European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E123409
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben. Dem Berufungsgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch die Kündigung wegen Eigenbedarfs nach § 30 Abs 2 Z 8 MRG. Die Klägerin brachte dazu vor, die vom Beklagten gemietete Wohnung im Erdgeschoss dringend zur Deckung ihres eigenen Wohnbedarfs zu benötigen, weil sie aus gesundheitlichen Gründen ihre Wohnung im dritten Stock ohne Lift auf Dauer nicht mehr benützen könne.
Das Erstgericht hob die Aufkündigung als rechtsunwirksam auf. Zur Mobilität der Klägerin stellte es fest, dass das Treppensteigen zwar noch möglich, aber aus medizinischer Sicht nicht tunlich ist und eine erhöhte Sturzgefahr besteht. Im Wohnhaus, das im Alleineigentum der Klägerin steht, sind zwei Wohnungen (mit 20 m² im ersten Stock und 60 m² im dritten Stock) unbewohnt. Nur die Wohnung des Beklagten ist ebenerdig ohne Treppensteigen zu erreichen. Rechtlich würdigte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahingehend, dass ein dringender Eigenbedarf nicht vorliege, weil einerseits ungewiss sei, ob die Klägerin tatsächlich einen Einzug in die Wohnung plane (hierzu traf das Erstgericht eine Negativfeststellung) und andererseits der Einbau eines Treppenlifts technisch möglich sei.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Eine abschließende Beurteilung der Beweisrüge zur Negativfeststellung traf es nicht, weil es den dringenden Eigenbedarf schon aufgrund des technisch und wirtschaftlich möglichen Einbaus eines Treppenlifts verneinte. Es verwarf sowohl die Mängel‑ als auch die Beweisrüge mit der Begründung, die Klägerin habe die Behauptung des Beklagten, der Einbau eines Treppenlifts sei technisch und wirtschaftlich möglich, nicht substanziiert bestritten, weshalb sie als zugestanden der Entscheidung zugrundezulegen sei. Zudem sei notorisch, dass Treppenlifte im nahezu jedem Stiegenhaus eingebaut werden könnten. Es entspreche der Erfahrung des täglichen Lebens und der Gerichtserfahrung, dass sich der Einau innerhalb weniger Wochen realisieren lasse, bewilligungsfrei sei und die Kosten ein wirtschaftlich sinnvolles Ausmaß erreichen. Ebenso sei es allgemein bekannt, dass es treppengängige Rollstühle gebe.
Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nicht zu lösen sei.
In ihrer Revision stützt sich die Klägerin im Wesentlichen darauf, dass kein schlüssiges Geständnis vorliege. Mangels eigener Fachkunde sei der Klägerin nicht möglich gewesen, die Behauptung des Beklagten zu bestreiten. Sie habe auch sonst kein Verhalten gesetzt, das ein Zugeständnis indiziere.
Rechtliche Beurteilung
Hierzu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:
Die Revision der Klägerin ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig; sie ist auch im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.
1.1. Die Zulässigkeit einer Aufkündigung ist nur nach dem Zeitpunkt ihrer Zustellung zu beurteilen (RIS‑Justiz RS0070282). Für das Vorliegen des Eigenbedarfs im maßgeblichen Zeitpunkt der Zustellung der Aufkündigung reicht es aus, dass mit Sicherheit oder höchster Wahrscheinlichkeit in nächster Zukunft die Obdachlosigkeit des Vermieters bevorsteht. Es ist nicht Voraussetzung, dass der Vermieter im Zeitpunkt der Einbringung der Aufkündigung bereits obdachlos ist (5 Ob 4/08m). Beim Kündigungsgrund des Eigenbedarfs sind auch Veränderungen, die in der Zeit zwischen der Zustellung der Aufkündigung und dem Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz eintreten, zu berücksichtigen (RIS‑Justiz RS0108235 [T3]).
1.2. Bei Beurteilung der Frage des dringenden Eigenbedarfs ist ein strenger Maßstab anzulegen (RIS‑Justiz RS0070482 [T9]; RS0067660). Voraussetzung ist, dass das Wohnbedürfnis des Vermieters oder seiner begünstigten Verwandten überhaupt nicht oder nur in unzulänglicher Weise befriedigt ist und die Wohnungsverhältnisse dringend einer Abhilfe bedürfen. Rein wirtschaftliche Erwägungen oder Bequemlichkeitsrücksichten sind demgegenüber bedeutungslos. Ein dringender Bedarf liegt auch nicht vor, wenn das Wohnungsbedürfnis durch eine entsprechende Neuverteilung der bereits zur Verfügung stehenden Räume befriedigt werden kann (RIS‑Justiz RS0068314 [T8]).
1.3. Bei dieser Beurteilung muss jede Art der Benötigung des Bestandgegenstands berücksichtigt werden, die sich für den Vermieter aus einem wichtigen persönlichen oder wirtschaftlichen Bedürfnis ergibt, das nur durch Benützung der gekündigten Wohnung befriedigt werden kann (RIS‑Justiz RS0109791; vgl zur Unterbringung einer Pflegekraft RIS‑Justiz RS0067860). So erfüllt etwa die Gefahr gesundheitlicher Schädigung des Vermieters oder seiner Angehörigen den Kündigungsgrund des § 30 Abs 2 Z 8 MRG (RIS‑Justiz RS0070537 [T1]). Die Rechtsprechung nahm dringenden Eigenbedarf etwa dann an, wenn die vom Vermieter bisher benützte Wohnung aufgrund einer Verschlechterung des Gesundheitszustands nur mehr mit Schmerzen benützbar ist (7 Ob 166/97f), die gekündigte Wohnung zur Pflege des Vaters der Vermieterin (1 Ob 223/02d) oder für den Wohnbedarf der Tochter des Vermieters, die ihre eigene Wohnung wegen Schimmelbefalls in den Wintermonaten nicht ohne Gesundheitsgefährdung bewohnen kann (6 Ob 64/14a), benötigt wird.
1.4. Bei Selbstverschulden kann der Eigenbedarf nicht als Kündigungsgrund geltend gemacht werden (RIS‑Justiz RS0068225). Dies ist anzunehmen, wenn der Vermieter schuldhaft eine Sachlage herbeiführt, die ihn zwingt, zur Deckung seines Eigenbedarfs zur Kündigung zu schreiten, sei es, dass er den Eigenbedarf durch positives Tun zum Entstehen bringt, sei es, dass er eine Gelegenheit, den Eigenbedarf auf eine andere Weise als durch Kündigung zu befriedigen, versäumt. Für die Annahme eines selbstverschuldeten Eigenbedarfs genügt es, dass dieser vorhersehbar war (RIS‑Justiz RS0070602). Allerdings dürfen dem Vermieter wirtschaftlich unzumutbare Aufwendungen nicht aufgelastet werden (6 Ob 55/00g; 7 Ob 214/73 = MietSlg 20.399). Die Adaptierungen müssen technisch möglich, wirtschaftlich sinnvoll und für den Kläger finanzierbar gewesen sein (5 Ob 83/07b). Dabei liegt die Behauptungs‑ und Beweislast für das Verschulden am Eigenbedarf des Vermieters beim Gekündigten (RIS‑Justiz RS0067961, RS0070596; 5 Ob 83/07b).
1.5. Erst dann, wenn der Eigenbedarf und seine Dringlichkeit bejaht werden können, kommt es zur Interessenabwägung. Die Frage des Eigenbedarfs darf aber nicht von vornherein nach dem Ergebnis einer vorweggenommenen Interessenabwägung gelöst werden (RIS‑Justiz RS0068279). Bei der Interessenabwägung sind sowohl materielle als auch gesundheitliche Umstände zu berücksichtigen, wobei gesundheitliche Interessen in der Regel schwerer als bloß wirtschaftliche Interessen wiegen (vgl RIS‑Justiz RS0068360; RS0068363 [T2]). Die drohende Obdachlosigkeit des Mieters kann jedoch selbst gegen schwere gesundheitliche Nachteile des Vermieters den Ausschlag geben (RIS‑Justiz RS0068317 [T3, T4]). Bleiben Zweifel, welche Interessen überwiegen, muss die Abwägung zugunsten des Mieters ausfallen (RIS‑Justiz RS0068340).
2. Die Ausführungen, wonach die gekündigte Wohnung auch zur Unterbringung einer 24‑Stundenpflege im gemeinsamen Haushalt benötigt werde, wurden im Verfahren erster Instanz nicht vorgebracht und stellen daher unzulässige und damit unbeachtliche Neuerungen dar (§ 482 ZPO).
3. Damit ist entscheidend, ob die Klägerin das Vorbringen des Beklagten zur Möglichkeit des Einbaus eines Treppenlifts iSd § 267 ZPO zugestanden hat oder diese Behauptungen iSd § 269 ZPO notorisch sind.
3.1. Zugestandene Tatsachen sind nach § 266 ZPO ohne weiteres der Entscheidung zugrundezulegen (RIS‑Justiz RS0040110). Neben dem ausdrücklichen Geständnis iSd § 266 Abs 1 ZPO gibt es auch ein schlüssig abgegebenes Geständnis iSd § 267 Abs 1 ZPO. Ob in diesem Sinn tatsächliche Behauptungen einer Partei als zugestanden anzusehen seien, hat das Gericht unter sorgfältiger Berücksichtigung des gesamten Inhalts des gegnerischen Vorbringens zu beurteilen (RIS‑Justiz RS0040091; vgl auch RS0083785). Maßgeblich ist nicht die ausdrückliche Bestreitung, sondern der Mangel eines Zugeständnisses. Das bloße Unterbleiben der Bestreitung reicht für sich allein für die Annahme eines Tatsachengeständnisses nicht aus. Ein „unsubstanziiertes Bestreiten“ (eine unterbliebene ausdrückliche Bestreitung) könnte nur dann als Zugeständnis gewertet werden, wenn im Einzelfall gewichtige Indizien für ein (schlüssiges) „Geständnis“ sprächen (RIS‑Justiz RS0039955 [T2, T3]; RS0039941 [T3, T4, T5]; vgl RS0107488), etwa weil die vom Gegner aufgestellte Behauptung offenbar leicht widerlegbar sein musste, dazu aber nie konkret Stellung genommen wird, oder eine Partei bloß einzelnen Tatsachenbehauptungen des Gegners mit einem konkreten Gegenvorbringen entgegentritt, zu den übrigen jedoch inhaltlich nicht Stellung nimmt (RIS‑Justiz RS0039927 [T12]).
3.2. Offenkundige Tatsachen hat das Gericht seiner Entscheidung auch dann von Amts wegen zugrundezulegen, wenn sie nicht vorgebracht wurden (RIS‑Justiz RS0037536; RS0040240 [T3]). Offenkundige Tatsachen kann das Berufungsgericht auch ohne Beweisaufnahme ergänzend seiner Entscheidung zugrundelegen (RIS‑Justiz RS0040219).
3.3. Bei Gericht offenkundig sind nur solche Tatsachen, die allen auf die Verhältnisse ihrer Umgebung aufmerksamen Personen bekannt sind oder die aus der täglichen Erfahrung abgeleitet werden können, also Naturereignisse, historische Begebenheiten udgl, hingegen nicht Tatsachen, die nur zufällig einem einzelnen Richter, wenn auch anlässlich einer Amtshandlung, zur Kenntnis gekommen sind (RIS‑Justiz RS0040230, RS0110714, RS0040244). Allgemeinkundigkeit einer Tatsache setzt voraus, dass sie ohne besondere Fachkenntnisse einer beliebig großen Anzahl von Menschen bekannt oder doch ohne Schwierigkeiten jederzeit zuverlässig wahrnehmbar ist (RIS‑Justiz RS0110714 [T13]; RS0040237).
3.4. Bei zweifelhafter Offenkundigkeit muss den Parteien Gelegenheit geboten werden, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (RIS‑Justiz RS0040230 [T4]).
3.5. Ob die Voraussetzungen für die Annahme eines schlüssigen Geständnisses vorliegen, ist vom Obersten Gerichtshof überprüfbar (vgl RIS‑Justiz RS0040119 [T4]; RS0040078 [T2, T6]), insbesondere dann, wenn erstmals das Berufungsgericht ein schlüssiges Tatsachengeständnis annahm (6 Ob 246/15t; RIS‑Justiz RS0040078 [T7]). Wurde hingegen die Frage, ob § 267 ZPO zutreffend angewendet wurde oder nicht, bereits vom Berufungsgericht in Überprüfung der diesbezüglichen Rechtsansicht des Erstgerichts behandelt, kann sie in der Revision nicht mehr geltend gemacht werden (RIS‑Justiz RS0040078 [T8]; RS0040146).
3.6. Im vorliegenden Fall liegen die Voraussetzungen für die Annahme eines schlüssigen Geständnisses hinsichtlich der Möglichkeit und wirtschaftlichen Zumutbarkeit des Einbaus eines Treppenlifts nicht vor. Gleiches gilt für das Argument des Berufungsgerichts, die Klägerin könne auch auf treppengängige Rollstühle verwiesen werden. Zutreffend verweist die Klägerin darauf, dass das in erster Instanz erstattete Bestreitungsvorbringen zum Oberbegriff „Lift“ auch den Unterbegriff „Treppenlift“ erfasse. Das diesbezügliche Vorbringen des Beklagten war auch nicht derart leicht widerlegbar, dass die Unterlassung einer ausdrücklichen konkreten Bestreitung als Geständnis gewertet werden könnte. Dabei ist insbesondere darauf zu verweisen, dass die Klägerin keineswegs die hier maßgeblichen Umstände wie die Kosten des Einbaus eines Treppenlifts, das Erfordernis einer baubehördlichen Genehmigung und dessen feuerpolizeiliche Zulässigkeit besser beurteilen konnte als der Beklagte, sodass aus der Unterlassung konkreten diesbezüglichen Vorbringens der Schluss gezogen werden könnte, die Klägerin wolle dem Prozessstandpunkt des Klägers in diesem Punkt nicht entgegentreten. Dass die Klägerin sich zunächst gegen die Einholung eines Sachverständigengutachtens aussprach, kann gleichfalls nicht als schlüssiges Geständnis angesehen werden. Dabei kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die angeführten Umstände allgemeinkundig iSd § 269 ZPO seien. Für die sichere Beurteilung der Kosten und des zeitlichen Aufwands der Errichtung eines Treppenlifts bedarf es vielmehr besonderer Fachkunde. Die wirtschaftliche und zeitliche Zumutbarkeit ist überdies eine rechtliche Schlussfolgerung, zu deren Beurteilung nähere Sachverhaltsgrundlagen notwendig sind.
3.7. Das Berufungsgericht hätte daher seine Auffassung, die angeführten Tatsachen seien allgemeinkundig, mit den Parteien erörtern müssen, um ihnen die Gelegenheit zum Beweis der Unrichtigkeit der als offenkundig angenommenen Tatsachen zu ermöglichen. Die Einräumung dieser Möglichkeit entspricht einem fairen Verfahren gemäß Art 6 EMRK (RIS‑Justiz RS0040219 [T2, T8, T15]). Hat das Berufungsgericht dies unterlassen, so kann dies eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens begründen (RIS‑Justiz RS0040219 [T2, T8, T15]). Anderes würde nur dann gelten, wenn das Berufungsgericht nicht erstmals § 269 ZPO anwendet, sondern die Anwendung des § 269 ZPO durch das Erstgericht überprüft (vgl RIS‑Justiz RS0040046; 6 Ob 229/15t).
3.8. Damit kann aber entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts nicht ohne weiteres der dringende Eigenbedarf unter Hinweis auf den technisch und wirtschaftlich möglichen Einbau eines Treppenlifts verneint werden. Das Urteil des Berufungsgerichts war aufzuheben und diesem die neuerliche Entscheidung über die Berufung aufzutragen, weil dieses ausgehend von seiner vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht bisher die Beweisrüge zu der (Negativ‑)Feststellung, wonach nicht feststehe, dass die Klägerin tatsächlich einen Einzug in die Wohnung des Beklagten plane, nicht behandelt hat.
4. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.
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