AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:L529.2200212.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch RA Mag. Ingeborg HALLER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.05.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.07.2021, zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als “BF“ bezeichnet) ist Staatsangehöriger des Irak und gehört der Volksgruppe der Araber und der sunnitischen Religionsgemeinschaft an. Er wurde am 20.06.2015 im Zuge einer sicherheitspolizeilichen Kontrolle wegen unrechtmäßigem Aufenthalt in Österreich festgenommen.
I.2. Zur Verhängung der Schubhaft wurde der BF am 21.06.2015 niederschriftlich einvernommen. Der BF gab dabei an, am 20.06.2015 von Ungarn eingereist zu sein. Er wolle in Österreich studieren; im Irak sei ihm dies untersagt worden, weil er an einer amerikanischen Universität studiert habe. Zudem habe er wegen seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit Probleme im Herkunftsland gehabt.
I.3. Der Beschwerdeführer stellte am 21.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde in der Folge aus der Schubhaft entlassen.
I.4. Anlässlich der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 22.06.2015 gab der BF zum Fluchtgrund befragt an, er sei aufgefordert worden, schiitischen Milizen beizutreten und gegen eigene Landsmänner zu kämpfen. Er habe dies abgelehnt, da 2011 sein Bruder von diesen schiitischen Milizen entführt und getötet worden sei. Aus Angst um sein Leben habe er seine Heimat verlassen.
I.5. Am 03.07.2015 wurde dem BF mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gem. § 29 Abs. 3 AsylG mitgeteilt, dass eine Zuständigkeit des Dublinstaates UNGARN angenommen werde.
I.6. Am 19.09.2015 teilte der BF unter Anschluss einer Haftbestätigung dem BFA mit, dass er sich seit 19.09.2015 in Untersuchungshaft befinde. Den Termin am 30.09.2015 könne er daher nicht einhalten.
I.7. Am 09.10.2015 wurde der BF im Polizeianhaltezentrum von einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen (Parteiengehör). Der BF wurde dabei in Kenntnis gesetzt, dass der Staat Ungarn im Konsultationsverfahren gemäß der Dublin-Verordnung zugestimmt habe und eine Rückführung des BF nach Ungarn geplant sei. Der BF gab dazu an, dass er in Ungarn gezwungen worden sei, einen Asylantrag zu stellen; sein Zielland sei Österreich gewesen und er wolle hier weiterstudieren.
I.8. Der BF wurde am 18.03.2016 aus der Haft entlassen und ersuchte am 22.03.2016 um Wiederaufnahme in die Grundversorgung.
I.9. Mit Aktenvermerk vom 13.02.2017 wurde das Asylverfahren gem. § 24 Abs. 2 AsylG eingestellt, da der Aufenthaltsort des BF weder bekannt noch sonst leicht feststellbar sei.
I.10. Am 20.10.2017 sprach der BF beim BFA XXXX vor und stellte einen Antrag auf Akteneinsicht. Am 30.01.2018 nahm der BF im Rahmen einer persönlichen Vorsprache beim BFA Akteneinsicht.
I.11. Am 13.02.2018 wurde der BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Der BF korrigierte zunächst sein Geburtsdatum, auch die in der Erstbefragung angegebenen Geburtsdaten der Eltern würden nicht stimmen. Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF an, er habe neben seiner Ausbildung auch im Unternehmen seines Onkels gearbeitet. Dieser habe zusammen mit Amerikanern Brücken und Schulen gebaut. Zunächst sei sein Onkel von der Miliz Jaish Almahdi mit SMS bedroht worden, dann auch der BF selbst. Im Jahr 2011 sei sein jüngerer Bruder entführt und getötet worden. Im September/Oktober 2012 sei der BF mit der Familie des Onkels unterwegs gewesen und sie seien angehalten worden. Der BF sei weggelaufen, der Onkel entführt und fünf Tage später tot aufgefunden worden. Daraufhin habe sich der BF in XXXX versteckt. Er sei von diesen Leuten mehrmals im Elternhaus gesucht und seinem Vater sei dabei einmal ins Bein geschossen worden. Aus Angst um sein Leben habe er das Land verlassen.
I.12. Der Antrag auf internationalen Schutz wurde mit im Spruch genannten Bescheid des BFA gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Das BFA stellte fest, dass sich aus dem Vorbringen des BF keine glaubhaften Hinweise für eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung und daraus abgeleitete Fluchtgründe nach der GFK ergeben hätten. Der BF habe eine Verfolgungsgefahr in der Heimat nicht glaubhaft darlegen können.
I.13. Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben und dieser wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften in vollem Umfang angefochten.
I.14. Der Verwaltungsakt langte am 05.07.2018 beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde vorerst der Gerichtsabteilung L526 zugeteilt. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.09.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L526 abgenommen und mit 04.10.2018 der Gerichtsabteilung L528 neu zugewiesen. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 21.01.2019 wurde die Rechtssache wegen Ausscheidens des Leiters der Gerichtabteilung L528 der vormals zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und mit 06.03.2019 der Gerichtsabteilung L529 neu zugeteilt.
I.15. Mit Beschwerdeergänzung vom 13.06.2019 wurde dem BVwG mitgeteilt, dass sich der BF in Österreich nunmehr über seine homosexuelle Neigung klar geworden sei.
I.16. Für den 20.07.2021 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Verhandlung. Mit der Ladung wurden dem BF länderkundliche Informationen übermittelt und die Möglichkeit zur Stellungnahme dazu eingeräumt.
I.17. Dem BVwG wurde mit Schriftsatz vom 07.07.2021 die Vollmachtserteilung an die gewillkürte Rechtsvertretung bekannt gegeben.
I.18. Am 13.07.2021 langte beim BVwG eine Stellungnahme des BF samt Urkundenvorlage ein. Darin wurde insbesondere auf die Integrationsschritte des BF verwiesen sowie auf die prekäre Sicherheitslage im Irak und die Macht der schiitischen Milizen.
I.19. Am 20.07.2021 wurde von 08.45 – 14.15 Uhr eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt, bei der der BF Gelegenheit hatte, zum Fluchtvorbringen, zu seiner Integration und seiner Rückkehrsituation Stellung zu nehmen.
Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde dem BF aufgetragen, binnen einer Frist von drei Wochen die Sterbeurkunde des Bruders vorzulegen.
I.20. Mit Schreiben vom 10.08.2021 ersuchte der BF um Fristerstreckung, da ihm bis dato eine Kontaktaufnahme mit seinen Eltern nicht möglich gewesen sei. Dem BF wurde eine Frist bis zum 30.09.2021 eingeräumt.
I.21. Mit Schreiben vom 27.09.2021 legte der BF die Sterbeurkunde samt beglaubigter Übersetzung des Onkels vor und teilte gleichzeitig mit, dass es ihm nicht möglich sei, einen Totenschein vom Bruder vorzulegen, da sein Bruder 2011 entführt und bis dato sein Körper nicht gefunden worden sei.
I.22. Hinsichtlich des detaillierten Verfahrensherganges wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen (Sachverhalt):
II.1.1. Zur Person des BF:
Der BF ist Staatsangehöriger des Irak, führt den im Spruch genannten Namen und gehört der Volksgruppe der Araber und der sunnitischen Religionsgemeinschaft an. Seine Identität steht fest.
Der BF reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 21.06.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Das Asylverfahren des BF wurde am 13.02.2017 wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht eingestellt, da der Aufenthaltsort des BF weder bekannt noch sonst leicht feststellbar war.
Der BF wohnte bis zum Beginn seiner Reisebewegung in Richtung Europa in seinem Elternhaus in XXXX , dann etwa acht Monate bei Verwandten in XXXX und die letzten 10 Monate vor seiner Ausreise in XXXX . Er hat sein Heimatland zu einem nicht näher feststellbaren Zeitraum etwa 2013/2014 verlassen.
Der BF hat im Irak zwölf Jahre die Schule besucht und mit Matura abgeschlossen, danach studierte er Bauingenieur (ohne Abschluss).
Familienmitglieder des BF (Eltern, Schwester) sind nach wie vor im Irak aufhältig, die Eltern des BF pendeln zwischen der Türkei und dem Irak. Der BF steht mit seiner Familie in Kontakt.
Der BF verfügt erst seit 14.08.2017 über einen Hauptwohnsitz in Österreich.
Der BF ist gesund und arbeitsfähig.
Der BF verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2; seine Deutschkenntnisse sind für eine Verständigung im Alltag als ausreichend anzusehen. Er ist kein Mitglied in einem Verein oder sonstigen Organisation.
Der BF ist ledig. Er hat in Österreich keine Verwandten oder sonstigen Angehörigen. Er lebt seit etwa Oktober 2020 in Lebensgemeinschaft mit einer slowakischen Staatsangehörigen.
Der BF ist selbsterhaltungsfähig und bezieht seit 29.10.2020 keine Leistungen mehr aus der staatlichen Grundversorgung. Er war fallweise karitativ tätig.
Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 14.10.2015 wurde der BF wegen des Versuchs der absichtlich schweren Körperverletzung (§ 15 StGB § 87 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten, davon 12 Monate bedingt mit einer Probezeit von 3 Jahren, verurteilt. Er war von 19.09.2015 – 18.03.2016 in Haft.
II.1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:
Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF in seinem Heimatland einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt war oder im Falle seiner Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine solche zu erwarten hätte.
Es konnte zudem, unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände, nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des BF in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Es wird festgestellt, dass dem BF im Rückkehrfall keine lebens- bzw. existenzbedrohende Notlage droht. Dem BF ist eine Rückkehr in seine Herkunftsregion zum Entscheidungszeitpunkt zumutbar.
II.1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:
II.1.3.1. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak wurden dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Länderinfo COI CMS Staatendoku Irak vom 02.06.2021, Version 3) übermittelt und auf die Berücksichtigung folgender Dokumente bei der Entscheidungsfindung hingewiesen:
* EASO Irak, gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019
* EASO Sicherheitslage im Irak, Oktober 2020
* EASO Irak - Zentrale sozioökonomische Indikatoren, Februar 2019
* UNHCR – Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen; Mai 2019
* IBC, aktuelle Version
* BMF, Länderreport 25 Irak – Die Entstehung einer neuen Protestbewegung, Mai 2020
II.1.3.2. Es wird konkret auf die insoweit relevanten Abschnitte hingewiesen:
Sicherheitslage
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).
Islamischer Staat (IS)
Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).
Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).
Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).
Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).
Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen – einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din – wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).
Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).
Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranische PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).
Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).
Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro
Monat jeweils ein Balken).
Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).
Iraq Body Count, Teilausdruck vom 27.01.2021
Monatliche zivile Todesfälle durch Gewalt, ab 2003; Teilausdruck vom 23.06.2021
| Jan | Feb | Mar | Apr | Mai | Jun | Jul | Aug | Sep | Okt | Nov | Dec | |
2003 | 3 | 2 | 3977 | 3438 | 545 | 597 | 646 | 833 | 566 | 515 | 487 | 524 | 12,133 |
2004 | 610 | 663 | 1004 | 1303 | 655 | 910 | 834 | 878 | 1042 | 1033 | 1676 | 1129 | 11,737 |
2005 | 1222 | 1297 | 905 | 1145 | 1396 | 1347 | 1536 | 2352 | 1444 | 1311 | 1487 | 1141 | 16,583 |
2006 | 1546 | 1579 | 1957 | 1805 | 2279 | 2594 | 3298 | 2865 | 2567 | 3041 | 3095 | 2900 | 29,526 |
2007 | 3035 | 2680 | 2728 | 2573 | 2854 | 2219 | 2702 | 2483 | 1391 | 1326 | 1124 | 997 | 26,112 |
2008 | 861 | 1093 | 1669 | 1317 | 915 | 755 | 640 | 30° | 612 | 594 | 540 | 586 | 10,286 |
2009 | 372 | 409 | 438 | 590 | 428 | 564 | 431 | 653 | 352 | 441 | 226 | 478 | 5,382 |
2010 | 267 | 305 | 336 | 385 | 387 | 385 | 488 | 520 | 254 | 315 | 307 | 218 | 4,167 |
2011 | 389 | 254 | 311 | 289 | 381 | 386 | 308 | 401 | 397 | 366 | 288 | 392 | 4,162 |
2012 | 531 | 356 | 377 | 392 | 304 | 529 | 469 | 422 | 400 | 290 | 253 | 299 | 4,622 |
2013 | 357 | 360 | 403 | 545 | 888 | 659 | 1145 | 1013 | 1306 | 1180 | 870 | 1126 | 9,852 |
2014 | 1097 | 972 | 1029 | 1037 | 1100 | 4088 | 1580 | 3340 | 1474 | 1738 | 1436 | 1327 | 20,218 |
2015 | 1490 | 1625 | 1105 | 2013 | 1295 | 1355 | 1845 | 1991 | 1445 | 1297 | 1021 | 1096 | 17,578 |
2016 | 1374 | 1258 | 1459 | 1192 | 1276 | 1405 | 1280 | 1375 | 935 | 1970 | 1738 | 1131 | 16,393 |
2017 | 1119 | 982 | 1918 | 1816 | 1871 | 1858 | 1498 | 597 | 490 | 397 | 346 | 291 | 13,183 |
2018 | 474 | 410 | 402 | 303 | 229 | 209 | 230 | 201 | 241 | 305 | 160 | 155 | 3,319 |
2019 | 323 | 271 | 123 | 140 | 166 | 130 | 145 | 93 | 151 | 361 | 67° | 215 | 2,392 |
2020 | 114 | 147 | 73 | 50 | 74 | 64 | 47 | 81 | 54 | 70 | 74 | 54 | 902 |
2021 | 64 | 56 | 49 | 66 | 49 |
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Sicherheitslage Bagdad
Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).
Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).
Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staates (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).
Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).
Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)
Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.
Sicherheitskräfte und Milizen
Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen (Fanack 2.9.2019).
Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) (USDOS 11.3.2020). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) (GS 18.7.2019).
Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vgl. GS 18.7.2019).
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).
Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019).
Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 11.3.2020).
Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi
Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).
Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).
Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).
Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vgl. FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).
Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere – aber nicht nur – in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).
In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).
Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vgl. TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vgl GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellten Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).
Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).
Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörige. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).
Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den Angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).
Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen (MEE 16.2.2020).
Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahe stehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020).
Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des „Obersten Rates für die Islamische Revolution im Irak“ gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war [Anm. der „Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak“ wurde später zum „Obersten Islamischen Rat im Irak“ (OIRI), siehe Abschnitt „Politische Lage“]. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt heute als die bedeutendste Teilorganisation und dominierende Kraft der PMF. Sie ist besonders mächtig, weil sie die Kontrolle über das irakische Innenministerium und damit auch über die Polizeikräfte besitzt; ein Großteil der bewaffneten Kräfte der Organisation wurde ab 2005 in die irakische Polizei aufgenommen (Süß 21.8.2017). Die Badr-Organisation besteht offiziell aus elf Brigaden, kontrolliert aber auch einige weitere Einheiten (FPRI 19.8.2019). Zu Badr und seinen Mitgliedsorganisationen gehören Berichten zufolge die 1., 3., 4., 5., 9., 10., 16., 21., 22., 23., 24., 27., 30., 52., 55. und 110. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Sie soll über etwa 20.000 bis 50.000 Mann verfügen und ist Miliz und politische Partei in einem (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018). Bei den Wahlen 2018 bildete die Badr-Organisation gemeinsam mit Asa‘ib Ahl al-Haqq und Kata‘ib Hizbullah die Fatah-Koalition (Wilson Center 27.4.2018), die 48 Sitze gewann (FPRI 19.8.2019), 22 davon gewann die Badr-Organisation (Wilson Center 27.4.2018). Viele Badr-Mitglieder waren Teil der offiziellen Staatssicherheitsapparate, insbesondere des Innenministeriums und der Bundespolizei (FPRI 19.8.2019). Die Badr-Organisation strebt die Erweiterung der schiitischen Macht in den Sicherheitskräften an, durch Wahlen und durch Eindämmung sunnitischer Bewegungen (Wilson Center 27.4.2018). Badr-Mitglieder und andere schiitische Milizen misshandelten und misshandeln weiterhin sunnitisch-arabische Zivilisten, insbesondere Sunniten im ehemaligen IS-Gebiet (FPRI 19.8.2019).
Die Kata’ib Hizbullah (Bataillone der Partei Gottes, Hezbollah Brigades) wurden 2007 von Abu Mahdi al-Muhandis gegründet und bis zu seinem Tode 2019 auch angeführt. Die Miliz kann als Eliteeinheit begriffen werden, die häufig die gefährlichsten Operationen übernimmt und vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv ist (Süß 21.8.2017). Kata’ib Hizbullah bilden die 45. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018). Ihre Personalstärke ist umstritten, teilweise ist die Rede von mindestens 400 bis zu 30.000 Mann (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center). Die Ausrüstung und militärische Ausbildung ihrer Mitglieder sind besser als die der anderen Milizen innerhalb der PMF. Kata’ib Hizbullah arbeiten intensiv mit Badr und der libanesischen Hizbullah zusammen und gelten als Instrument der iranischen Politik im Irak. Die Miliz wird von den USA seit 2009 als Terrororganisation geführt (Süß 21.8.2017). Ihr Anführer Jamal Jaafar Ibrahimi alias Abu Mahdi al Muhandis war auch stellvertretender Leiter der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission (Al-Tamini 31.10.2017).
Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak (Süß 21.8.2017). Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch (Clingendael 6.2018). Asa‘ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern (Süß 21.8.2017). Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018).
Die Harakat Hezbollah al Nujaba (HHN, Bewegung der Partei der Edlen Gottes) ist ein Ableger von Kata’ib Hizbullah und Asa‘ib Ahl al-Haqq, die 2013 zur Unterstützung des Assad Regimes in Syrien von Sheikh Akram al Ka‘abi gegründet wurde. Die pro-iranische HHN hat eigenen Angaben zufolge etwa 9.000 Kämpfer, von denen einige nach wie vor in Syrien aktiv sind. Sie stellt die 12. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017).
Die Kata‘ib Sayyid al Shuhada (KSS, Meister der Märtyrerbrigade), ist eine Miliz, die im Mai 2013 gegründet wurde, um an der Seite des Assad-Regimes in Syrien zu kämpfen. Nach dem Aufstieg des IS im Jahr 2014 dehnte die KSS ihre Operationen auf den Irak aus und war insbesondere im Gouvernement Salah ad-Din, aber auch in Anbar und Ninewa aktiv. Geschätzt auf über 2.000 Kämpfer im Jahr 2017, wird die KSS von den Iranischen Revolutionsgarden (Islamic Revolutionary Guards Corps, IRGC) unterstützt und finanziert (Wilson Center 27.4.2018). Sie stellt die 14. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017).
Die Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa von Großayatollah Ali as-Sistani, in der alle junge Männer dazu aufgerufen wurden, sich im Kampf gegen den IS den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten im Irak anzuschließen, von Muqtada as-Sadr gegründet. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam sind der militärische Arm der Sairoun Partei (Allianz für Reformen, Marsch in Richtung Reform). Diese ist eine multiethnische, nicht-konfessionelle (wenn auch meist schiitische), parlamentarische Koalition, die sich aus anti-iranischen Schiiten-Parteien, der Kommunistischen Partei und einigen anderen kleineren Parteien zusammensetzt (FPRI 19.8.2019). Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann. Ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam bilden mindestens drei Brigaden und stellen damit das zweitgrößte Kontingent der PMF. Muqtada as-Sadr verkündete, dass die Saraya as-Salam-Brigaden die Durchführungsverordnung von Premierminister Mahdi sofort annehmen würden und fortan nur noch unter den ihnen zugeteilten Nummern, 313, 314 und 315, bekannt sein würden. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass Sadr auch weiterhin großen Einfluss auf diese Milizen haben wird (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass schätzungsweise 15.000 weitere seiner Kämpfer außerhalb der PMF-Brigaden organisiert sind (Wilson Center 27.4.2018).
Auch die Kata’ib al-Imam Ali (KIA, Bataillone des Imam Ali, Imam Ali Batallions) ist eine der Milizen, die im Juni 2014 neu gebildet wurden (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018). Sie ist den PMF als 40. Brigade beigetreten (Wilson Center 27.4.2018). Sie sticht hervor, weil sie sich rasant zu einer schlagkräftigen Gruppe entwickelte, die an den meisten wichtigen Auseinandersetzungen im Kampf gegen den IS beteiligt war. Dies lässt auf eine beträchtliche Kämpferzahl schließen. Die Funktion des Generalsekretärs hat Shibl al-Zaidi inne, ein früherer Angehöriger der Sadr-Bewegung. Zaidi stand in engem Kontakt zu Muhandis (bis zu dessen Tod) und den Pasdaran, weshalb die Miliz intensive Beziehungen zur Badr-Organisation, den Kata’ib Hizbullah und den iranischen Revolutionsgarden unterhält. Die Miliz betreibt außerdem wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit, wodurch ihr Bekanntheitsgrad schnell gestiegen ist. Vor allem der Feldkommandeur Abu Azra‘el erlangte durch Videos mit äußerst brutalen Inhalten zweifelhafte Berühmtheit. Die Gruppe scheint Gefangene routinemäßig zu foltern und hinzurichten (Süß 21.8.2017). Kata’ib al-Imam Ali hat im Dezember 2014 die kleine syriakische (Anm.: aramäisch- assyrisch) Christenmiliz Kata‘ib Roh Allah Issa Ibn Miriam (Die Brigade vom Geist Gottes, Jesus, Sohn der Maria) gegründet und ausgebildet (Wilson Center 27.4.2018).
Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF
Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert (Süß 21.8.2017).
Die PMF genießen auch breite Unterstützung in der irakischen Bevölkerung für ihre Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat nach dem teilweisen Zusammenbruch der irakischen Armee im Jahr 2014 (TDP 3.7.2019). Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht (Süß 21.8.2017).
Einige PMF haben sich Einkommensquellen erschlossen, die sie nicht aufgeben wollen, darunter Raub, Erpressung und Altmetallbergung (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass die PMF einen Teil der lokalen Wirtschaft in Ninewa kontollieren, was von diesen zurückgewiesen wird (Reuters 29.8.2019). Im Norden und Westen des Irak haben Amtspersonen und Bürger über Schikanen durch PMF-Milizen und deren Eingreifen in die Stadtverwaltungen und das alltägliche Leben berichtet. Damit geht der Versuch einher, bisweilen unter Einsatz von Demütigungen und Prügel, Kontrolle über Bürgermeister, Distrikt-Vorsteher und andere Amtsträger auszuüben (ACCORD 11.12.2019). In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mossul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß (ICG 30.7.2018).
Neben der Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind (Posch 8.2017).
Wehrdienst, Rekrutierungen und Wehrdienstverweigerung
Im Irak besteht keine Wehrpflicht. Männer zwischen 18 und 40 Jahren können sich freiwillig zum Militärdienst melden (AA 12.1.2019; vgl. CIA 21.8.2019). Nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 wurde die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft (BasNews 7.8.2019). Juden sind per Gesetz vom Militärdienst ausgeschlossen (USDOS 21.6.2019). Die irakische Regierung und das irakische Parlament planen, die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu prüfen. Hierbei wird auch die Möglichkeit erwogen, anstelle des Militärdienstes eine Ersatzzahlung leisten zu können (BasNews 7.8.2019).
Laut Kapitel 5 des irakischen Militärstrafgesetzes von 2007 ist Desertion in Gefechtssituationen mit bis zu sieben Jahren Haft strafbar. Das Überlaufen zum Feind ist mit dem Tode strafbar (MoD 10.2007). Die Armee hat kaum die Kapazitäten, um gegen Desertion von niederen Rängen vorzugehen. Es sind keine konkreten Fälle bekannt, in denen es zur Verfolgung von Deserteuren gekommen wäre (DIS/Landinfo 5.11.2018). Im Jahr 2014 entließ das Verteidigungsministerium Tausende Soldaten, die während der IS-Invasion im Nordirak ihre Posten verlassen haben und geflohen sind. Im November 2019 wurden, mit der behördlichen Anordnung alle entlassenen Soldaten wieder zu verpflichten, über 45.000 wieder in Dienst gestellt (MEMO 6.11.2019).
Die Rekrutierung in die Volksmobilisierungskräfte (PMF) erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Basis. Viele schließen sich den PMF aus wirtschaftlichen Gründen an. Desertion von den PMF kam in den Jahren 2014 bis 2015 seltener vor als bei der irakischen Armee. Desertion von Kämpfern niederer Ränge hätte wahrscheinlich keine Konsequenzen oder Vergeltungsmaßnahmen zur Folge (DIS/Landinfo 5.11.2018).
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Minderheiten
Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten faktisch unter weitreichender Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 12.1.2019). Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 4.3.2020). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch PMF-Milizen, in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der Ninewa-Ebene (USDOS 11.3.2020).
Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60-65% der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17-22%) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15-20%) (AA 12.1.2019). Genaue demografische Aufschlüsselungen sind jedoch mangels aktueller Bevölkerungsstatistiken sowie aufgrund der politisch heiklen Natur des Themas nicht verfügbar (MRG 5.2018). Zahlenangaben zu einzelnen Gruppen variieren oft massiv (siehe unten).
Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Kurdischen Region im Irak (KRI), oft benachteiligt. Zudem ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen – eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnisch-konfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht (AA 12.1.2019).
Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des IS standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäer-Sabäern, Kaka‘i, Schabak und Christen. Aus dieser Zeit liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert (AA 12.1.2019).
In der KRI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (AA 12.1.2019; vgl. KAS 8.2017). Mit der Verabschiedung des Gesetzes zum Schutze der Minderheiten in der KRI durch das kurdische Regionalparlament im Jahr 2015 wurden die ethnischen und religiösen Minderheiten zumindest rechtlich mit der kurdisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaft gleichgestellt. Dennoch ist nicht immer gewährleistet, dass die bestehenden Minderheitsrechte auch tatsächlich umgesetzt werden (KAS 8.2017). Es gibt auch Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten (Turkmenen, Arabern, Jesiden, Schabak und Christen) durch KRI-Behörden in den sogenannten umstrittenen Gebieten (USDOS 13.3.2019). Darüber hinaus empfinden dort Angehörige von Minderheiten seit Oktober 2017 erneute Unsicherheit aufgrund der Präsenz der irakischen Streitkräfte und v.a. der schiitischen Milizen (AA 12.1.2019).
Im Zusammenhang mit der Rückeroberung von Gebieten aus IS-Hand wurden problematische Versuche einer ethnisch-konfessionellen Neuordnung unternommen, besonders in dem ethnisch-konfessionell sehr heterogenen Gouvernement Diyala (AA 12.1.2019). Im Gouvernement Ninewa wurden alle Distriktverwaltungen angeordnet, dem Bundesgesetz von 2017 folge zu leisten und den Familien von PMF-Märtyrern, die im Kampf gegen den IS gefallen sind (zumeist Schiiten), Land zuzuweisen. Diese Anordnung schloss auch Distrikte mit sunnitischer und nicht-muslimischer Mehrheit ein. Es kam zu Widerstand unter Verweis auf das in der Verfassung verankerte Verbot eines erzwungenen demografischen Wandels, insbesondere im mehrheitlich christlichen Distrikt Hamdaniya (USDOS 21.6.2019).
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Die territoriale Niederlage des IS im Jahr 2017 beendete dessen Kampagne zur Umwälzung der religiösen Demografie des Landes. Viele Schiiten und religiöse Minderheiten, die vom IS vertrieben wurden, sind bis heute nicht in ihre Häuser zurückgekehrt. Die Rückkehr irakischer Streitkräfte in Gebiete, die seit 2014 von kurdischen Streitkräften gehalten wurden, führte Ende 2017 zu einer weiteren Runde demografischer Veränderungen, wobei manche kurdische Bewohner auszogen, und Araber zurückkehrten. In Gebieten, die von schiitischen Milizen befreit wurden, gab es wiederum Berichte von der Vertreibung sunnitischer Araber (FH 4.3.2020). Aufgrund der konfliktbedingten internen Vertreibungen und Rückkehrbewegungen hat sich seit 2014 die Demographie einiger Gebiete von mehrheitlich sunnitisch zu mehrheitlich schiitisch bzw. zu konfessionell gemischt entwickelt, insbesondere in den Gouvernements Bagdad, Basra und Diyala. Im Distrikt Khanaqin in Diyala ist die Anzahl der Orte mit einer sunnitischen Mehrheit von 81 auf 73 gesunken, jene mit einer kurdisch-sunnitischen Mehrheit von 20 auf 17. Im Gouvernement Babil sind vormals arabisch-sunnitisch-schiitische Mischstädte wie Jurf al-Sakhr und Musayab vollständig schiitisch geworden. In der KRI hat die Präsenz sunnitischer Araber zugenommen, sodass die Anzahl der Orte mit einer sunnitisch-arabischen Mehrheit seit 2014 von 2 auf 25 angewachsen ist (IOM 2019).
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Sunnitische Araber
Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt (AA 12.1.2019). Bei willkürlichen Verhaftungen meist junger sunnitischer Männer wird durch die Behörden auf das Anti-Terror-Gesetz verwiesen, welches das Recht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren vorenthält (USDOS 21.6.2019). Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.1.2019).
Es gibt zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, PMF und Peshmerga (USDOS 11.3.2020). Noch für das Jahr 2018 gibt es Hinweise auf außergerichtliche Hinrichtungen von sunnitischen Muslimen in und um Mossul (USCIRF 4.2019).
Berufsgruppen & Menschen, die einer bestimmten Beschäftigung nachgehen
Übergriffe auf Regierungsziele durch den Islamischen Staat (IS) sind trotz eines generellen Rückgangs an Vorfallzahlen gestiegen (CSIS 30.11.2018). Polizisten, Soldaten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte sowie Mitglieder des Sicherheitsapparats sind besonders gefährdet. Auch Mitarbeiter der Ministerien sowie Mitglieder von Provinzregierungen werden regelmäßig Opfer von gezielten Attentaten (AA 12.1.2019).
Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird – fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, vor allem Jesiden und Christen (AA 12.1.2019; vgl. USDOS 21.6.2019), Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten sowie medizinisches Personal werden ebenfalls immer wieder Ziel von Entführungen oder Anschlägen (AA 12.1.2019).
Grundversorgung und Wirtschaft
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 12.1.2019). Der irakische humanitäre Reaktionsplan schätzt, dass im Jahr 2019 etwa 6,7 Millionen Menschen dringend Unterstützung benötigten (IOM o.D.; vgl. USAID 30.9.2019). Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die grassierende Korruption verstärkt vorhandene Defizite zusätzlich. In vom Islamischen Staat (IS) befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 12.1.2019).
Nach Angaben der UN-Agentur UN-Habitat leben 70% der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums (AA 12.1.2019). Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich (K4D 18.5.2018). Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig (AA 12.1.2019).
Nahrungsmittel sind im Allgemeinen verfügbar, es gibt nahezu keine Einschränkung in der Wasserversorgung (EASO ZsI, 59, 60]. In Bagdad sind alle Nahrungsmittelerzeugnisse „weitgehend verfügbar“, nahezu alle (92 %) der Binnenvertriebenen berichten über keine Einschränkungen der Wasserversorgung [EASO, ZsI, 64, 65].
Wirtschaftslage
Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019 (GIZ 1.2020c). Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet (WKO 18.10.2019).
Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 1.2020c). Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.1.2019).
Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiteres Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung (WB 12.2019).
Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen (OHCHR 11.9.2019). Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an (WB 19.4.2019). Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikts 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen (Joel Wing 18.2.2020). Die Regierung strebt bis Ende 2022 eine Senkung der Armutsrate auf 16% an (Rudaw 16.2.2020).
Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD (Anm.: ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD (Anm.: ca. 0,9 EUR) pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land sind derzeit keine dieser Weiterbildungsprogramme, die nur durch spezielle Fonds zugänglich sind, aktiv (IOM 1.4.2019).
Stromversorgung
Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 12.1.2019). Sie deckt nur etwa 60% der Nachfrage ab, wobei etwa 20% der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 17.9.2019). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste (AA 12.1.2019).
Wasserversorgung
Etwa 70% des irakischen Wassers haben ihren Ursprung in Gebieten außerhalb des Landes, vor allem in der Türkei und im Iran. Der Wasserfluss aus diesen Ländern wurde durch Staudammprojekte stark reduziert. Das verbleibende Wasser wird zu einem großen Teil für die Landwirtschaft genutzt und dient somit als Lebensgrundlage für etwa 13 Millionen Menschen (GRI 24.11.2019).
Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist (Clingendael 10.7.2018). Insbesondere Dammprojekte der irakischen Nachbarländer, wie in der Türkei, haben großen Einfluss auf die Wassermenge und Qualität von Euphrat und Tigris. Der damit einhergehende Rückgang der Wasserführung in den Flüssen hat ein Vordringen des stark salzhaltigen Wassers des Persischen Golfs ins Landesinnere zur Folge und beeinflusst sowohl die Landwirtschaft als auch die Viehhaltung. Das bringt in den besonders betroffenen südirakischen Gouvernements Ernährungsunsicherheit und sinkende Einkommensquellen aus der Landwirtschaft mit sich (EPIC 18.7.2017).
Die Wasserversorgung wird zudem von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (AA 12.1.2019). Im Südirak und insbesondere Basra führten schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass im Jahr 2018 mindestens 118.000 Menschen wegen Magen-Darm Erkrankungen in Krankenhäusern behandelt werden mussten (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).
Nahrungsmittelversorgung
Etwa 1,77 Millionen Menschen im Irak sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, ein Rückgang im Vergleich zu 2,5 Millionen Betroffenen im Jahr 2019 (USAID 30.9.2019; vgl. FAO 31.1.2020). Die meisten davon sind IDPs und Rückkehrer. Besonders betroffen sind jene in den Gouvernements Diyala, Ninewa, Salah al-Din, Anbar und Kirkuk (FAO 31.1.2020). 22,6% der Kinder sind unterernährt (AA 12.1.2019).
Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurden unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen (FAO 8.2.2018). Trotz konfliktbedingter Einschränkungen und Überschwemmungen entlang des Tigris (betroffene Gouvernements: Diyala, Wasit, Missan und Basra), die im März 2019 aufgetreten sind, wird die Getreideernte 2019 wegen günstiger Witterungsbedingungen auf ein Rekordniveau von 6,4 Millionen Tonnen geschätzt (FAO 31.2.2020).
Trotzdem ist das Land von Nahrungsmittelimporten abhängig (FAO 31.1.2020). Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (UNFAO) schätzt, dass der Irak zwischen Juli 2018 und Juni 2019 etwa 5,2 Millionen Tonnen Mehl, Weizen und Reis importiert hat, um den Inlandsbedarf zu decken (USAID 30.9.2019).
Im Südirak und insbesondere Basra führen schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass Landwirte ihre Flächen mit verschmutztem und salzhaltigem Wasser bewässern, was zu einer Degradierung der Böden und zum Absterben von Nutzpflanzen und Vieh führt (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).
Das Sozialsystem wird vom sogenannten „Public Distribution System“ (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen (K4D 18.5.2018; vgl. USAID 30.9.2019). Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schwerer Ineffizienz gekennzeichnet ist (K4D 18.5.2018). Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).
Medizinische Versorgung
Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können – für den Zugang zum Gesundheitswesen wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt – haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen (IOM 1.4.2019). Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD (Anm.: ca. 12-16 EUR). Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 12.2019).
Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt (AA 12.1.2019). Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung (GIZ 12.2019). In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.1.2019). Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosozialen Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend (UNAMI 12.2016). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).
Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Hinzu kommt, dass durch die Kampfhandlungen nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch schwierige Schusswunden und Kriegsverletzungen behandelt werden müssen (AA 12.1.2019). Für das Jahr 2020 werden in Flüchtlingslagern der kurdischen Gouvernements Dohuk und Sulaymaniyah erhebliche Lücken in der Gesundheitsversorgung erwartet, die auf Finanzierungsengpässe zurückzuführen sind (UNOCHA 17.2.2020).
Rückkehr
Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Kurdische Region im Irak (KRI) finden regelmäßig statt. In der KRI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Eine Fortführung dieser Tendenzen wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 12.1.2019).
Studien zufolge ist die größte Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak (IOM 2.2018; vgl. REACH 30.6.2017).
Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger (IOM 1.4.2019). Die Miete für 250 m² in Bagdad liegt bei ca. 320 USD (Anm.: ca. 296 EUR) (IOM 13.6.2018). Die Wohnungspreise in der KRI sind 2018 um 20% gestiegen, während die Miete um 15% gestiegen ist, wobei noch höhere Preise prognostiziert werden (Ekurd 8.1.2019). In den Städten der KRI liegt die Miete bei 200-600 USD (Anm.: ca. 185-554 EUR) für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD (Anm.: ca. 12 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD (Anm.: ca. 8-19 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD (Anm.: ca. 23-31 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000-60.000 IQD (Anm.: ca. 31-46 EUR) für privaten oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom. Die Rückkehr von IDPs in ihre Heimatorte hat eine leichte Senkung der Mietpreise bewirkt. Generell ist es für alleinstehende Männer schwierig Häuser zu mieten, während es in Hinblick auf Wohnungen einfacher ist (IOM 1.4.2019).
Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. In der Zeit nach Saddam Hussein sind die Besitzverhältnisse von Immobilien zuweilen noch ungeklärt. Nicht jeder Vermieter besitzt auch eine ausreichende Legitimation zur Vermietung (GIZ 12.2019).
Im Zuge seines Rückzugs aus der nordwestlichen Region des Irak, 2016 und 2017, hat der Islamische Staat (IS) die landwirtschaftlichen Ressourcen vieler ländlicher Gemeinden ausgelöscht, indem er Brunnen, Obstgärten und Infrastruktur zerstörte. Für viele Bauerngemeinschaften gibt es kaum noch eine Lebensgrundlage (USCIRF 4.2019). Im Rahmen eines Projekts der UN-Agentur UN-Habitat und des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) wurden im Distrikt Sinjar, Gouvernement Ninewa, binnen zweier Jahre 1.064 Häuser saniert, die während der IS-Besatzung stark beschädigt worden waren. 1.501 Wohnzertifikate wurden an jesidische Heimkehrer vergeben (UNDP 28.4.2019).
Es besteht keine öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche für Rückkehrer. Private Immobilienfirmen können jedoch helfen (IOM 1.4.2019).
Staatsbürgerschaft und Dokumente
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Jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, ist gegen Bezahlung zu beschaffen. Zur Jahresmitte 2014 tauchten vermehrt gefälschte Visaetiketten auf. Auch gefälschte Beglaubigungsstempel des irakischen Außenministeriums sind im Umlauf; zudem kann nicht von einer verlässlichen Vorbeglaubigungskette ausgegangen werden (AA 12.1.2019).
II.1.3.3. Coronavirus COVID-19
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet.
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.
In Österreich gibt es derzeit (Stand 09.12.2021) 1,21 Mio. bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen und 12.979 Todesfälle; im Irak wurden bislang 2,09 Mio. Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 23.931 Todesfälle bestätigt wurden.
II.2. Beweiswürdigung:
II.2.1. Das erkennende Gericht hat durch den Inhalt der übermittelten Verwaltungsakte der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde, der Beschwerdeergänzung und der Stellungnahmen, des Gerichtsaktes und durch die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung Beweis erhoben. Der festgestellte Sachverhalt in Bezug auf den bisherigen Verfahrenshergang steht aufgrund der außer Zweifel stehenden Aktenlage, des Beschwerdeschreibens und der Stellungnahmen des BF, der vorgelegten Unterlagen und nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung fest und ist das ho. Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.
II.2.2. Die Feststellungen zur Person des BF ergeben sich aus seinen in diesen Punkten nicht widerlegten Angaben sowie seinen Sprach- und Ortskenntnissen. Bereits das BFA konnte die Identität des BF aufgrund der Vorlage geeigneter Dokumente feststellen und der erkennende Richter hat keinen Grund, daran zu zweifeln.
Die Feststellungen hinsichtlich seiner Asylantragsstellung in Österreich und der (vorübergehenden) Einstellung des Asylverfahrens ergeben sich aus dem Akteninhalt bzw. aus den Angaben des BF. Dass der genaue Zeitpunkt, zu dem der BF sein Heimatland verlassen hat, nicht genauer feststellbar war, ist dem Umstand geschuldet, dass der BF dazu unterschiedliche Angaben tätigte; diese variierten zwischen Mai 2015 (AS 5), April 2015 (AS 230), Sommer 2014 (AS 230) und Februar 2014 (Verhandlungsschrift [VHS] S 14) oder April/Mai 2013 (VHS, S 24).
Die Feststellungen zu den familiären und persönlichen Lebensumständen sowie zu seiner Schulbildung im Herkunftsstaat konnten anhand der diesbezüglich gleichbleibenden Angaben des BF im gesamten Verfahren und anhand des Verwaltungsaktes getroffen werden. Dass der BF aus Bagdad stammt, war aufgrund seiner Aussagen im behördlichen Verfahren und in der hg. mündlichen Verhandlung zu treffen. Zwar hielt sich der BF vor seiner Ausreise einige Monate in XXXX bei Verwandten der Mutter und in XXXX bei einem Freund des Vaters auf, doch waren diese Aufenthalte bereits der Beginn der Reisebewegung für das Verlassen seines Heimatlandes und war sein letzter fester Wohnsitz im Familienhaus der Eltern in Bagdad.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit des BF ergeben sich aus seinen Angaben im behördlichen Verfahren und in der hg. Verhandlung.
Die Feststellung, dass der BF erst ab dem 14.08.2017 über einen Hauptwohnsitz in Österreich verfügt, ist dem aktuellen Auszug aus dem zentralen Melderegister in Zusammenschau mit dem Speicherauszug aus der Betreuungsinformation des Bundes und dem Antrag des BF auf Wiederaufnahme in die Grundversorgung (AS 167f) zu entnehmen und ist wohl dem Umstand geschuldet, dass der BF, der im Juni 2015 in Österreich einreiste, bereits im September 2015 in der Flüchtlingsunterkunft einen Streit hatte und am 19.09.2015 in Haft genommen wurde, welche bis 18.03.2016 effektuiert wurde. Der BF, der seinen weiteren Aufenthalt in Österreich unterbrach und – seinen Angaben zufolge – sich bei seiner Schwester in Schweden aufhielt (AS 232), reiste erst am 09.08.2017 wieder in Österreich ein (SOT-Flughafenverfahren) und wurde in der Folge dem Startquartier XXXX zugewiesen.
Die Feststellung, dass der BF in Österreich keine Verwandten oder sonstigen Angehörigen hat, war aufgrund seiner Aussagen im Verfahren zu treffen. Dass der BF seit Oktober 2020 in Lebensgemeinschaft mit einer slowakischen Staatsbürgerin lebt, ergibt sich aus den übereinstimmenden Angaben des BF und der als Zeugin einvernommenen Lebensgefährtin in der hg. mündlichen Verhandlung (VHS S 5 und S 35). Es ist daher von einem Familienleben in Österreich auszugehen.
Zum Nachweis seiner Deutschkenntnisse brachte der BF ÖSD-Prüfungszertifikate für das Niveau A1 vom 09.05.2018, für das Niveau A2 vom 18.08.2020 und für das Niveau B1/Modul Lesen und Modul Hören vom 08.07.2019 in Vorlage. Der erkennende Richter konnte sich in der hg. Verhandlung einen Eindruck von den fortgeschrittenen Deutschkenntnissen des BF verschaffen und feststellen, dass diese für eine Verständigung im Alltag als ausreichend anzusehen sind.
Die Selbsterhaltungsfähigkeit des BF ergibt sich aus dem vorgelegten Auszug aus dem Gewerbeinformationssystem, aus dem hervorgeht, dass der BF seit 11.09.2020 über die Gewerbeberechtigung für das freie Gewerbe der Hausbetreuung (Durchführung einfacher Reinigungstätigkeiten einschließlich objektbezogener einfacher Wartungstätigkeiten) verfügt, aus den von ihm ausgestellten Rechnungen für den Leistungszeitraum Oktober 2020 – Juli 2021 sowie aus dem vorgelegten Arbeitsvorvertrag vom 06.07.2021 über Hilfsarbeiten im Ausmaß von 40 Stunden und einer monatlichen Entlohnung in Höhe von EUR XXXX brutto. Es wurde auch bestätigt, dass am Beitragskonto des BF mit Stand 05.07.2021 kein Rückstand bestehe (OZ 16). Dem aktuellen Auszug aus dem Betreuungsinformationssystem ist auch zu entnehmen, dass der BF seit 29.10.2020 keine Leistungen mehr aus der Grundversorgung erhält; es ist daher von einer Selbsterhaltungsfähigkeit des BF auszugehen.
Zum Nachweis seiner Integration brachte der BF weiters Kursbestätigungen, Nachweise seiner karitativen Tätigkeit und ein Konvolut an Unterstützungsschreiben in Vorlage. Zum Ausmaß der karitativen Tätigkeit befragt gab der BF an, für den Magistrat Salzburg und für ein Seniorenheim jeweils vier Wochen Gartenarbeiten erledigt zu haben (VHS, S 7).
Dass der BF wegen § 15 StGB § 87 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten, davon 12 Monate bedingt mit einer Probezeit von 3 Jahren, verurteilt wurde und deswegen von 19.09.2015 – 18.03.2016 in Haft war, ergibt sich aus dem Urteil des LG für Strafsachen Wien, XXXX , vom 14.10.2015 und dem aktuellen Auszug aus dem Strafregister. Nach dem derzeitigen Stand der Strafregistereintragung(en) wird die Tilgung voraussichtlich mit 18.03.2026 eintreten.
II.2.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsland
II.2.3.1. Die getroffenen Feststellungen zum Irak beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak vom 02.06.2021, Version 3, welches sich seinerseits auf verschiedene anerkannte und teilweise vor Ort agierende staatliche und nichtstaatliche Quellen stützt, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation im Irak ergeben. Angesichts der Seriosität der darin angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Soweit sich diese Feststellungen auf konkrete Berichte beziehen, ist darin die jeweilige Lage zum Berichtszeitpunkt dokumentiert. Diese Berichte sind daher im Lichte der zu diesen Zeiten dokumentierten Opferzahlen zu interpretieren. Beispielsweise weisen Berichte aus früheren Jahren wesentlich höhere Opferzahlen aus als solche neueren Datums.
Zu der getroffenen Auswahl der Quellen, welche zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat herangezogen wurden, ist anzuführen, dass es sich hierbei aus der Sicht des erkennenden Gerichts um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen – sowohl staatlichen, als auch nichtstaatlichen Ursprunges – handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen.
Auch kommt den Quellen im Rahmen einer Gesamtschau Aktualität zu (zu den Anforderungen an die Aktualität einer Quelle im Asylverfahren vgl. etwa Erk. d. VwGH v. 4.4.2001, Gz. 2000/01/0348).
Die Feststellungen zur medizinischen Versorgung konnten anhand der entsprechenden Abschnitte der Länderfeststellungen getroffen werden und ist diesbezüglich auf die Ausführungen unter Punkt II.2.2. zu verweisen, wonach der BF gesund ist.
Weiters ist anzumerken, dass bei einem Land wie dem Irak mit einer sehr hohen Berichtsdichte, in dem praktisch ständig neue Erkenntnisquellen entstehen, es de facto unmöglich ist, sämtliches existierende Berichtsmaterial zu berücksichtigen, weshalb die belangte Behörde bzw. das ho. Gericht ihrer Obliegenheit zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak nachkommt, wenn sie bzw. es sich zur Entscheidungsfindung eines repräsentativen Querschnitts des bestehenden Quellenmaterials bedient.
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt auch nicht die Lage im Irak und die Tatsache, dass es immer wieder zu Anschlägen kommt. Jedoch ist dem Länderinformationsblatt zu entnehmen, dass sich die allgemeine Sicherheitslage seit Dezember 2017 quer durch das Land verbessert hat (FH 4.3.2020) und die Opferzahlen sich markant verringert haben (IBC 2.2020). So ist der zugrunde gelegten Gesamtaktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu entnehmen, dass im Irak die Anzahl der im Irak zu Tode gekommenen Zivilisten im Jahr 2003 bei 12.133 lag, den Höchststand von 29.526 im Jahr 2006 erreichte, danach auf etwa 10.000 (und darunter) absank, in den Jahren 2014 – 2016 wieder anstieg und insbesondere in den Jahren 2018 und 2019 auf 3.319 bzw. 2.392 sank. Auch im Jahr 2020 ist bislang ein Abwärtstrend zu beobachten (IBD 2.2020). Dieser Abwärtstrend hielt dem aktuellen Iraq Body Count zufolge auch das gesamte Jahr 2020 an, sodass letztlich die Statistik für dieses Jahr 902 Todesopfer ausweist, und ist auch im Jänner bis Mai 2021 zu beobachten (64, 56, 49, 66 bzw. 49 Todesfälle durch Gewalt).
Aus der Grafik (vgl. Punkt II.1.3.2., Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen) ist ersichtlich, dass die Reduktion der Todesopfer seit Ende 2017 eklatant ist. Ebenso ist aus dieser Darstellung und den folgenden Fallzahlen ersichtlich, das im Jahr 2020 (gegenüber 2019) nochmals eine Reduktion um das 2,5-fache Platz griff. Im Jahr 2020 wurde demnach die Gesamtzahl der Todesopfer mit 902 angegeben, die Anzahl der Opfer bewegte sich ab März 2020 durchwegs im mittleren zweistelligen Bereich.
In Bagdad, der Herkunftsregion des BF, wurden für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). In Anbetracht dessen, dass das Gouvernement Bagdad mehr als sieben Millionen Menschen umfasst, kann auf Grundlage dieser Länderberichte zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch in Bezug auf Bagdad nicht von einer solchen extremen Gefährdungslage gesprochen werden, dass gleichsam jede Person, die sich dort aufhält oder dorthin zurückkehrt, einer unmittelbaren Gefährdung ausgesetzt ist, zumal vor allem im Zusammenhang mit der Vertreibung des IS gegen Ende des Jahres 2017 die Gewalt erheblich abgeebbt ist.
Der erkennende Richter berücksichtigt auch, dass es den staatlichen Stellen nicht möglich ist, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen und insbesondere schiitische, aber auch sunnitische, Milizen eigenmächtig handeln, jedoch hat sich die Sicherheitslage verbessert (FH 4.3.2020).
Die allgemeine Sicherheitslage ist nicht dergestalt, dass jeder dorthin Zurückkehrende der realen Gefahr unterläge, mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung seiner durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte ausgesetzt zu sein oder für ihn die ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt anzunehmen wäre.
Es besteht das Erfordernis eines tatsächlichen und effizienten Schutzes im Einzelfall, der geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Verfolgung unter das Maß der Erheblichkeit zu senken (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509; 17.09.2002, 2000/01/0414). Von mangelnder Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203).
Mag zwar den Länderfeststellungen zufolge die Schutzfähigkeit der irakischen Sicherheitsbehörden in der derzeitigen komplexen und volatilen Situation im Irak reduziert sein, ist dennoch von einer generell fehlenden Schutzwilligkeit bzw. -fähigkeit des Staates nicht auszugehen. Zudem ist auf die nachfolgenden Ausführungen zu verweisen (Punkt II.2.4.), denen zufolge ein Bedrohungsszenario, das den BF zum Verlassen des Irak bewogen haben soll, nicht glaubhaft ist.
II.2.3.2. Soweit der BF mit seinem Vorbringen darauf verweisen will, dass die sunnitische Bevölkerung im Irak der Gewalt durch schiitische Milizen ausgesetzt sei, ist auszuführen, dass den Länderfeststellungen zu entnehmen ist, dass es den staatlichen Stellen zwar nicht möglich ist, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen und insbesondere schiitische, aber auch sunnitische, Milizen eigenmächtig handeln, jedoch hat sich die Sicherheitslage verbessert (FH 4.3.2020) und findet eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden nicht statt (AA 12.1.2019). Die bloße Zugehörigkeit eines Asylwerbers zu einer Minderheit stellt allein noch keinen Grund für die Gewährung von Asyl dar und ist daher – ohne Hinzutreten besonderer Gründe – nicht von einer Verfolgung des BF aus ethnischen oder religiösen Gründen auszugehen. Zudem hat der BF im gesamten behördlichen Verfahren keine gegen ihn konkret gerichtete Bedrohung oder Verfolgung aufgrund seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit vorgebracht, sondern eine solche dezidiert verneint (AS 233). Bloße Diskriminierungen stellen aber in der Regel noch nicht Verfolgung dar. Derart intensive Einschränkungen oder Diskriminierungen, die eine massive Bedrohung der Lebensgrundlage des BF bedeuten würde, wurden vom BF aber weder vorgebracht noch sind solche aus den Länderfeststellungen ableitbar.
II.2.3.3. Im gegenständlichen Fall erübrigen sich auch Ausführungen hinsichtlich einer innerstaatliche Fluchtalternative, da der erkennende Richter eine Rückkehr des BF in seine Herkunftsregion (Bagdad) für möglich und zumutbar hält, eine innerstaatliche Fluchtalternative daher nicht zur Anwendung kommt.
II.2.3.4. Auch im Hinblick auf die weltweite Ausbreitung des COVID-19 Erregers kann unter Zugrundelegung der medial ausführlich kolportierten Entwicklungen im Herkunftsland bislang keine derartige Entwicklung erkannt werden, die im Hinblick auf eine Gefährdung nach Art. 3 EMRK eine entscheidungsrelevante Lageänderung erkennen lässt.
Bei COVID 19 handelt es sich um keine wahrscheinlich tödlich verlaufende, die Schwelle des Art. 3 EMRK tangierende Krankheit und hat der BF auch kein Vorbringen erstattet, aus dem sich in diesem Zusammenhang ein reales Risiko im Falle seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat ergeben würde.
Ferner ist auf die Judikatur des EGMR zu verweisen, wonach es – abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde – grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134 mit Verweis auf das Urteil des EGMR vom 05.09.2013, I gegen Schweden, Nr. 61 204/09). Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen – wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde – nicht revisibel (VwGH 22.4.2020, Ra 2020/18/0098, mwN). Weder wurde ein solches Vorbringen vom BF substantiiert erstattet – der bloße Verweis auf das durch Covid-19 zusätzlich belastete Gesundheitssystem (OZ 12) genügt nicht – noch liegen sowohl im Hinblick auf das Alter des BF als auch seinem Gesundheitszustand Anhaltspunkte vor, wonach der BF bei einer allfälligen COVID-19 Infektion einer besonderen Risikogruppe angehören würde (vgl. dazu VwGH vom 23.06.2020, Ra 2020/20/0188-3, wonach die BF ihre individuelle Situation nicht fallbezogen und konkret dargelegt haben und ein „Situationsbericht in Bezug auf Covid-19“ per se noch keine exzeptionellen Umstände bedeuten würde). Zudem hat bzw. hätte der BF die Möglichkeit gehabt, in Österreich eine Covid-Schutzimpfung zu erhalten.
Die Feststellungen zur Lage im Irak in Bezug auf das Coronavirus COVID-19 werden aufgrund der übereinstimmenden Feststellungen in einer Vielzahl von öffentlich zugänglichen Quellen als notorisch bekannt vorausgesetzt.
II.2.4. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:
Die freie Beweiswürdigung ist ein Denkprozess der den Regeln der Logik zu folgen hat und im Ergebnis zu einer Wahrscheinlichkeitsbeurteilung eines bestimmten historisch-empirischen Sachverhalts, also von Tatsachen, führt. Der Verwaltungsgerichtshof führt dazu präzisierend aus, dass eine Tatsache in freier Beweiswürdigung nur dann als erwiesen angenommen werden darf, wenn die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ausreichende und sichere Anhaltspunkte für eine derartige Schlussfolgerung liefern.
Im Wesentlichen zusammengefasst präsentierte der BF drei Verfolgungsstränge. So sei der jüngere Bruder des BF im Jahr 2011 entführt und getötet worden, es habe von schiitischen Milizen Rekrutierungsversuche des BF gegeben und es sei wegen der Tätigkeit des BF und seines Onkels zu Bedrohungen gekommen, die letztlich zu einer Entführung, Folterung und Tötung des Onkels des BF geführt hätten.
Bereits das BFA hatte das Fluchtvorbringen des BF als widersprüchlich, unsubstantiiert und unplausibel eingeschätzt.
Die vom BVwG durchgeführte öffentliche mündliche Verhandlung am 20.07.2021 ließ das Bundesverwaltungsgericht aufgrund nachangeführter Darstellung zu den angeführten Feststellungen gelangen.
II.2.4.1. So gab der BF im Rahmen der Erstbefragung an, er sei von den schiitischen Milizen zum Beitritt aufgefordert worden. Dies habe er aber nicht gewollt, da sein Bruder im Jahre 2011 von diesen schiitischen Milizen entführt und getötet worden sei (AS 9). In der niederschriftlichen Einvernahme gab der BF dazu an, sein im Jahr 2000 geborener Bruder sei 2011 von den Jaish Alhmahdi Milizen getötet worden; diese hätten ihn – nach mehrmaliger Bedrohung der Familie – mit einem weißen Auto entführt und umgebracht. Die Familie habe den Bruder drei Tage lang gesucht und letztendlich seine Leiche in der XXXX gefunden (AS 227). Der Bruder sei im Juni 2011 mit einem Seil erwürgt worden (AS 229). Grund dafür sei gewesen, dass die schiitische Miliz jene bestrafen wollte, die mit den Amerikanern arbeiten würden. Der BF wisse nicht, ob dies seinetwegen oder wegen seines Onkels gewesen sei (AS 230). Es ist aber schon nicht nachvollziehbar, weshalb die schiitischen Milizen den erst 11-jährigen Bruder des BF entführen und töten sollten, obwohl – den Ausführungen des BF zufolge – der BF selbst oder aber der Onkel, der zudem selbst eigene Kinder hat, mit Amerikanern gearbeitet haben sollen. Eine schlüssige Erklärung für diese Vorgehensweise der schiitischen Milizen konnte der BF auch nach Nachfrage nicht liefern, sondern widersprach sich dahingehend selbst, als er einerseits angab, die schiitischen Milizen hätten nur ihn persönlich gewollt und würden nur die jeweils betroffene Person foltern, andererseits sei aber sein Bruder entführt worden, um die Familie zu bestrafen (AS 230). Dem Auftrag des BFA, die Sterbeurkunde des Bruders im Original vorzulegen, kam der BF nicht nach.
In der hg. mündlichen Verhandlung gab der BF zu diesem Vorfall an, der Bruder sei im Juni 2011 von einem Fahrzeug der Marke Landcruiser Toyota entführt worden (VHS, S 19). Einige Tage später habe man ihn auf einer Straße tot aufgefunden. Die Nachbarn hätten den Vater verständigt, dass sie den Bruder auf der Straße aufgefunden hätten – man habe ihn mit einem Seil am Hals erwürgt. Der Grund dafür sei die Tätigkeit des BF und seines Onkels mit den Amerikanern gewesen (VHS, S 22). Es sei auch Anzeige bei der Polizei wegen der Entführung des Bruders erstattet worden (VHS, S 30 mHa AS 299, 301). Auf die Aufforderung des Richters, die Sterbeurkunde dem BVwG vorzulegen, wich der BF dahingehend aus, dass die Mutter ihm diese nicht übermitteln könne; die Mutter befinde sich derzeit in der Türkei und er glaube, dass sie die Sterbeurkunde verloren habe. Ein Duplikat im Krankenhaus zu besorgen sei schwierig (VHS, S 31).
Mit Schreiben vom 27.09.2021 übermittelte der BF dem BVwG eine Sterbeurkunde des Onkels (vgl. dazu Punkt II.2.4.3.), nicht jedoch die des Bruders. Dazu übermittelte die Rechtsvertretung eine e-mail des BF mit folgendem Wortlaut: „Ich habe mit meinem Großvater gesprochen, ich brauche von ihm den Totenschein von meinem Bruder. Er kann mir keinen Schein schicken, weil mein Bruder 2011 entführt worden ist. Niemand weiß wo er ist und ob er [sic!] noch lebt, weil meine Familie seinen Körper nicht gefunden hat. Mein Papa ist zur Polizei gegangen und hat eine Anzeige gemacht. Das österreichische Gericht hat diese Anzeige. Meine Eltern und ich hatten sehr viel Angst, dass mir das gleiche passiert. Ich habe überall meinen Bruder gesucht. Meine Eltern wollten mich in Sicherheit haben, deshalb flüchtete ich nach Europa, weil es im Irak zu gefährlich ist. Meine Mutter hofft immer noch, dass mein Bruder am Leben ist. Ihr geht es nervlich sehr schlecht und hofft, er ist noch am Leben. Sie hat großen Kummer und weint immer sehr viel, hat mir mein Großvater erzählt.“ (OZ 27).
Da aus diesem nunmehrigen Schreiben des BF hervorgeht, dass der Bruder möglicherweise noch am Leben sein kann und seine Leiche nie gefunden wurde, ist festzuhalten, dass das Vorbringen des BF im gesamten Verfahren zur Ermordung seines Bruders offensichtlich frei erfunden ist.
Soweit der BF zur Entführung seines Bruders auch Kopien einer Anzeige dazu in Vorlage brachte (AS 299) ist dem BF zunächst entgegen zu halten, dass er die Unterlagen nur in Kopie und nicht im Original vorlegte, weshalb schon eine Überprüfung auf ihre Echtheit nicht möglich ist. Bereits aus diesem Grund muss ihre Beweiskraft als äußerst gering eingeschätzt werden. Darüber hinaus ist der BF auf die Ausführungen in den Länderfeststellungen zu verweisen, wonach jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, gegen Bezahlung zu beschaffen ist. Die vorgelegte Anzeige ist daher zum Beweis der Entführung nicht geeignet.
Vollständigkeitshalber sei auch darauf verwiesen, dass die – behauptete – Entführung des Bruders schon im Juni 2011 stattgefunden haben soll, der BF sein Land jedoch erst zwischen April/Mai 2013 und Mai 2015 (vgl. Punkt II.2.2.) verlassen hat. Die Voraussetzung wohlbegründeter Furcht wird in der Regel jedoch nur dann erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (VwGH 17.03.2009. 2007/19/0459). Schon aufgrund der Widersprüche im Vorbringen des BF sind weder die Entführung noch die Ermordung des Bruders glaubhaft und wurde insbesondere die Ermordung des Bruders vom BF selbst in weiterer Folge in Abrede gestellt, die vorgelegten Unterlagen sind zum Beweis der Entführung ungeeignet, ein Zusammenhang mit der Ausreise des BF ist nicht erkennbar und es fehlt darüber auch an einem zeitlichen Konnex zwischen diesem behaupteten Ausreisegrund und der tatsächlichen Ausreise.
II.2.4.2. Als zweiten Verfolgungsstrang brachte der BF vor, er sei von schiitischen Milizen aufgefordert worden, ihnen beizutreten und gegen seine eigenen Landsmänner zu kämpfen (AS 9). Zunächst erschließt sich schon nicht, weshalb die schiitischen Milizen versuchen sollten, einen sunnitischen Araber zu rekrutieren.
In der niederschriftlichen Einvernahme gab der BF dazu an, sein Onkel habe 2004 – 2005 eine Firma gegründet, die mit Amerikanern zusammengearbeitet habe. Ab 2008 habe der BF bei seinem Onkel als Chauffeur und Sekretär gearbeitet. Im Jahr 2010/2011 hätten die Bedrohungen durch die Miliz Jaish Almahdi angefangen, da sie gegen die Zusammenarbeit mit den Amerikanern gewesen seien. Zunächst seien er und sein Onkel mit SMS bedroht worden, ab 2012 sei der BF auch im Haus der Eltern gesucht worden. Ende 2012 sei es zu einem Vorfall gekommen, bei dem der BF mit seinem Onkel unterwegs gewesen sei und sei es dabei zu einem Überfall gekommen, bei dem letztendlich der Onkel zu Tode gekommen sein soll (s. dazu später unter Punkt II.2.4.3.). Dass die schiitischen Milizen versucht hätten, den BF zu rekrutieren und ihn aufgefordert hätten, gegen seine eigenen Landsmänner zu kämpfen, brachte er hingegen nicht mehr vor. Auf Vorhalt des BFA, weshalb der BF als Sunnit von schiitische Milizen zum Mitkämpfen rekrutiert werden sollte, meinte der BF, diese hätten gewusst, dass er in die Grüne Zone komme und hätten gehofft, dass er für sie arbeite, indem er irgendeine Explosion in diesem Gebiet auslöse. Auf weiteren Vorhalt, dass dafür ein Ausweis benötigt werde, musste der BF aber zugestehen, dass er immer bei der Einfahrt in die grüne Zone auf seinen Onkel gewartet habe (AS 231). Schon dieses Aussageverhalten des BF lässt begründete Zweifel daran aufkommen, dass der BF jemals einem Rekrutierungsversuch oder irgendeiner Bedrohung durch schiitische Milizen ausgesetzt war.
In der hg. mündlichen Verhandlung wurde der BF dezidiert danach gefragt, ob er aufgefordert worden sei, für den IS zu kämpfen, was vom BF verneint wurde (VHS, S 25). Er sei aber von den Milizen aufgefordert worden, gegen die Amerikaner zu arbeiten, dies sei vor der Entführung des Bruders im Jahr 2011 gewesen. Zu dieser Aufforderung durch die schiitischen Milizen gab der BF an, er sei von einer Person angesprochen worden, ob er einen Ausweis für die grüne Zone besitze und dass es sein könne, dass er gebraucht werde, um Dinge zu erledigen, er sei aber einfach weitergegangen (VHS, S 25). Auch wenn man diesen Angaben des BF folgt, kann in diesem geschilderten Vorfall kein ernsthafter Rekrutierungsversuch durch schiitische Milizen erkannt werden und ist deshalb festzuhalten, dass der in der Erstbefragung angegebene fluchtkausale Ausreisegrund, er sei „von schiitischen Milizen aufgefordert worden ihnen beizutreten und gegen seine eigenen Landsmänner zu kämpfen“ jedenfalls nicht als gegeben anzunehmen.
II.2.4.3. Als dritten Verfolgungsstrang gab der BF die Verfolgung durch schiitische Milizen wegen seiner Tätigkeit beim Onkel bzw. mit den Amerikanern an; es sei zu Bedrohungen des BF und seines Onkels gekommen, die letztlich zu einer Entführung, Folterung und Tötung des Onkels des BF geführt hätten.
Zunächst ist darauf zu verweisen, dass der BF diesen Vorfall in der Erstbefragung erst gar nicht erwähnte, und zwar weder seine eigene berufliche Tätigkeit für den Onkel noch dass dieser bei einem Vorfall, bei dem der BF anwesend gewesen sein soll, entführt und letztlich getötet worden sein soll. Schon dieser Umstand lässt darauf schließen, dass es sich bei diesem Vorbringen um ein gesteigertes Vorbringen im Laufe des behördlichen Verfahrens handelt und lässt dies den Schluss zu, dass auch dieser fluchtkausale Vorfall als unglaubwürdig zu qualifizieren ist.
Das BVwG verkennt dabei nicht, dass sich die Erstbefragung nach § 19 Abs 1 AsylG 2005 nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat, es wäre aber dennoch zu erwarten gewesen, dass der Beschwerdeführer ein – zumindest in den wesentlichen Punkten – annähernd gleichbleibendes Vorbringen zu seinem Ausreisegrund erstattet und es nicht, wie im vorliegenden Fall, zwischen der Erstbefragung und der nachfolgenden Einvernahme vor dem BFA bzw. in der hg. mündlichen Verhandlung zu den geschilderten Divergenzen hinsichtlich der Angaben zum Ausreisegrund des BF kommt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar wiederholt Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung erhoben, weil sich diese Einvernahme nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Gleichwohl ist es aber nicht generell unzulässig, sich auf eine Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der weiteren Einvernahme eines Asylwerbers zu stützen (vgl. VwGH 21.11.2019, Ra 2019/14/0429, mwN).
Den Schilderungen des BF in der niederschriftlichen Einvernahme zufolge habe der Onkel des BF 2004/2005 eine Firma gegründet, welche mit Amerikanern zusammengearbeitet habe. Im Jahr 2008 habe der BF begonnen, beim Onkel als Chauffeur und Sekretär zu arbeiten. Etwa 2010/2011 hätten die Bedrohungen mittels SMS durch die Miliz Jaish Almahdi angefangen, im Jahr 2012 seien sie öfters im Haus der Eltern gesucht worden und im September/Oktober 2012 sei es zu einem Überfall gekommen, bei dem letztendlich der Onkel zu Tode gekommen sein soll (AS 228, 229).
In diesem Zusammenhang fällt zunächst auf, dass der BF im Rahmen der Erstbefragung angegeben hat, dass er bis zu seiner Ausreise Student gewesen sei; eine Berufstätigkeit ab dem Jahr 2008 erwähnte er hingegen nicht. Hinzu kommt, dass der BF in der hg. mündlichen Verhandlung den Beginn seiner beruflichen Tätigkeit beim Onkel dem Jahr 2011 zuordnete (VHS, S 18).
In der hg. mündlichen Verhandlung gab der BF zum Vorhalt der im behördlichen Verfahren vorgelegten Dokumente (AS 271-321) an, diese sollen bestätigen, dass der Onkel diese Firma gehabt und mit Amerikanern gearbeitet habe. Da der BF mit dem Onkel gearbeitet habe, wolle er damit beweisen, dass er im Irak in Gefahr (gewesen) wäre. Der Onkel habe diese Firma im Jahr 2008 eröffnet und zuvor habe er keine Firma gehabt (VHS, S 30). Diese Schilderungen des BF lassen sich aber schon mit den auf mehreren dieser Dokumente ersichtlichen Datum 2004 bzw. 2005 nicht in Einklang bringen. Ein Bezug zum BF bzw. zu seiner Tätigkeit beim Onkel ist diesen Dokumenten ebenfalls nicht zu entnehmen. Der erkennende Richter geht daher davon aus, dass es sich bei der beruflichen Tätigkeit des BF beim Onkel bzw. seiner Zusammenarbeit mit Amerikanern um eine konstruierte Rahmengeschichte zum Zwecke der Asylerlangung handelt.
Aber auch die Schilderung des Überfalls ist von Widersprüchen geprägt. So gab der BF im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme an, er sei mit seinem Onkel unterwegs gewesen, um dessen Kinder von der Exfrau abzuholen. Dabei seien sie von zwei Autos, einem schwarzen mit vier bewaffneten Personen und einem grünen mit drei bewaffneten Personen, angehalten worden. An diesem Tag sei der Onkel gefahren. Als der BF die bewaffneten Personen gesehen habe, sei er sofort ausgestiegen und weggelaufen, habe sich umgedreht und noch gesehen, wie der Onkel seine beiden Mädchen beruhigen wollte und dann von diesen Personen mit den Waffen geschlagen worden sei. Später habe der BF erfahren, dass der Onkel entführt und für ihn Lösegeld verlangt worden sei und in weiterer Folge mit Folterspuren tot in der Gerichtsmedizin gefunden worden sei (AS 229).
In der hg. mündlichen Verhandlung schilderte der BF den Überfall im Kern dahingehend gleichbleibend, dass er und sein Onkel von zwei Autos (schwarz und grün) angehalten worden seien, doch die Details variierten. So gab der BF nunmehr an, es seien nicht nur die beiden Töchter, sondern auch ein Sohn des Onkels beim Überfall dabei gewesen, der Sohn sei 16/17 Jahre alt gewesen (VHS, S 26), die beiden Töchter offenbar älter, nämlich so alt wie der BF bzw. 1995 geboren. Der Eindruck, den der BF in der niederschriftlichen Einvernahme vermitteln wollte, dass „Kinder“ beim Überfall dabei gewesen wären und der Onkel „seine beiden Mädchen beruhigen“ wollte bzw. die Entführer die Kinder „auf der Straße gelassen“ hätten, erweist sich schon in Anbetracht der drei jugendlichen bzw. erwachsenen Kinder des Onkels somit als falsch.
Weiters gab der BF in der hg. mündlichen Verhandlung an, dass der Onkel am 28.09.2012 entführt und vier Tage später tot aufgefunden worden sei (VHS, S 23), obwohl der BF in der niederschriftlichen Einvernahme den Überfall zunächst nur ungefähr zeitlich im September/Oktober 2012 einordnete (AS 228) und kurz darauf angab, dass der Onkel im August 2012 gestorben (AS 229) sei.
Mögen diese Widersprüche zwar nicht den Kern des Vorbringens betreffen, so wäre es dennoch zu erwarten gewesen, dass der BF sein Vorbringen widerspruchsfrei erstatten kann. Dass der BF zwar den Kern der Geschichte (berufliche Tätigkeit des Onkels und seine Mitarbeit beim Onkel, Überfall, Entführung und letztendlich den Tod des Onkels) gleichbleibend schilderte, er jedoch zu zwangsläufig wahrgenommenen Details widersprüchliche Angaben machte, lässt den Schluss zu, dass sich der BF einer konstruierten Rahmengeschichte zum Zwecke der Asylerlangung bediente, die Details jedoch deshalb variierten, weil es sich um kein tatsächlich erlebtes Ereignis handelte.
Auch die vorgelegte Sterbeurkunde des Onkels kann dieses Vorbringen in Anbetracht der vielen Widersprüche nicht stützen und ist der BF wiederum auf die Ausführungen in den Länderfeststellungen zu verweisen, wonach jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, gegen Bezahlung zu beschaffen ist.
Insgesamt ist daher festzuhalten, dass keiner der drei vom BF dargelegten Verfolgungsstränge einer Glaubwürdigkeitsprüfung standhielt und es sich insbesondere bei dem vom BF geschilderten Überfall im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit des Onkels bzw. des BF um eine im Laufe des behördlichen Verfahrens gesteigerte und unglaubwürdige Fluchtgeschichte handelt.
II.2.4.4. Der BF brachte weiters vor, auch seine Familie sei wegen seiner Tätigkeit für den Onkel bzw. mit den Amerikanern Bedrohungen ausgesetzt gewesen. Zwar ist diesem Vorbringen schon aufgrund der Unglaubwürdigkeit dieser von ihm behaupteten Tätigkeit (vgl. Punkt II.2.4.3.) der Boden entzogen, doch weist auch dieses Vorbringen wiederum Widersprüche auf.
So gab der BF im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme an, seine Familie befinde sich seit März 2016 in der Türkei, weil sie im Irak mehrmals bedroht worden sei (AS 226), doch gab er bereits in diesem Zusammenhang auch an, dass der Vater öfters von der Türkei in den Irak zurückreist (AS 227), um kurz darauf wieder zu betonen, dass die Familie zwei Monate nach ihm ausgereist sei, weil die Mutter es nicht mehr ausgehalten habe und der Vater verletzt worden sei (AS 230). Nach dem Überfall sei er zu Verwandten nach XXXX gegangen, habe aber von seiner Mutter erfahren, dass die Milizen immer noch nach ihm suchen würden. Das letzte Mal sei dabei seinem Vater in den Fuß geschossen worden (AS 229). Der BF brachte auch Fotos seiner Eltern in Vorlage, die diese in einem Krankenhausbett liegend zeigen (AS 249 – 267).
In der hg. mündlichen Verhandlung kam jedoch hervor, dass sich die Eltern des BF sowohl in der Türkei als auch im Irak aufhalten. Da eine Schwester des BF im Irak die Schule besucht, lebt die Familie während des Schuljahres im Irak, und zwar im Elternhaus in Bagdad, und in den Ferien in der Türkei (VHS, S 15). Da sich aber die Familie zumindest während des Schuljahres im gleichen Haus aufhalten kann, in dem sie die behaupteten Verfolgungshandlungen erlitten haben sollen, ist auch dieses Vorbringen des BF nicht glaubwürdig.
Zu den vorgelegten Fotos der Eltern befragt gab der BF in der hg. Verhandlung wie folgt an: „Meine Eltern waren wegen mir besorgt. Meiner Mutter ist es psychisch nicht gut gegangen und deshalb war sie im Krankenhaus. Mein Vater auch danach“, er relativierte diese Aussage aber gleich danach, dass die Mutter „was Schweres gehoben hat und es ist etwas geplatzt und sie wurde deshalb operiert“, ergänzte aber gleich wieder, sie sei trotzdem psychisch krank wegen ihm (VHS, S 16). Zum Foto des Vaters führte der BF aus, dass dieser an einem Atemgerät angeschlossen wurde, weil er am Herz operiert wurde. Auch diesen Umstand verknüpfte der BF mit seinem Vorbringen dahingehend, dass dieser „wegen den Drohungen umgefallen“ sei. Der Vater sei zwei Mal wegen ihm im Krankenhaus gewesen, beim zweiten Mal musste er untersucht werden (VHS, S 16). Dass der Vater auch am Fuß angeschossen worden sein soll, erwähnte er im Zusammenhang mit den beiden Krankenhausaufenthalten des Vaters zunächst nicht, sondern erst auf Vorhalt des erkennenden Richters. Dieser Vorfall sei im März 2012 gewesen und auf weiteren Vorhalt, der Vater sei deshalb operiert worden und möglicherweise zwei oder drei Mal im Krankenhaus gewesen, die Eltern würden ihm das vielleicht nicht immer sagen (VHS, S 17).
Abgesehen davon, dass schon die Erklärungen des BF zu den vorgelegten Fotos nicht mit seiner Fluchtgeschichte in Einklang zu bringen sind bzw. der BF nach Vorhalten durch den erkennenden Richter seine Aussagen der Fluchtgeschichte „anpasste“, ist auch die von ihm dargelegte Zeitschiene nicht plausibel, zumal er die Schussverletzung nunmehr in den März 2012 einordnete, den bisherigen Aussagen des BF jedoch diese Schussverletzung dem Vater erst nach dem Überfall zugefügt worden sein soll (AS 229), der jedoch erst im September/Oktober 2012 gewesen sein soll.
Auch dieses Aussageverhalten des BF lässt den Schluss zu, dass der BF sein – ohnehin mehrfach unglaubwürdiges – Vorbringen mit Krankenhausaufenthalten der Eltern asylzweckbezogen „anreicherte“.
II.2.4.5. Aber auch nach Abschluss des behördlichen Verfahrens steigerte der BF sein Vorbringen noch weiter. So brachte er mit Beschwerdeergänzung vom 13.06.2019 vor, dass ihm in Österreich nunmehr klargeworden sei, dass er homosexuell sei. Er habe bereits als Jugendlicher diese Neigung verspürt, diese jedoch aufgrund der extremen Tabuisierung von Homosexualität in seinem Heimatland weitgehend verdrängt. In Österreich habe er nunmehr einen ersten homoerotischen Kontakt geknüpft und habe sich die homosexuelle Neigung des BF klar bestätigt (OZ 7).
In Anbetracht des bisherigen Aussageverhaltens des BF drängt sich auch bei diesem Vorbringen der Schluss auf, dass es sich dabei um eine unrichtige und nur zum Zwecke der Asylerlangung vorgebrachte Behauptung handelt.
Der erkennende Richter verkennt dabei nicht, dass Aussagen eines Asylwerbers nicht allein deshalb für nicht glaubhaft erachten dürfen, weil er seine behauptete sexuelle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe geltend gemacht habe (vgl. VwGH 04.08.2021, Ra 2021/18/0024) und kommt im gegenständlichen Fall hinzu, dass sich die homosexuelle Neigung des BF – seinen Angaben zufolge – erst im Februar 2019 herauskristallisiert haben soll und er dies dem BVwG im Juni 2019 mitteilte.
Gegen die Homosexualität des BF spricht aber jedenfalls, dass der BF zur hg. mündlichen Verhandlung in Begleitung seiner nunmehrigen Lebensgefährtin erschien. Der BF und seine Lebensgefährtin haben sich im August 2019, somit offenbar kurz nachdem der BF seine Homosexualität erkannt haben will, und sie leben seit Oktober 2020 zusammen. Der BF bestätigte auch in der hg. mündlichen Verhandlung, dass er an Frauen interessiert sei (VHS, S 6).
Es ist aus der Aktenlage nachvollziehbar, dass der BF nunmehr Präferenzen hat, in Österreich zu leben. Zur Erreichung dieses Zieles scheut der BF offensichtlich nicht davor zurück im Asylverfahren – trotz ergangener Belehrung und Aufforderung die Wahrheit zu sagen und Hinweis auf nachteilige Folgen im Falle wahrheitswidriger Angaben – über persönliche und für das Verfahren maßgebliche Umstände zu täuschen. Die generelle persönliche Glaubwürdigkeit des BF ist daher im Verfahren auch aus diesem Grund zu verneinen.
II.2.4.6. Auch sonstige Angaben des BF, insbesondere zu seinem Reisepass, sind geeignet, die Glaubwürdigkeit der Person des BF in Zweifel zu ziehen.
So gab der BF im Rahmen der Erstbefragung an, den Irak illegal verlassen zu haben und kein Reisedokument zu besitzen (AS 5). In der niederschriftlichen Einvernahme gab der BF zum Verbleib seines Reisepasses hingegen an, diesen im Meer bei der Schlauchbootfahrt verloren zu haben. Er habe den Reisepass in einer Plastikfolie in seiner Hosentasche gehabt, sie seien ins Wasser gefallen und als er ans Land gekommen sei, habe er bemerkt, dass er den Reisepass verloren habe. Seine Eltern hätten eine Kopie gehabt, welche er bereits vorgelegt habe (AS 226).
Auch in der hg. mündlichen Verhandlung wurde der BF zum Verbleib seines Reisepasses befragt und er gab dazu an, er habe diesen am Weg im Meer verloren, er könne sich aber daran nicht mehr genauer erinnern. Auf weitere Nachfrage gab der BF dazu an, er habe den Reisepass in Griechenland verloren, als sie von einem Boot in ein anderes hätten umsteigen müssen (VHS, S 11).
Auch diese unterschiedlichen Angaben des BF zu seinem Reisepass lassen den Schluss zu, dass der BF – aus welchen Gründen auch immer – nicht gewillt ist, wahre Aussagen zum Verbleib seines Reisepasses gegenüber den österreichischen Behörden zu tätigen. Auch erwies sich die Aussage des BF, er habe sein Land illegal verlassen (AS 7), als unrichtig, zumal er den Grenzübergang Sulemaniya mit seinem Reisepass passiert habe, dies sei eine normale Grenzkontrolle gewesen (AS 231).
Ebenso verstärken die Angaben des BF hinsichtlich des Zeitpunkts seiner Ausreise aus dem Herkunftsland – diese variierten zwischen Mai 2015, April 2015, Sommer 2014 und Februar 2014 oder April/Mai 2013 – die Ansicht des erkennenden Richters, dass dem BF generell die Glaubwürdigkeit abzusprechen ist.
II.2.4.7. Schließlich indiziert der vom BF gewählte Reiseweg – Durchreise durch mehrere sichere Staaten ohne Stellung eines Asylantrages – wirtschaftliche Gründe für das Verlassen des Heimatlandes. Der BF reiste im Besitz eines Reisepasses aus dem Irak aus und in der Folge über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich. Zwar hat der BF in Ungarn um Asyl angesucht, jedoch – seinen Angaben zufolge – nur unter Zwang (AS 7, 37, 161). Aber auch in Österreich war der BF vorerst nicht gewillt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, wollte er doch in keinem der durchreisten Länder bleiben, sondern nach Schweden zu seiner Schwester (AS 232), wobei er an anderer Stelle auch behauptete, sein Zielland wäre Österreich gewesen (AS 161).
In diesem Zusammenhang ist auf die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Statusrichtlinie) zu verweisen, welche in ihrem Art. 4 Abs. 5 lit d vorsieht, dass dann, wenn für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, diese Aussagen keines Nachweises bedürfen, wenn der Antragsteller internationalen Schutz zum frühest möglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war. Wendet man diese sekundärrechtliche Norm im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung auf das gegenständliche Verfahren an, so ergibt sich im Umkehrschluss, dass gegenständlich jedenfalls – glaubwürdige – Beweise erforderlich gewesen wären.
Weiters ist auf Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 01.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (sog. Verfahrensrichtlinie) zu verweisen, nach dessen lit i ein Prüfungsverfahren dann beschleunigt durchgeführt werden kann, wenn es der Antragsteller ohne vernünftigen Grund versäumt hat, den Antrag zu stellen, obwohl er Gelegenheit dazu gehabt hätte.
Der BF musste auf seiner Reise nach Österreich zwangsläufig durch andere als sicher geltende Staaten reisen und wäre es ihm möglich und zumutbar gewesen, schon dort um Schutz anzusuchen bzw. das Verfahren dort abzuwarten. Auch Österreich wollte der BF zunächst durchreisen, um zu seiner Schwester nach Schweden zu gelangen, und stellte den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz erst nach Anhaltung im Zuge einer sicherheitspolizeilichen Kontrolle (AS 17).
Die Vorgehensweise des BF erweist sich als nicht plausibel erklärbar. Würde man doch bei begründeter Furcht vor Verfolgung annehmen können, dass von Asylwerbern die nächste Gelegenheit genützt wird, um Schutz zu ersuchen, was der BF nicht getan hat. Auch diese Verhaltensweise des BF ist dazu geeignet, die Ansicht der Behörde und des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach die Angaben zu den Ausreisegründen unglaubwürdig sind, zu verstärken. Zudem stellen die zeitlichen Umstände jedenfalls ein Argument für den Nachzieheffekt der seit Sommer 2015 anhaltenden – und in Medien (auch sozialen Medien) allseits präsenten – Fluchtbewegung aus dem Nahen Osten in Richtung Zentraleuropa, dar.
II.2.5. In Anbetracht all dieser aufgezeigten Widersprüche, Ungereimtheiten und Unplausibilitäten ist von einer konstruierten Rahmengeschichte zum Zwecke der Asylerlangung auszugehen.
Es ist Aufgabe des Asylwerbers, durch ein in sich stimmiges und widerspruchsfreies Vorbringen, allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert, einen asylrelevanten Sachverhalt glaubhaft zu machen.
Das Bundesverwaltungsgericht kommt aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens zum Ergebnis, dass das Vorbringen des BF aufgrund der widersprüchlichen, unplausiblen und im Laufe des Verfahrens gesteigerten Aussagen als unglaubwürdig zu qualifizieren war. Auch nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte keine konkrete, nachvollziehbare und glaubhafte Bedrohung des BF im Irak festgestellt werden.
Eine individuelle Verfolgung vor der Ausreise bzw. auch die Gefahr einer solchen für den Fall einer Rückkehr konnte der BF daher letztlich nicht glaubhaft darlegen und war insoweit – der belangten Behörde im Ergebnis folgend – nicht von einer Verfolgungsgefahr aus GFK-relevanten Gründen in einer für die Asylerlangung erforderlichen Intensität für den BF auszugehen.
II.3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerden:
II.3.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):
II.3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Asylantrag gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht. Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht, oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.
Gegenständlicher Antrag war nicht wegen Drittstaatsicherheit (§ 4 AsylG), des Schutzes in einem EWR-Staat oder der Schweiz (§ 4a AsylG) oder Zuständigkeit eines anderen Staates (§ 5 AsylG) zurückzuweisen. Ebenso liegen bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Asylausschlussgründe vor, weshalb der Antrag des BF inhaltlich zu prüfen ist.
II.3.1.2. Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, "aus Gründen" (Englisch: "for reasons of"; Französisch: "du fait de") der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380).
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Konvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes befindet.
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, Zl. 94/18/0263; 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).
Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (vgl VwGH 15.3.2001, 99/20/0134).
Eine inländische Fluchtalternative ist nur dann gegeben, wenn sie vom Asylwerber in zumutbarer Weise in Anspruch genommen werden kann (vgl VwGH 19.10.2006, 2006/19/0297 mwN). Herrschen am Ort der ins Auge gefassten Fluchtalternative Bedingungen, die eine Verbringung des Betroffenen dorthin als Verstoß gegen Art 3 EMRK erscheinen lassen würden, so ist die Zumutbarkeit jedenfalls zu verneinen (vgl VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534).
II.3.1.3. Wie im gegenständlichen Fall bereits in der Beweiswürdigung ausführlich erörtert wurde, war das Vorbringen des BF geprägt von Widersprüchen und Unplausibilitäten, weshalb die Glaubhaftmachung eines Asylgrundes von vornherein ausgeschlossen werden kann. Es sei an dieser Stelle betont, dass die Glaubwürdigkeit des Vorbringens die zentrale Rolle für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Asylgewährung [nunmehr „Status eines Asylberechtigten“] einnimmt (vgl. VwGH v. 20.6.1990, Zl. 90/01/0041).
Im gegenständlichen Fall erachtet das erkennende Gericht in dem im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegten Umfang die Angaben als unwahr, sodass der vom BF behauptete Fluchtgrund nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden kann, und es ist auch dessen Eignung zur Glaubhaftmachung wohl begründeter Furcht vor Verfolgung nicht näher zu beurteilen (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380).
Da sich auch im Rahmen des sonstigen Ermittlungsergebnisses bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise auf das Vorliegen der Gefahr einer Verfolgung aus einem in Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK genannten Grund ergaben, scheidet die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten somit aus.
Auch die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des BF ist nicht dergestalt, dass sich konkret für den BF eine begründete Furcht vor einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden asylrelevanten Verfolgung ergeben würde.
Es gibt bei Zugrundelegung des Gesamtvorbringens des BF keine glaubhaften Anhaltspunkte dafür, dass der BF bei einer Rückkehr in den Irak maßgeblich wahrscheinlich Gefahr laufen würden, einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).
Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist davon auszugehen, dass dem BF keine Verfolgung aus in den in der GFK genannten Gründen droht. Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen ebenso wie allfällige persönliche und wirtschaftliche Gründe keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar.
Daher ist die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
II.3.2. Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):
II.3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.
II.3.2.2. Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz setzt somit voraus, dass die Abschiebung des BF in seine Heimat entweder eine reale Gefahr einer Verletzung insbesondere von Art. 2 oder 3 EMRK bedeuten würde oder für ihn eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes im Irak mit sich bringen würde.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095, mit weiteren Nachweisen). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236 mwN).
Um von der realen Gefahr ("real risk") einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. etwa VwGH 26.04.2017, Ra 2017/19/0016, mwN).
Folter bezeichnet jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind (Art. 1 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984).
Unter unmenschlicher Behandlung ist die vorsätzliche Verursachung intensiven Leides unterhalb der Stufe der Folter zu verstehen (Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht 10. Aufl. (2007), RZ 1394).
Unter einer erniedrigenden Behandlung ist die Zufügung einer Demütigung oder Entwürdigung von besonderem Grad zu verstehen (Näher Tomasovsky, FS Funk (2003) 579; Grabenwarter, Menschenrechtskonvention 134f).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein "real risk" (reales Risiko) vorliegt, wenn stichhaltige Gründe ("substantial grounds") dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der EGMR in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Risiko iSd Art. 3 EMRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen ("in the most extreme cases") diese Voraussetzung erfüllt (vgl. etwa EGMR vom 28. November 2011, Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich, RNr. 218 mit Hinweis auf EGMR vom 17. Juli 2008, Nr. 25904/07, NA gg. Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen ("special distinguishing features"), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. etwa EGMR Sufi und Elmi, RNr. 217).
Thurin (Der Schutz des Fremden vor rechtswidriger Abschiebung² (2012), 203) fasst die bezughabenden Aussagen in der Rechtsprechung des EGMR dahingehend zusammen, dass der maßgebliche Unterschied zwischen einem "realen Risiko" und einer "bloßen Möglichkeit" prinzipiell im Vorliegen oder Nichtvorliegen von "special distinguishing features" zu erblicken ist, die auf ein "persönliches" ("personal") und "vorhersehbares" ("foreseeable") Risiko schließen lassen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz bestehe nur in sehr extremen Fällen ("most extreme cases") wenn die allgemeine Lage im Herkunftsstaat so ernst sei, dass praktisch jeder, der dorthin abgeschoben wird, einem realen und unmittelbar drohenden ("real and imminent") Risiko einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sei. Diesfalls sei das reale Risiko bereits durch die extreme allgemeine Gefahrenlage im Zielstaat indiziert.
Der Tatbestand einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in § 8 Abs. 1 Z 2 Asyl 2005 orientiert sich an Art. 15 lit. c der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU ) und umfasst – wie der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) erkannt hat – eine Schadensgefahr allgemeiner Art, die sich als "willkürlich" erweist, also sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Entscheidend für die Annahme einer solchen Gefährdung ist nach den Ausführungen des EuGH, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson liefe bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dabei ist zu beachten, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH vom 17. Februar 2009, C- 465/07, Elgafaji, und vom 30. Jänner 2014, C-285/12, Diakite).
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (vgl. VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016, mwN).
Nach der ständigen Judikatur des EGMR, wonach es – abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde – obliegt es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134 unter Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 5. September 2013, I. gg. Schweden, Nr. 61204/09). Die Mitwirkungspflicht des Beschwerdeführers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich das erkennende Gericht nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (etwa die familiäre, gesundheitliche oder finanzielle Situation), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen (vgl. VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86).
Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich, Zl. 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zl. 44599/98; vgl. auch VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443). Unter "außergewöhnlichen Umständen" können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 09.07.2002, 2001/01/0164; 16.07.2003, 2003/01/0059). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung der Frage, ob die Abschiebung eines Fremden eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr ("real risk") – die bloße Möglichkeit genügt nicht – damit verbunden ist (VwGH 23.09.2004, 2001/21/0137). Unter Darstellung der maßgebenden persönlichen Verhältnisse des Fremden (insbesondere zu seinen finanziellen Möglichkeiten und zum familiären und sonstigen sozialen Umfeld) ist allenfalls weiter zu prüfen, ob ihm der Zugang zur notwendigen medizinischen Behandlung nicht nur grundsätzlich, sondern auch tatsächlich angesichts deren konkreter Kosten und der Erreichbarkeit ärztlicher Hilfsorganisationen möglich wäre (VwGH 23.09.2004, 2001/21/0137 unter Hinweis auf VwGH 17.12.2003, 2000/20/0208).
II.3.2.3. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies:
Im gegenständlichen Fall ist es dem BF nicht gelungen, eine individuelle Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr glaubhaft zu machen und er gehört auch keiner Personengruppe mit speziellem Risikoprofil an, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergibt, der gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte.
Dass der BF im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde er somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.
Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage (allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse) liegen in Bezug auf den Irak nicht vor, weshalb hieraus aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Vorliegen eines Sachverhaltes gem. Art. 2 bzw. 3 EMRK abgeleitet werden kann.
Da sich der Herkunftsstaat des BF nicht im Zustand willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes befindet, kann bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht festgestellt werden, dass für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines solchen internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes besteht.
Auch wenn sich die Lage der Menschenrechte im Herkunftsstaat des BF in wesentlichen Bereichen als problematisch darstellt, kann nicht festgestellt werden, dass eine nicht sanktionierte, ständige Praxis grober, offenkundiger, massenhafter Menschenrechtsverletzungen (iSd VfSlg 13.897/1994, 14.119/1995, vgl. auch Art. 3 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984) herrschen würde und praktisch jeder, der sich im Hoheitsgebiet des Staates aufhält, schon alleine aufgrund des Faktums des Aufenthaltes aufgrund der allgemeinen Lage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, von einem unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalt betroffen zu sein.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059). Einerseits hat der BF selbst nicht vorgebracht, dass ihm dort jegliche Existenzgrundlage fehlen würde, andererseits besteht nach dem festgestellten Sachverhalt auch kein Hinweis auf „außergewöhnliche Umstände“, welche eine Rückkehr des BF unzulässig machen könnten.
Den Länderfeststellungen zufolge erklärte im Dezember 2017 die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019). Wie unter Punkt II.2.3.1. ausgeführt, haben sich die Opferzahlen im Irak markant verringert und ist – trotz sicherheitsrelevanter Vorfälle – die allgemeine Sicherheitslage nicht dergestalt, dass jeder dorthin Zurückkehrende der realen Gefahr unterläge, mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung seiner durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte ausgesetzt zu sein oder dass für ihn die ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt anzunehmen wäre. Besondere Gefährdungsmomente, die es wahrscheinlich erscheinen lassen, dass der BF in besonderem Maße von den dort stattfindenden Gewaltakten bedroht wäre, wurden weder in der Einvernahme noch in der Beschwerde oder in der hg. mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgebracht (vgl. dazu VwGH vom 21.02.2017, Ra 2016/18/0137).
Der BF gab an, bis zum Beginn seiner Reisebewegung in Bagdad gelebt zu haben. Auch im Gouvernement Bagdad, der Herkunftsregion des BF, ist nicht von einer derart prekären Sicherheitslage auszugehen, dass eine Rückkehr dorthin für den BF bedeuten würde, mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte ausgesetzt zu sein (vgl. Punkt II.2.3.1.).
Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor.
Zur individuellen Versorgungssituation des BF wird festgehalten, dass dieser im Herkunftsland über eine hinreichende Existenzgrundlage verfügt. Beim BF handelt es sich um einen gesunden arbeitsfähigen Mann mit Schulbildung und Berufserfahrung, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt wird. Der BF gehört auch keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass er sich in Bezug auf seine individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellt als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann.
Im Herkunftsland leben seine Eltern und seine Schwester, darüber hinaus auch noch weitere Verwandte, und der BF steht mit seinen Familienangehörigen in Kontakt. Es erscheint daher eine Rückkehr des BF in seine Heimatregion nicht grundsätzlich ausgeschlossen und aufgrund seiner individuellen Situation insgesamt auch zumutbar. Wenngleich die wirtschaftliche Lage, die Strom- und Wasserversorgung und auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln im Irak noch keineswegs optimal sind, so ist aber insoweit festzustellen, dass der BF gesund, arbeitsfähig und ledig ist und keine Sorgepflichten hat. Er befindet sich als XXXX jähriger Mann in den leistungsfähigsten Jahren und zählt zu den am wenigsten vulnerablen Menschen. Es ist vor dem Länderhintergrund daher nicht erkennbar, dass er nicht für seinen Lebensunterhalt sorgen bzw. in eine aussichtslose Notlage geraten könnte. Dem Vorbringen des BF sind keine Gründe zu entnehmen, warum ihm bei einer Rückkehr in den Irak die notwendigste Lebensgrundlage entzogen werden würde und er in eine existenzielle Notlage geraten sollte.
Aufgrund der oa. Ausführungen ist letztlich im Rahmen einer Gesamtschau davon auszugehen, dass der BF im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat seine dringendsten Bedürfnisse wird befriedigen können und nicht in eine, allfällige Anfangsschwierigkeiten überschreitende, dauerhaft aussichtslose Lage geraten wird.
Es ist daher davon auszugehen, dass der BF nicht vernünftiger Weise (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380) damit rechnen müsse, in seinem Herkunftsstaat mit einer über die bloße Möglichkeit (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262) hinausgehenden maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer aktuellen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194) Gefahr im Sinne des § 8 AsylG ausgesetzt zu sein, weshalb die Gewährung von subsidiärem Schutz ausscheidet.
Gemäß § 52a BFA-VG kann auch eine finanzielle Rückkehrhilfe als Startkapital für einen Neubeginn im Heimatland gewährt werden. Rückkehrer werden auf Basis dieser gesetzlichen Grundlage vom ersten Informationsgespräch bis zur tatsächlichen Rückreise in einer Einrichtung beraten, begleitet und umfassend unterstützt. Es ist dem BF freigestellt, sich dieser Rückkehrhilfe zu bedienen. Es wäre somit auch damit gewährleistet, etwaige „Startschwierigkeiten“ abfedern zu können.
Wenn auch im Irak eine wirtschaftlich schwierigere Situation als in Österreich besteht, so ist in einer Gesamtbetrachtung, unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation, festzuhalten, dass von einer lebensbedrohenden Notlage im Herkunftsstaat, welche bei einer Rückkehr die reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung iSd Art 3 EMRK indizieren würde, für den BF nicht gesprochen werden kann.
Durch eine Rückführung in seinen Herkunftsstaat würde der BF somit nicht in seinen Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder den relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 und Nr. 13 verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Daher ist die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
II.3.3. Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte III. bis IV. des angefochtenen Bescheides):
II.3.3.1. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wird.
Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
Der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz ist abzuweisen. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt des BF im Bundesgebiet (mehr) vor und fällt der BF nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstücks des FPG. Der Aufenthalt des BF ist auch nicht geduldet und es liegen keine Umstände vor, dass dem BF allenfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) zu erteilen gewesen wäre, und wurde diesbezüglich auch nichts dargetan.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Der BF ist Staatsangehöriger des Irak und somit kein begünstigter Drittstaatsangehöriger. Es kommt ihm auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher war gegenständlich gemäß § 52 Abs. 2 FPG grundsätzlich eine Rückkehrentscheidung vorgesehen.
II.3.3.2. Gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung jedoch nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens käme.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung – nunmehr Rückkehrentscheidung – nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
Unter der Schwelle des § 50 FPG kommt den Verhältnissen im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens Bedeutung zu, sodass etwa "Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder bei Sozialleistungen" in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen sind (vgl. VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119 unter Hinweis auf VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).
Bei der Interessenabwägung ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101) auch ein Vorbringen zu berücksichtigen, es werde eine durch die Rückkehr in den Heimatstaat wegen der dort herrschenden Verhältnisse bewirkte maßgebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Fremden, insbesondere die deutliche Verschlimmerung psychischer Probleme, eintreten (vgl. VwGH 11.10.2005, 2002/21/0132; 28.03.2006, 2004/21/0191; zur gebotenen Bedachtnahme auf die durch eine Trennung von Familienangehörigen bewirkten gesundheitlichen Folgen VwGH 21.04.2011, 2011/01/0093). Bei dieser Interessenabwägung ist unter dem Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG (Bindungen zum Heimatstaat) auch auf die Frage der Möglichkeiten zur Schaffung einer Existenzgrundlage bei einer Rückkehr dorthin Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 31.01.2013, 2012/23/0006).
II.3.3.3. Wird durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung dieser Maßnahme gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG 2014 (nur) zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 MRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG 2014 genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG 2014 ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 16.11.2016, Ra 2016/18/0041).
Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf das Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, welche in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, der Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16928/2003).
Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art 8 Abs 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).
Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu. Allerdings hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich in einem Gewicht gemindert ist, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (vgl. VwGH Ra 2016/22/0056).
Außerdem ist nach der bisherigen Rechtsprechung auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).
Die Feststellung, wonach ein Asylwerber strafrechtlich unbescholten ist, stellt laut Judikatur weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, Zahl 98/18/0420). Zu Lasten eines Asylwerbers fallen jedoch sehr wohl rechtskräftige Verurteilungen durch ein inländisches Gericht ins Gewicht (vgl. Erk. d. VwGH vom 27.2.2007, 2006/21/0164, mwN, wo dieser zum wiederholten Male klarstellt, dass das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung den öffentlichen Interessen im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK eine besondere Gewichtung zukommen lässt).
Die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG stellt nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien dar, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist (vgl. etwa VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055 bis 0058).
Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (vgl. VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0058; VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0070 unter Hinweis auf VwGH 21.01.2016, Ra 2015/22/0119; 10.05.2016, Ra 2015/22/0158; 15.03.2016, Ra 2016/19/0031).
Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf VwGH 25.02.2010, Zl. 2009/21/0070, wonach selbst bei einem rund achtjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet, einer Berufstätigkeit des BF, dem Erlernen der deutschen Sprache, der Unbescholtenheit des BF, dem Vorhandensein eines Freundes- und Bekanntenkreises sowie Verwandten in Österreich und fehlendem Kontakt ins Herkunftsland, die persönlichen Interessen nicht die öffentlichen Interessen überwiegen, wenn die integrationsbegründenden Umstände während eines Aufenthaltes erworben wurden, der sich auf einen nicht berechtigten Asylantrag gründet.
Ebenso auch VwGH 23.03.2010, Zl. 2010/18/0038, im Falle eines Asylwerbers mit siebenjährigem Aufenthalt, guten Deutschkenntnissen, Unbescholtenheit und beruflicher Integration. Auch in diesem Fall wurde dem Vorbringen zur Integration des Beschwerdeführers in Österreich während seines mehrjährigen Aufenthaltes zu Recht entgegengehalten, dass der Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers während seines gesamten Aufenthaltes als unsicher anzusehen war.
Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch noch auf die rezente höchstgerichtliche Judikatur zur Zurückweisung einer Revision im Falle eines Asylwerbers mit mehr als siebenjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet, abgeschlossener Lehre und Berufstätigkeit als Koch, Deutschkenntnissen auf dem Niveau B2, einem sozialen Netz an Freunden, 10-monatiger eheähnliche Beziehung, keinen Kontakten zur Familie im Herkunftsstaat, Unbescholtenheit sowie Selbsterhaltungsfähigkeit während des Großteils des Verfahrens. Der VwGH hob besonders hervor, dass maßgeblich relativierend einzubeziehen sei, dass sich der Asylwerber seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein müsse und verneinte auch angesichts der obzitierten integrationsbegründenden Faktoren die Existenz von ‚außergewöhnlichen Umständen‘ (VwGH 04.02.2020, Ra 2020/14/0026-5 mit Verweis auf VwGH 12.12.2019, Ra 2019/14/0242; 25.06.2019, Ra 2019/14/0260, VwGH 02.12.2019, Ra 2019/14/0408).
II.3.3.4. Für den konkreten Fall bedeutet dies:
Der Aufenthalt des BF in Österreich seit seiner illegalen Einreise im Juni 2015 dauerte – unter Berücksichtigung seines Aufenthaltes in Schweden, der auch zur (vorübergehenden) Einstellung des Asylverfahrens führte – somit etwa fünf Jahre und beruht auf einem Antrag auf internationalen Schutz, der sich als nicht berechtigt erwiesen hat. Das Gewicht eines zwischenzeitig entstandenen Privat- und Familienlebens wird somit schon dadurch gemindert, dass sich der BF nicht darauf verlassen konnte, sein Leben auch nach Beendigung des Asylverfahrens in Österreich fortführen zu können, er sich also im Zeitpunkt, in dem das Privatleben entstanden ist, seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste.
Zur Zulässigkeit der Ausweisung trotz langjährigem Aufenthalt in Österreich ist insbesondere auf folgende höchstgerichtliche Rechtsprechung hinzuweisen: VwGH 30.04.2009, 2008/21/0307, wonach bei der Interessenabwägung gemäß § 66 Abs 1 FrPolG 2005 der Umstand, dass sich die Fremden während der langen Dauer ihrer Asylverfahren der Ungewissheit ihres weiteren rechtlichen Schicksals bewusst gewesen sein mussten, von Bedeutung ist. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes und der mangelnden Selbsterhaltungsfähigkeit kann dem Aufbau eines Freundeskreises, dem Erwerb deutscher Sprachkenntnisse und der Unbescholtenheit der Fremden kein entscheidendes Gewicht zukommen (mit Hinweis auf E 17. März 2009, 2008/21/0089).
Die Dauer des gegenständlichen Verfahrens ist zwar als verhältnismäßig lang zu werten und ist dem BF auch nur insofern teilweise anzulasten, als aufgrund der Verletzung der Mitwirkungspflicht es zur (vorübergehenden) Einstellung des Asylverfahrens kam. Sie übersteigt jedoch in Anbetracht der hohen Fluchtbewegungen in den letzten Jahren auch (noch) nicht das Maß dessen, was für ein rechtsstaatlich geordnetes, den verfassungsrechtlichen Vorgaben an Sachverhaltsermittlungen und Rechtschutzmöglichkeiten entsprechendes Asylverfahren angemessen ist. Es liegt somit jedenfalls kein Fall vor, in dem die öffentlichen Interessen an der Einhaltung der einreise- und fremdenrechtlichen Vorschriften sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung angesichts der langen Verfahrensdauer oder der langjährigen Duldung des Aufenthaltes im Inland nicht mehr hinreichendes Gewicht haben, die Rückkehrentscheidung als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ erscheinen zu lassen (vgl.VfGH 12.06.2013, U485/2012 mHa VfSlg. 19.752/2013; EGMR 04.12.2012, Butt gegen Norwegen, Appl. 47017/09).
Auch nach der mündlichen Verhandlung kann zu keinem anderen Ergebnis – als jenem des BFA – gelangt werden.
Der BF war zum Zeitpunkt der Einreise ledig und er verfügt in Österreich über keine Verwandten oder sonstigen Angehörigen. Er lebt aber seit etwa Oktober 2020 in Lebensgemeinschaft mit einer slowakischen Staatsangehörigen, sodass von einem Familienleben in Österreich auszugehen ist. Der BF begründete jedoch seine Beziehung bzw. seine Lebensgemeinschaft zu einem Zeitpunkt, als der Aufenthalt durch die Stellung eines unbegründeten Asylantrages vorübergehend legalisiert wurde. Auch war der Aufenthalt des BF zum Zeitpunkt der Begründung der Anknüpfungspunkte im Rahmen des Familienlebens ungewiss und nicht dauerhaft, sondern auf die Dauer des Asylverfahrens beschränkt. Sowohl der BF als auch seine Lebensgefährtin mussten sich daher von Anbeginn an der Unsicherheit des Aufenthaltsstatus des BF bewusst gewesen sein und konnten daher nie auf die Fortführung ihrer Beziehung in Österreich vertrauen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den BF stellt somit zwar einen Eingriff in sein Familienleben dar, dieser ist aber – angesichts des Umstandes, dass die Beziehung zu einem Zeitpunkt eingegangen wurde, als sich alle Beteiligten des unsicheren Aufenthaltes bewusst sein mussten – auch in Anbetracht der Rechtsprechung (vgl. VwGH 13.03.1997, 96/18/0151, wonach persönliche Interessen, die aus der Eheschließung und der Beschäftigung resultieren und zu einer Zeit geschaffen wurden, als sich der Fremde unrechtmäßig in Österreich aufhielt und mangels Erlangung einer Aufenthaltsbewilligung auch nicht mit einem Verbleib im Bundesgebiet rechnen durfte, in Hinblick auf die Integration des Fremden nur unwesentlich zu Gunsten des Fremden aus) jedenfalls verhältnismäßig.
Hervorzuheben ist des Weiteren die Zurückweisung der Revision durch den Verwaltungsgerichtshof im Falle eines über zehn Jahre in Österreich aufhältigen ghanesischen Staatsangehörigen, welcher zwei negative Vorentscheidungen erhalten und die daraus resultierende Ausreiseverpflichtung über Jahre unbeachtet gelassen hatte (VwGH Ra 2016/21/0340, 23.02.2017) sowie die Revisionszurückweisung durch den VwGH bei einer Rückkehrentscheidung trotz mehrjähriger Lebensgemeinschaft mit einer österreichischen Staatsangehörigen und außergewöhnlichen Integrationsbemühungen (VwGH Ra 2017/21/0009, 22.02.2017).
Letztlich ist auch festzuhalten, dass der BF nicht gezwungen ist, nach einer Ausreise die bestehende Bindung zur Gänze abbrechen zu müssen. So stünde es beiden Lebensgefährten frei, die Beziehung durch briefliche, telefonische, elektronische Kontakte oder durch gegenseitige Besuche aufrecht zu erhalten.
Nur beim Vorliegen von außergewöhnlichen, besonders zu berücksichtigenden Sachverhalten kann sich ergeben, dass den Fremden, welche rechtswidrig in das Bundesgebiet einreisten oder sich rechtswidrig in diesem aufhalten, ihre Obliegenheit zum Verlassen des Bundesgebietes nachgesehen und ein Aufenthaltsrecht erteilt wird. Derartige Umstände liegen im gegenständlichen Fall nicht vor.
Keinesfalls entspricht es der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Systematik, dass das Knüpfen von privaten bzw. familiären Anknüpfungspunkten nach rechtswidriger Einreise oder während eines auf einen unbegründeten Antrag fußenden Asylverfahrens im Rahmen eines Automatismus zur Erteilung eines Aufenthaltstitels führen. Dies kann nur ausnahmsweise in Einzelfällen, beim Vorliegen eines besonders qualifizierten Sachverhalts der Fall sein, welcher hier bei weitem nicht vorliegt (vgl. hier etwa Erk. d. VfGH U 485/2012-15 vom 12.06.2013).
Darüber hinaus verfügt der BF auch über private Anknüpfungspunkte: er hat sich in Österreich einen Freundeskreis aufgebaut, ist selbsterhaltungsfähig und spricht Deutsch zumindest auf dem Niveau A2. Aber auch in Hinblick auf das Privatleben des BF in Österreich ist festzuhalten, dass die Dauer des Aufenthaltes des BF seit etwa fünf Jahren dadurch relativiert wird, dass der Aufenthalt bloß aufgrund der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung als Asylwerber rechtmäßig war.
Zwar bezieht der BF seit November 2020 keine Leistungen mehr aus der Grundversorgung und ist als selbsterhaltungsfähig anzusehen (vgl. II.2.2.) und ist dem BF zugute zu halten, dass es sich dabei um eine legale Erwerbstätigkeit handelt. In diesem Zusammenhang ist aber dennoch darauf zu verweisen, dass es dem BF schon aufgrund seines Alters, seines Gesundheitszustandes, seiner Schulbildung und nunmehr auch seiner Berufserfahrung (bspw wurden dem BF in den vorgelegten Empfehlungsschreiben technische Fähigkeiten attestiert) bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat möglich sein sollte, sich dort wiederum eine Existenzgrundlage zu schaffen (vgl. VwGH vom 02.12.2019, Ra 2019/14/0408).
Soweit in den vorgelegten Empfehlungsschreiben dem BF Hilfsbereitschaft, Fleiß, Zuverlässigkeit, Höflichkeit und Freundlichkeit bescheinigt wird, so geht daraus aber nicht hervor, wodurch im konkreten Fall eine besondere Integration des BF gegeben sein soll, auch wenn die darin beschriebenen Eigenschaften des BF zutreffen mögen. Auch wenn der BF, insbesondere durch die erlangte Selbsterhaltungsfähigkeit, erfolgreiche erste integrative Schritte gesetzt hat, sind diese dennoch in Anbetracht der höchstgerichtlichen Rechtsprechung aber insofern zu relativieren, als er sich bei seinem Aufenthalt im Bundesgebiet stets seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste und sind diese auch der Dauer des Aufenthaltes geschuldet.
Dem BF musste spätestens nach der Entscheidung des BFA im Mai 2018 sein unsicherer Aufenthalt in Österreich bewusst sein und dass er sich nicht darauf verlassen kann, sein Leben auch nach Beendigung des Asylverfahrens in Österreich fortsetzen zu können. Im gegenständlichen Fall hat der BF den Großteil seiner Integrationsschritte erst nach diesem Zeitpunkt gesetzt: so legte der BF die Teilmodule B1 am 08.07.2019 ab und die Deutschprüfung A2 am 18.08.2020. Insbesondere die Erwerbstätigkeit nahm der BF erst nach der Abweisung seines unbegründeten Antrags auf internationalen Schutz durch das BFA auf, somit zu einem Zeitpunkt, in dem er sich (spätestens) des unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein hätte müssen, sodass auch der nunmehrigen Erlangung der Selbsterhaltungsfähigkeit nur geringes Gewicht beigemessen werden kann. Auch die Zehnjahresgrenze – nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen – wird im gegenständlichen Fall deutlich unterschritten.
Eine berücksichtigungswürdige Integration des BF in Österreich konnte demzufolge nicht festgestellt werden und es besteht – trotz etwa fünfjährigem Aufenthalt in Österreich – keine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen, dass dem BF deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste, zumal das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich in seinem Gewicht gemindert ist, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (vgl. VwGH Ra 2016/22/0056, 03.10.2017). Auch der Umstand, dass der BF fallweise karitativ tätig war, fällt bei der gegenständlichen Abwägungsentscheidung nicht besonders stark ins Gewicht, zumal die dafür aufgewendete Zeit in Relation zur Aufenthaltsdauer in Österreich als eher gering anzusehen ist.
Der BF verbrachte den weitaus überwiegenden Teil seines Lebens im Irak, wurde dort sozialisiert, spricht Arabisch auf muttersprachlichem Niveau, schloss die Schule mit Matura ab und besuchte die Universität. Familienmitglieder des BF sind im Herkunftsland des BF aufhältig und der BF steht mit ihnen in Kontakt. Daher kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass bereits eine Entwurzelung vom Herkunftsstaat stattgefunden hat und ist – im Vergleich zu Österreich – von einer deutlich stärkeren Bindung des BF zum Irak auszugehen. Es deutet daher nichts darauf hin, dass es dem BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.
Das BVwG kann auch sonst keine unzumutbaren Härten in einer Rückkehr des BF erkennen und wären im Übrigen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Herkunftsland – letztlich auch als Folge des Verlassens des Heimatlandes ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich – im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (vgl. VwGH 29.04.2010, 2009/21/0055).
Der BF wurde mit Urteil des LG für Strafsachen Wien vom 14.10.2015, XXXX , wegen versuchter absichtlich schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten, davon 12 Monate bedingt auf 3 Jahre, verurteilt. Der erkennende Richter verkennt dabei nicht, dass der BF dieses Fehlverhalten gleich zu Beginn seines Aufenthaltes in Österreich an den Tag legte und sich seither nichts mehr zuschulden kommen ließ. Doch zeigen die Aussagen des BF im gesamten Asylverfahren, dass der BF keine Hemmungen hat, österreichischen Behörden die Unwahrheit zu sagen, und ist in diesem Zusammenhang auf die Aussage des BF in der niederschriftlichen Einvernahme zu verweisen, wonach er die Frage nach Problemen mit Gerichten, Polizei und Verwaltungsbehörden verneinte (AS 233). Aber auch die Aussagen des BF in der hg. mündlichen Verhandlung lassen Einsicht oder Reue vermissen, zumal er dieses Fehlverhalten damit begründete, er sei betrunken gewesen, habe an die Leute gedacht, die seinen Onkel getötet hätten (zur Unglaubwürdigkeit dieses Vorbringens sei wiederum auf Punkt II.2.4. verwiesen), er habe sich nur verteidigen wollen und der Gegner sei nur leicht verletzt worden (VHS, S 13). Auf Vorhalt der Schwere des Tatvorwurfs durch den erkennenden Richter gestand der BF zwar den Sachverhalt zu, relativierte sein Fehlverhalten aber wiederum dahingehend, dass er betrunken gewesen sei und sich nur habe verteidigen wollen.
Der BF vermochte daher zum Entscheidungszeitpunkt keine entscheidungserheblichen integrativen Anknüpfungspunkte im österreichischen Bundesgebiet dartun, welche zu einem Überwiegen der privaten Interessen des BF an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat führen könnten.
Der BF reiste nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet ein, was grds. als relevanter Verstoß gegen das Einwanderungsrecht in die Interessensabwägung einzubeziehen ist (vgl. zB. VwGH 25.02.2010, 2009/21/0165; 25.02.2010, 2009/21/0070).
Da ihm weder der Status eines Asylberechtigten noch der eines subsidiär Schutzberechtigten zukommt, stellt die rechtswidrige Einreise (bei strafmündigen Personen) auch gegenständlich grds. eine Verwaltungsübertretung dar (vgl. § 120 Abs. 7 FPG).
Der BF legalisierte seinen Aufenthalt erst durch die Stellung des Antrages auf internationalen Schutz, der sich letztlich als unbegründet erwies.
Dem bei Antragstellung volljährigen BF musste klar sein, dass der Aufenthalt in Österreich im Falle der Abweisung des Asylantrages nur ein vorübergehender ist.
Die Dauer des Asylverfahrens beträgt bislang etwa fünf Jahre und war dies in erster Linie bedingt durch die Flüchtlingswelle der Jahre 2015 und 2016.
Zusammenfassend sprechen folgende Aspekte für eine bestehende Integration und ein schützenswertes Privatleben des BF: Aufenthaltsdauer, Bestehen eines Familienlebens, Aufbau eines Freundeskreises, fallweise gemeinnützige Tätigkeit, Deutschkenntnisse, Selbsterhaltungsfähigkeit.
Unter Abwägung der Interessen und in wertender Gesamtschau überwiegen allerdings folgende öffentlichen Interessen, die gegen einen Aufenthalt des BF in Österreich sprechen: illegale Einreise; unsicherer Aufenthalt; auf Asylrecht gegründeter Aufenthalt, der sich auf nicht glaubhaftes Vorbringen stützte; Großteil der Integrationsschritte sowie Begründung des Familienlebens zu einem Zeitpunkt, als sich der BF seines unsicheren Aufenthaltes bewusst war; Straffälligkeit des BF.
Der EGMR wiederholt in stRsp, dass es den Vertragsstaaten zukommt, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, insb. in Ausübung ihres Rechts nach anerkanntem internationalen Recht und vorbehaltlich ihrer vertraglichen Verpflichtungen, die Einreise und den Aufenthalt von Fremden zu regeln. Die Entscheidungen in diesem Bereich müssen insoweit, als sie in ein durch Art. 8 (1) EMRK geschütztes Recht eingreifen, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, dh. durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und va. dem verfolgten legitimen Ziel gegenüber verhältnismäßig sein.
Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kommt den Normen, die die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regeln, aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Artikel 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251, uva).
Ebenso wird durch die wirtschaftlichen Interessen an einer geordneten Zuwanderung und das nur für die Dauer des Asylverfahrens erteilte Aufenthaltsrecht, das fremdenpolizeiliche Maßnahmen nach (negativer) Beendigung des Asylverfahrens vorhersehbar erscheinen lässt, die Interessensabwägung anders als in jenen Fällen, in welchen der Fremde aufgrund eines nach den Bestimmungen des NAG erteilten Aufenthaltstitels aufenthaltsberechtigt war, zu Lasten des (abgelehnten) Asylsuchenden beeinflusst (vgl. Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, Seite 348).
Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist für die Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung und diese Wertung des Gesetzgebers geht auch aus dem Inhalt des Fremdenrechtspakets 2005 und den danach folgenden Novellierungen klar hervor. Demnach ist es gemäß den nun geltenden fremdenrechtlichen Bestimmungen für den Beschwerdeführer grundsätzlich nicht mehr möglich, seinen Aufenthalt vom Inland her auf Antrag zu legalisieren, da eine Erstantragsstellung für solche Fremde nur vom Ausland aus möglich ist. Im gegenständlichen Fall ist bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Sachverhalt ersichtlich, welcher die Annahme rechtfertigen würde, dass dem Beschwerdeführer gem. § 21 (2) und (3) NAG die Legalisierung seines Aufenthaltes vom Inland aus offensteht, sodass ihn mit rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens eine unbedingte Ausreiseverpflichtung trifft, zu deren Durchsetzung es einer Rückkehrentscheidung bedarf.
Könnte sich ein Fremder nunmehr in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privatleben berufen, würde dies darüber hinaus dazu führen, dass einwanderungswillige Fremde, welche die unbegründete bzw. rechtsmissbräuchliche Asylantragstellung, allenfalls in Verbindung mit einer illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet, in Kenntnis der Unbegründetheit bzw. Rechtsmissbräuchlichkeit des Antrages unterlassen und in rechtskonformer Art und Weise vom Ausland aus ihren Antrag auf Erteilung eines Einreise- bzw. Aufenthaltstitels stellen, sowie die Entscheidung auch dort abwarten, letztlich schlechter gestellt wären, als jene Fremde, welche, einer geordneten Zuwanderung widersprechend, genau zu diesen verpönten Mitteln greifen, um ohne jeden sonstigen anerkannten Rechtsgrund den Aufenthalt in Österreich zu erzwingen bzw. zu legalisieren. Dies würde in letzter Konsequenz wohl zu einer unsachlichen Differenzierung der einwanderungswilligen Fremden untereinander führen (vgl. Estoppel-Prinzip bzw. auch den allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen, VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007) und würde angesichts der Publizitätswirksamkeit der Asylentscheidungen wohl den Nachzieheffekt für andere einwanderungswillige Fremde in Richtung nicht rechtmäßiger Zuwanderung in Verbindung mit rechtsmißbräuchlicher, unbegründeter Asylantragstellung verstärken.
Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist daher davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts des BF im Bundesgebiet das persönliche Interesse des BF am Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen (und auch in der Beschwerde nicht vorgebracht worden), dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
II.3.3.5. Mit der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (vgl. VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).
Gemäß § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Gemäß § 50 Abs. 2 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).
Gemäß § 50 Abs. 3 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
Die Zulässigkeit der Abschiebung des BF ist im gegenständlichen Fall gegeben, da nach den die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würde.
II.3.3.6. Die zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise des BF ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung stützte das BFA rechtskonform auf § 55 Abs. 2 erster Satz FPG. Vom BF wurden keine besonderen Umstände vorgebracht, die eine längere Frist erforderlich machen würden.
Daher ist die Beschwerde gegen Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
II.3.3.7. Anzumerken ist, dass die Vollziehung der Außerlandesbringung in die Zuständigkeit des BFA fällt und diesbezüglich die aktuellen Umstände (Corona-Pandemie) entsprechend zu berücksichtigen sind.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
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