Ächtung würden für sich genommen nicht die Intensität aufweisen, die zu einer Asylgewährung führen könne oder müsse. Auch gestalte sich die allgemeine Situation von Kurden in der Türkei entsprechend der Länderberichte nicht als derart, dass angenommen werden müsse, dass kurdischen Personen in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit alleine aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wären.
2.3.3. Im Rahmen der Beschwerde vom 07.02.2018 (vgl. AS 229 ff) brachte die Beschwerdeführerin zusammengefasst vor, sie habe bis zu ihrem 27. Lebensjahr in XXXX (nachfolgend: B.) bei ihren Eltern gewohnt. 2003 habe sie ihren Ehemann geheiratet und sei mit ihm nach Istanbul gezogen. Dort sei sie als Küchengehilfin erwerbstätig gewesen. Sie habe die Türkei zunächst deshalb verlassen, weil ihr Ehemann Anhänger der kurdischen Partei HDP gewesen sei, weshalb immer wieder der Geheimdienst vor der Tür gestanden sei und sich bei der Beschwerdeführerin nach ihrem Ehemann erkundigt habe. Dieser habe sich aber immer versteckt und sei dann selbst nach Österreich geflüchtet. Als sie sich hier wiedergesehen hätten, hätten sie sich auseinandergelebt und die Beschwerdeführerin habe die Scheidung beantragt. Er habe auch mitbekommen, dass die Beschwerdeführerin eine neue Beziehung habe und habe deswegen sofort wieder das Land verlassen. In ihrem Kulturkreis stelle es einen Angriff auf die Ehre dar, wenn man sich scheiden lasse. Sie habe daher begründet Angst, dass ihr Ehemann sie umbringen werde, wenn sie in die Türkei zurückkehren müsse. Es wäre dort innerhalb der kurdischen Gemeinschaft einfach für ihn, sie dort aufzuspüren. Sie wäre in der Türkei nirgends sicher. Im Falle ihrer Einreise in die Türkei würde man sie weiters des Terrorismus beschuldigen, da sie mit einem HDP Mitglied verheiratet gewesen bzw. noch sei. Der türkische Staat sei weiters hinsichtlich der drohenden Verfolgung durch den Ehemann weder schutzfähig noch schutzwillig. Sie habe weiters ein schützenswertes Familienleben in Österreich, wo drei Brüder und eine ihrer Schwestern leben würden. Sie wohne derzeit bei einem ihrer Brüder, sei mit ihrem aktuellen Lebensgefährten aber gerade auf Wohnungssuche. Dieser unterstütze sie auch finanziell und sei sie derzeit bemüht, ihre Deutschkenntnisse zu verbessern und alsbald die A1-Prüfung abzulegen. Das Erlebte und die Angst vor ihrem Ehemann hätten sie bisher vom Lernen abgehalten. Eine Rückkehrentscheidung sei daher unzulässig.
Im Rahmen der schriftlichen Stellungnahme der bevollmächtigten Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin vom 02.06.2022 (vgl. OZ 20) wurde zu den Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen der Beschwerdeführerin zusammengefasst ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin keinen Kontakt zu ihrem geschiedenen Ehemann in Österreich habe und sich durch die Tatsache, dass sich dieser wieder in Österreich aufhalte, beunruhige. Sie könne nicht ausschließen, dass ihr Ex-Ehemann sie durch seinen weiteren Aufenthalt in Österreich in Angst und Furcht versetzen wolle, indem er ihr zu erkennen geben wolle, dass er sie verfolge und sie sich auch in Österreich nicht in Sicherheit fühlen könne. Sie vertraue auf den österreichischen Rechtsstaat, der ihr im Falle eines tatsächlichen Angriffes raschere und effektivere Hilfe zukommen lassen würde als die Türkei. Weiters würden Familienangehörige, darunter zwei Brüder und mehrere Verwandte der Beschwerdeführerin, in Österreich leben und fühle sie sich auch deshalb nicht alleine gelassen. Mit ihren Brüdern sei sie in ständigem Kontakt und könne sie in der Türkei auf keine familiäre Unterstützung zurückgreifen. Würde die Beschwerdeführerin in die Türkei zurückkehren, würde ihr geschiedener Ehemann ihr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dorthin nachfolgen. Falls die Beschwerdeführerin in Österreich keinen Schutz erhalte, würde das den geschiedenen Ehemann in seinem Vorhaben, der Beschwerdeführerin zu schaden, seine Drohungen umzusetzen und die Ängste und Befürchtungen der Beschwerdeführerin wahr werden zu lassen, bestärken. Ein Leben in ständiger Angst in der Türkei wäre für die Beschwerdeführerin daher menschenunwürdig und unerträglich.
In der schriftlichen Stellungnahme vom 14.07.2022 wurde zusammengefasst neuerlich vorgebracht, die Beschwerdeführerin habe ihren Asylantrag ursprünglich mit den politischen Aktivitäten ihres inzwischen geschiedenen Ehemannes für die HDP und damit zusammenhängende Hausdurchsuchungen und Nachforschungen der Behörden gegen den geschiedenen Ehemann begründet. Auch dieser hätte ursprünglich in Österreich einen Asylantrag gestellt, sei jedoch vermutlich wieder in die Türkei zurückgekehrt, weil die Beschwerdeführerin noch während der damals aufrechten Ehe einen anderen Partner gehabt habe. Er sei wohlwissend, dass er in der Türkei verfolgt werde, dorthin zurückgekehrt. Im Falle der Rückkehr der Beschwerdeführerin in die Türkei drohe ihr dort die Ermordung durch ihren geschiedenen Ehemann, sei es doch im Kulturkreis der Beschwerdeführerin eine „Todesentscheidung“, während noch aufrechter Ehe einen anderen Partner zu suchen. Ergänzend werde infolge der Scheidung der Beschwerdeführerin von ihrem Ehemann zu ihren Fluchtgründen noch vorgebracht, dass diese aufgrund der politischen Gründe ihres geschiedenen Ehemannes ursprünglich keine eigenen politischen Fluchtgründe vorgebracht habe. Die bisherigen Fluchtgründe in Zusammenhang mit dem geschiedenen Ehemann würden jedoch aufrechterhalten werden. Obwohl die Beschwerdeführerin inzwischen geschieden sei, werde sie bei den türkischen Behörden im System als „feindlich eingestuft“, zumal mehrere ihrer eigenen Familienangehörigen mit demselben Nachnamen ( XXXX , Anm.; nachfolgend: Y.) in den Konflikt mit dem türkischen Militär und der kurdischen PKK involviert seien. Aufgrund ihres Alters und ihrer Herkunftsregion in der Türkei habe die Beschwerdeführerin zudem die heftigsten kriegerischen Zeiten zwischen dem türkischen Militär und der PKK zwischen 1980 und 1997 miterleben müssen. Oft sei ihr Dorf Schauplatz von Gefechten gewesen. Die Familie habe sich zum Schutz im Haus einsperren müssen. Auch sei einer ihrer Brüder vor den Augen der Beschwerdeführerin vom türkischen Militär geschlagen und gefoltert worden. Andere Verwandte seien ums Leben gekommen bzw. immer wieder festgenommen worden. Deswegen sei die Beschwerdeführerin psychisch belastet, da sie bis zu ihrem 27. Lebensjahr in ständiger Angst gelebt habe und deswegen den staatlichen Behörden der Türkei nicht mehr vertrauen könne, wenngleich sie selbst nie misshandelt oder gefoltert worden sei. Nach der Eheschließung und dem Umzug mit dem Ehemann nach Istanbul seien diese Erinnerungen durch die politischen Aktivitäten des (inzwischen geschiedenen) Ehemannes für die HDP und deren Folgen (Hausdurchsuchungen, Verfolgung des Ehemannes durch Geheimagenten) wieder hervorgekommen und für die Beschwerdeführerin im Ausmaß wie eine Folter belastend gewesen. Die Beschwerdeführerin habe im Zuge der Hausdurchsuchungen jedoch nie direkt physische Nachteile erlitten. Diese hätten für sie jedoch eine menschenunwürdige und erniedrigende Behandlung dargestellt. Auch habe die Beschwerdeführerin die politischen Ansichten ihres geschiedenen Ehemannes geteilt, zumal sich die HDP für die Rechte der Kurden einsetze. Selbst habe sie sich jedoch nie politisch engagiert. Auch ihr Bruder XXXX (nachfolgend: BA.) sei mit seiner Familie aus ähnlichen Gründen aus der Türkei geflüchtet und habe in Österreich einen Asylantrag gestellt. Auch würden mehrere Brüder der Beschwerdeführerin inzwischen in Österreich leben. Bruder BU. sei geschieden und habe die Obsorge über seine drei Kinder im Alter von acht, fünfzehn und siebzehn Jahren, welche die Beschwerdeführerin seit etwa fünfeinhalb Jahren betreue. Zwischen ihr und den Kindern bestünde ein Abhängigkeitsverhältnis und sei die Beschwerdeführerin die Bezugsperson der Kinder, welche ihrerseits österreichische Staatsangehörige wären.
In der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 18.07.2022 verwies die Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen im Wesentlichen auf die schriftliche Stellungnahme der Rechtsvertretung vom 14.07.2022 und gab auf Befragen zusätzlich im Wesentlichen an, es sei richtig, dass sie sowohl in der Erstbefragung als auch vor dem Bundesamt angegeben habe, dass sie selbst keine Probleme in der Türkei gehabt habe, sondern nur wegen ihres damaligen Ehemannes, tatsächlich sei sie aber zum Schluss in der Türkei selbst bedroht worden. Sie vermute, vor lauter Aufregung habe sie dies vor den österreichischen Behörden nicht erzählt. Sie könne sich nunmehr aber daran erinnern, dass sie doch darüber gesprochen habe. Sie selbst sei von Polizisten in der Türkei bedroht worden, als sie das Haus der Beschwerdeführerin auf der Suche nach ihrem damaligen Ehemann durchsucht hätten. Man habe ihr gedroht und sie solle den Beamten sagen, wo sich ihr Ehemann aufhalte. Sie sei auch beschimpft worden. Dadurch habe sie sich persönlich bedroht gefühlt, da sie schon immer Angst vor Gewalttätigkeiten gehabt habe und diese auch nicht im Fernsehen sehen könne. Auf Vorhalt durch die erkennende Richterin, dass der Umstand, dass ihr damaliger Ehemann von Österreich aus in die Türkei zurückgekehrt sei, weil die Beschwerdeführerin eine Beziehung mit einem anderen Mann in Österreich gehabt habe, nicht auf einen besonders rachsüchtigen (nunmehr geschiedenen) Ehemann schließen lasse, gab die Beschwerdeführerin an, der geschiedene Ehemann habe gar nichts [gegen die Beschwerdeführerin, Anm.] machen können, da dieser die österreichischen Gesetze gekannt habe. Auf Vorhalt, dass der geschiedene Ehemann seit eineinhalb Jahren wieder in Österreich lebe und dies nur etwa zwanzig Autominuten von der Adresse der Beschwerdeführerin entfernt, weiters über einen Aufenthaltstitel in Österreich verfüge und dies nicht darauf hindeute, dass er nur nach Österreich zurückgekehrt sei, um die Beschwerdeführerin zu bedrohen, gab die Beschwerdeführerin nur an, dass sie gehört habe, dass ihr geschiedener Ehemann wieder geheiratet habe und durch diese Heirat neuerlich nach Österreich einreisen habe können. Es habe bisher noch nie eine Situation gegeben, die die Beschwerdeführerin als bedrohlich empfunden habe. Dennoch sei sie der Meinung, dass in der türkisch/kurdischen Kultur ein Mann nicht akzeptieren könne, dass eine Frau einen anderen Mann liebe. Deshalb wisse man nicht, wann oder was dieser Mann machen würde. Kulturell gesehen würde der Mann typischerweise etwas unternehmen. Sie habe aber keinen Polizeischutz angefordert oder ähnliche Maßnahmen getroffen. Auf Vorhalt, dass es in Österreich zu einer verhältnismäßig großen Zahl an Femiziden komme und auch in Österreich nicht jede Frau von der Polizei automatisch überwacht werde, ohne dass eine entsprechende Anzeige vorliege, führt die Beschwerdeführerin nur aus, sie habe vom Rechtsvertreter gehört, dass ihr geschiedener Ehemann wieder in Österreich sei. Bisher habe sie nichts davon gewusst. Sie habe es weiters von der türkischen Community in Österreich erfahren, dass ihr geschiedener Ehemann wegen neuerlicher Eheschließung wieder in Österreich aufhältig sei. Weitere Gründe, weshalb sie aus der Türkei ausgereist sei bzw. nicht dorthin zurückkehren könne, würden nicht bestehen, jedoch wolle sie dorthin nicht zurückkehren. In der Türkei habe sie nichts mehr. Auf Vorhalt, wieso die türkischen Behörden vor dem Hintergrund der Scheidung und der mehrjährigen Rückkehr ihres geschiedenen Ehemannes in die Türkei an der Beschwerdeführerin Interesse haben sollten, führte sie aus, sie sei der Meinung, die türkische Regierung würde niemanden gehen lassen, wenn sie gegen diese Person etwas in der Hand hätten. Sie wisse nicht, wo ihr geschiedener Ehemann gewesen sei, ob er die Sache bereinigt habe oder diese fallen gelassen worden sei oder ob er woanders gewesen sei. Befragt zu der Angehörigkeit der Beschwerdeführerin zu den alevitischen Kurden gab sie nur an, alevitische Kurden seien bereits immer ausgegrenzt worden. Sie dürfe etwa nicht Kurdisch sprechen. Auf die Frage, was der Beschwerdeführerin konkret im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen würde, gab sie an, dass sie das überhaupt nicht wüsste, sie könnte jedoch in der Türkei leben, wenn sie die von ihr geschilderten Probleme nicht hätte.
2.3.4. Zusammengefasst macht die Beschwerdeführerin daher einerseits geltend, sie hätte die Türkei deshalb verlassen, weil ihr damaliger Ehemann für die HDP tätig gewesen sei, deshalb behördlich in der Türkei verfolgt worden sei und es im Zuge dessen immer wieder zu Hausdurchsuchungen gekommen sei, von welchen auch die Beschwerdeführerin betroffen gewesen sei. Sie sei dabei von den Polizisten nach dem Verbleib des Ehemannes befragt und auch verbal bedroht worden. Weiters habe sie Angst vor Übergriffen oder der Ermordung durch den Ehemann, weil sie noch vor ihrer Scheidung eine Beziehung mit einem anderen Mann begonnen habe und Männer das in ihrem Kulturkreis nicht hinnehmen und sich grundsätzlich an der Frau dafür rächen würden. Weiters würde sie als kurdische Frau alevitischen Glaubens in der Türkei diskriminiert werden.
Vorweg ist dazu auszuführen, dass dem Bundesamt grundsätzlich darin zu folgen ist, wenn ausgeführt wird, dass das von der Beschwerdeführerin erstattete Vorbringen in Bezug auf die Rückkehrbefürchtungen nicht glaubhaft ist und auch sonst keine Hinweise auf eine Verfolgung bzw. Gefährdung im Rückkehrfall hervorgekommen sind. Auch mit ihren Stellungnahmen und nach persönlicher Anhörung in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vermochte die Beschwerdeführerin ihre Rückkehrbefürchtungen nicht glaubhaft darzutun, zumal sie auch keinen persönlich glaubwürdigen Eindruck in der mündlichen Verhandlung hinterließ. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin erweist sich als äußerst vage, zudem auch widersprüchlich und in wesentlichen Teilen auch nicht nachvollziehbar.
2.3.4.1. So konnte die Beschwerdeführerin keine Anzahl, Daten bzw. Zeiträume oder beteiligte Personen an den von ihr vorgebrachten Vorfällen nennen. Die Beschwerdeführerin selbst brachte auch zu keiner Zeit vor bzw. verneinte ausdrücklich, selbst jemals Mitglied einer politischen Partei, einer anderen politisch aktiven Bewegung oder einer bewaffneten Gruppierung gewesen zu sein. Sie stützte sich, wie bereits auch vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid ausgeführt, ausdrücklich darauf, dass ihr (inzwischen geschiedener) Ehemann für die kurdische Partei HDP politisch tätig gewesen sei, er deshalb von türkischen Sicherheitsbehörden gesucht worden sei und auch sie dadurch insofern betroffen gewesen sei, als es zu Hausdurchsuchungen durch die Sicherheitsbehörden gekommen wäre, in Zuge deren man die Beschwerdeführerin nach dem Aufenthaltsort ihres Ehemannes befragt hätte. Sie würde wegen der Ehe mit einem HDP Mitglied ebenfalls bedroht bzw. vom türkischen Staat als Terroristin angesehen werden.
Dazu ist dem Bundesamt in seiner Argumentation zu folgen, dass vor dem Hintergrund der fremdenrechtlichen Historie des Ehemannes der Beschwerdeführerin – dieser ist nach Asylantragstellung in Österreich bereits am 09.08.2017 freiwillig unter Inanspruchnahme der Rückkehrhilfe in die Türkei zurückkehrte und sein Asylverfahren wurde in der Folge eingestellt – nicht davon ausgegangen werden kann, dass dieser in der Türkei tatsächlich einer Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen ist. Auch liegen keinerlei Hinweise oder Beweismittel vor, dass der (geschiedene) Ehemann der Beschwerdeführerin tatsächlich für die HDP tätig gewesen ist oder Parteimitglied war.
Dem Bundesamt ist weiters darin zu folgen, dass unabhängig davon, ob dies tatsächlich der Fall gewesen ist oder nicht, sich die Beschwerdeführerin selbst noch im September 2016 in der Türkei einen neuen Reisepass ausstellen ließ, in der Folge bei der Österreichischen Botschaft in der Türkei unter Angabe falscher Tatsachen die Ausstellung eines Schengen-Visums erwirkte und am 10.10.2016 legal unter Verwendung des Reisepasses auf dem Luftweg die Türkei nach Österreich verließ, wobei sie offensichtlich problemlos die Passkontrolle bei der Ausreise passieren konnte. Wäre die Beschwerdeführerin tatsächlich von türkischen Behörden unter Beobachtung gestanden oder verfolgt worden, wäre sie bei der Beantragung des Reisepasses oder spätestens bei der Passkontrolle im Zuge ihrer Ausreise aus der Türkei aufgegriffen worden. Die Beschwerdeführerin konnte die Türkei jedoch problemlos, unbehelligt und auf legalem Wege verlassen, was gegen eine drohende Verfolgung der Beschwerdeführerin durch türkische Behörden spricht. Weiters ist die Beschwerdeführerin von ihrem Ehemann seit 10.04.2018 rechtskräftig geschieden und hatte seither keinerlei Kontakt mehr zu ihm, sodass in Anbetracht der inzwischen verstrichenen Zeit auch nicht erkannt werden kann, dass eine allfällig diesbezüglich bestehende Verfolgungsgefahr noch die erforderliche Aktualität aufweisen würde. Schließlich hat die Beschwerdeführerin auch jede gegen sie persönlich gerichtete Verfolgungs- oder Bedrohungshandlung in der Erstbefragung, der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt und selbst in der Beschwerde verneint.
In der unmittelbar vor der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 18.07.2022 eingebrachten schriftlichen Stellungnahme vom 14.07.2022 brachte sie dann vor, die Mitglieder des Geheimdienstes bzw. der Sicherheitsbehörden hätten sie zwar nie selbst misshandelt oder gefoltert, jedoch habe sie die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen türkischem Militär und der PKK zwischen 1980 und 1997 und die Folgen für ihre Verwandten miterleben müssen und sei deswegen psychisch belastet. Im Zuge Hausdurchsuchungen der Sicherheitsbehörden nach ihrem Ehemann habe sie ebenfalls nie direkte physische Nachteile erlitten, sie habe diese Durchsuchungen jedoch als menschenunwürdige und erniedrigende Behandlung empfunden. Erstmals in der mündlichen Beschwerdeverhandlung führte die Beschwerdeführerin dann aus, es sei zwar richtig, dass sie selbst bisher im Verfahren immer angegeben habe, bisher selbst keine Probleme in der Türkei gehabt zu haben, tatsächlich sei sie zum Schluss aber auch selbst bedroht worden und habe dies vermutlich vor lauter Aufregung nicht den Behörden mitgeteilt bzw. könne sie sich doch daran erinnern, das erzählt zu haben. Sie selbst sei von Polizisten in der Türkei bedroht worden, als sie das Haus der Beschwerdeführerin auf der Suche nach ihrem damaligen Ehemann durchsucht hätten. Man habe ihr gedroht, dass sie nicht lügen und den Beamten sagen solle, wo sich ihr Ehemann aufhalte. Sie sei auch beschimpft worden. Dadurch habe sie sich persönlich bedroht gefühlt, da sie schon immer Angst vor Gewalttätigkeiten gehabt habe und diese auch nicht im Fernsehen sehen könne.
Durch die die erhebliche, nicht erklärbare Steigerung ihres bisherigen Vorbringens (die unterstellte fehlerhafte bzw. mangelhafte Protokollierung durch die Behörde wurde ebenfalls erstmals vorgebracht und ist kein Grund ersichtlich, weshalb dieser Umstand nicht früher im Verfahren hätte vorgebracht werden können, zumal die Beschwerdeführerin schriftliche Stellungnahmen vor der mündlichen Verhanlung abgab, in welchen sie Ausführungen zum Grund für ihre Ausreise bzw. Rückkehrbefürchtungen tätigte) wurde sehr stark der Eindruck erweckt, dass ein für die Beschwerdeführerin günstigerer Sachverhalt konstruiert wurde. An dieser Stelle ist daher festzuhalten, dass es sich bei dem neuen Vorbringen um eine im Sinne des § 20 BFA-VG unzulässige Neuerung handelt. Davon abgesehen ist das neu erstattete Vorbringen aber auch nicht glaubhaft, da die Beschwerdeführerin keine konkreten Details nennen konnte und ihre Ausführungen auch sehr vage blieben. Sofern die Beschwerdeführerin ausführt, sie habe sich durch die Befragung der Polizei (ob diese je stattgefunden hat, kann nicht festgestellt werden) und die Aufforderung, nicht zu lügen, persönlich bedroht gefühlt, ist darauf zu verweisen, dass das subjektive Empfinden einer konkreten Handlung auch objektiv geeignet sein muss, um einen Durchschnittsmenschen nachvollziehbar in maßgebliche Angst oder Unruhe zu versetzen, was gegenständlich nicht der Fall ist.
Ebenfalls erst mit der schriftlichen Stellungnahme vom 14.07.2022 (vgl. OZ 30) machte die Beschwerdeführerin geltend, auch mehrere ihrer Familienangehörigen mit demselben Nachnamen ( XXXX , Anm.; nachfolgend: Y.) würden in den Konflikt mit dem türkischen Militär und der kurdischen PKK involviert sein und daher würde auch die Beschwerdeführerin von den türkischen Behörden im System automatisch als „feindlich“ eingestuft werden, zumal auch ihr Bruder BA. mit seiner Familie aus diesen Gründen aus der Türkei geflüchtet sei und in Österreich einen Asylantrag gestellt habe. Dazu ist zunächst auszuführen, dass es selbst bei Wahrunterstellung dieses Vorbringens (wovon aus den nachfolgend dargelegten Gründen aber nicht ausgegangen werden kann) zum Familiennamen Y. für das erkennende Gericht nicht nachvollziehbar ist, weshalb die Beschwerdeführerin dann nach ihrer Scheidung am 10.04.2018 ihren Ehenamen wieder abgelegt und eben jenen Nachnamen wieder angenommen hat, der sie einer Verfolgung oder Bedrängung durch die türkischen Behörden aussetzen würde.
Zu den Asylverfahren des Bruders BA und seiner Familie wird im Detail auf die Feststellungen verwiesen. Der erste Antrag auf internationalen Schutz wegen der behaupteten Verfolgung durch die türkischen Behörden in der Türkei wegen der politischen Tätigkeit der Beschwerdeführer und wegen behaupteter exilpolitischer Tätigkeiten in Österreich wurde (ebenso wie ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens) rechtskräftig abgewiesen und wurde die dagegen erhobene außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof (VwGH) mit Beschluss vom 18.10.2019, Ra 2019/01/0385 bis 0389, zurückgewiesen. Auch wenn das Verfahren zum Asylfolgeantrag, der im Wesentlichen auf die selben Gründe und eine fortgesetzte exilpolitische Tätigikeit in Österreich gestützt wurde und erst kürzlich mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes abermals als unbegründet abgewiesen wurde, derzeit beim Verfassungsgerichtshof anhängig ist, so ist aufgrund des Ergebnisses zum ersten Asylverfahren doch davon auszugehen, dass die Familie des Bruders BA keine asylrelevante politische Tätigkeit in der Türkei entfaltete, was jedenfalls das Vorbringen der Beschwerdeführerin, diese würden in den Konflikt mit dem türkischen Militär und der kurdischen PKK involviert sein, nicht nachvollziehbar erscheinen lässt.
Das Vorbringen der Beschwerdeführerin erweist sich für das erkennende Gericht aus der Gesamtheit der angeführten Gründe als gänzlich unsubstantiiert und unglaubwürdig, sodass entsprechende Feststellungen (nicht) zu treffen waren.
2.3.4.2. Auch die unsubstantiierten Befürchtungen der Beschwerdeführerin, von ihrem geschiedenen Ehemann bedroht, verfolgt oder gar getötet zu werden, erweisen sich vor den nachfolgenden Erwägungen als unglaubwürdig:
Die Beschwerdeführerin hat ihren Angaben zufolge nach ihrer Einreise in Österreich noch während aufrechter Ehe eine Beziehung mit einem anderen Mann begonnen, woraufhin ihr damaliger Ehemann im August 2017 in die Türkei zurückkehrte. Den eigenen Angaben der Beschwerdeführerin nach seither bzw. bisher zu keinerlei Bedrohung oder sonst einem Vorfall mit dem inzwischen geschiedenen Ehemann gekommen. Die Scheidung ist zudem einvernehmlich unter gegenseitigem Verzicht auf wechselseitige Unterhaltsansprüche bereits am 10.04.2018 rechtskräftig erfolgt. Der geschiedene Ehemann der Beschwerdeführerin hat sich daraufhin offensichtlich mehrere Jahre in der Türkei aufgehalten und dann eine in Österreich legal aufhältige Drittstaatsangehörige geheiratet, sodass ihm ein Aufenthaltstitel Rot-Weiß-Rot Karte plus erteilt wurde. Der geschiedene Ehemann der Beschwerdeführerin lebt seit Mitte Jänner 2021 durchgehend in Österreich und das nur etwa zwanzig Autominuten vom Wohnort der Beschwerdeführerin entfernt. Es ist dennoch bisher zu keinerlei Kontaktaufnahme oder sonstiger Bedrohung oder Verfolgung der Beschwerdeführerin durch ihren geschiedenen Ehemann oder in dessen Auftrag gekommen. Die Beschwerdeführerin hat sich auch nicht um Polizeischutz bemüht oder eine einstweilige Verfügung beantragt. Es finden sich für das Gericht keinerlei tragfähige Hinweise darauf, dass die Beschwerdeführerin der Gefahr einer Bedrohung oder Verfolgung durch den geschiedenen Ehemann ausgesetzt wäre, zumal dieser seit eineinhalb Jahren wieder in Österreich in unmittelbarer Nähe der Beschwerdeführerin lebt und sich gar nicht mehr in der Türkei aufhält.
Dass die Beschwerdeführerin subjektiv der Ansicht ist, dass ein türkischer bzw. kurdischer Mann aus kulturellen Gründen eine Scheidung durch die Ehefrau bzw. eine außereheliche Beziehung nicht hinnehmen würde und sich sicher in irgendeiner Form an ihr rächen bzw. sie sogar umbringen würde, vermag daran nichts zu ändern, zumal sich darauf kein einziger tragfähiger Hinweis findet und die Beschwerdeführerin von ihrem Ehemann zudem bereits vor über vier Jahren und einvernehmlich geschieden wurde.
Es ist im Übrigen auch darauf zu verweisen, dass eine Gewalttat im Rahmen einer (ehemaligen) Beziehung auch in Österreich nicht ausgeschlossen werden kann. Dass sich die Beschwerdeführerin hier sicherer fühle wie in der Türkei ist ebenfalls eine sehr subjektive und letztlich auch nicht nachvollziehbare Sichtweise, zumal staatlicher Schutz auf einer persönlichen Ebene nur jenen zuteil werden kann, die von den Behörden als schutzbedürtig eingestuft werden, wozu es üblicherweise einer Anzeige oder einer sonstigen Kontaktaufnahme mit den Sicherheitsdiensten bedarf. Zum anderen ist die Aussage auch nicht glaubhaft. Sollte die Beschwerdeführerin nämlich tatsächlich Angst vor ihrem geschiedenen Ehemann haben, so ist nicht ersichtlich, weshalb sie sich bisher nicht an die Polizei gewandt hat. Der Ansicht, dass sie hier Verwandte hat, die sie schützen können, ist entgegenzuhalten, dass die Beschwerdeführin auch über eine Vielzahl von Verwandten in der Türkei verfügt. Zudem geht aus dem Vorbringen der Beschwerdeführerin auch nicht hervor, dass sie ständig von ihren Verwandten bewacht oder umsorgt wird; im Gegenteil, wohnt sie nunmehr alleine.
Zudem ergibt sich aus den Länderberichten keinerlei Hinweis darauf, dass nicht auch türkische Behörden allgemein schutzfähig und schutzwillig wären; dass kurdische Aleviten keinen Polizeischutz erlangen könnten, lässt sich aus den Berichten ebenfalls nicht ableiten. Die Bescherdeführerin hat auch keinen Grund glaubhaft vorgebracht, aus dem zu schließen wäre, dass gerade sie nicht geschützt werden sollte.
2.3.4.3. Schlussendlich hat sogar die Beschwerdeführerin selbst im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 18.07.2022 angegeben, ihr eigentlicher Einreisegrund nach Österreich sei es gewesen, ihrem – infolge einer Scheidung – alleinerziehenden Bruder BA. mit dessen Kindern zu helfen und um selbst Abwechslung zu haben (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 18.07.2022, S 16). Damit räumt die Beschwerdeführerin implizit ein, die Türkei tatsächlich aus familiären Gründen verlassen, sich dazu vorerst ein Schengenvisum erschlichen zu haben und anschließend einen – im Ergebnis unbegründeten – Asylantrag gestellt haben, um damit ihren weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu legalisieren.
2.3.4.4. Weiters erstattete die Beschwerdeführerin noch ein sehr vages und oberflächliches Vorbringen in Bezug auf allgemeine Diskriminierungen von Kurden und/oder Aleviten. Konkrete Vorfälle, die sie persönlich betroffen hätten, konnte sie nicht nennen.
Aus Nachteilen wegen der Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie und zur alevitischen Religionsgemeinschaft ist angesichts der fehlenden Eingriffsintensität derselben kein als Verfolgung zu qualifizierendes Szenario zu gewinnen. Diesbezüglich ist grundsätzlich festzuhalten, dass allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung, für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen können. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, Schikanen, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit) bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt des Beschwerdeführers im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre (VwGH 07.10.1995, Zl. 95/20/0080; 23.05.1995, Zl. 94/20/0808), sind hinzunehmen.
Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist die schwierige allgemeine Lage einer ethnischen Minderheit oder der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft im Heimatland eines Asylwerbers für sich allein nicht geeignet, die für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorauszusetzende Bescheinigung einer konkret gegen den Asylwerber gerichteten drohenden Verfolgungshandlung darzutun (VwGH 31.01.2002, Zl. 2000/20/0358). So hat der Verwaltungsgerichtshof beispielsweise im Erkenntnis vom 23.06.1998, Zl. 96/20/0144, ausgesprochen, dass die bloße Zugehörigkeit türkischer Staatsangehöriger zur Volksgruppe der Kurden und das alevitische Religionsbekenntnis samt der damit einhergehenden Diskriminierung keinen ausreichenden Grund für die Asylgewährung bilden.
Hinsichtlich des Umstands der kurdischen Abstammung der Beschwerdeführerin ist weiter auszuführen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte und aktuellen Medienberichte die Situation für Kurden und Aleviten nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig sämtliche Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgeblichen Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden.
Hinsichtlich des Umstands der Zugehörigkeit der Beschwerdeführerin zur alevitischen Glaubensgemeinschaft ist ebenfalls auf die herangezogenen Länderberichte zu verweisen, in welchen keine von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass gegenwärtig Personen alevitischer Glaubenszugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden.
Dass der Beschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei die Aufnahme einer Beschäftigung oder die Partizipation am Gesundheits- und Sozialsystem aus diesen Gründen durch die türkischen Behörden verweigert würde, wurde weder vorgebracht, noch ergibt sich dergleichen aus den Länderberichten.
Selbst wenn die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den alevitischen Kurden künftig eine schlechter bezahlte Erwerbstätigkeit annehmen müsste, so ist auch in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, dass die Annahme auch einer unattraktiven Erwerbsmöglichkeit zumutbar ist und die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK nicht ausreichend für die Zuerkennung von internationalem Schutz ist. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307).
Mit ihrem Vorbringen vermochte die Beschwerdeführerin jedenfalls nicht, eine konkrete Gefährdung darzustellen. Dass die Beschwerdeführerin allenfalls verminderten Berufschancen und einem im Vergleich zu Österreich niedrigeren Lebensstandard entgegenzusehen hat, vermag eine Verletzung in dem von Art. 3 EMRK geforderten Ausmaß nicht zu begründen.
2.4. Die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin im Rückkehrfall über eine Existenzgrundlage verfügen wird, ergibt sich vornehmlich daraus, dass sie eine volljährige, arbeitsfähige und überwiegend gesunde Person ist, die einerseits über ein weitläufiges familiäres Netz in der Türkei, darunter in B., Antalya und Istanbul, verfügt, wo zumindest noch fünf Brüder und vier verheiratete Schwestern mit ihren Familien leben. Vier von fünf Brüdern der Beschwerdeführerin leben nach wie vor in B. und führen die Landwirtschaft der bereits verstorbenen Eltern der Beschwerdeführerin fort. Die Beschwerdeführerin hat alle zwei bis sechs Monate zu ihren Geschwistern in der Türkei Kontakt und kann alleine aus dem Umstand, dass diese dem Vorbringen der Beschwerdeführerin nach alle ihre eigenen Familien und ihr eigenes Leben hätten, nicht geschlossen werden, dass sie keinerlei Unterstützung im Fall der Rückkehr in die Türkei, zumindest in Form der Zurverfügungstellung von Wohnraum und Gütern des täglichen Bedrafs, erhalten würde. Der Beschwerdeführerin ist es auch zumutbar, in den landwirtschaftlichen Betrieben ihrer Geschwister mitzuhelfen, um so allenfalls zu ihrem Unterhalt beizutragen. Die Beschwerdeführerin gab selbst an, insbesondere ihre Schwestern würden sich für sie einsetzen. Sofern die Beschwerdeführerin anführt, sie wird in Österreich von ihrem Bruder BU. und Freunden finanziell unterstützt, so sind keine Gründe ersichtlich, warum sie diese Unterstützung von den in Österreich ansässigen Verwandten nicht auch in der Türkei erhalten könnte.
Andererseits ist das Gericht aber ohnedies der Ansicht, dass die Beschwerdeführerin als erwachsene, arbeitsfähige Frau allenfalls auch ohne familiäres Netzwerk für ihren Unterhalt aufkommen kann, zumal sie trotz ihrer mangelhaften Schulbildung auch in der Türkei bereits in der Gastronomie und in Österreich als Reinigungskraft gearbeitet hat. Es ist ihr auch zumutbar, das – wenn auch möglicherweise weniger leistungsfähige – Sozialsystem des türkischen Staates oder karitative Einrichtungen in Anspruch zu nehmen.
Es stehen der Beschwerdeführerin auch die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigte offen, da sie über die türkische Staatsbürgerschaft verfügt. Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf.
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2021 alle zwei Monate Anspruch auf 650 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 5.641 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).
Zudem ist auch für die gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger gesorgt: Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Die Beiträge für die allgemeine Krankenversicherung (GSS) hängen vom Einkommen des/der Begünstigten ab und beginnen bei 107,32 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises. 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind. Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren.
Ein substantiiertes Vorbringen, wonach die Beschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr einer mangelnden Lebensgrundlage oder einer gesundheitlichen Bedrohung gegenüberstünde, wurde nicht erstattet. Das Bundesverwaltungsgericht gelangte in einer Gesamtschau damit – wie bereits das belangte Bundesamt – zur Ansicht, dass es der Beschwerdeführerin in kurzer Zeit unter Anspannung ihrer Kräfte gelingen wird, sich eine gesicherte Existenz in der Türkei aufzubauen und ist in Ansehung der Länderberichte, insbesondere zur medizinischen Versorgung und den Sozialleistungen für Bedürftige, auch nicht zu befürchten, dass die Beschwerdeführerin in eine ausweglose Lage geraten würden.
Die Feststellung zur Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin in Österreich entspricht dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichtes (Einsicht in das Strafregister der Republik Österreich). Die Feststellungen zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer basieren auf den Angaben der Beschwerdeführerin und den beigebrachten Unterlagen.
Den Daten des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister kann schließlich entnommen werden, dass der Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet war. Hinweise darauf, dass ihr weiterer Aufenthalt zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig wäre oder die Beschwerdeführerin im Bundesgebiet Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO wurde, kamen im Verfahren nicht hervor, zumal – wie festgestellt – entsprechende Ermittlungsverfahren bereits eingestellt wurden. Es wurde auch kein dahingehendes Vorbringen erstattet, sodass keine dahingehenden positiven Feststellungen getroffen werden können.
2.5. Die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat und zur Lage von Angehörigen der kurdischen Volksgruppe, Mitgliedern bzw. Sympathisanten der HDP bzw. im Ausland an pro-kurdischen oder regimekritischen Demonstrationen teilnehmenden Personen bzw. Frauen beruhen auf den, der Beschwerdeführerin zur Kenntnis- und Stellungnahme übermittelten aktuellen aktuellen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen, wie oben unter 2.1. aufgelistet.
Zur Sicherstellung der notwendigen Ausgewogenheit in der Darstellung wurden Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zeichnen, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Insgesamt wurde den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Berichten von der Beschwerdeführerin bzw. deren gewillkürter Vertretung nicht substantiiert entgegengetreten. Trotz expliziter Einladung ist im Rechtsmittelverfahren keine Stellungnahme zu den Länderberichten ergangen.
Es wird somit explizit weder eine Unrichtigkeit, noch eine Unvollständigkeit der der Beschwerdeführerin seitens des Bundesverwaltungsgerichtes vorgehaltenen aktuellen Quellen zur gegenwärtigen Lage in der Türkei aufgezeigt.
Da die Beschwerdeführerin keine staatliche Strafverfolgung in der Türkei aufgrund eines Kapitalverbrechens in den Raum gestellt hat und die Todesstrafe in der Türkei darüber hinaus abgeschafft ist, war dem folgend zur Feststellung zu gelangen, dass sie im Fall einer Rückkehr nicht der Todesstrafe unterzogen würde. Ebenso kann aus ihrem Vorbringen keine anderweitige individuelle Gefährdung durch drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden.
Die Sicherheitslage in der Türkei ist durchaus als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie dem Islamischen Staat oder der PKK konfrontiert. Die Beschwerdeführerin hat jedoch diesbezüglich nicht dargetan, dass sie von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wäre. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Artikels 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren.
Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der PKK, des Islamischen Staates und (in sehr viel geringerem Ausmaß) von Terroranschlägen linksextremistischer Gruppierungen. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 ausweislich einer aktuellen Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes nachgelassen.
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage, wobei an dieser Stelle jedoch festzuhalten ist, dass der Landkreis, in welchem die Beschwerdeführer vor der Ausreise lebten (Antalya), deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der PKK stattfinden. Außerdem ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin nicht vorbrachte, von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren betroffen gewesen zu sein. Eine individuelle Betroffenheit von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren im Rückkehrfall ist demnach nicht zu befürchten, sodass weitergehende Feststellungen hierzu nicht geboten sind.
Insgesamt kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin den behaupteten Gefährdungen ausgesetzt war bzw. im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat einer anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
3.1. Anzuwendendes Verfahrensrecht:
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idgF, geregelt (§ 1 leg.cit .).
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 27 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I Nr. 57/2018, hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4 VwGVG) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3 VwGVG) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
3.2. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:
3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 69/2020 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention), droht.
Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185; 12.11.2014, Ra 2014/20/0069 mwN).
Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 17.03.2009, Zl. 2007/19/0459). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in seinem Heimatstaat Verfolgung zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, Zl. 98/20/0233 mwN). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183; 18.02.1999, Zl. 98/20/0468).
Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).
3.2.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht der Beschwerdeführerin, in der Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:
Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
Im gegenständlichen Fall ist ausweislich der Feststellungen und der diesbezüglichen Beweiswürdigung nach Ansicht des erkennenden Gerichts keine die Beschwerdeführerin betreffende aktuelle, unmittelbare und konkrete Verfolgungsgefahr in der Türkei aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Grund gegeben. Wie beweiswürdigend ausführlich dargestellt, konnte die Beschwerdeführerin nicht glaubhaft vorbringen, dass sie vor ihrer Ausreise asylrelevant verfolgt wurde.
Auch konnte im Rahmen einer Prognoseentscheidung nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin nach einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit einer weiteren aktuellen Gefahr von Übergriffen zu rechnen hätte (vgl. VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194). Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).
Aus Nachteilen wegen der Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie oder des alevitischen Glaubens ist angesichts der fehlenden Eingriffsintensität derselben kein als Verfolgung zu qualifizierendes Szenario zu gewinnen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme ist als Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396). Allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung, für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen können. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, Schikanen, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit) bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt der Beschwerdeführer im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre (VwGH 07.10.1995, Zl. 95/20/0080; 23.05.1995, Zl. 94/20/0808), sind hinzunehmen.
Ausweislich der Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat sind Angehörige der kurdischen Ethnie und auch des alevitischen Glaubens zwar Nachteilen ausgesetzt, diese erreichen jedoch nicht die Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt in der Türkei als unerträglich anzusehen oder mit einem gänzlichen Verlust der Lebensgrundlage verbunden wäre – was auch daran erkennbar ist, dass nahe Angehörige der beschwerdeführenden Partei weiterhin in der Türkei leben, ohne Schwierigkeiten ausgesetzt zu sein.
Bezüglich der Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder unruhebedingten Lebensbedingungen zurückzuführen sind, bleibt festzuhalten, dass diese keine Verfolgungshandlungen im Sinne des Asylgesetzes darstellen, da alle Bewohner gleichermaßen davon betroffen sind. Bestehende schwierige Lebensumstände allgemeiner Natur sind hinzunehmen, weil das Asylrecht nicht die Aufgabe hat, vor allgemeinen Unglücksfolgen zu bewahren, die etwa in Folge des Krieges, Bürgerkrieges, Revolution oder sonstiger Unruhen entstehen, ein Standpunkt den beispielsweise auch das UNHCR-Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft in Punkt 164 einnimmt (VwGH 14.03.1995, Zl. 94/20/0798).
Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist zusammenfassend davon auszugehen, dass der Beschwerdeführerin keine Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht.
Eine Verfolgung der Beschwerdeführerin im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Z. 2 GFK liegt somit nicht vor und es braucht daher auf die Frage der Schutzwilligkeit und -fähigkeit der staatlichen Organe in der Türkei sowie des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht mehr eingegangen werden. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0202).
Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide ist demgemäß jedenfalls nicht zu beanstanden und kommt der Beschwerde insoweit keine Berechtigung zu.
3.3. Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei:
3.3.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen, ob im Falle der Rückführung der Beschwerdeführerinnen in die Türkei Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde.
Bei der Prüfung und Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Rahmen einer gebotenen Einzelfallprüfung sind zunächst konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein „real risk“ einer gegen Art. 3 MRK verstoßenden Behandlung droht (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174). Die dabei anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwN). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwH).
Nach der ständigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verwaltungsgerichtshofs obliegt es dabei grundsätzlich der beschwerdeführenden Partei, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos glaubhaft zu machen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (EGMR U 05.09.2013, I. gegen Schweden, Nr. 61204/09; VwGH 18.03.2015, Ra 2015/01/0255; VwGH 02.08.2000, Zl. 98/21/0461). Die Mitwirkungspflicht der beschwerdeführenden Partei bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich das erkennende Gericht nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (etwa die familiäre, gesundheitliche oder finanzielle Situation), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht (VwGH 18.12.2002, Zl. 2002/18/0279). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen (vgl. VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86). So führt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller, Beweise zu beschaffen, dennoch ihm obliegt so weit als möglich Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (EGMR U 05.07.2005, Said gegen Niederlande, 5.7.2005).
Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen im Übrigen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141).
3.3.2. Unter „real risk“ ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (grundlegend VwGH 19.02.2004, Zl. 99/20/0573; RV 952 BlgNR XXII. GP 37). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294; 25.01.2001, Zl. 2000/20/0438; 30.05.2001, Zl. 97/21/0560). Die Feststellung einer Gefahrenlage im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erfordert das Vorliegen einer konkreten, den BF betreffenden, aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder (infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt) von diesen nicht abwendbaren Gefährdung bzw. Bedrohung. Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher ohne Hinzutreten besonderer Umstände, welche ihnen noch einen aktuellen Stellenwert geben, nicht geeignet, die begehrte Feststellung zu tragen (vgl. VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011; 14.10.1998, Zl. 98/01/0122).
3.3.3. Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Ausweisung eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der betroffenen Person im Falle seiner Ausweisung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (vgl. EGMR U 08.04.2008, Nnyanzi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21878/06).
Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (VfSlg 13.314/1992; EGMR GK 07.07.1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat des Antragstellers zu berücksichtigen, wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein ausreichend reales Risiko für eine Verletzung des Art. 3 EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragsstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (EGMR U 04.07.2006, Karim gegen Schweden, Nr. 24171/05, U 03.05.2007, Goncharova/Alekseytev gegen Schweden, Nr. 31246/06).
Der EGMR geht weiter allgemein davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische oder sonstige unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann diesbezüglich die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen (EGMR U 15.02.2000, S.C.C. gegen Sweden, Nr. 46553/99).
3.3.4. Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände vorliegen (EGMR U 02.05.1997, D. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 30240/96; U 06.02.2001, Bensaid gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 44599/98; VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443).
Unter außergewöhnlichen Umständen können auch lebensbedrohende Ereignisse (etwa das Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0142). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung dieser Frage unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr – die bloße Möglichkeit genügt nicht – damit verbunden wären (VwGH 23.09.2004, Zl. 2001/21/0137). Außergewöhnlicher Umstände liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (VwGH 11.11.2015, Ra 2015/20/0196, mwN).
3.3.5. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (VG München 13.05.2016, M 4 K 16.30558).
Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person der beschwerdeführenden Partei so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH U. 17.02.2009, C-465/07). Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen: ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind; ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind; ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden; schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07).
Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwGH 17.09.2008, Zl. 2008/23/0588). Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt jedoch nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09). Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137). Die bloße Möglichkeit einer den betreffenden Bestimmungen der EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht (VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427).
3.3.6. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 nicht gegeben sind:
Dass die Beschwerdeführerin im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde die Beschwerdeführerin somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.
Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die Beschwerdeführerin als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen. Die Sicherheitslage in der Türkei ist als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder der Partiya Karkerên Kurdistanê konfrontiert. Die Beschwerdeführerin hat diesbezüglich jedoch nicht dargetan, dass sie von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wäre. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Artikels 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren.
Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der Partiya Karkerên Kurdistanê, des Islamischen Staates und (in sehr viel geringerem Ausmaß) von Terroranschlägen linksextremistischer Gruppierungen. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen, was durch die festgestellten statistischen Angaben zu sicherheitsrelevanten Vorfällen und damit verbündenden Opfern erwiesen ist.
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage, wobei an dieser Stelle festzuhalten ist, dass der Landkreis, in welcher die beschwerdeführende Partei vor der Ausreise lebte, ferner deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der Partiya Karkerên Kurdistanê stattfinden. Außerdem ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin nicht vorbrachte, zeitnah zum Zeitpunkt ihrer Ausreise von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren betroffen gewesen zu sein, zumal sie vor ihrer Ausreise in Istanbul lebte. Eine individuelle Betroffenheit von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren im Rückkehrfall ist demnach nicht zu befürchten. Darüber hinaus hat die Beschwerdeführerin selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass sie schon aufgrund ihrer bloßen Präsenz in ihrer letzten Heimatprovinz B. bzw. Antalya oder auch allenfalls in Istanbul mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wären.
Im Hinblick auf den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee ist festzuhalten, dass Beschwerdeführerin weder in diesen verwickelt ist, noch einer seither besonders gefährdeten Berufsgruppe angehört und auch nicht der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt wird.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass der Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), hat doch die Beschwerdeführerin selbst nicht vorgebracht, dass ihr im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und sie in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre.
Die Beschwerdeführerin ist eine volljährige, arbeitsfähige und überwiegend gesunde Person, die einerseits über ein weitläufiges familiäres Netz in der Türkei, darunter in B., Antalya und Istanbul, verfügt, wo zumindest noch fünf Brüder und vier verheiratete Schwestern mit ihren Familien leben. Vier von fünf Brüdern der Beschwerdeführerin leben nach wie vor in B. und führen die Landwirtschaft der bereits verstorbenen Eltern der Beschwerdeführerin fort. Die Beschwerdeführerin hat alle zwei bis sechs Monate zu ihren Geschwistern in der Türkei Kontakt und kann alleine aus dem Umstand, dass diese dem Vorbringen der Beschwerdeführerin nach alle ihre eigenen Familien und ihr eigenes Leben hätten, nicht geschlossen werden, dass sie keinerlei Unterstützung im Fall der Rückkehr in die Türkei, zumindest in Form der Zurverfügungstellung von Wohnraum und Gütern des täglichen Bedrafs, erhalten würde. Der Beschwerdeführerin ist es auch zumutbar, in den landwirtschaftlichen Betrieben ihrer Geschwister mitzuhelfen, um so allenfalls zu ihrem Unterhalt beizutragen. Die Beschwerdeführerin gab selbst an, insbesondere ihre Schwestern würden sich für sie einsetzen. Sofern die Beschwerdeführerin anführt, sie wird in Österreich von ihrem Bruder BU. und Freunden finanziell unterstützt, so sind keine Gründe ersichtlich, warum sie diese Unterstützung von den in Österreich ansässigen Verwandten nicht auch in der Türkei erhalten könnte.
Darüber hinaus stehen der Beschwerdeführerin die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter offen, da sie über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 3294 bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt.
Soweit die Beschwerdeführerin ihren Gesundheitszustand im Verfahren thematisierte, wird im Einzelnen auf die beweiswürdigenden Erwägungen unter 2.2. verwiesen. Zusammengefasst konnte nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin an einer diagnostizierten psychischen oder psychiatrischen Erkrankung leidet und/oder deswegen in medikamentöser oder ärztlicher Behandlung stünde. Auch hat sich nicht ergeben, dass die Beschwerdeführerin aktuell an einer schweren physischen oder psychischen Erkrankung leidet, die im Herkunftsstaat nicht behandelbar wäre.
In Bezug auf die Schilddrüsenoperation, der sie sich in Österreich unterzogen hat, und wegen der sie noch ein Medikament nimmt, kam im Verfahren hervor, dass zur Zeit keine Behandlungen notwendig sind. Behandlungen der Schilddrüse könnten aber auch in der Türkei vorgenommen werden (Schilddrüsen-Untersuchungen, auch mittels Ultraschall, Schilddrüsen-Operationen). Dort sind auch Schilddrüsen-Hormone wie Thyroxin verfügbar bzw. erhältlich. In der Türkei wird auch ein Äquivalent des Medikamentes L-Thyroxin angeboten, und zwar Euthyrox. Dieses ist in der Türkei in Apotheken zu kaufen (pillintrip.com). Unter https://www.exportgenius.in/turkey-importers-of-euthyrox kann man sich verschiedene Importeure in der Türkei suchen und über herbsandmeds.com und anderen Webseiten kann man sich über das Internet das Medikament auch bestellen. Ferner ist es möglich, dass die Verwandten der Beschwerdeführerin in Österreich das Medikament beziehen und der Beschwerdeführerin in die Türkei schicken.
Unbestritten ist, dass nach der allgemeinen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und Krankheiten, die auch im vorliegenden Fall maßgeblich ist, eine Überstellung in die Türkei nicht zulässig wäre, wenn durch die Überstellung eine existenzbedrohende Situation drohte und diesfalls das Selbsteintrittsrecht der Dublin II VO zwingend auszuüben wäre.
Der VfGH fasste in seinem Erkenntnis vom 06.03.2008, Zl: B 2400/07-9 die aktuelle Rechtsprechung des EGMR zur Frage der Vereinbarkeit der Abschiebung Kranker in einen anderen Staat mit Art. 3 EMRK zusammen und verweist insbesondere auf D. v. the United Kingdom, EGMR 02.05.1997, Appl. 30.240/96, newsletter 1997,93; Bensaid, EGMR 06.02.2001, Appl. 44.599/98, newsletter 2001,26; Ndangoya, EGMR 22.06.2004, Appl. 17.868/03; Salkic and others, EGMR 29.06.2004, Appl. 7702/04; Ovdienko, EGMR 31.05.2005, Appl. 1383/04; Hukic, EGMR 29.09.2005, Appl. 17.416/05; EGMR Ayegh, 07.11.2006; Appl. 4701/05; EGMR Goncharova & Alekseytsev, 03.05.2007, Appl. 31.246/06.
Zusammenfassend führt der VfGH aus, das sich aus den erwähnten Entscheidungen des EGMR ergibt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (Fall D. v. the United Kingdom).
Wie bereits erwähnt, geht der EGMR weiters davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische od. sonst. unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet und kann nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen {EGMR 02.05.1997 -146/1996/767/964 („St. Kitts-Fall“)}. Im Zusammenhang mit einer Erkrankung des Beschwerdeführers nahm der EGMR außerordentliche, ausnahmsweise vorliegende Umstände im „St. Kitts-Fall“ an. Im Mai 1997 hatte der EGMR die Abschiebung eines HIV-infizierten Drogenhändlers, welcher laut medizinischen Erkenntnissen auch in Großbritannien bei entsprechender Behandlung nur mehr ca. 8 – 14 Monate zu leben gehabt hätte und sich somit im fortgeschrittenen Krankheitsstadium befand, aus Großbritannien auf seine Heimatinsel St. Kitts/kleine Antillen (Karibik) als "unmenschliche Behandlung" im Sinne des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention angesehen. Die im zitierten Erkenntnis beschriebene außergewöhnliche, exzeptionale Notlage (er hätte dort keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und Betreuung, nicht einmal zu einem Pflegebett gehabt hätte und wäre so qualvollst, einsam und in extremer Armut gestorben) die ihn dort erwarte, würde seine Lebenserwartung deutlich reduzieren und ihn psychischem und physischem Leiden aussetzen. Diese Abschiebung war daher in diesem Einzelfall unzulässig (EGMR 02.05.1997 -146/1996/767/964).
Auch der Umstand, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten im Zielland schlechter wären als im Aufenthaltsland, und allfälligerweise "erhebliche Kosten" verursachen, ist nicht ausschlaggebend (HUKIC gg. Schweden, 27.09.2005, Rs 17416/05).
Insgesamt ergaben sich aufgrund des Ermittlungsverfahrens für das Bundesverwaltungsgericht keinerlei Hinweise darauf, dass die Beschwerdeführerin die nötige Medikation nicht auch in der Türkei erhalten kann bzw. an einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Endstadium leiden würde, die in der Türkei nicht behandelbar wäre, sondern ist vor dem Hintergrund der eingesehenen Länderberichte viel mehr davon auszugehen, dass eine adäquate medizinische Nachsorge für die Beschwerdeführerin vorhanden ist, falls diese gebraucht wird, und auch Medikamente, die auf dem selben Wirkstoff basieren wie die in Österreich verschriebenen, vorhanden sind. Auch faktisch Hindernisse, welche das Fehlen eines Zugangs zur medizinischen Versorgung aus in der Person der Beschwerdeführerin gelegenen Umständen nahelegen würden, kamen nicht hervor. Viel mehr wurde auch festgestellt, dass die Beschwerdeführerin in der Türkei weiterhin über ein familiäres Netzwerk verfügt, von welchem sie unterstützt werden kann. Als türkische Staatsbürgerin verfügt die Beschwerdeführerin auch über einen Zugang zum Gesundheits- sowie Sozialsystem.
Die genannten allgemeinen Ausführungen gelten auch beim Vorliegen psychischer Erkrankungen bzw. Störungen. Zur Verdeutlichung der vom EGMR gesetzten Schwelle sei hier aus der Application no. 7702/04 by SALKIC and others against Sweden zitiert, wo es um die Zulässigkeit der Abschiebung schwer traumatisierter und teilweise suizidale Tendenzen aufweisende Bosnier nach Bosnien und Herzegowina ging, wobei hier wohl außer Streit gestellt werden kann, dass das bosnische Gesundheitssystem dem schwedischen qualitätsmäßig erheblich unterliegt:
„Das Gericht ist sich bewusst, dass die Versorgung bei psychischen Problemen in Bosnien-Herzegowina selbstverständlich nicht den gleichen Standard hat wie in Schweden, dass es aber dennoch Gesundheitszentren gibt, die Einheiten für geistige Gesundheit einschließen und dass offensichtlich mehrere derartige Projekte am Laufen sind, um die Situation zu verbessern. Auf jeden Fall kann die Tatsache, dass die Lebensumstände der Antragsteller in Bosnien-Herzegowina weniger günstig sind als jene, die sie während ihres Aufenthaltes in Schweden genossen haben, vom Standpunkt des Art. 3 [EMRK] aus nicht als entscheidend betrachtet werden (siehe, Bensaid gegen Vereinigtes Königreich Urteil, oben angeführt, Art. 38).
…
Abschließend akzeptiert das Gericht die Schwere des psychischen Gesundheitszustandes der Antragsteller, insbesondere den der beiden Kinder. Dennoch mit Hinblick auf die hohe Schwelle, die von Art. 3 [EMRK] gesetzt wurde, besonders dort, wo der Fall nicht die direkte Verantwortlichkeit des Vertragsstaates für die Zufügung von Schaden betrifft, findet das Gericht nicht, dass die Ausweisung der Antragsteller nach Bosnien-Herzegowina im Widerspruch zu den Standards von Art. 3 der Konvention stand. Nach Ansicht des Gerichtes zeigt der vorliegende Fall nicht die in seinem Fallrecht festgelegten außergewöhnlichen Umstände auf (siehe, unter anderem, D. gegen Vereinigtes Königreich, oben angeführt, Art. 54). Dieser Teil des Antrages ist daher offenkundig unbegründet.“
Dass sich der Gesundheitszustand durch die Abschiebung verschlechtert ("mentaler Stress" ist nicht entscheidend), ist vom Antragsteller konkret nachzuweisen, bloße Spekulationen über die Möglichkeit sind nicht ausreichend. In der Beschwerdesache OVDIENKO gg. Finland vom 31.05.2005, Nr. 1383/04, wurde die Abschiebung des Beschwerdeführers, der seit 2002 in psychiatrischer Behandlung war und der selbstmordgefährdet ist, für zulässig erklärt; mentaler Stress durch eine Abschiebungsdrohung in die Ukraine ist kein ausreichendes „real risk“.
Für den gegenständlichen Fall ist festzuhalten, dass keine maßgeblichen Beeinträchtigungen psychischer Natur festgestellt werden konnten. Darüberhinaus wären aber in der Türkei auch geeignete Behandlungen und Medikamente verfügbar.
Ebenso ist davon auszugehen, dass Österreich in der Lage ist, im Rahmen aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausreichende medizinische Begleitmaßnahmen zu setzen (VwGH 25.4.2008, 2007/20/0720 bis 0723, VfGH v. 12.6.2010, Gz. U 613/10-10 und die bereits zitierte Judikatur; ebenso Erk. des AsylGH vom 12.3.2010, B7 232.141-3/2009/3E mwN).
Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt demgemäß nicht vor.
In diesem Zusammenhang verweist das Bundesverwaltungsgericht auch auf das Erkenntnis des VwGH vom 06.11.2009, 2008/19/0174, in dem die Schwelle einer Verletzung von Art 3 EMRK in einem Fall einer alleinstehenden Mutter eines Kleinkindes (ohne Berufserfahrung) trotz Erwartung einer tristen finanziellen Situation ohne familiäre Unterstützung im Heimatland mangels realer Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse verneint und die Behandlung der Beschwerde abgelehnt wurde. In casu stellt sich die Rückkehrsituation der Beschwerdeführer aufgrund der oben aufgezeigten Möglichkeiten als weit besser dar, als in dem zuvor genannten Judikat.
Im Übrigen sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Herkunftsstaat letztlich auch als Folge des Verlassens des Heimatlandes ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiären Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (vgl. VwGH vom 29.04.2010, Zl. 2009/21/0055).
In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die erwachsene Beschwerdeführerin ihr Heimatland legal mit einem Visum zur Unterstützung eines ihrer in Österreich lebenden Brüder und dessen drei minderjährigen Kindern verließ und offenkundig in der Folge kurz vor Ablauf des Visums einen Asylantrag stellte, um ihren weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu legalisieren.
Die erwachsene Beschwerdeführerin konnte auch schon nach Erhalt des Bescheides der Behörde nicht davon ausgehen, dass sie das Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt in Österreich erwirken würde und hat sie mögliche Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung – die in gegenständlichem Fall jedoch bei weitem nicht das Ausmaß der in der Judikatur zu Art. 3 EMRK definierten Schwelle erreichen – daher hinzunehmen.
Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes würde es auch dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen, wenn sich ein Fremder generell in einer solchen Situation wie die der Beschwerdeführerin auf eine durch ihre freiwillige Ausreise aus dem Herkunftsland bedingte Verminderung seiner beruflichen Chancen im Falle einer Rückkehr berufen kann. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes würde es ferner einen Wertungswiderspruch und eine sachlich nicht gerechtfertigte Schlechterstellung von Fremden, die die fremdenrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beachten, darstellen, zumal diese letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, die ihren Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich durch ihre illegale Einreise und durch die Stellung eines unbegründeten Asylantrages erzwingen, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (zum allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen VwGH 11.12.2003, Zl. 2003/07/0007; vgl. auch VfSlg. 19.086/2010, in dem der Verfassungsgerichtshof auf dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Bezug nimmt und in diesem Zusammenhang explizit erklärt, dass eine andere Auffassung sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen würde).
Was die Folgen der COVID-19-Pandemie in der Türkei betrifft, so ist festzuhalten, dass es sich hierbei um eine derzeit weltweite auftretende Erkrankung handelt und in Ermangelung von Heilmitteln und entsprechenden Impfstoffen derzeit kein Staat der Welt Sicherheit vor dieser Erkrankung bieten kann, was die aktuellen Entwicklungen in der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika belegen. COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei der überwiegenden Mehrheit der Betroffenen leicht. Sehr schwere Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten, Immunschwächen, etc.) auf. Die Beschwerdeführerin gehört diesen Risikogruppen (vgl. dazu die COVID-19-Risikogruppe-Verordnung, BGBl. II. Nr. 203/2020) nicht an, sodass aus diesem Grund von keiner Art. 3 EMRK-Relevanz im konkreten Fall der Beschwerdeführerin auszugehen ist. Eine durch die Lebensumstände im Zielstaat bedingte Verletzung des Art. 3 EMRK setzt darüber hinaus in jedem Fall nach der Rechtsprechung eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr voraus. Die bloße Möglichkeit eines dem Art. 3 EMRK widersprechenden Nachteils reicht hingegen nicht aus, um Abschiebungsschutz zu rechtfertigen (VwGH 06.11.2009, Zl. 2008/19/0174). Eine mögliche Ansteckung der Beschwerdeführerin in der Türkei mit COVID-19 und ein diesbezüglicher außergewöhnlicher Krankheitsverlauf ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar und eine reale und nicht auf Spekulationen gegründete Gefahr somit nicht zu erkennen. Ergänzend ist festzustellen, dass sie auch kein substantiiertes Vorbringen in Bezug auf die Rückkehrsituation im Lichte der COVID-19-Pandemie dargelegt haben. Eine bei der Rückkehr aus medizinischen Gründen allenfalls vorgeschriebene Quarantäne stellt keinen Eingriff in Art. 3 EMRK dar und findet ihre sachliche Rechtfertigung in der Hintanhaltung der Verbreitung von SARS-CoV-2.
Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die Beschwerdeführer somit nicht in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden.
Weder droht ihr im Herkunftsstaat das reale Risiko einer Verletzung der oben genannten gewährleisteten Rechte, noch bestünde die Gefahr, der Todesstrafe unterzogen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die Beschwerdeführerin als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
Da somit die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind, war die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen.
3.4. Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz (Spruchpunkte III. des angefochtenen Bescheides):
3.4.1. Wird ein Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, ist gemäß § 58 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung ist gemäß § 58 Abs. 3 AsylG 2005 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
§ 10 Abs. 1 AsylG 2005 sieht ferner vor, dass eine Entscheidung nach dem Asylgesetz dann mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden ist, wenn - wie im Gegenstand - der Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze abgewiesen wird (Z. 3 leg. cit.) und von Amts wegen kein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 erteilt wird. Die Rückkehrentscheidung setzt daher eine vorangehende Klärung der Frage voraus, ob ein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 erteilt wird.
3.4.2. Im Ermittlungsverfahren sind keine Umstände zu Tage getreten, welche auf eine Verwirklichung der in § 57 Abs. 1 AsylG 2005 alternativ genannten Tatbestände hindeuten würden, insbesondere wurden von der Beschwerdeführerin selbst nichts dahingehend dargetan und auch in der Beschwerde kein diesbezügliches Vorbringen erstattet.
Im Verfahren ist zwar hervorgekommen, dass die Beschwerdeführerin einem Ermittlungsverfahren gegen ihren ehemaligen Lebensgefährten und dessen Mutter wegen gefährlicher Drohung als Zeugin geführt und auch einvernommen wurde, jedoch wurde dieses Verfahren inzwischen von der Staatsanwaltschaft eingestellt.
Der Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet war ausweislich der Feststellungen nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurde schließlich nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
Der Beschwerdeführerin ist daher kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen. Der gegen den Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides erhobenen Beschwerde kommt daher keine Berichtigung zu.
3.5. Erlassung einer Rückkehrentscheidung:
3.5.1. Die Einreise der Beschwerdeführerin nach Österreich und somit auch in das Gebiet der Europäischen Union ist zwar grundsätzlich legal mittels eines gültigen Schengen-Visums der Kategorie C, gültig von 10.10.2016 bis 06.01.2017, erfolgt, jedoch hat die Beschwerdeführerin bei der Antragstellung – wie in der Beweiswürdigung näher ausgeführt – falsche Angaben gemacht und ihre Absicht, nicht mehr in die Türkei zurückzukehren, verschwiegen und sich dieses Visum damit erschlichen.
In weiterer Folge hat sich der Aufenthalt der Beschwerdeführerin in Österreich seit 05.01.2017 alleine auf die Bestimmungen des AsylG für die Dauer ihres Asylverfahrens gestützt. Ein sonstiger Aufenthaltstitel ist nicht ersichtlich und wurde auch kein auf andere Bundesgesetze gestütztes Aufenthaltsrecht behauptet. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet mehr vor und unterliegt diese damit nicht dem Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG betreffend Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt.
Der mit „Schutz des Privat- und Familienlebens“ betitelte § 9 BFA-VG in der geltenden Fassung BGBl. I Nr. 56/2018 lautet:
„§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.“
Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.
Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16928/2003).
Der Begriff des Familienlebens ist nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein. Maßgebend sind etwa das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR U 13.06.1979, Marckx gegen Belgien, Nr. 6833/74; GK 22.04.1997, X, Y u. Z gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/93).
Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. dazu auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 09. Juni 2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch das Erkenntnis des VwGH vom 26.01.2006, Zl. 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse vom 08.06.2006, Zl. 2003/01/0600, vom 22.08.2006, Zl. 2004/01/0220 und vom 29.03.2007, Zl. 2005/20/0040, vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).
Die Beziehung der bereits volljährigen Kinder zu den Eltern ist vor allem dann als Familienleben zu qualifizieren, wenn jene auch nach Eintritt der Volljährigkeit im Haushalt der Eltern weiterleben, ohne dass sich ihr Naheverhältnis zu den Eltern wesentlich ändert (Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 860 unter Hinweis auf Wiederin in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art. 8 EMRK Rz 76). Alle anderen verwandtschaftlichen Beziehungen (zB zwischen Enkel und Großeltern, erwachsenen Geschwistern [vgl. VwGH 22.08.2006, Zl. 2004/01/0220, mwN; 25.4.2008, Zl. 2007/20/0720 bis 0723-8], Cousinen [VwGH 15.01.1999, Zl. 97/21/0778; 26.6.2007, Zl. 2007/01/0479], Onkeln bzw. Tanten und Neffen bzw. Nichten) sind nur dann als Familienleben geschützt, wenn eine "hinreichend starke Nahebeziehung" besteht. Nach Ansicht der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist für diese Wertung insbesondere die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung (vgl. VfSlg 17.457/2005). Dabei werden vor allem das Zusammenleben und die gegenseitige Unterhaltsgewährung zur Annahme eines Familienlebens iSd Art. 8 EMRK führen, soweit nicht besondere Abhängigkeitsverhältnisse, wie die Pflege eines behinderten oder kranken Verwandten, vorliegen.
Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern bzw. von verheirateten Ehegatten, sondern auch andere nahe verwandtschaftliche Beziehungen, so wie die Beziehung zwischen erwachsenen Geschwistern, sofern diese Beziehungen eine hinreichende Intensität für die Annahme einer familiären Beziehung iSd Art. 8 EMRK erreichen. Eine solche liegt vor, wenn einen entsprechenden Grad an über die bloße Verwandtschaft hinausgehenden Bindungen vorliegt, z.B. besondere Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgeht, vorliegen (dazu VwGH 18.06.2009, 2008/22/0135).
3.5.2. Der Abwägung der öffentlichen Interessen gegenüber den Interessen eines Fremden an einem Verbleib in Österreich in dem Sinne, ob dieser Eingriff im Sinn des Art. 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig ist, ist voranzustellen, dass die Rückkehrentscheidung jedenfalls der innerstaatlichen Rechtslage nach einen gesetzlich zulässigen Eingriff darstellt.
Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Moustaquim ist eine Maßnahme dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig ist. Das bedeutet, dass die Interessen des Staates, insbesondere unter Berücksichtigung der Souveränität hinsichtlich der Einwanderungs- und Niederlassungspolitik, gegen jene des Berufungswerbers abzuwägen sind (EGMR U 18.02.1991, Moustaquim gegen Belgien, Nr. 12313/86).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Die Konventionsstaaten sind nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt, Einreise, Ausweisung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (EGRM U 30.10.1991, Vilvarajah u.a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13163/87).
Hinsichtlich der Abwägung der öffentlichen Interessen mit jenen des Berufungswerbers ist der Verfassungsgerichtshof der Auffassung, dass Asylwerber und sonstige Fremde nicht schlechthin gleichzusetzen sind. Asylwerber hätten regelmäßig ohne Geltendmachung von Asylgründen keine rechtliche Möglichkeit, legal nach Österreich einzureisen. Soweit die Einreise nicht ohnehin unter Umgehung der Grenzkontrolle oder mit einem Touristenvisum stattgefunden hat, ist Asylwerbern der Aufenthalt bloß erlaubt, weil sie einen Asylantrag gestellt und Asylgründe geltend gemacht haben. Sie dürfen zwar bis zur Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung weder zurückgewiesen, zurückgeschoben noch abgeschoben werden, ein über diesen faktischen Abschiebeschutz hinausgehendes Aufenthaltsrecht erlangen Asylwerber jedoch lediglich bei Zulassung ihres Asylverfahrens sowie bis zum rechtskräftigen Abschluss oder bis zur Einstellung des Verfahrens. Der Gesetzgeber beabsichtigt durch die zwingend vorgesehene Ausweisung von Asylwerbern eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung im Inland von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragstellung im Inland aufhalten durften, zu verhindern. Es kann dem Gesetzgeber nicht entgegengetreten werden, wenn er auf Grund dieser Besonderheit Asylwerber und andere Fremde unterschiedlich behandelt (VfSlg. 17.516/2005).
3.5.3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht (zur Maßgeblichkeit dieser Kriterien vgl. VfSlg. 18.223/2007).
Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine fixen zeitlichen Vorgaben knüpft (EGMR U 31.1.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99; U 16.9.2004, M. C. G. gegen Deutschland, Nr. 11.103/03), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR GK 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9214/80, 9473/81, 9474/81; U 20.6.2002, Al-Nashif gegen Bulgarien, Nr. 50.963/99) und dessen Intensität (EGMR U 02.08.2001, Boultif gegen Schweiz, Nr. 54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR U 04.10.2001, Adam gegen Deutschland, Nr. 43.359/98; GK 09.10.2003, Slivenko gegen Lettland, Nr. 48321/99; vgl. VwGH 5.7.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR U 11.04.2006, Useinov gegen Niederlande Nr. 61292/00) für maßgeblich erachtet.
Auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren – was bei einem bloß vorläufigen Aufenthaltsrecht während des Asylverfahrens jedenfalls als gegeben angenommen werden kann – ist bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (EGMR U 24.11.1998, Mitchell gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 40.447/98; U 05.09.2000, Solomon gegen die Niederlande, Nr. 44.328/98; 31.1.2006, U 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99).
Bereits vor Inkrafttreten des nunmehrigen § 9 Abs. 2 BFA-VG entwickelten die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in den Erkenntnissen VfSlg. 18.224/2007 und VwGH 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216 unter ausdrücklichen Bezug auf die Judikatur des EGMR nachstehende Leitlinien, welche im Rahmen der Interessensabwägung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen sind. Nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 MRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (VwGH 28.04.2014, Ra 2014/18/0146-0149, mwN). Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat (VwGH 13.06.2016, Ra 2015/01/0255). Ferner sind nach der eingangs zitieren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie dies Verfassungsgerichtshofs die strafgerichtliche Unbescholtenheit aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht sowie Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und schließlich die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen.
Der Verfassungsgerichtshof hat sich bereits im Erkenntnis VfSlg. 19.203/2010 eingehend mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthalts bewusst waren. Der Verfassungsgerichtshof stellt dazu fest, dass das Gewicht der Integration nicht allein deshalb als gemindert erachtet werden darf, weil ein stets unsicherer Aufenthalt des Betroffenen zugrunde liege, so dass eine Verletzung des Art. 8 EMRK durch die Ausweisung ausgeschlossen sei. Vielmehr müsse die handelnde Behörde sich dessen bewusst sein, dass es in der Verantwortung des Staates liegt, Voraussetzungen zu schaffen, um Verfahren effizient führen zu können und damit einhergehend prüfen, ob keine schuldhafte Verzögerungen eingetreten sind, die in der Sphäre des Betroffenen liegen (vgl. auch VfSlg. 19.357/2011).
Das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration ist weiter dann gemindert, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf einen unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist (VwGH 26.6.2007, Zl. 2007/01/0479 mwN). Beruht der bisherige Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten wie insbesondere bei Vortäuschung eines Asylgrundes, relativiert dies die ableitbaren Interessen des Asylwerbers wesentlich (VwGH 2.10.1996, Zl. 95/21/0169; 28.06.2007, Zl. 2006/21/0114; VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168).
Bei der Abwägung der Interessen ist auch zu berücksichtigen, dass es der Beschwerdeführerin bei der asylrechtlichen Ausweisung nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren. Es wird dadurch nur jener Zustand hergestellt, der bestünde, wenn er sich rechtmäßig (hinsichtlich der Zuwanderung) verhalten hätte und wird dadurch lediglich anderen Fremden gleichgestellt, welche ebenfalls gemäß dem Grundsatz der Auslandsantragsstellung ihren Antrag nach den fremdenpolizeilichen bzw. niederlassungsrechtlichen Bestimmungen vom Ausland aus stellen müssen und die Entscheidung der zuständigen österreichischen Behörde dort abzuwarten haben.
Die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt werden, ist auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung nach Art 8 Abs. 2 EMRK daher ein hoher Stellenwert zu (VfSlg. 18.223/2007; VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251).
Die öffentliche Ordnung, hier im Besonderen das Interesse an einer geordneten Zuwanderung, erfordert es daher, dass Fremde, die nach Österreich einwandern wollen, die dabei zu beachtenden Vorschriften einhalten. Die öffentliche Ordnung wird etwa beeinträchtigt, wenn einwanderungswillige Fremde, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, sich unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Ausweisung kann in solchen Fällen trotz eines vielleicht damit verbundenen Eingriffs in das Privatleben und Familienleben erforderlich sein, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte (VwGH 21.2.1996, Zl. 95/21/1256). Dies insbesondere auch deshalb, weil als allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz gilt, dass aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen. (VwGH 11.12.2003, Zl. 2003/07/0007). Der VwGH hat weiters festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Ausweisung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, Zl. 2002/18/0190).
Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist auch für das wirtschaftliche Wohl des Landes von besonderer Bedeutung, da diese sowohl für den sensiblen Arbeitsmarkt als auch für das Sozialsystem gravierende Auswirkung hat. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass insbesondere nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältige Fremde, welche daher auch über keine arbeitsrechtliche Berechtigung verfügen, die reale Gefahr besteht, dass sie zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes auf den inoffiziellen Arbeitsmarkt drängen, was wiederum erhebliche Auswirkungen auf den offiziellen Arbeitsmarkt, das Sozialsystem und damit auf das wirtschaftliche Wohl des Landes hat.
3.5.4. In Abwägung der gemäß Art. 8 EMRK maßgeblichen Umstände in Ansehung der Beschwerdeführerin ergibt sich unter Berücksichtigung der soeben dargelegten Judikatur für den gegenständlichen Fall Folgendes:
- Aufenthaltsdauer, Rechtmäßigkeit des Aufenthalts
Die Beschwerdeführerin hält sich seit 10.10.2016, also fast sechs Jahre, in Österreich auf. Sie reiste mittels eines erschlichenen Visums in das Bundesgebiet ein und konnten ihren Aufenthalt seither lediglich durch die Stellung eines unbegründeten Antrags auf internationalen Schutz vorübergehend legalisieren. Hätten sie diesen unbegründeten Asylantrag nicht gestellt, wären sie rechtswidrig im Bundesgebiet aufhältig bzw. wäre davon auszugehen, dass der rechtswidrige Aufenthalt bereits durch entsprechende aufenthaltsbeendende Maßnahmen in der Vergangenheit beendet worden wäre und sie sich nicht mehr im Bundesgebiet aufhalten würden.
Die Gesamtaufenthaltsdauer der Beschwerdeführerin von über fünfeinhalb Jahren ist vor diesem Hintergrund erheblich zu relativieren.
- tatsächliches Bestehen eines Familienlebens
Die Beschwerdeführerin lebt zur Zeit in keiner Lebensgemeinschaft oder familienähnlichen Beziehung.
Von Mai 2017 bis Mai 2019 lebte sie mit ihrem Bruder BU und seinen drei minderjährigen Kindern im gemeinsamen Haushalt und übernahm die Betreuung der Kinder. Zwischen Mai 2019 und Oktober 2021 lebte die Beschwerdeführerin an unterschiedlichen Adressen in 20 bis 35 Kilometern Entfernung vom Wohnort des Bruders BU und den Neffen und der Nichte der Beschwerdeführerin. Erst seit Oktober 2021 wohnt die Beschwerdeführerin wieder in derselben Stadt wie ihr Bruder BU, es besteht jedoch seit Mai 2019 kein gemeinsamer Haushalt mehr.
Die Neffen und die Nichte der Beschwerdeführerin schätzen diese sehr, wovon die Briefe der Kinder an das Gericht zeugen. Jedoch kann aus eben jenen Briefen wie auch den übrigen Unterstützungsschreiben herausgelesen werden, dass der Schwerpunkt der Betreuung der Kinder in der Vergangenheit erfolgte und die Unterstützung nicht mehr so intensiv und überwiegend im Rahmen von Besuchen erfolgt.
Auch ist der Umstand zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin ihre Nichte geschlagen hat und deswegen von der Kindesmutter angezeigt wurde. Wenngleich das Verfahren eingestellt wurde und auch glaubhaft ist, dass dennoch ein enges Verhältnis zu den Kindern besteht, ist die vorgebrachte Beziehung zu relativieren, zumal davon auszugehen ist, dass die Beschwerdeführerin die Tat begangen hat. Die Beschwerdeführerin hat jedenfalls nicht bestritten, dass sie von ihrer (damaligen) Schwägerin angezeigt wurde und kam auch nicht hervor, dass die Anzeige durch die Kindesmutter bestritten worden wäre. Es sind auch sonst keine Gründe hervorgekommen, wonach der Polizeibericht in Zweifel zu ziehen wäre.
Eine über die übliche Unterstützung im Verwandtenkreis hinausgehende Verbindung und Zuneigung bzw. ein maßgebliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Bruder bzw. insbesondere den Neffen und der Nichte kam zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr hervor. Auch eine konkrete finanzielle Abhängigkeit von der Beschwerdeführerin besteht nicht, da diese selbst seit Jänner 2017 durchgehend Grundversorgungsleistungen bezieht.
Im Übrigen ist es auch nicht Aufgabe der Asylbehörden und –gerichte, eine Betreuung für im Inland ansässige Kinder durch Fremde bzw. asylsuchende Verwandte zu ermöglichen. Für den gegenständlichen Fall sei daher nur nebenbei erwähnt, dass noch viele andere Verwandte der Kinder im Inland leben und einem alleinerziehenden, berufstätigen Vater auch staatliche Unterstützungsleistungen zur Verfügung stehen.
In Bezug auf die weiteren in Österreich lebenden Verwandten und Familienangehörigen der Beschwerdeführerin ist darauf hinzuweisen, dass mit diesen ebenfalls kein gemeinsamer Haushalt besteht und auch sonst keine besonders enge Beziehung hervorgekommen ist. Insbesondere hinsichtlich des zweiten Bruders BA und dessen Familie ist auf die Feststellungen und die diesbezüglichen beweiswürdigenden Ausführungen zu verweisen, wonach diese – nach Ansicht der Höchstgerichte zumindest bereits einmal – nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes zwei Mal unberechtigte Anträge auf internationalen Schutz stellten und ihrer Ausreiseverpflichtung aus Österreich nicht nachgekommen sind. Die familiären Beziehungen der Beschwerdeführerin sind daher auch diesbezüglich zu relativieren.
Insgesamt liegt ein schützenswertes Familienleben iSd Art. 8 EMRK zu den in Österreich lebenden oder aufhältigen Angehörigen der Beschwerdeführerin somit nicht vor. Die Rückkehrentscheidung betreffend die Beschwerdeführerin stellt somit keinen Eingriff in das Recht auf Familienleben dar, jedoch einen solchen in das Recht auf Privatleben.
- Schutzwürdigkeit des Privatlebens
Die Beschwerdeführerin begründete ihr Privatleben zu einem Zeitpunkt, als der Aufenthalt durch die Stellung eines unbegründeten Asylantrages vorübergehend legalisiert wurde bzw. reiste die Beschwerdeführerin schon in der Absicht, nach Ablauf ihres erschlichenen Visums einen Asylantrag zu stellen, in das Bundesgebiet ein. Auch war der Aufenthalt der Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Begründung der Anknüpfungspunkte im Rahmen des Privat- und Familienlebens ungewiss und nicht dauerhaft, sondern auf die Dauer des Asylverfahrens beschränkt.
Es ist auch festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin nicht gezwungen ist, nach einer Ausreise die bestehenden Bindungen zur Gänze abbrechen zu müssen. So stünde es ihr frei, diese durch briefliche, telefonische, elektronische Kontakte oder durch gegenseitige Besuche aufrecht zu erhalten (vgl. Peter Chvosta: „Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK“, ÖJZ 2007/74 mwN). Ebenso stünde es der Beschwerdeführerin – so wie jedem anderen Fremden auch - frei, sich um eine legale Wiedereinreise und einen legalen Aufenthalt zu bemühen.
Nur beim Vorliegen von außergewöhnlichen, besonders berücksichtigenden Sachverhalten kann sich ergeben, dass den Fremden, welche rechtswidrig in das Bundesgebiet einreisten oder sich rechtswidrig in diesem aufhalten, ihre Obliegenheit zum Verlassen des Bundesgebietes nachgesehen und ein Aufenthaltsrecht erteilt wird. Derartige Umstände liegen im gegenständlichen Fall nicht vor. Sollte bei der Beschwerdeführerin die gegenteilige Erwartungshaltung geweckt worden sein, hat das ho. Gericht dennoch im Rahmen der Gesetze (Art. 18 B-VG) entgegen dieser Erwartungshaltung zu entscheiden.
Keinesfalls entspricht es der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Systematik, dass das Knüpfen von privaten bzw. familiären Anknüpfungspunkten nach rechtswidriger Einreise oder während eines auf einen unbegründeten Antrag fußenden Asylverfahrens im Rahmen eines Automatismus zur Erteilung eines Aufenthaltstitels führen. Dies kann nur ausnahmsweise in Einzelfällten, beim Vorliegen eines besonders qualifizierten Sachverhalts der Fall sein, welcher hier bei weitem nicht vorliegt (vgl. hier etwa Erk. d. VfGH U 485/2012-15 vom 12.06.2013).
Die Beschwerdeführerin hat die festgestellten verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkte im Inland und hat sich auch einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut. Es ist aufgrund der Aufenthaltsdauer und den Besuchen im Fitnessstudio auch davon auszugehen, dass sie die üblichen sozialen, freundschaftlichen Kontakte, darunter auch zu österreichischen Staatsbürgern pflegt.
Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zu den in Österreich lebenden Verwandten ist – wie bereits ausgeführt – nicht hervorgekommen.
- Grad der Integration
Die Beschwerdeführerin ist – in Bezug auf ihr Lebensalter – erst einen relativ kurzen Zeitraum in Österreich aufhältig und war im Asylverfahren nicht in der Lage, ihren Antrag ohne Beiziehung eines Dolmetschers zu begründen bzw. auch nicht in der Lage, einfache nicht übersetzte Fragen auf Deutsch zu verstehen und zu beantworten. Zwar hat die Beschwerdeführerin in Österreich inzwischen einen Alphabetisierungskurs besucht und besuchte zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch noch einen laufenden Deutsch-Kurs auf Niveau A1, sie verfügt jedoch über keine abgeschlossene Deutschsprachprüfung.
In diesem Zusammenhang ist jedoch auf die höchstgerichtliche Judikatur zu verweisen, wonach selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht und sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt, weshalb diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (VwGH vom 06.11.2009, Zl. 2008/18/0720; und vom 25.02.2010, Zl. 2010/18/0029).
Weiters lebt die Beschwerdeführerin seit Jänner 2017 durchgehend von Leistungen aus der Grundversorgung. Sie hat zwei unterschiedliche Gewerbeberechtigungen für freie Gewerbe beantragt, diese jedoch nie tatsächlich ausgeübt bzw. sich damit nie ein Einkommen erwirtschaftet. Beide Gewerbeberechtigungen hat sie wieder zurückgelegt. Es wurde lediglich ein einziges Mal für die Beschwerdeführerin eine Beschäftigungsbewilligung beantragt, welche aber (offensichtlich aufgrund des falschen Antrages für Unionsbürger, Anm.) von der zuständigen Behörde zurückgewiesen wurde. Darauf, dass für die Beschwerdeführerin aktuell eine Beschäftigungsbewilligung beantragt worden wäre, finden sich keinerlei Nachweise im Akt. Auch konnte die Beschwerdeführerin keine aktuelle Einstellungszusage oder einen Arbeitsvertrag vorlegen und ging zumindest für kurze Zeit einer illegalen geringfügigen Beschäftigung als Reinigungskraft nach. Aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse ist auch nicht davon auszugehen, dass sie sich nachhaltig in den Arbeitsmarkt wird integrieren können.
Weiters erhält die Beschwerdeführerin von Familienangehörigen oder anderen Verwandten keine finanzielle Unterstützung in einem Ausmaß, das es ihr erlauben würde, ohne Unterstützung der öffentlichen Hand auszukommen.
Die Beschwerdeführerin ist daher nicht selbsterhaltungsfähig bzw. sind keine ernsthaften und nachhaltigen Bemühungen zur Herstellung der Selbsterhaltungsfähigkeit hervorgekommen.
Schließlich hat die Beschwerdeführerin in Österreich abgesehen von zwei Sprach- bzw. Alphabetisierungskursen keine weiteren Kurse oder Ausbildungen besucht. Sie ist kein Mitglied in einem Verein und war auch sonst weder ehrenamtlich noch gemeinnützig tätig.
Die vorgelegten Empfehlungsschreiben dokumentieren, dass sich die Beschwerdeführerin im Rahmen ihres Aufenthaltes eine gewisse soziale Vernetzung im Bundesgebiet aufbaute, eine außergewöhnliche Integration ist hieraus jedoch nicht entnehmbar.
Soweit die Beschwerdeführerin über private Bindungen in Österreich verfügt, ist auch darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass die Beschwerdeführerin hierdurch gezwungen wäre, den Kontakt zu jenen Personen, die ihr in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Auch hier steht es ihr frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte etc.) aufrecht zu erhalten. Es steht der Beschwerdeführerin im Übrigen frei, einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege der Beantragung eines Aufenthaltstitels und einer anschließenden rechtmäßigen Einreise herbeizuführen.
- strafrechtliche Unbescholtenheit
Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Die Feststellung, wonach die BF strafrechtlich unbescholten sind, relativiert sich aber in Bezug auf die vorgebrachte Beziehung zu ihren Neffen bzw. insbesondere zu ihrer Nichte sowie durch den erst verhältnismäßig kurzen Aufenthalt der Beschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerin wurde angezeigt, weil sie ihrer Nichte eine „Watsche“ gegeben hat. Das Verfahren wurde gem. § 190 Z 1 StPO eingestellt, weil die dem Ermittlungsverfahren zu Grunde liegende Tat nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht ist oder sonst die weitere Verfolgung aus rechtlichen Gründen unzulässig wäre. Auch, wenn die Beschwerdeführerin in Abrede stellte, dass so etwas vorgekommen sei, so ist der Polizeibericht doch als unbedenklich einzuschätzen und lässt sich daraus erschließen, dass die Beschwerdeführerin die Tat sehr wohl begangen hat und hat sie auch nicht bestritten, dass sie von ihrer (damaligen) Schwägerin angezeigt wurde. Zumindest aus fremdenrechtlicher Sicht ist das beachtlich, zumal ein derartiger Umgang mit Kindern gesellschaftlich nicht akzeptabel ist.
Strafgerichtliche Unbescholtenheit stellt darüber hinaus laut Judikatur weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, Zahl 98/18/0420). Der VwGH geht wohl davon aus, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält.
- Bindungen zum Herkunftsstaat
Die Beschwerdeführerin verbrachte den überwiegenden Teil ihres Lebens in der Türkei, wurde dort sozialisiert und spricht neben Kurdisch auch die Amtssprache Türkisch auf muttersprachlichem Niveau. Im Verfahren kam hervor, dass auch in der Türkei noch maßgebliche familiäre Anknüpfungspunkte bestehen und ist auch davon auszugehen, dass ein gewisser Freundes- und/oder Bekanntenkreis der Beschwerdeführerin noch existiert, da nichts darauf hindeutet, dass die Beschwerdeführerin vor ihrer Ausreise in ihrem Herkunftsstaat in völliger sozialer Isolation gelebt hätte. Es deutet daher nichts darauf hin, dass es im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.
- Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl- Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts
Die Beschwerdeführerin hat sich ihr Visum zur legalen Einreise in das Bundesgebiet erschlichen. Auf die diesbezüglich bereits getätigten Ausführungen wird verwiesen.
Weiters gab sie bei der Polizei zu Protokoll, sie habe als Reinigungskraft gearbeitet, machte diesbezüglich aber nur ungenaue bzw. abweichende Angaben und konnte nicht nachweisen, dass sie über die für diese Tätigkeit die erforderlichen Bewilligungen verfügte bzw. verfügt und entsprechend angemeldet war oder ist. Es ist daher davon auszugehen, dass sie einer nicht legalen Erwerbstätigkeit im Inland – zumindest zeitweilig – nachging.
- die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren
Der Beschwerdeführerin musste bei der Antragstellung klar sein, dass der Aufenthalt in Österreich im Falle der Abweisung des Asylantrages nur ein vorübergehender ist. Ebenso indiziert ihre Einreise mithilfe eines erschlichenen Schengen-Visums, dass sich die Beschwerdeführerin der Unmöglichkeit einer legalen dauerhaften Niederlassung bewusst gewesen ist, da davon auszugehen ist, dass sie in diesem Fall diese weitaus weniger beschwerliche und kostenintensive Art der legalen Einreise und Niederlassung gewählt hätte.
- - mögliches Organisationsverschulden durch die handelnden Behörden in Bezug auf die Verfahrensdauer
Es ist im Rahmen einer Gesamtschau zwar festzuhalten, dass eine raschere Erledigung des Asylverfahrens bei Vorhandensein entsprechender Ressourcen denkbar ist, dennoch ist die zeitliche Dauer des Verfahrens nur ein Aspekt unter vielen.
Aufgrund des Vorbringens der Beschwerdeführerin sowie ihrem Verhalten im Verfahren ist davon auszugehen, dass kein Sachverhalt vorliegt, welcher die zeitliche Komponente im Lichte der Erkenntnisse des VfGH B 950-954/10-08 bzw. B1565/10, in den Vordergrund treten ließe, dass aufgrund der Verfahrensdauer im Rahmen der Interessensabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK von einem Überwiegen der privaten Interessen der BF auszugehen wäre (in Bezug auf ein gewisses Behördenverschulden in Bezug auf die Verfahrensdauer vgl. auch bei Vorliegen weitaus engeren Bindungen im Sinne des Art. 8 EMRK und einem ca. zehnjährigen Aufenthalt im Staat der Antragstellung das Urteil des EGMR Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).
Im vorliegenden Fall ist zu beachten, dass die Beschwerdeführerin nun zwar schon etwa fast sechs Jahre im Bundesgebiet aufhältig ist, jedoch ist auch hervorzuheben, dass die Beschwerdeführerin von sich aus weder eine auf einen baldigen Abschluss des Verfahrens hinwirkte und die Zeit des Wartens auf eine persönliche Anhörung kaum nutzte, um Integrationsschritte zu setzen.
Im gegenständlichen Verfahren ist insgesamt keine unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer festzustellen, die den zuständigen Behörden oder dem Gericht zur Last zu legen wäre (vgl. hiezu auch VwGH 24.05.2016, Ro 2016/01/0001).
- Auswirkungen der allgemeinen Lage in der Türkei
Der Verwaltungsgerichtshof geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass dem Art. 8 EMRK innewohnenden Recht auf das Privat- und Familienleben auch ein Recht auf körperliche Unversehrtheit abzuleiten ist (vgl. etwa Erk. d. VwGH vom 28.6.2016, Ra 2015/21/0199-8). Vor diesem Hintergrund ist die Zulässigkeit von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen im Lichte des Art. 8 EMRK auch vor dem Hintergrund der Lage im Herkunftsstaat, welche die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr vorfindet, zu prüfen, wobei bereits an dieser Stelle Art. 8 EMRK –anders als Art. 3 leg. cit.- einen Eingriffsvorbehalt kennt.
Im gegenständlichen Verfahren ergaben sich jedoch keine Hinweise auf einen aus diesem Blickwinkel relevanten Sachverhalt. Auf die oben getätigten Ausführungen zur Situation im Land wird verwiesen.
- Schlussfolgerungen
Der sohin äußerst schwachen Rechtsposition der Beschwerdeführerin im Hinblick auf einen weiteren Verbleib in Österreich unter dem Gesichtspunkt ihres Privatlebens stehen die öffentlichen Interessen des Schutzes der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Form der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen, sowie des wirtschaftlichen Wohles des Landes gegenüber. Auch wenn anzunehmen ist, dass die Beschwerdeführerin über soziale Kontakte verfügt und Sprachkurse absolviert hat, stehen dem die unberechtigte Antragstellung, der Umstand der Erschleichung eines Visums sowie der im Verhältnis zu ihrem Lebensalter relativ kurze Aufenthalt im Bundesgebiet gegenüber, währenddessen sich die Beschwerdeführerin – insbesondere nach Erhalt des angefochtenen Bescheides – der Ungewissheit ihres weiteren Verbleibes im Bundesgebiet bewusst gewesen sein musste. Ferner lässt die Beschwerdeführerin wenig Engagement beim Spracherwerb und der Herstellung ihrer Selbsterhaltungsfähigkeit erkennen und lebt seit dem Jahr 2017 von Unterstützungsleistungen der Grundversorgung. Auch ist der sonstige Grad der Integration nicht als ausgeprägt einzuordnen. Von einer nachhaltigen und außergewöhnlichen Integration, welche die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung im Sinne oben zitierter Judikatur ausnahmsweise überwiegen würden, kann im Falle der Beschwerdeführerin sohin jedenfalls nicht gesprochen werden.
Könnte sich ein Fremder nunmehr in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen, würde dies darüber hinaus dazu führen, dass Fremde, welche die unbegründete bzw. rechtsmissbräuchliche Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz allenfalls in Verbindung mit einer illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet in Kenntnis der Unbegründetheit bzw. Rechtsmissbräuchlichkeit des Antrag unterlassen, letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, welche genau zu diesen Mitteln greifen um sich ohne jeden sonstigen Rechtsgrund den Aufenthalt in Österreich legalisieren, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (vgl. hierzu auch das Estoppel-Prinzip [„no one can profit from his own wrongdoing“], auch den allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen [VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007]).
Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet das persönliche Interesse der Beschwerdeführerin am Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen (und auch in den Beschwerden nicht vorgebracht worden), dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
3.5.5. In Anbetracht der Abwägung der dargelegten Umstände in Ansehung der Person der Beschwerdeführerin ergibt sich zwingend, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig und dieser daher ein Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 von Amts wegen nicht zu erteilen ist, zumal es an der in § 55 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 angeführten Voraussetzung der gebotenen Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG mangelt.
3.6. Zulässigkeit der Abschiebung:
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 2 FPG 2005 ferner unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative.
Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen sowie die länderkundlichen Feststellungen sind keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Türkei unzulässig wäre.
Die Abschiebung ist schließlich nach § 50 Abs. 3 FPG unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine derartige Empfehlung besteht für die Türkei nicht.
Die Zulässigkeit der Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei beruht somit darauf, dass ein Beschwerdeführer weder vor der belangten Behörde, noch im Rechtsmittelverfahren substantiierte Angaben dahingehend getätigt hat, denen zufolge eine rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung anzunehmen gewesen wäre. Auch sind keine Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG aus von der Beschwerdeführerin zu vertretenden Gründen nicht möglich wäre (§ 52 Abs. 9 FPG).
Daher war festzustellen, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin in den Herkunftsstaat Türkei zulässig ist.
3.7. Frist für die freiwillige Ausreise:
Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich zwingend aus § 55 Abs. 2 erster Satz FPG. Dass besondere Umstände, die die Beschwerdeführerin bei der Regelung ihrer persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätten, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Die eingeräumte Frist ist angemessen und es wurde diesbezüglich auch in der Beschwerdeschrift kein Vorbringen erstattet.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden und die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
Zu Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen, im Einzelnen zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Gewährung von internationalem Schutz, dem Refoulementschutz und zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfragen vor und wird eine solche auch in der Beschwerde nicht dargetan. In Bezug auf die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides liegt der Schwerpunkt zudem auf Fragen der Beweiswürdigung.
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