AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2025:L532.2297200.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Georg WILD-NAHODIL als Einzelrichter über die Beschwerden 1) des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.06.2024, Zl. XXXX , 2) des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.07.2024, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG 2005 nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 11.11.2024 zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführer (i.d.F. kurz als „BF“ bzw. gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch jeweils als BF1 oder BF2 bezeichnet) sind Brüder und türkischer Staatsangehörigkeit. Sie stellten nach gemeinsamer illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 23.10.2022 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
1. Der BF1 wurde am 27.10.2022 und der BF2 am 24.10.2022 polizeilich erstbefragt:
Im Wesentlichen führte der BF1 zu seinem Fluchtgrund aus, ein Bruder sei in einen Motorradunfall mit einem Militärfahrzeug verwickelt und verletzt worden, woraufhin sie gegen den Schädiger den Klagsweg beschritten und Kompensation von ihm eingefordert hätten. In der Folge sei es zur Verfolgung gekommen. Sie seien verprügelt und das Haus mehrmals durchsucht worden. Weitere Antragsgründe bestünden nicht. Im Rückkehrfall drohe ihnen der Tod.
Die BF2 machte als Fluchtgrund psychischen Druck durch die Polizei sowie politische Probleme eines Bruders geltend. Sie seien von der Polizei ständig kontrolliert und auch geschlagen worden. In der Türkei herrsche großer Rassismus gegenüber Kurden. Ansonsten seien keine Fluchtgründe verwirklicht. Im Rückkehrfall sei er um sein Leben besorgt.
2. Nach Zulassung der Verfahren wurden der BF1 am 05.03.2024 und der BF2 am 12.03.2024 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (i.d.F. „bB“ oder „Bundesamt“) einvernommen. Sie konkretisierten dabei im Wesentlichen das vom BF1 bereits in der Erstbefragung dargelegte Vorbringen (insbesondere dahin, dass es sich beim Verfolger um einen [ehemaligen] Polizisten gehandelt habe) und äußerten sich dem Grunde nach - allerdings mit erheblichen Abweichungen im Detail, worauf hier noch nicht näher eingegangen wird - gleichbleibend.
3. Mit den im Spruch bezeichneten Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (i.d.F. „Bundesamt“ oder „bB“) wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung der Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung der Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.). Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurden den BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung der BF in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise in der Dauer von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt (Spruchpunkt VI.). Mit Informationsblatt wurde den BF ein Rechtsberater gem. § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
Das Bundesamt gelangte im Wesentlichen zum Ergebnis, dass hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung der Status von asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten eine aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation nicht glaubhaft gemacht worden sei. Ein relevantes, die öffentlichen Interessen übersteigendes, Privat- und Familienleben würde ebenso wenig vorliegen. Begründend legte die bB im Hinblick auf die negativen Asylentscheidungen gleichlautend im Wesentlichen dar, das Vorbringen der BF sei sowohl in sich als auch untereinander vielfach widersprüchlich und daher unglaubhaft.
4. Die Rechtsvertretung brachte rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (i.d.F. „BVwG“) ein. Im Wesentlichen wurden darin Ermittlungsmängel - insbesondere infolge unzureichender Befragungen der BF - geltend gemacht, die sich auf mehrere Beweisthemen erstreckt hätten. Ganz wesentlich sei gewesen, dass die BF beim Bundesamt Beweismittel zur Verurteilung des Verfolgers vorlegen wollten, die bB die Entgegennahme jedoch mutwillig verweigert habe. Im Übrigen trat die Beschwerde der behördlichen Beweiswürdigung in einzelnen Punkten entgegen; die bB sei - entsprechend ihren Verfahrensfehlern - vielfach tatsachenirrig vorgegangen bzw. hätten sich einzelne Widersprüche bei rechtsrichtigem Vorgehen leicht auflösen lassen. Beispielsweise habe der BF2 nicht vorbringen wollen, dass sein verunfallter Bruder keinerlei Schadensvergütung bekommen habe, sondern vielmehr auszudrücken versucht, dass dieser keine (Bestechungs-)Zahlungen angenommen habe, um die Klage zurückzuziehen. Auch seien rassistische Verfolgungsmotive - im Hinblick auf die kurdische Volksgruppenzugehörigkeit der BF - unzureichend erwogen worden. Weiters wurde auf das bisherige Vorbringen verwiesen und dessen Schutzrelevanz hervorgehoben.
4.1. Im Anhang wurden türkischsprachige Beweismittel vorgelegt.
5. Am 01.08.2024 (BF1) bzw. 09.08.2024 (BF2) langten die Administrativakte bei der Einlaufstelle des BVwG ein.
6. Mit hg. Parteiengehör vom 28.10.2024 wurde das am 18.10.2024 aktualisierte Länderinformationsblatt Türkei (Version 9) den BF zugestellt und ihnen die Möglichkeit zur Abgabe schriftlicher Stellungnahmen eingeräumt.
7. Mit 04.11.2024 erteilte das BVwG einen Übersetzungsauftrag hinsichtlich der von den BF anlässlich der Beschwerdeerhebung beigebrachten Schriftstücke.
8. Am 05.11.2024 erstattete der BF2 eine Dokumentenvorlage im Hinblick auf medizinische Unterlagen, die nach seinen Angaben bezeugen sollen, dass er im Jahr 2020 ein Krankenhaus aufgesucht habe, weil er von Leuten zusammengeschlagen worden sei. Der BF2 vermute, dass es sich bei diesen Leuten um Vertraute und/oder Freunde jenes Polizisten gehandelt habe, der seinerzeit wegen eines Unfalles mit dem Bruder seiner Person namens XXXX verurteilt worden sei und seine Anstellung verloren habe. Ergänzende Ausführungen hiezu wurden der mündlichen Verhandlung vorbehalten.
9. Nachdem die am 04.11.2024 in Auftrag gegebenen Übersetzungen hg. einlangten, wurde der BF2 und das Bundesamt mit hg. Note vom 06.11.2024 vom diesbezüglichen Ergebnis der Beweisaufnahme verständigt und letzterem zusätzlich die am 05.11.2024 eingebrachten medizinischen Unterlagen des BF2 übermittelt.
10. Am 11.11.2024 wurde vor dem BVwG die beantragte mündliche Verhandlung im Beisein der BF, ihrer rechtsfreundlichen Vertretung sowie eines Dolmetschers für die Sprache Türkisch durchgeführt. Die mündliche Verhandlung gestaltete sich wie folgt:
„[…]
RI: Wollen Sie ergänzende Beweismittel vorlegen?
RV: Keine.
RI: Es wurde Ihnen das aktuelle Länderinformationsblatt übermittelt. Haben Sie eine diesbezügliche schriftliche Stellungnahme vorbereitet oder möchten Sie am Ende der Verhandlung mündlich zum Länderinformationsblatt Stellung beziehen?
RV: Es wird zu Kenntnis genommen. Es gibt keine weitere Stellungnahme.
RI: Die mit der Beschwerde vorgelegten Urkunden wurden von einer Dolmetscherin übersetzt. Diese Übersetzungen wurden dem BFA und der BBU mit 06.11.2024 zugestellt. Gibt es hiezu eine Äußerung?
RV: Keine.
RI: Mit 05.11.2024 langten hg. weitere türkischsprachige Beweismittel über die BBU GmbH ein. Ich bitte den Dolmetscher um Sichtung der Unterlagen und Zusammenfassung des wesentlichen Inhalts.
D: Das ist eine Niederschrift eines BF gemäß Strafprozessordnung Paragraph 234. Er stellt bei der Polizeistation XXXX wegen vorsätzlicher Körperverletzung Zahl XXXX : die Personalien des Aussagenden: XXXX , Personenkennzahl, Name des Vaters und der Mutter, Geburtsort und Datum, die standesamtliche Eintragsnummer Bandnummer, Familienreihennummer, Ort der standesamtlichen Eintragung, die Meldeadresse, Beruf und monatliches Einkommen, Beruf ist Arbeiter, Einkommen ist nicht angegeben, Telefonnummer, schulische Ausbildung ist Hauptschule, Familienstand, Geschlecht: ledig und männlich. Rechte des Aussagenden sind angeführt. Diese wurden erklärt und erläutert. Jetzt übersetze ich die Aussage des BF 2: Die obigen Angaben sind mir gehörig und richtig. Ich habe gemäß der Strafprozessordnung des Gesetzes mit der Zahl 5271 meine gesetzlichen Rechte gelesen, verstanden und will nach freien Willen auf die mir gestellten Fragen antworten. Der BF 2 beginnt somit mit seiner Aussage. Am 07.12.2020 um 21:30 Uhr war ich auf einem freien Gelände im Stadtteil XXXX in der Gasse XXXX , saß und trank Alkohol. Zu diesem Zeitpunkt kamen 3 Männer mit Operationsmasken im Gesicht im Alter von 20-25 Jahren, welche ich vorher nie gesehen habe, ich sie nicht mehr wiedererkennen würde gekommen. Die Personen schauten mich an und sprachen untereinander Arabisch. Ich habe nicht verstanden, was die Personen gesprochen haben. Ich vermute, dass diese Personen Syrer sind aufgrund ihrer Sprache. Diese Personen sind direkt auf mich zugegangen und haben mich mit Fußtritten und Ohrfeigen attackiert. Ich war wegen der Schläge nicht mehr bei Sinnen. Ich bin um 23:00 Uhr wieder aufgewacht und es war niemand bei mir. Ich bin danach in das Stadtkrankenhaus nach meinen Möglichkeiten und habe mich dort behandeln lassen. Es geht mir derzeit gut. Ich bin zur Polizeistation gekommen um über diesen Vorfall auszusagen. Bezüglich des Vorfalles erhebe ich keine Beschwerde und Klage.
Die Bedingungen im Artikel 234 der StPO wurden erfüllt. Nachdem der Aussagende erklärt hat, dass er nicht mehr hinzuzufügen habe, wurden diese Niederschrift erstellt, von den Anwesenden gelesen und nach Bestätigung der Richtigkeit unterschrieben. 08.12.2020-05:48, die Unterschriften sind vorhanden, der die Aussage Aufnehmende, der die Aussage Schreibende, der Vertreter, wobei kein Vertreter verlangt wurde, der Aussagende, darunter die Namen und die Unterschriften.
1. Seite des Formulars: Das ist ein Schreiben des Stadtkrankenhauses XXXX gerichtet an die Oberstaatsanwaltschaft, an die Bezirkssicherheitsdirektion und an die Bezirkssicherheitskommandatur. Es handelt sich dabei um ein Attest vom 08.12.2020 um 01:55 Uhr. Der Absender ist die Polizei des Krankenhauses. Dann sind die Daten des Untersuchtem angegeben. Das ist XXXX . Es geht um Körperverletzung und Aufnahme des Berichtes. Die Anwesenden sind angeführt. Die Beschwerden des Untersuchtem sind Kopfschmerzen, Halsschmerzen, allgemeine Schmerzen am Körper und Schmerzen an der Nase. Die Vorgeschichte des Untersuchten ist nicht angegeben. Er war in der Radiologie, 04.33. Diagnosen bezüglich Läsionen ist angekreuzt: Kopf und Hals, Brust, Rücken-Lende, obere Extremitäten, untere Extremitäten.
2. Seite des Formulars: psychiatrische Untersuchung ergibt nichts Auffälliges. An der Nase wurde eine Fraktur festgestellt, könnte aber von früher sein. Das ist ein vorläufiges Attest. Keine Lebensgefahr. Da ist eine Skizze. Es sind die Schmerzstellen angerührt. Am Rücken wurde ein Ödem festgestellt.
RI: Haben sich seit der letzten Einvernahme beim Bundesamt neue Umstände in Bezug auf Ihre Integration in Österreich (z. B. Deutschkenntnisse, Fortbildung, Erwerbstätigkeit) ergeben?
BF 1: Ja. Ich habe zuerst einen Test gemacht, dann habe ich mich zu einem Sprachkurs gemeldet für A1/2. Dann habe ich einen Kurs bekommen, wobei dieser Kurs abgesagt wurde, weil 4 Kursteilnehmer sich abgemeldet haben. Dann wurde wieder ein Kurs ausgeschrieben. 2 Teilnehmer sagten ab und ich konnte wieder keinen Kurs besuchen. Wir haben eine Wohnung gefunden. Nachdem es sehr schwer war, eine Wohnung für einen Flüchtling zu finden, haben wir alles auf unseren Namen gemeldet, wie Stromliefervertrag, auch den Mietvertrag. Das kann ich vorlegen. Wir arbeiten seit ca. 1 Jahr. Der Chef ist sehr zufrieden mit mir, deshalb hat er ein Befürworterschreiben für mich geschrieben. Das habe ich in .pdf dabei. Ich habe freiwillig Hilfe geleistet in der Altenbetreuung. Anscheinend bin ich nicht genug vertrauenswürdig, weil ich keine Bestätigung bekommen habe. Sonst gibt es nichts. Nachgefragt, ob ich den Mietvertrag und das Referenzschreiben dabeihabe, gebe ich an, das ich den Mietvertrag dabei habe und das Referenzschreiben am Handy habe.
RI weist darauf hin, das Beweismittel grundsätzlich in Papierform in der Verhandlung vorzulegen sind.
BF 1: Ich habe das Schreiben gestern bekommen und hatte keine Möglichkeit, es auszudrucken. Ich werde es meinen RV nachschicken.
BF 2 wird darauf hingewiesen, dass er sich nicht in die Befragung des BF 1 einmengen möge.
RI gewährt Frist von 2 Tagen für die Übermittlung von Integrationsunterlagen (Referenzschreiben und Mietvertrag).
RI: Haben sich seit der letzten Einvernahme beim Bundesamt neue Umstände in Bezug auf Ihre Integration in Österreich (z. B. Deutschkenntnisse, Fortbildung, Erwerbstätigkeit) ergeben?
BF 2: Ich habe genauso einen Test gemacht, habe mich für einen Kurs gemeldet, mir wurde gesagt, dass sie sich zurückmelden würden. Ich bin Mitglied im Fitnesscenter. Sonst gibt es nichts.
Anm.: BF 1 mischte sich in die Befragung des BF 2 ein und wird vom RI nachdrücklich darauf hingewiesen, dies zu unterlassen, andernfalls er des Verhandlungssaals verwiesen würde.
RI: Haben Sie einen Deutschkurs abgeschlossen? Wenn ja, welches Zertifikat haben Sie zuletzt erworben?
BF 1: Nein.
BF 2: Nein. Wir sind noch nicht zum Kurs geladen worden.
RI: Gehen Sie einer legalen Erwerbstätigkeit nach?
BF 1: Ja.
BF 2: Ich arbeite derzeit nicht. Ich werde jedoch am 17.12. in der Firma „ XXXX “ (phon.) zu arbeiten beginnen. Die machen Reinigung von Bettwäsche und Handtüchern.
RI: Verfügen Sie dafür über eine Beschäftigungsbewilligung des AMS?
BF 1: Ja, habe ich. Nachgefragt, ich arbeite in einer Putzfirma als Reinigungskraft.
BF 2: Ja. Ich habe eine Beschäftigungsbewilligung, weil ich bereits 10 Monate lang in einer Reinigungsfirma gearbeitet habe. Ich habe ca. 10 Tage in einem Kebabgeschäft gearbeitet. Aber diese Reinigungsfirma ist eine österreichische Firma. Ich finde, das ist besser. (RI weist BF darauf hin, dass Bescheidadressaten von Beschäftigungsbewilligungen die Arbeitgeber, nicht die Arbeitnehmer sind, er braucht daher jeweils neue Beschäftigungsbewilligungen) Ich habe ein Schreiben von der Firma, dass sie mich aufnehmen werden. Das haben sie beim Arbeitsamt bekanntgegeben, dass sie mich aufnehmen werden. Sie haben sogar das Datum bekanntgegeben.
RI: Wieviel verdienen Sie monatlich netto bzw. wie viel werden Sie monatlich verdienen?
BF 1: EUR 1.604,--.
BF 2: Sie haben EUR 1.600,-- bis 1.700,-- gesagt. Sie sagten, dass ich unter Umständen extra Überstunden machen muss.
RI: Ist Ihr Arbeitsvertrag befristet oder unbefristet?
BF 1: Ich habe vorerst eine Beschäftigungsbewilligung für ein Jahr bekommen, also die Firma. Diese Bewilligung ist bereits abgelaufen. Die Firma erhielt eine neue Beschäftigungsbewilligung.
BF 2: Genauso. Ich habe eine Beschäftigungsbewilligung für ein Jahr in der Gastronomie bekommen. Mir wurde gesagt, dass ich in verschiedenen Firmen arbeiten könne. Dann war ich in einem Kebabgeschäft wegen der Arbeit. Sie sagten, dass kein neuer Antrag für eine Beschäftigungsbewilligung gestellt werden müsse.
RI: Hinterfragen Sie das lieber. Das AuslBG ist nicht mein Rechtsbereich, aber das käme mir merkwürdig vor; insbesondere bei Berücksichtigung des Schutzzwecks des AuslBG.
BF 2: Also wie der Arbeitgeber das mit dem Arbeitsamt geregelt hat, kann ich nicht sagen. Er sagte, es gäbe keine Probleme, weil ich bereits in der Gastronomie gearbeitet habe. Er wird schon einen weiteren Antrag gestellt haben.
RI: Seit wann gehen Sie durchgehend einer Arbeit nach?
BF 1: Ungefähr seit Juli 2023.
RI: Haben Sie in Österreich Familienangehörige oder Verwandte?
BF 1: Ich habe nur meinen Bruder.
BF 2: Genauso.
RI: Haben Sie Angehörige in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union?
BF 1: Ja, habe ich. Meine Onkel mütterlicherseits. Nachgefragt, wo diese leben, gebe ich an: in Deutschland. Nachgefragt, wieviele Personen das seien, es handelt sich um zwei Onkel. Nachgefragt, ob ich zu diesen Personen einen besonderen Nahebezug habe: nein, seit meinem hiesigen Aufenthalt. Nachgefragt, früher hatte ich Kontakt, seit ich hier bin, nicht mehr.
BF 2: Genauso wie bei meinem Bruder. Ich habe auch zwei Onkel in Deutschland. Sie haben den Kontakt zu uns abgebrochen seit wir hier sind.
RI: Wie verbringen Sie Ihr Leben und Ihre Freizeit in Österreich?
BF 1: Nachdem das Arbeitsende bei uns nicht fix ist, gehen wir auch zu unterschiedlichen Zeiten zur Arbeit. In meiner Freizeit gehe ich mit Freunden ins Kaffeehaus. Wir gehen spazieren, um die Müdigkeit von der Arbeit abzuwerfen. Wir gehen manchmal Billardspielen. Im Allgemeinen verbringe ich meine Zeit Hause.
BF 2: Ich arbeite zwar nicht, aber in meiner Freizeit gehe ich ins Fitnesscenter, ich bleibe dort zwei bis drei Stunden. Morgens spaziere ich, ich gehe zu den Freunden ins Kaffeehaus. Ich bin fast immer dort im Kaffeehaus „ XXXX “. Das ist aber ein türkisches Kaffeehaus. Ich möchte mich entschuldigen für mein Eingreifen vorhin als ich gesprochen habe. Ich bin Gerichtsverhandlungen nicht gewohnt.
RI: Verfügen Sie in Österreich über einen Freundeskreis?
BF 1: Ja. Natürlich.
BF 2: Ja.
RI: Was können Sie mir über Ihre Freunde in Österreich erzählen?
BF 1: Ich bin im Allgemeinen bei meinen Arbeitskollegen. Also wir sind alle miteinander fleißig. Sie sind sehr freundesnahe. Wir grillen manchmal miteinander. Wir haben keine Probleme.
BF 2: Ich habe Freunde in XXXX und in XXXX . Sie arbeiten alle. Ich habe auch türkische Freunde, die hier geboren wurden. Ich komme mit allen gut aus. Ich habe in Österreich bisher keine Probleme mit Freunden erlebt.
RI: Welcher Herkunft sind Ihre Freunde und über welches Aufenthaltsrecht verfügen diese?
BF 1: Aus Ungarn, Italien, Kroatien, Personen, die hier aufgewachsen sind. Ich habe aber auch Freunde, die aus der Türkei gekommen sind.
BF 2: Gleich.
RI: Auf welcher Sprache unterhalten Sie sich mit Ihren Freunden?
BF 1: Nachdem ich in einem Hotel gearbeitet habe, muss ich Deutsch und Englisch sprechen. Ich spreche beide Sprachen.
BF 2: Ich spreche Türkisch. Ich habe Deutsch in meinen Arbeitsstätten gelernt.
RI: Führen Sie in Österreich eine Beziehung?
BF 1: Ja.
BF 2: Nein.
RI: Wie heißt Ihre Freundin, wann wurde Sie geboren, welche Staatsbürgerschaft hat Ihre Freundin?
BF 1: Sie ist aus Ungarn. Sie wohnt in XXXX . Sie heißt XXXX . Ich sage immer „ XXXX “ zu ihr.
RI: Wann wurde sie geboren, wie lautet der Nachname?
BF 1: Mit dem ungarischen Familiennamen tue ich mir schwer. Sie ist 52 Jahre alt.
RI: Wann, wo und wie lernten Sie sich kennen?
BF 1: Ich habe sie in XXXX im Camp kennengelernt. Im Jahr 2022.
RI: Können Sie mir das näher erklären?
BF 1: Wir waren damals im Camp, es ging uns finanziell nicht gut. Ich besuchte dort ein Kaffeehaus. Und in diesem Kaffeehaus lernten wir uns kennen.
RI: Auf welcher Sprache unterhalten Sie sich?
BF 1: Damals konnte ich noch nicht gut Deutsch sprechen. Ich benutzte einen Übersetzer. Jetzt sprechen wir Deutsch.
RI: Seit wann sind Sie ein Paar?
BF 1: Das ist mit Unterbrechungen. Wir hatten Unterbrechungen, aber derzeit sind wir ein Paar.
RI: Wann waren Sie erstmals ein Paar?
BF 1: 2022. Mit Lücken.
RI: Seit wann sind Sie aktuell ein Paar?
BF 1: Man kann sagen seit vier Monaten.
RI: Wie gestaltet sich der Beziehungsalltag?
BF 1: Muss ich darüber sprechen?
RI weist BF 1 darauf hin, dass er über die Aussageverweigerungsgründe belehrt wurde.
BF 1: Das ist kein Problem, ich kann schon antworten. Sie lebt in XXXX . Ich habe zwei Tage in der Woche frei. An diesen Tagen besuche ich sie. Wir kochen und essen miteinander. Sie hat zwei Hunde. Mit diesen Hunden gehen wir spazieren. Wir schauen uns gemeinsam Filme an. Im Allgemeinen vergeht die Zeit so.
RI: Ist Ihre Freundin schwanger von Ihnen?
BF 1: Nein.
RI: Sind Sie in Österreich in Vereinen oder ehrenamtlich aktiv?
BF 1: Nein. Ich bin kein Mitglied und betätige mich auch nicht ehrenamtlich.
BF 2: Auch nicht.
RI: Was würden Sie in Österreich machen, wenn Sie hier bleiben könnten?
BF 1: In erster Linie werde ich schleunigst Deutsch lernen. Ich möchte meinen Führerschein umschreiben lassen. Ein Auto kaufen. Eine gute Arbeit finden.
BF 2: Ich möchte ein Restaurant eröffnen. Deutsch lernen. Ich habe mich bisher noch nicht schwer damit befasst, weil mein Aufenthalt hier noch nicht gesichert ist. Ich möchte ein schönes Auto kaufen. Und ich werde alles tun, um in Österreich ein schönes Leben zu haben.
RI: Sind Sie gesund und arbeitsfähig?
BF 1: Ja.
BF 2: Ja.
RI: Sind Sie derzeit wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in Österreich in medizinischer Behandlung oder nehmen Medikamente?
BF 1: Nein.
BF 2: Nein.
RI: Sind Sie in Österreich bisher straffällig geworden (Verwaltungsübertretung, gerichtliche Verurteilung oder derzeitig anhängiges Verfahren)?
BF 1: Ich habe keine Verurteilungen. Geldstrafen habe ich aber schon bezahlt. Nachgefragt, ich habe eine Zahlungsaufforderung idHv EUR 35,-- bekommen. Das habe ich zu spät bezahlt. Deshalb habe ich eine Strafe bezahlt. Nachgefragt, was er angestellt habe, ich habe nichts angestellt. Nachgefragt, warum er EUR 35,-- hätte bezahlen müssen, das ist meine Internetrechnung. Seit wir hier sind, hatten wir keine Vorfälle. Wir sind Personen, die die Vorschriften ernst nehmen.
BF 2: Nein.
RI: Die folgende Frage wird (ohne Dolmetscher) auf Deutsch gestellt und die Antwort wortwörtlich protokolliert:
RI: „Sprechen Sie Deutsch?“
BF 1: Ja, natürlich. Ich spreche Deutsch.
BF 2: Ja. Ich spreche Deutsch.
RI: „Wie sind Sie heute hierher zu Gericht gekommen?“
BF 1: Für Asyl. Ich bin Asyl für diese. Ich bin gekommen für Asyl.
BF 2: Ich Asyl, ich komme Gericht. (Anm.: BF 2 akustisch kaum zu verstehen)
RI: „Mit wem unterhalten Sie sich auf Deutsch?“
BF 1: Wie bitte? (Frage wird wiederholt) Ich verstehe.
BF 2: Nicht verstehen.
RI: „Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?“
BF 1: (auf Türkisch) Er fragt etwas über die Freizeit, aber ich weiß nicht, was er will. (auf Deutsch) Normalerweise ich kann sprechen. Aber mein Kurslehrer hat gesagt, du hast keine Grammatik. Und dann kann ich gut sprechen. Es ist natürlich in der Türkei ist Grammatik für mich schwer. Das ist für mich sehr schwer. Normalerweise ich spreche jeden Tag fix Deutsch. Im Hotel sprechen wir Handtuch und Bettwäsche tauschen und Abreise. Normalerweise im Hotel fix sprechen Deutsch. Das ist fix. Jeden Tag.
BF 2: (BF 2 schüttelt Kopf) (auf Türkisch) Fragt er mich, was ich in meiner Freizeit mache?
Die weitere Befragung erfolgt wieder mit Dolmetscher.
RI: Gibt es zu diesem Fragenkomplex (Integration, Leben in Österreich) Fragen des RV?
RV: Keine Fragen.
RI: Welche Ausbildung haben Sie im Herkunftsstaat genossen?
BF 1: Hauptschule. Nachgefragt, ich besuchte acht Jahre die Schule.
BF 2: Hauptschulabschluss, acht Jahre.
RI: Haben Sie in der Türkei einen Beruf erlernt?
BF 1: Ja, ich habe in vielen Berufen gearbeitet. Aber Schwerpunkt war Elektrik. Nachgefragt, ob der BF 1 den Beruf erlernt oder er nur in dem Beruf gearbeitet habe, gebe ich an, dass ich das nur erlernt habe, bei einem Bekannten.
BF 2: Ich bin Koch für türkische Gerichte. Nachgefragt, ob der BF 2 den Beruf offiziell erlernt habe, ich bin nicht in eine Schule gegangen, sondern habe sechs Jahre lang in einem Restaurant gearbeitet.
RI: Welche Berufserfahrung haben Sie im Herkunftsstaat gesammelt?
BF 1: Ich habe in einer Zigarettenfabrik im Labor gearbeitet. Und habe Erfahrung in Sachen Elektrik.
BF 2: Ich habe Erfahrung als Koch. Und habe in Gärten und auf Feldern gearbeitet.
RI: Wie würden Sie Ihre eigene wirtschaftliche Lage in der Türkei einschätzen?
BF 1: Wir sind oberhalb der Mittelschicht. Ich spreche jetzt von meiner Familie. Nachgefragt, wie er seine persönliche Lage einschätze, ich habe das auch für mich gesagt.
BF 2: Gleich. Das Vermögen der Familie gehört uns allen.
RI: Wer von Ihrer Familie bzw. Ihrer Verwandtschaft lebt noch im Herkunftsstaat und wo?
BF 1: Meine Eltern leben in unserem Haus in XXXX . Das ist ein zweigeschossiges Haus. Dort leben meine Eltern. Und ich habe zwei Brüder, eine Schwägerin und die Tochter von meinem Bruder. Mein älterer Bruder und die Schwägerin leben im Erdgeschoss, die anderen im Obergeschoss.
BF 2: Gleich wie mein Bruder.
RI: Haben Sie noch weitere Familienangehörige (Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen, etc.) in der Türkei?
BF 1: Ja, Natürlich. Nachgefragt, es sind viele.
BF 2: Gleich wie mein Bruder.
RI: Haben Sie seit der Ausreise Kontakt mit Familienangehörigen oder Verwandten in Ihrem Herkunftsstaat? Wann zuletzt und mit wem?
BF 1: Ich spreche am meisten mit meinen Eltern. Mit den Verwandten ist der Kontakt selten. Nachgefragt, ich spreche unterschiedlich oft mit meinen Eltern, ein bis zwei Mal pro Woche. Es ist ganz unterschiedlich. Manchmal spreche ich sogar täglich mit Ihnen.
BF 2: Ich habe Kontakt mit meiner Familie. Fünf Mal pro Woche.
RI: Wie geht es Ihren Angehörigen im Herkunftsstaat?
BF 1: Unterschiedlich, es gibt Arme, Mittelschicht, Reiche. Nachgefragt, ob meine Verwandten in der Türkei Probleme haben, meines Wissens nach nicht.
BF 2: Ich schließe mich der Aussage meines Bruders an.
RI: Wie alt sind Ihre Eltern und Brüder?
BF 1: Ich habe kein gutes Gedächtnis. Ein älterer Bruder ist 30 Jahre alt. Ein weiterer Bruder ist 33 Jahre alt. Mein jüngerer Bruder ist 24 Jahre alt, er ist hier und sitzt neben mir. Der andere jüngere Bruder ist 20 Jahre alt.
RI: Sie sprachen vorhin von zwei Brüdern in der Türkei. Hält sich der dritte Bruder auch in der Türkei auf?
BF 1: Ja.
RI: Wie alt sind Ihre Eltern?
BF 1: Ich weiß, dass meine Mutter 53 Jahre alt ist. Mein Vater ist ungefähr 65 Jahre alt. Mein Vater ist 1970 geboren.
RI: Wie alt sind Ihre Eltern und Brüder?
BF 2: Wie er gesagt hat: ein älterer Bruder ist 33 Jahre alt, der andere 30. Mein jüngerer Bruder ist 20 Jahre alt.
RI: Da nun ein dritter Bruder erwähnt wurde, gibt es noch weitere Geschwister, von denen ich noch nichts weiß?
BF 1: Die Geschwister haben wir vorhin ja schon angegeben.
RI: Ja, aber da erwähnten Sie zwei Brüder. Dann kam plötzlich ein dritter Bruder dazu.
BF 1: Ja, aber den anderen Bruder habe ich nicht erwähnt, weil er nicht im Haus wohnt.
RI: Gibt es jetzt noch weitere Geschwister oder sind wir fertig mit den drei Brüdern in der Türkei und dem BF 2?
BF 1: Es gibt drei Brüder in der Türkei und zwei in Österreich.
RI: Sind bei den beiden Brüdern in Österreich Sie mit eingerechnet?
BF 1: Hier sind mein Bruder und ich.
Die Verhandlung wird um 11:21 Uhr unterbrochen. Fortsetzung um 11:24 Uhr.
RI: Wie finanzieren Ihre Eltern und Brüder im Herkunftsstaat deren Lebensunterhalt?
BF 1: Mein Vater ist ein Pensionist und arbeitet zugleich. Aber nur fallweise. Der zweitälteste Bruder arbeitet in einer Fabrik. Der älteste Bruder arbeitet in einer anderen Fabrik. Wir haben ein Feld, damit bestreiten wir unseren Lebensunterhalt. Der jüngste Bruder arbeitet nicht, er wird bald zum Militärdienst gehen. Meine Mutter arbeitet nicht.
BF 2: Gleich wie mein Bruder. Mein Vater arbeitet nur fallweise.
RI: Wie würden Sie die wirtschaftliche Lage Ihrer Familie einschätzen?
BF 1: Gehobene Mittelschicht.
BF 2: Ich schließe mich an.
RI: Ist das oben genannte Haus in XXXX im Eigentum Ihrer Familie stehend oder gemietet?
BF 1: Das Haus gehört uns.
BF 2: Ich schließe mich an.
RI: Haben Sie vor Ihrer Ausreise auch dort gewohnt?
BF 1: Ja, ich habe dort gelebt.
BF 2: Ja.
RI: Können Sie mir Ihre Adresse im Heimatland bekanntgeben?
BF 1: XXXX mah. XXXX Sok. Nr XXXX , XXXX / XXXX
BF 2: Ich schließe mich an.
RI: Von welchem Ort im Heimatland haben Sie Ihre Ausreise begonnen?
BF 1: XXXX .
BF 2: XXXX .
RI: Wann war die Ausreise?
BF 1: Ich kann das Datum nicht so genau sagen, vielleicht weiß mein Bruder es besser.
BF 2: Das war zwischen 21. und 23. Oktober 2022.
RI: Erzählen Sie mir wie der Tag der Ausreise abgelaufen ist.
BF 1: Wir hatten türkisches Geld, das wir in Euro gewechselt haben. Also wir haben einen ganz normalen Tag erlebt. Mit dem Unterschied, dass wir wussten, dass wir das Land verlassen werden.
BF 2: Ich schließe mich an.
RI: Über welche Länder und mit welchen Transportmitteln kamen Sie von der Türkei nach Österreich?
BF 1: Wir sind nur mit einem Fahrzeug gekommen. Es war ein Sattelschlepper. Das Kennzeichen sah ich nicht. Ich weiß nicht, durch welche Länder wir gefahren sind.
BF 2: Ich schließe mich an.
RI: Erfolgte die Ausreise aus der Türkei legal oder illegal?
BF 1: Illegal.
BF 2: Illegal.
RI: Warum reisten Sie nicht legal aus?
BF 1: Wir sind irgendwie illegal ausgereist.
RI wiederholt die Frage.
BF 1: Wir hatten keine Chance, weil wir kein Visum hatten. Es musste schnell gehen. So verließen wir das Land.
RI: Warum reisten Sie nicht legal aus?
BF 2: Aufgrund unserer Probleme glaube ich, dass wir keinen Reisepass bekommen hätten, darum suchte ich gar nicht darum an.
Die Verhandlung wird um 11:35 Uhr unterbrochen. Fortsetzung um 11:38 Uhr.
RI: Hatten Sie ein konkretes Reiseziel anlässlich Ihrer Ausreise?
BF 1: Zuerst war Deutschland das Zielland, später haben wir uns entschlossen, hier zu bleiben.
BF 2: Genauso. Als wir nach Österreich gekommen sind, und Österreich in Europa ist, haben wir uns entschlossen hier zu bleiben.
RI: Warum wollten Sie anfangs gerade nach Deutschland?
BF 1: Wegen vieler Erzählungen. Nachdem Österreich ein vertrauenswürdiges und sicheres Land ist, haben wir uns entschlossen, hier zu bleiben.
BF 2: Ich schließe mich an.
RI: Gibt es zu diesem Fragenkomplex (persönlicher und familiärer Hintergrund, Reiseroute) Fragen des RV?
RV: Keine Fragen.
Um 11:39 Uhr wird der BF 2 ersucht, den Verhandlungssaal zu verlassen. Nach Abschluss der Befragung des BF 1 wird er aufgerufen.
Beginn der Befragung des BF 1 um 11:40 Uhr
RI: Haben Sie gegenüber der Polizei und dem BFA wahrheitsgemäß und vollständig ausgesagt, wurde alles richtig protokolliert und rückübersetzt?
BF 1: Also da war wahrscheinlich ein Missverständnis. Entweder habe ich es falsch erzählt oder der Dolmetscher verstand es falsch. Es ging um einen Panzer. Manche Sachen sind in der Niederschrift nur kurzgefasst worden, andere wurden gar nicht erwähnt.
RI: Meinen Sie damit, dass Sachen nicht niederschrieben wurden oder dass Sachen nicht angesprochen wurden?
BF 1: Es wurde darüber gesprochen, es wurde aber nicht niedergeschrieben. Oder es ist nicht voll übersetzt worden.
RI: Haben Sie das im Zuge der Rückübersetzung moniert?
BF 1: Ich hatte keine Rückübersetzung. Ich habe einfach ein Schreiben bekommen, das ich mir anzuschauen hatte. Manche Dokumente, die ich abgeben wollte, wurden nicht angenommen.
RI: Auf AS 97 werden die Rückübersetzung der Niederschrift sowie Ihre Bestätigung der Richtigkeit festgehalten.
BF 1: Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mir rückübersetzt wurde. Das ist schon lange her.
RI: Wie empfanden Sie die Einvernahmesituation beim BFA?
BF 1: Es war ruhig. Ich war nur schlaflos.
RI: Was war entscheidend dafür, dass Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben?
BF 1: Wie ich schon vorhin sagte: es geht um den Unfall meines älteren Bruders, welcher mit einem Motorrad gefahren ist und ein Panzer ihm von hinten aufgefahren ist. Mein Bruder stürzte. Er brach sich sein Bein. Nach seiner Genesung wollte mein Bruder eine Schadenersatzklage erheben. Wir haben diesen Fall gewonnen. Mein älterer Bruder hat dann einen Schadenersatz bekommen. Der Polizist wurde eine Zeitlang suspendiert. Mein jüngerer Bruder war damals um die 16 Jahre alt. Damals hatten wir keine Probleme, weil wir noch jung waren. Ab dem 18. Lebensjahr übte dieser Polizist, der das Ganze nicht verdaut hatte, Druck aus und drohte uns am Telefon. Das Ganze ist so ausgeweitet, sodass er mir und meinem jüngeren Bruder und dem älteren Bruder Schläge versetzt hat. Ich habe deshalb meine Stadt gewechselt. Das habe ich beim ersten Mal, bei meiner ersten Einvernahme, auch schon gesagt, das wurde aber nicht niedergeschrieben. Ich habe meine Stadt verlassen, bin nach XXXX und nach XXXX übersiedelt. Ich war da mit einem Cousin zusammen. Wir haben gemeinsam Elektrikerarbeiten verrichtet. Auch dort rief er uns an. Er sagte immer wieder, dass das Ganze nicht liegen wird. Sowohl in XXXX als auch in XXXX rief er uns an. Nachdem das nicht aufhörte, bin ich wieder zu meinen Eltern zurückgekehrt und habe dort in der Zigarettenfabrik zu arbeiten begonnen. Ich hatte eine 3-Schicht-Arbeit. Ich musste auch Nachts arbeiten. Ich musste zur Abholung gehen, um so zur Arbeit zu gelangen. Da wurde ich in einer dunklen Straße von diesem Polizisten aufgehalten. Er sagte mir, dass auch ich das zu bezahlen habe, was mein älterer Bruder getan hat. Er schlug mehrmals auf mich ein. Ich war deshalb im Krankenhaus und wollte einen Verletzungsbericht. Einen solchen bekam ich aber nicht.
RI: Welche konkreten Verfolgungshandlungen wurden wann von wem verwirklicht? Bitte um stichwortartige Schilderung. Mir geht es vor allem um eine zeitliche Einordnung.
BF 1: Als ich 16/17 Jahre alt war, war der Unfall. Erst ab meinem 18. Lebensjahr begann das Ganze.
RI: Wann wurden Sie erstmals bedroht, wann zuletzt?
BF 1: Das erste Mal war das im Jahr 2015 oder 2016. Zwischen November und Dezember. Zuletzt im November bis Dezember 2022. Wir sind für ihn nicht mehr erreichbar, weil unsere Telefonnummern sich geändert haben. Aber sie haben noch Kontakt zu uns nach Hause.
RI: Zu wievielen Bedrohungshandlungen kam es insgesamt?
BF 1: Das ist sehr schwer zu sagen, weil er manchmal ein oder zwei Jahre nichts gemacht hat. Aber er hat sich immer wieder in Erinnerung gebracht.
RI: Wann wurden Sie abgepasst und geschlagen?
BF 1: Das war, als ich wegen der Nachtschicht zum Serviceauto ging.
RI: Könnten Sie das datumsmäßig einordnen?
BF 1: Es dürfte 2018 gewesen sein.
RI: Gab es noch weitere körperliche Übergriffe gegen Ihre Person?
BF 1: Was das Physische anbelangt wurde ich geschlagen, aber es war auch ein psychischer Druck vorhanden.
RI: Also wurden Sie nur einmal geschlagen?
BF 1: Nein, mehrmals.
RI: Ich meine damit, ob es mehrere solche Vorfälle gab?
BF 1: Ja, es waren mehrere Vorfälle.
RI: Wie viele?
BF 1: Niemand zählt wie oft er geschlagen worden ist. Ich habe das nicht gezählt, aber psychisch war das sehr schwer.
RI: Wurden Sie jemals schwerer verletzt dabei?
BF 1: Einmal hatte ich einen gebrochenen Arm, ansonsten hatte ich blaue Flecken und Quetschwunden.
RI: Wann wurde Ihnen der Arm gebrochen?
BF 1: Ich weiß, dass das nach 2018 war.
RI: War der Täter jeweils der Polizist?
BF 1: Ja. Es war immer der Polizist. Er holte von seinen Freunden insoweit Hilfe, um zu erfahren, wo wir uns aufhalten.
RI: Haben Sie sich jemals an die Behörden gewandt, um Schutz zu finden?
BF 1: Ja, natürlich. Ich war bei der Polizei. Aber er hatte so viele Bekannte, wen ich will ich wo anzeigen? Und auch, wenn ich ihn angezeigt hätte, hätte er sein Verhalten fortsetzen können.
RI: Wann kam es zuletzt zu einem körperlichen Übergriff gegen Sie?
BF 1: Das dauerte bis zum Jahr 2022 an.
RI: Können Sie den Unfall noch genauer datumsmäßig einordnen?
BF 1: Ich weiß, dass das im Jahr 2012 war. Aber zu welchem Datum weiß ich nicht.
RI: Welcher Ihrer Brüder war vom Unfall betroffen?
BF 1: Mein ältester Bruder war mit seinem Freund an diesem Unfall beteiligt.
RI: Wie heißt dieser älteste Bruder?
BF 1: XXXX .
RI: Wo hält sich dieser Bruder derzeit auf?
BF 1: XXXX arbeitet in einer Fabrik. Er hat ein invalides Kind.
RI wiederholt die Frage
BF 1: Zu Hause. Nachgefragt, in der Türkei.
RI: Warum kann sich Ihre Familie, insbesondere der betroffene Bruder, im Herkunftsstaat aufhalten, Sie jedoch mussten ausreisen?
BF 1: Er hat eine Familie in der Türkei. Auch meine Eltern verkaufen jetzt das Haus, sie wollen auch woanders hinziehen. Mein Neffe ist invalide.
RI: Wo wollen Ihre Eltern hinziehen?
BF 1: In das Dorf meines Vaters in XXXX .
RI: Welche Folgen hatte der Unfall für den Unfallverursacher bzw. die Behörde?
BF 1: Es wurde ein bestimmter Betrag als Schadenersatz ausbezahlt. Die Höhe weiß ich aber nicht. Und der Polizist wurde zehn Monate vom Dienst suspendiert.
RI: Warum haben Sie vor der Polizei von einem Militärfahrzeug gesprochen, vor dem BFA aber von einem Polizeifahrzeug?
BF 1: Ich habe „Polizeifahrzeug“ gesagt, aber die anwesenden Personen meinten, ein Panzer müsse ein Militärfahrzeug sein. Aber auch die Polizei hat solche Fahrzeuge.
RI: Warum hat der BF 2 vor dem BFA vorgebracht, es sei kein Schmerzengeld an Ihren Bruder bezahlt worden, Sie aber brachten (und bringen) sehr wohl vor, Schmerzengeld wäre bezahlt worden?
BF 1: Ich glaube, er ist da etwas unachtsam. Es wurde bezahlt. Und er ist jünger als ich. Es kann sein, dass er sich nicht mehr daran erinnern.
RI: Wie erklären Sie mir, dass der BF 2 beim BFA gesagt hat, die Schikanen hätten den Zweck gehabt, dass eine Anzeige zurückgezogen wird, während Sie vorbrachten, es seien keine konkreten Forderungen gestellt worden?
BF 1: Der Polizist hat von uns nichts gefordert. Aber er hatte Wut, weil er nicht arbeiten konnte.
RI: Aber das liegt schon lange zurück, beinahe ein Jahrzehnt.
BF 1: Ja, stimmt. Aber manchmal war ein, zwei oder drei Jahre lang nichts. Aber dann brachte er sich wieder in Erinnerung. Zuletzt 2022.
RI: Welchen Zweck haben die Verfolgungshandlungen Ihrer Ansicht nach, wenn ich Sie das jetzt frage?
BF 1: Er wollte uns quälen. Er wollte uns seine Wut zeigen.
RI: Gab es ein konkretes fluchtauslösendes Ereignis?
BF 1: Wenn man mehrmals geschlagen wird, ist das Grund genug. Und auch ein ausreichender Grund.
RI: Gab es ein Ereignis, wegen dessen Sie gesagt haben „jetzt reicht es, jetzt müssen wir weg“?
BF 1: Diese Vorfälle waren dauernd bis 2022. Bis meine Eltern sagten, verlasst das Land.
RI: Warum reisten Sie nicht schon viel früher aus?
BF 1: Als er sich zwei Jahre lang nicht meldete, dachten wir, dass es vorbei sei.
RI: Welche konkrete Befürchtung verbinden Sie mit einer Rückkehr in die Türkei?
BF 1: Was soll noch passieren? Das kann bis zum Tod führen, wenn ich zurückkehre.
RI: Gibt es konkrete Hinweise, dass er Sie töten würde?
BF 1: Ja, die ganzen Schläge, die ich erhalten habe.
RI: Was genau spricht dagegen, dass Sie sich in einem anderen Landesteil der Türkei niederlassen?
BF 1: Ich war in XXXX und in XXXX . Auch mein Bruder war in vielen Städten. Aber er hat mich auch dort telefonisch erreicht. Das wurde ich auch in meiner Ersteinvernahme gefragt, warum ich nicht in eine andere Stadt verzogen bin. Ich sagte „Je weiter weg, desto besser“.
RI: Warum haben Sie nicht Ihre Telefonnummer gewechselt?
BF 1: Ich habe mehrmals meine Nummer gewechselt. Aber in der Türkei kann man sehr leicht Informationen einholen.
Die Verhandlung wird um 12:20 Uhr unterbrochen. Fortsetzung um 12:32 Uhr.
RI: Warum ist der Verfolger gerade hinter Ihnen und dem BF 2 her? Sie und Ihr Bruder sagten vorher unisono, Ihr Familie hätte keine Probleme.
BF 1: Natürlich sind meine Eltern auch psychisch dadurch belastet. Aber ich habe nicht direkt gesagt, dass sie keine Probleme hätten.
RI: S. 12 der VHS: „[…] Nachgefragt, ob meine Verwandten in der Türkei Probleme haben, meines Wissens nach nicht.“
BF: 1: Meinen Sie damit die Kernfamilie oder die Verwandten?
RI: Die Frage bezog sich gut erkennbar auf alle Verwandten.
BF 1: Ich kann sagen, dass meine Verwandten keine Probleme, aber die Kernfamilie schon.
RI: Was spricht dagegen, dass Sie aktuell wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren?
BF 1: Dieser Mann ist immer noch dort. Ich weiß, dass er nicht gestorben ist. Ich würde das nicht ertragen, wenn sich das Ganze wiederholen würde. Meine Eltern werden zwar nicht geschlagen, aber sie sind psychisch belastet.
RI: Gibt es sonst noch Gründe, außer jenen, die Sie schon vorgebracht haben, weshalb Sie nicht in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren könnten?
BF 1: Nein. Nach meiner Rückkehr kann ich nicht sagen, was passieren wird. Aber das kann bis zum Tode führen. Wenn ich die Garantie hätte, dass ich nicht sterben muss, würde ich morgen zurückkehren. Ich habe meine Eltern seit zwei Jahren nicht gesehen. Wer will das?
RI: Gibt es zu diesem Fragenkomplex (Fluchtvorbringen) Fragen des RV?
RV: Keine.
RI: Möchten Sie Beweisanträge stellen?
RV: Keine.
Verständigung mit Dolmetscher:
RI: Haben Sie den Dolmetscher gut verstanden?
BF 1: Ja.
RI: Gab es in der Verhandlung sonst irgendwelche Probleme mit dem Dolmetscher?
BF 1: Nein, keine Probleme.
Ende der Befragung des BF 1 um 12:37 Uhr
Aufruf des BF 2 um 12:38 Uhr
Beginn der Befragung des BF 2 um 12:39 Uhr
RI: Haben Sie gegenüber der Polizei und dem BFA wahrheitsgemäß und vollständig ausgesagt, wurde alles richtig protokolliert und rückübersetzt?
BF 2: Es wurde alles rückübersetzt. Aber die Dokumente, die wir abgeben wollten, wurden nicht angenommen. Ich wollte damals mein ärztliches Attest vorlegen. Das haben sie nicht angenommen. Und auch Grundbuchsauszüge. Zum Nachweis, dass ein Vermögen in der Türkei besteht.
RI: Einen Grundbuchsauszug halte ich auch für wenig verfahrensrelevant. Atteste und gerichtliche Dokumente wurden vorgelegt.
BF 2: Bezüglich des Unfalls wurden Unterlagen abgegeben. Aber die letzten Papiere, die wir jetzt unübersetzt abgegeben habe, das haben sie damals nicht angenommen.
RI: Das mag stimmen. Ich möchte damit sagen, dass diese Papiere im Beschwerdeverfahren abgegeben und übersetzt wurde. Oder fehlt noch etwas?
BF 2: Ich wollte damit sagen, dass diese Dokumente damals nicht abgegeben wurden. Sonst gibt es keine Unterlagen.
RI: Wie empfanden Sie die Einvernahmesituation beim BFA?
BF 2: Beim BFA ist das die erste Einvernahme?
RI: Nein, die große Einvernahme. Die zweite.
BF 2: In XXXX , oder?
RI: In XXXX waren Sie.
BF 2: Ja, in XXXX hatten wir eine Einvernahme. Es war ganz normal. Wir wurden befragt, wie wir hergekommen sind. Es verlief eigentlich gut. Uns wurde gesagt, dass wir die Unterlagen bei der nächsten Verhandlung abgeben können. Uns wurde gesagt, dass die Türkei ein sicheres Land sei und dass es für uns schwer sein werde. Sie sagten, in Syrien und Afghanistan gäbe es Kriege. In der Türkei nicht, die Türkei sei ein sicheres Land.
RI: Was war entscheidend dafür, dass Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben?
BF 2: Das war als ich das letzte Mal geschlagen wurde. Das war Ende 2020. Das dürfte am 7. oder 8. Dezember gewesen sein. Danach war ich beim Militärdienst. Danach haben mein Bruder und ich uns entschlossen, herzukommen.
RI: Was können Sie mir über diesen Vorfall im Dezember 2020 erzählen?
BF 2: Drei Personen brachten mich in den Garten und schlugen mich im Garten. Zwei Stunden lang hat das gedauert. Sie holten mich von meinem Stadtviertel. Sie hielten die Pistole gegen mich und weil ich nichts dagegen tun konnte, musste ich ins Fahrzeug einsteigen. Drei Personen, die ich nicht kenne, sagten, dass ich aussagen solle, dass mich Syrer geschlagen hätte, wenn ich gefragt werde. Und, dass ich alkoholisiert war, sollte ich sagen. Als ich im Krankenhaus war, wurde gesagt, dass ich keinen Alkohol getrunken habe.
RI: Bei der Polizei sagten Sie aber aus, Sie hätten Alkohol getrunken?
BF 2: Als ich geschlagen wurde, wurde mir gesagt, wie ich auszusagen habe.
RI: Warum wurden Sie im Dezember 2020 geschlagen?
BF 2: Ich schätze, dass dieser Polizist vorhat, uns in Unruhe zu versetzen. Ich habe sonst keine Feinde.
RI: Gibt es Hinweise darauf, dass dieser Polizist dahintersteckt?
BF 2: Ich habe nichts in der Hand, dass der Polizist dahintersteckt. Ich denke so. Aber ich habe keine Feinde. Ich erkläre mir das so, weil ich vorher schon bedroht wurde.
RI: Wie wurden Sie da bedroht?
BF 2: Telefonisch.
RI: Gab es bei der Drohung eine Bezugnahme auf einen derartigen körperlichen Übergriff?
BF 2: Er sagte am Telefon, dass er vom Dienst suspendiert wurde und dass er uns ein sehr schlechtes Leben bescheren werde.
RI: Im vorhin übersetzten polizeilichen Schriftstück wurde Folgendes festgehalten „Bezüglich des Vorfalles erhebe ich keine Beschwerde und Klage.“. Warum erheben Sie keine Beschwerde und keine Klage, wenn Sie zusammengeschlagen werden?
BF 2:
RI: Wurden Sie beim dem Vorfall verletzt?
BF 2: Ich musste das sagen, weil ich das nicht noch einmal erleben wollte. Sie bedrohten mich mit dem Umbringen. Sie sagten, dass sie das Gleiche auch einem anderen Familienmitglied antun könnten.
RI: Gab es noch weitere gegen Sie gerichtete Verfolgungshandlungen (Beschimpfungen, Drohungen, körperliche Übergriffe)?
BF 2: Drohungen waren immer, aber die Schläge nicht immer. Nachgefragt, wie viele körperliche Übergriffe es gegeben hätte, gebe ich an, nur einmal.
RI: Was können Sie mir über die Drohungen gegen Ihre Person erzählen?
BF 2: Vor diesem Vorfall?
RI: In erster Linie, ja.
BF 2: Er sagte uns, dass er uns den Weg abschneiden werde, wir ein sehr schlechtes Leben haben werden, er uns in Unruhe versetzen wird.
RI: Kam es nach dem Vorfall noch zu Drohungen?
BF 2: Danach war ich beim Militärdienst. Aber nach dem Militärdienst im Jahr 2021, es dürfte Dezember gewesen sein, hatte ich nochmals eine Bedrohung. Nachgefragt in welcher Form, gebe ich an, telefonisch, mir wurde gesagt, „wir werden dich das noch einmal erleben lassen, es ist noch nicht zu Ende“. Er hat uns bei jedem Telefonat bedroht. Aber nur ich wurde geschlagen.
RI: Also sonst wurde kein Bruder geschlagen?
BF 2: Ich war damals sehr jung, ich weiß nicht so genau Bescheid. Es kann sein, dass sie meinen ältesten Bruder auch geschlagen haben.
RI: Wann kam es zu den ersten, wann zu den letzten Drohungen?
BF 2: Ich war 18 Jahre alt, als ich erstmals bedroht wurde. Und die letzte Drohung war im Dezember 2021.
RI: Wie viele Drohungen gab es insgesamt?
BF 2: Es waren drei Drohungen und einmal wurde ich geschlagen.
RI: Wann genau war der Unfall?
BF 2: 2012.
RI: Welcher Ihrer Brüder war vom Unfall betroffen?
BF 2: XXXX .
RI: Wo hält sich dieser Bruder derzeit auf?
BF 2: In der Türkei, er hat ein behindertes Kind.
RI: Warum kann sich Ihre Familie, insbesondere der betroffene Bruder, im Herkunftsstaat aufhalten, Sie jedoch mussten ausreisen?
BF 2: Er hat nur ein Kind und dieses Kind ist behindert, deshalb kann er das Land nicht verlassen.
RI: Welche Folgen hatte der Unfall für den Unfallverursacher bzw. die Behörde?
BF 2: Der Polizist wurde suspendiert. Mein Bruder war damals im Krankenhaus. In seinem Herz wurde ein Loch festgestellt. Mein Bruder hat Anzeige erstattet.
RI: Warum haben Sie vor der Polizei allgemeine politische Probleme Ihres Bruders sowie Rassismus vorgebracht, aber nicht, dass es Probleme wegen eines Unfalls gegeben hätte?
BF 2: Wir haben ja die Unterlagen über den Unfall vorgelegt. Wir haben das schon erzählt. Politische Probleme haben wir das deshalb gesagt, weil uns ein einzelner Polizist nicht so viele Probleme machen kann. Es muss der Staat hinter ihm stehen.
RI: Warum haben Sie vor dem BFA vorgebracht, es sei kein Schmerzengeld an Ihren Bruder bezahlt worden, der BF 1 brachte aber sehr wohl vor, Schmerzengeld wäre bezahlt worden?
BF 2: Habe ich nicht gesagt, Schmerzengeld wurde bezahlt? Ich weiß darüber nicht so genau Bescheid.
RI: Wie erklären Sie mir, dass Sie vor dem BFA gesagt haben, die Schikanen hätten den Zweck gehabt, dass eine Anzeige zurückgezogen wird, während der BF 1 vorbrachte, es seien keine konkreten Forderungen gestellt worden?
BF 2: Gegenüber meinem ältesten Bruder wurden Drohungen ausgesprochen insofern, dass er seine Anzeige zurückzieht. Er wurde aufgefordert, seine Anzeige zurückzuziehen. Das war während des Verfahrens. Nachher kamen dann die Drohungen.
RI: Welchen Zweck haben die Verfolgungshandlungen Ihrer Ansicht nach, wenn ich Sie das jetzt frage?
BF 2: Der Polizist hatte Wut gegen uns. Weil er suspendiert wurde und nun keine Arbeit mehr hat. „Ihr habt mein Leben versaut und ich werde euer Leben versauen“.
RI: Ihr Bruder sagte, der Polizist wäre nur 10 Monate suspendiert gewesen.
BF 2: Aber er ist kein Polizist mehr.
RI: Warum verfolgt man Sie und Ihren Bruder nach so vielen Jahren noch?
BF 2: Weil er von seinem mehrjährigen Dienst entfernt wurde.
RI: Gab es ein konkretes fluchtauslösendes Ereignis?
BF 2: Das waren die Schläge, die ich bekommen habe. Danach haben mein Bruder und ich unseren Plan gemacht und verließen das Land im Oktober 2022. Davor habe ich meinen Militärdienst abgeschlossen.
RI: Warum reisten Sie nicht schon früher aus, zB direkt nach den Schlägen?
BF 2: Wir haben gar nicht daran gedacht, ins Ausland auszureisen. Erst nachdem die Familie uns das empfohlen hat, haben wir uns dazu entschlossen.
RI: Welche konkrete Befürchtung verbinden Sie mit einer Rückkehr in die Türkei?
BF 2: Sie haben mich mit dem Tode bedroht. Es wurde mir mit einer Pistole auf den Kopf geschlagen. Mir wurde ein Fußtritt in die Kehle versetzt. Ich war im Gesicht voller Blut. Ich habe Angst davor, dass sie diese Tat wiederholen werden.
[…]
RI: Sie sagten gerade eben, der Verfolger wäre kein Polizist mehr. Davor sagten Sie Folgendes aus: „Wir haben das schon erzählt. Politische Probleme haben wir das deshalb gesagt, weil uns ein einzelner Polizist nicht so viele Probleme machen kann. Es muss der Staat hinter ihm stehen.“. Aus dieser Angabe kann man schließen, dass ein aktiver Polizist, der vom Staat gedeckt wird, Sie verfolgt. Können Sie diesen – möglicherweise scheinbaren – Widerspruch auflösen?
BF 2: Er hat früher den Dienst für den Staat geleistet und alle seine Freunde sind immer noch im Dienst. Er holt sich Hilfe von seinen Freunden.
RI: Was genau spricht dagegen, dass Sie sich in einem anderen Landesteil der Türkei niederlassen?
BF 2: Ich war in anderen Städten in der Türkei z.B. in XXXX , XXXX und XXXX .
RI: Warum ist der Verfolger gerade hinter Ihnen und dem BF 1 her? Sie und Ihr Bruder sagten vorher unisono, Ihr Familie hätte keine Probleme.
BF 2: Nein, sie bedrohen auch die Familie.
RI: Was spricht dagegen, dass Sie aktuell wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren?
BF 2: Er es kann sein, dass sich die Tat wiederholt und es besteht Todesgefahr.
RI: Gibt es sonst noch Gründe, außer jenen, die Sie schon vorgebracht haben, weshalb Sie nicht in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren könnten?
BF 2: Nein, nur das, was ich erzählt habe.
RI: Gibt es zu diesem Fragenkomplex (Fluchtvorbringen) Fragen des RV?
RV: Keine Fragen.
RI: Möchten Sie Beweisanträge stellen?
RV: Nein.
Verständigung mit Dolmetscher:
RI: Haben Sie den Dolmetscher gut verstanden?
BF 2: Ja.
RI: Gab es in der Verhandlung sonst irgendwelche Probleme mit dem Dolmetscher?
BF 2: Nein.
Ende der Befragung des BF 2 um 13:44 Uhr
[…]“
11. Am 13.11.2024 legte der BF1 dem BVwG - entsprechend seiner Ankündigung in der mündlichen Verhandlung - ein Referenzschreiben seines Arbeitgebers sowie einen Auszug aus seinem aktuellen Mietvertrag vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Auf Grund des sachlichen und persönlichen Zusammenhanges wurden die Verfahren der BF gem. § 39 Abs 2 AVG zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
1.1. Die Identitäten der BF stehen fest. Bei ihren Personen handelt es um türkische Staatsangehörige, die Brüder sind und im Hinblick auf ihren Namen und ihr Geburtsdatum jeweils die im Spruch gesondert ausgewiesenen Datensätze führen. Sie gehören der kurdischen Volksgruppe an und sind islamischen Glaubens, im Übrigen ledig und kinderlos. Sie beherrschen Türkisch in Wort und Schrift.
Bis zur (schlepperunterstützten und somit illegalen) Ausreise im Oktober 2022 lebten die BF gemeinsam in der Stadt und gleichnamigen Provinz XXXX in einem Haus, welches im Eigentum deren Eltern steht. Dort absolvierten sie auch ihre Primarschulbildung, erwarben über die Hauptschule hinaus jedoch keinen Abschluss. Anschließend traten die BF ins Erwerbsleben ein. Der BF1 wurde - ohne eine vollwertige Berufsqualifikation zu erlangen - als Elektriker praktisch angelernt und fand zudem Beschäftigung als Mitarbeiter in einem Unternehmen zur Herstellung von Tabakprodukten vor. Der BF2 war ca. vier oder sechs Jahre lang als Koch tätig, nachdem er sich zuvor als Aushilfskraft in der Landwirtschaft seines Vaters eingebracht hatte.
1.2. Die BF verfügen im Herkunftsstaat - neben den Eltern - jeweils über drei (volljährige) Brüder sowie ein umfangreiches Netz an entfernter Verwandtschaft in Person mehrerer Onkel und Tanten sowie Cousinen und Cousins. Die Angehörigen der BF sind mit keinen Problemen konfrontiert und gesellschaftlich, insbesondere beruflich und/oder im Hinblick auf ihre Vermögensverhältnisse (Einkommen, Immobilien, Wohnraum etc.), gut situiert. Sie gehören der gehobenen finanziellen Mittelschicht in der Türkei an und stehen mit den BF in laufendem Kontakt.
1.3. Die BF sind körperlich und geistig gesund und bedürfen keiner Medikation.
1.4. Die BF hatten vor ihrer Ausreise keine Nachteile aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit, ihres Religionsbekenntnisses, ihres politischen Hintergrundes oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu gewärtigen.
1.5. Vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat waren die BF auch keiner individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe oder Privatpersonen ausgesetzt. Den BF droht im Falle einer Rückkehr in deren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ihnen droht auch keine anderweitige individuelle Gefährdung, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie bewaffneten Auseinandersetzungen oder terroristische Anschläge in ihrer Herkunftsregion.
Die BF verließen ihren Herkunftsstaat im Oktober 2022 und gelangten auf dem Landweg illegal - über von Schleppern bereitgestellten Mitfahrgelegenheiten in einem Sattelzugfahrzeug - nach Österreich, wo sie schließlich am 23.10.2022 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten.
Die BF werden im Falle einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion (bzw. einer Rückkehr in die Türkei im Allgemeinen) keiner individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt und auch keiner anderweitigen asylrelevanten Bedrohung ausgesetzt sein. Die BF wurden nicht von Privatpersonen oder staatlichen Organen mit dem Tod oder dem Eintreten anderer (schutzrelevanter) Nachteile bedroht. Im Fall einer Rückkehr werden sie wiederum in den Familienverband integriert werden. XXXX ist (ebenso wie sämtliche andere Regionen der Türkei) ohne die maßgebliche Wahrscheinlichkeit eintretender sicherheitsrelevanter Vorfälle erreichbar.
1.6. Die BF sind in die Gesellschaft ihres Herkunftsstaates integriert. Dort verfügen die BF über eine gesicherte Existenzgrundlage, insbesondere über eine unentgeltliche Wohnmöglichkeit bei ihren Eltern, sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in ihrer Herkunftsregion in Gestalt der Eltern und dreier Brüder und/oder entfernterer Angehöriger. Zumindest zu ihrer nahen Verwandtschaft pflegen die BF regelmäßigen Kontakt. Die BF werden nach erfolgter Rückkehr zumindest kurzfristig die Unterstützung ihrer Eltern bzw. Brüder in Anspruch nehmen und einer Arbeit nachgehen oder Transferleistungen in Anspruch nehmen können. Im Übrigen werden die BF im Stande sein, selbst für ihren Lebensunterhalt Sorge zu tragen.
1.7. Die BF halten sich spätestens seit 23.10.2022 in Österreich auf. Sie reisten unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein, sind seither als Asylwerber im Bundesgebiet aufhältig und verfügen über keine anderen Aufenthaltstitel.
Die BF beziehen gegenwärtig keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung, sondern gehen bzw. gingen seit 05.08.2023 (BF1) bzw. von 05.08.2023 bis 31.05.2024 (BF2), von 03.06.2024 bis 10.06.2024 (BF2) und nunmehr laufend seit 23.01.2025 (BF2) legalen Erwerbstätigkeiten als Arbeiter nach. Der BF2 war zudem von 18.07.2024 bis 04.12.2024 arbeitslos gemeldet und beanspruchte in diesem Zeitraum entsprechende Transferleistungen des AMS. Die BF beziehen aktuell von einer Mietwohnung in XXXX aus einen gemeinsamen Wohnsitz und sind aktuell selbsterhaltungsfähig.
Die BF schlossen keinen Deutsch- bzw. Integrationskurs ab und sind in deutscher Sprache nur marginal (BF1) bzw. gar nicht (BF2) kommunikationsfähig.
In Österreich leben keine Familienangehörigen der BF. In der Bundesrepublik Deutschland halten sich zwei Onkel ihrer Personen auf; die BF haben zu diesen allerdings keinen Kontakt.
Ihre Freizeit verbringen die BF mit diversen Unternehmungen mit Sozialkontakten sowie in türkischen Kaffeehäusern.
Die BF verfügen im Bundesgebiet über keinen maßgeblichen Freundeskreis.
Die BF führen in Österreich keine relevanten Liebesbeziehungen.
Sie sind auch nicht in Vereinen oder ehrenamtlich engagiert.
Im Übrigen sind die BF strafrechtlich unbescholten; verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen sind ebensowenig aktenkundig.
1.8. Der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Der Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von damit zusammenhängenden zivilrechtlichen Ansprüchen notwendig. Die BF wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
1.9. Zur Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen getroffen:
Politische Lage
Letzte Änderung 2024-09-27 15:25
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) unzufrieden und nach deren erneutem Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 desillusioniert. Ursache sind v. a. der durch die hohe Inflation verursachte Kaufkraftverlust, welcher durch Lohnzuwächse und von der Regierung im Vorfeld der Wahlen 2023 beschlossene Wahlgeschenke nicht nachhaltig kompensiert werden konnte, die zunehmende Verarmung von Teilen der Bevölkerung, Rückschritte in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die fortschreitende Untergrabung des Laizismus. Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Laut einer aktuellen Studie möchten fast 82 % das Land verlassen und im Ausland leben. Während die vorhergehende Regierung keinerlei Schritte unternahm, die Unabhängigkeit der Justizbehörden und eine objektive Ausgabenkontrolle wiederherzustellen, versucht die neue Regierung zumindest im wirtschaftlichen Bereich Reformen durchzuführen, um den Schwierigkeiten zu begegnen. Die Gesellschaft ist – maßgeblich aufgrund der von Präsident Erdoğan verfolgten spaltenden Identitätspolitik – stark polarisiert. Insbesondere die Endphase des Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 war von gegenseitigen Anschuldigungen und Verbalangriffen und nicht von der Diskussion drängender Probleme geprägt. Selbst die wichtigste gegenwärtige Herausforderung der Türkei, die Bewältigung der Folgen der Erdbebenkatastrophe, trat in den Hintergrund (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4f.; vgl. Migrationsverket 9.4.2024, S. 8f.).
Die Opposition versucht, die Regierung durch Kritik am teilweise verspäteten Erdbeben-Krisenmanagement und in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen, und förderte die in breiten Bevölkerungsschichten zunehmend migrantenfeindliche Stimmung. Die Gesellschaft bleibt auch, was die irreguläre Migration betrifft, stark polarisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 5; vgl. EC 8.11.2023, S. 12, 54, WZ 7.5.2023).
Die türkische Gesellschaft ist nach wie vor entlang ethnischer, politischer und religiöser Bruchlinien tief gespalten. Während die Kurdenfrage eine der Spaltungslinien ist (Kurden gegen Türken), sind die Türken auch politisch (konservative Nationalisten gegen Modernisten) und religiös (sunnitische Islamisten gegen Säkularisten) gespalten. In den letzten Jahren hat der spaltende Diskurs der politischen Elite zu einer weiteren Trennung und tiefen Polarisierung zwischen dem Lager der Erdoğan-Befürworter und seinen Gegnern beigetragen. Umfragen der Kadir-Has-Universität (Januar 2022) bestätigen, dass 40,6 % der Bevölkerung der Meinung sind, dass es eine politische Polarisierung gibt - im Vergleich zu 55,9 % im Jahr zuvor (BS 19.3.2024, S. 18). Das hat auch mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagieren ein "stolzes Türkentum". Islamischen Wertvorstellungen wird zusehends mehr Gewicht verliehen. Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpfen um ihr Dasein (WZ 7.5.2023). Angesichts des Ausganges der Wahlen im Frühjahr 2023 stellte das Europäische Parlament (EP) überdies hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Verfasstheit des Landes fest, dass nicht nur "rechtsextreme islamistische Parteien als Teil der Regierungskoalition ins Parlament eingezogen sind", sondern das EP war "besorgt über das zunehmende Gewicht der islamistischen Agenda bei der Gesetzgebung und in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, unter anderem durch den wachsenden Einfluss des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) im Bildungssystem" und "über den zunehmenden Druck der Regierungsstellen sowie islamistischer und ultranationalistischer Gruppen auf den türkischen Kultursektor und die Künstler in der Türkei, der sich in letzter Zeit darin zeigt, dass immer mehr Konzerte, Festivals und andere kulturelle Veranstaltungen abgesagt werden, weil sie als kritisch oder "unmoralisch" eingestuft wurden, um eine ultrakonservative Agenda durchzusetzen, die mit den Werten der EU unvereinbar ist" (EP 13.9.2023, Pt. 17).
Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 29.2.2024). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 8.11.2023, S. 4, 12; vgl. EP 13.9.2023, Pt. 9, WZ 7.5.2023).
Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl. DE/Aydas 31.12.2022, Güney 1.10.2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl.Esen/Gumuscu 19.2.2016).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser implizit negativ auf Demokratie und Grundrechte aus, denn einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumten, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert. Einige dieser Bestimmungen wurden um weitere zwei Jahre verlängert, aber die meisten jener sind im Juli 2022 ausgelaufen (EC 8.11.2023, S. 12). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022a). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR. Der türkische Rechtsrahmen enthält beispielsweise allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 8.11.2023, S. 6).
Das Europäische Parlament kam im September 2023 in Hinblick auf die Beitrittsbemühungen der Türkei zum Schluss, "dass die türkische Regierung kein Interesse daran hat, die anhaltende und wachsende Kluft zwischen der Türkei und der EU in Bezug auf Werte und Standards zu schließen, da die Türkei in den letzten Jahren klar gezeigt hat, dass ihr der politische Wille fehlt, um die notwendigen Reformen durchzuführen, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit, die Grundrechte und den Schutz und die Inklusion aller ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten" (EP 13.9.2023, Pt. 21).
Das Präsidialsystem
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 20.5.2024, S. 5; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 14).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 1.4.2021, S. 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 19.3.2024, S. 38). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55). In einer weiteren Entschließung vom September 2023 erklärte sich das Europäische Parlament "tief besorgt über die fortwährende übermäßige Machtkonzentration beim türkischen Präsidenten ohne wirksames System von Kontrollen und Gegenkontrollen, durch die die demokratischen Institutionen des Landes erheblich geschwächt wurden; [und] betont, dass die fehlende Eigenständigkeit auf mehreren Verwaltungsebenen aufgrund der extremen Abhängigkeit vom Präsidenten bei allen Arten von Entscheidungen und der Alleinherrschaft eines einzigen Mannes ein dysfunktionales System zur Folge haben kann" (EP 13.9.2023, Pt.20).
Machtfülle des Staatspräsidenten
Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7). Die gesetzgebende Funktion des Parlaments wird durch die häufige Anwendung von Präsidialdekreten und Präsidialentscheidungen eingeschränkt. Das Fehlen einer wirksamen gegenseitigen Kontrolle und die Unfähigkeit des Parlaments, das Amt des Präsidenten wirksam zu überwachen, führen dazu, dass dessen politische Rechenschaft auf die Zeit der Wahlen beschränkt ist. Die öffentliche Verwaltung, die Gerichte und die Sicherheitskräfte stehen unter dem starken Einfluss der Exekutive. Die Präsidentschaft übt direkte Autorität über alle wichtigen Institutionen und Regulierungsbehörden aus (EC 8.11.2023, S. 13-15; vgl.EP 19.5.2021, S. 20/ Pt. 55).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art. 8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 1.4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, S. 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab der Armee, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S. 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck und es mangelt ihr an Unabhängigkeit (EC 8.11.2023, S. 10f., 65).
Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen. - Von Jänner bis Dezember 2022 nahm das Parlament 80 von 749 vorgeschlagenen Gesetzen an. Demgegenüber wurden im selben Zeitraum 273 Präsidialdekrete, die im Rahmen des Ausnahmezustands zu einer Vielzahl von politischen Themen (einschließlich sozioökonomischer Fragen) erlassen wurden, den Parlamentsausschüssen vorgelegt (EC 8.11.2023, S. 13). Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7) und zwar nur durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 1.4.2021, S. 9). Das Parlament verfügt nicht über die erforderlichen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Ordentliche Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle. Die im Rahmen des Ausnahmezustands erlassenen Dekrete des Präsidenten jedoch müssen dem Parlament zur Genehmigung vorgelegt werden (EC 8.11.2023, S. 14).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).
Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57).
Monitoring des Europarates
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (CoE-PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).
Präsidentschaftswahlen
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit (seit der Verfassungsänderung 2017) einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 7). - Am 10.3.2023 rief der Präsident im Einklang mit der Verfassung und im Einvernehmen mit allen politischen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für den 14.5.2023 aus (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 4; vgl.PRT 10.3.2023).
Da keiner der vier Präsidentschaftskandidaten am 14.5.2023 die gesetzlich vorgeschriebene absolute Mehrheit für die Wahl erreichte, wurde für den 28.5.2023 eine zweite Runde zwischen den beiden Spitzenkandidaten, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und dem von der Opposition unterstützten Kemal Kılıçdaroğlu, angesetzt (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). In der ersten Runde verfehlte Amtsinhaber Erdoğan mit 49,5 % knapp die notwendige absolute Stimmenmehrheit, gefolgt von Kılıçdaroğlu mit 44,9 % und dem Ultranationalist Sinan Oğan mit 5,2 %, der kurz vor der Stichwahl eine Wahlempfehlung für Erdoğan abgab (Zeit Online 22.5.2023).
Die am 28.5.2023 abgehaltene Stichwahl bot laut der internationalen Wahlbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Beteiligung von Wahlbeobachtern der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) den Wählern und Wählerinnen die Möglichkeit, zwischen echten politischen Alternativen zu wählen. Die Wahlbeteiligung war wie im ersten Wahlgang hoch, doch wie schon in der ersten Runde verschafften eine einseitige Medienberichterstattung und das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen dem Amtsinhaber einen ungerechtfertigten Vorteil. Die Wahlverwaltung hat die Wahl technisch effizient durchgeführt, aber es mangelte ihr weitgehend an Transparenz und Kommunikation. In dem gedämpften, aber dennoch kompetitiven Wahlkampf konnten die Kandidaten ihren Wahlkampf frei gestalten. Die härtere Rhetorik, hetzerische und diskriminierende Äußerungen beider Kandidaten sowie die anhaltende Einschüchterung und Schikanierung von Anhängern einiger Oppositionsparteien untergruben jedoch den Prozess (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Diesbezüglicher "Höhepunkt" waren Fake News von Erdoğan. - Dieser zeigte während einer Wahl-Kundgebung eine Videomontage, in der es so aussah, als würden PKK-Führungskräfte das Wahlkampflied der größten Oppositionspartei CHP singen (Duvar 7.5.2023; DW 23.5.2023) und Kılıçdaroğlu an den PKK-Kommandanten, Murat Karayilan, appellieren: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen" ARD 28.5.2023; vgl. DW 23.5.2023). In Folge wurde die Manipulation von Erdoğan zugegeben (ARD 28.5.2023; vgl. DS 24.5.2023), obgleich er in einem Fernsehinterview sagte, dass es ihm gewissermaßen egal sei, ob das Video manipuliert wurde oder nicht (DW 23.5.2023). Dies hielt Erdoğan nicht davon ab, unmittelbar vor der Präsidenten-Stichwahl abermals "offenkundige Absprachen" zwischen Kılıçdaroğlu und PKK-Terroristen in den Kandil-Bergen zu behaupten (DS 24.5.2023).
In einem Umfeld, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, haben sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Medien bei ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf keine redaktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleistet, was die Fähigkeit der Wähler, eine fundierte Wahl zu treffen, beeinträchtigt hat (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Amtsinhaber Erdoğan gewann die Stichwahl mit rund 52 %, während sein Herausforderer, Kılıçdaroğlu, knapp 48 % gewann. Während Kılıçdaroğlu in den großen Städten, wie Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Adana, im Südosten (mit seiner mehrheitlich kurdischen Bevölkerung) und den Mittelmeer-Provinzen gewann, dominierte Erdoğan den Rest des Landes, vor allem Zentralanatolien, die Schwarzmeerküste, aber auch vom Erdbeben betroffene Provinzen wie Hatay, Gaziantep, Adıyaman oder Şanlıurfa (AnA 29.5.2023; vgl. Politico 29.5.2023,taz 10.4.2023).
Das Parlament
Der Rechtsrahmen bietet nicht in vollem Umfang eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen. Die noch unter dem Kriegsrecht verabschiedete Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht in ausreichendem Maße, da sie sich auf Verbote zum Schutz des Staates konzentriert und Rechtsvorschriften zulässt, die weitere unzulässige Einschränkungen mit sich bringen. Die Mitglieder des 600 Sitze zählenden Parlaments werden für eine fünfjährige Amtszeit [zuvor vier Jahre] nach einem Verhältniswahlsystem in 87 Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Vor der Wahl sind Koalitionen erlaubt, aber die Parteien, die in einer Koalition kandidieren, müssen individuelle Listen einreichen. Im Einklang mit einer langjährigen Empfehlung der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats wurde mit den Gesetzesänderungen von 2022 die Hürde für Parteien und Koalitionen, um in das Parlament einzuziehen, von 10 % auf 7 % gesenkt (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S. 6f.).
Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattgefundenen Parlamentswahlen erhielt die "Volksalliance" unter Führung der AKP mit 49 % der Stimmen eine absolute Mehrheit der 600 Parlamentsitze. - Die AKP gewann hierbei 268 (35,6 %), die ultranationalistische MHP 50 (10,1 %) und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei - Yeniden Refah Partisi (YRP) fünf Sitze (2,8 %). Das Oppositionsbündnis "Allianz der Nation" unter der Führung der säkularen, sozialdemokratisch ausgerichteten CHP erlangte 35 %, wobei die CHP 169 (25,3 %) und die nationalistische İYİ-Partei 43 Sitze (9,7 %) errang. Aus dem Bündnis mehrerer Linksparteien unter dem Namen "Arbeit und Freiheitsallianz" schafften die Links-Grüne Partei - Yeşil Sol Parti (YSP) mit künftig 61 (8,8 %) und die "Arbeiterpartei der Türkei" -Türkiye İşçi Partisi (TİP) mit vier Abgeordneten den Sprung ins Parlament (TRT 2023; vgl. BBC 22.5.2023). Das Ergebnis wurde am 30.5.2023 mit dem Entscheid des Obersten Wahlrates amtlich (YSK 30.5.2023).
Duvar 18.5.2023
In der neu gewählten Nationalversammlung sitzen zusätzlich Vertreter und Vertreterinnen mehrer Kleinparteien, welche auf den Listen der AKP, der CHP und er YSP standen. So entfallen von den 268 Sitzen der AKP vier auf die kurdisch-islamistische Partei der Freien Sache, Hür Dava Partisi - HÜDA-PAR und ein Sitz auf die Demokratische Linkspartei, Demokratik Sol Parti - DSP. Von den 149 Mandaten der CHP gehören 14 der Partei für Demokratie und Fortschritt, Demokrasi ve Atılım Partisi - DEVA [des ehemaligen Wirtschaftsministers Ali Babacan], zehn der Zukunftspartei, Gelecek Partisi - GP [des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu] und weitere zehn der islamisch-konservativen Partei der Glückseligkeit, Saadet Partisi -SP und drei der Demokratischen Partie, Demokrat Parti - DP. Über die CHP-Liste bekam die ansonsten eigenständig kandidierende İYİ-Partei zu ihren 43 Sitzen noch einen Sitz dazu. Über die LIsten der Links-Grünen Partei erhielten die Partei der Arbeit, Emek Partisi - EMEP zwei sowie die Partei der Sozialen Freiheit, Toplumsal Özgürlük Partisi - TÖP eines der YSP-Mandate [Anm.: die Zahl der YSP von 63 in der Grafik entspricht nicht jener des amtlichen Wahlresultats von 61 Mandataren] (Duvar 18.5.2023, vgl. BIRN 19.5.2023), was mit den übrigen 58 YSP die offiziellen 61 Parlamentarier ergibt (BIRN 19.5.2023).
Einen Monat vor der Wahl zog die HDP ihre Kandidatur als Partei aufgrund des seit 2021 Verbotsverfahrens gegen sie zurück und stellte ihre Kandidaten auf die Liste der mit ihr verbündeten Kleinpartei YSP zu den Wahlen (taz 10.4.2023; vgl. AJ 11.5.2023).
Die Parlamentswahlen fanden inmitten einer erheblichen Polarisierung und eines intensiven Wettbewerbs zwischen den Regierungs- und den Oppositionsparteien statt, die unterschiedliche politische Programme zur Gestaltung der Zukunft des Landes vertraten. Während des Wahlkampfs wurden die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Allgemeinen respektiert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. Vertreter der YSP sahen sich durchgängig Druck und Einschüchterungen ausgesetzt, die sich gegen ihre Wahlkampfveranstaltungen und Unterstützer richteten und zu systematischen Festnahmen führten. So leitete der Generalstaatsanwalt von Diyarbakır am 10.4.2023 eine Untersuchung aller Reden ein, die auf einer YSP-Kampagnenveranstaltung gehalten wurden, um festzustellen, ob irgendwelche Reden "terroristische Propaganda" enthielten. Darüber hinaus wurden einige weitere Fälle von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung beobachtet, die sich gegen Oppositionsparteien, Kandidaten und Unterstützer richteten (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 1, 13).
Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt. - Der politische Pluralismus wurde weiterhin dadurch untergraben, dass die Justiz Oppositionsparteien und einzelne Parlamentsabgeordnete, insbesondere der HDP, wegen angeblicher Terrorismusdelikte ins Visier nahm. Das System der parlamentarischen Immunität bietet den Oppositionsabgeordneten keinen ausreichenden Rechtsschutz, um ihre Ansichten innerhalb der Grenzen der Meinungsfreiheit zu äußern. Bis zum Ende der 27. Legislaturperiode (2018-2023) belief sich die Gesamtzahl der Abgeordneten, gegen die ein Beschluss über die parlamentarische Immunität und ein Antrag auf Aufhebung ihrer Immunität vorlag, auf 206 (180 von ihnen gehörten der parlamentarischen Opposition an). Allerdings wurde während des Berichtszeitraums der Europäischen Kommission (Juni 2022 - Juni 2023) weder einem bzw. einer Abgeordneten die Immunität entzogen noch wurde er bzw. sie wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Zwei ehemalige HDP-Ko-Vorsitzende und mehrere ehemalige HDP-Abgeordnete befinden sich trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu ihren Gunsten immer noch im Gefängnis [Stand: Februar 2024] (EC 8.11.2023, S. 13-14); vgl.CoE-PACE 22.4.2021, S. 2f). Drei Abgeordnete der HDP hatten ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus verloren (CoE-PACE 22.4.2021, S. 2f). - Der EGMR hatte am 1.2.2022 entschieden, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der HDP, unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität aufgehoben hatte (BIRN 1.2.2022). - Das Europäische Parlament "missbilligt[e] das gezielte Vorgehen gegen politische Parteien und Mitglieder der Opposition, die zunehmend unter Druck geraten" und "erklärt[e] sich besorgt darüber, dass die Unterdrückung und die Verfolgung der politischen Opposition nach den jüngsten Wahlen aufgrund der schlechter werdenden wirtschaftlichen Lage des Landes zunehmen werden" (EP 13.9.2023, Pt. 13). Das Verfahren zum Verbot der HDP wegen Terrorismusvorwürfen, einschließlich des Ausschlusses von 451 HDP-Mitglieder von politischer Betätigung sind weiterhin vor dem Verfassungsgericht anhängig [Stand: Februar 2024] (EC 8.11.2023, S. 14).
Die Demokratische Partei der Völker - HDP, die aufgrund des laufenden Verbotsverfahrens vor dem Verfassungsgericht von der Schließung bedroht war, nahm an den Parlamentswahlen vom 14.5.2023 unter den Listen der Links-Grünen Partei - YSP teil. Am 27.8.2023 stellte die HDP auf ihrem vierten außerordentlichen Kongress ihre Aktivitäten ein und beschloss, den politischen Kampf unter dem Dach der YSP fortzusetzen. Die YSP wiederum hielt ihren vierten großen Kongress am 15.10.2023 ab und änderte ihren Namen in Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker - Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi - HEDEP (Bianet 16.10.2023; vgl. FES 7.12.2023, S. 6). Der Kassationsgerichtshof entschied, die Abkürzung HEDEP nicht zuzulassen, weil sie eine zu große Ähnlichkeit mit der verbotenen Vorgängerpartei HADEP aufwies (FES 7.12.2023; vgl. Bianet 24.11.2023). Am 11.12.2023 änderte HEDEP ihre Abkürzung in DEM-Partei, nachdem der Kassationsgerichtshof eine Änderung aufgrund der Ähnlichkeit mit der geschlossenen Partei für Volksdemokratie (HADEP) gefordert hatte. Der vollständige neue Name der Partei wurde nicht geändert. Das Wort "Demokratie" im Parteinamen wurde verwendet, um die Abkürzung zu bilden (Duvar 11.12.2023; vgl. TM 11.12.2023).
Kommunalwahlen
Am 31.3.2024 haben in der Türkei Kommunalwahlen stattgefunden. Diese waren insofern von Bedeutung, da 20 % aller Beschäftigten der Türkei allein in Istanbul leben und dort mehr als die Hälfte der landesweiten Exporte und Importe abgefertigt werden. Außerdem stehen Istanbul und die Hauptstadt Ankara gemeinsam mit den Städten Izmir, Adana, Muğla und Antalya für fast die Hälfte der Wirtschaftsleistung des Landes (DW 1.4.2024). - Erstmals seit ihrer Gründung 2001 wurde die islamisch-konservative Partei AKP von Präsident Erdoğan mit 35,5 % nur zweitstärkste Kraft. Die oppositionelle CHP kam landesweit auf 37,7 %. Sie gewann in 21 Städten und 14 Großstädten unter anderem in Istanbul, Ankara, Izmir, Bursa, Adana und Antalya. Sie übernahm auch einige ehemalige AKP-Hochburgen in Anatolien. Im Südosten der Türkei gewann die pro-kurdisch DEM-Partei, Nachfolgerin der HDP, zehn Provinzen (BPB 22.5.2024; vgl. DW 1.4.2024, Jacobin 23.4.2024). Die CHP wurde zum ersten Mal seit 1977 wieder die führende Partei im Land. Sie baute ihre Regierungskontrolle von 22 auf 35 Provinzen aus. In den kurdischen Gebieten war die Niederlage der AKP noch deutlicher. Sie verlor beispielsweise in Muş und Ağri an die DEM-Partei (Jacobin 23.4.2024). Die Kommunalwahlen haben deutlich gemacht, dass die AKP vor einigen Entscheidungen steht, die nicht mehr lange aufgeschoben werden können. Sollte es weder zu einer vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahl noch zu einer Verfassungsänderung kommen, wird dies die letzte Amtszeit von Staatspräsident Erdoğan sein. Die Wahl hat außerdem gezeigt, dass mit der Neuen Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah Partisi - YRP) von Fatih Erbakan eine islamisch-konservative Partei entstanden ist, die für die AKP-Basis eine Alternative darstellt (FES 11.7.2024, S. 4). Die YRP wurde in der Provinz Şanliurfa stärkste Partei (Jacobin 23.4.2024). Laut Experten war die angespannte wirtschaftliche Lage entscheidend für das schlechte Abschneiden der AKP. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 konnten Erdoğan die AKP noch viele Wahlgeschenke an die Pensionisten, Rentner und die Wirtschaft machen. Dieses Mal war dies angesichts der leeren Staatskassen nicht mehr möglich (DW 1.4.2024).
Eingriffe in die lokale Demokratie
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S. 15).
Bis Juni 2023 wurden auf der Basis dieses Dekrets in 65 Gemeinden, die die HDP bei den Kommunalwahlen 2019 gewonnen hatte, 48 gewählte Bürgermeister durch staatlich bestellte Treuhänder ersetzt, und weitere sechs gewählte Bürgermeister durch Bürgermeister der AK-Partei ersetzt. Seit der ersten Ernennung von Treuhändern im Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister verhaftet und 39 Bürgermeister inhaftiert [arrested]. Sechs HDP-Bürgermeister sitzen weiterhin im Gefängnis [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-Bürgermeister bzw Ko-Bürgermeisterin. - Das gilt ebenso für Führungspositionen in der Partei.] (EC 8.11.2023, S. 19). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, S. 13).
Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt, ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister/ Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Art. 45) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).
Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S. 13). Derzeit befinden sich 5.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 8.11.2023, S. 14).
Siehe auch die Kapitel: Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition sowie Sicherheitslage / Gülen- oder Hizmet-Bewegung.
Quellen
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Sicherheitslage
Letzte Änderung 2024-10-15 10:49
Akteure der Sicherheitsbedrohung
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den Islamischen Staat (IS) (AA 20.5.2024, S. 4; vgl. USDOS 30.11.2023, Crisis 24 25.8.2023) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16; vgl. USDOS 30.11.2023, Crisis 24 25.8.2023) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 20.5.2024, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).
Höhepunkt der Terroranschläge und bewaffneter Aufstände 2015-2017
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2024, S. 32f.). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022b). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage und zum Thema Binnenflüchtlinge das Unterkapitel: Flüchtlinge / Binnenflüchtlinge (IDPs).
Aktuelle Entwicklungen und Lage
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (MBZ 18.3.2021, S. 12). Zwischen 2026 und 2023 stieg die Gewaltrate allmählich im gesamten Nordirak sowie in Nordsyrien an, wo sich die Eskalation zwischen den türkischen Sicherheitskräften, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), der syrischen Schwesterorganisation der PKK, verschärfte. Die Eskalation innerhalb der Türkei hingegen ging in diesem Zeitraum deutlich zurück (ICG 8.1.2024).
Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 8.11.2023, S. 50). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023a), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Bergregionen im Südosten des Landes (MBZ 2.3.2022, S. 13). Die Lage im Südosten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge und ist in der Grenzregion prekär, insbesondere nach den Erdbeben im Februar 2023. Die türkische Regierung hat zudem grenzüberschreitende Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und Syrien durchgeführt, und in den Grenzgebieten besteht ein Sicherheitsrisiko durch terroristische Angriffe der PKK (EC 8.11.2023, S. 4, 18). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK und der TAK, in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis 24 24.11.2022). Die Berichte der türkischen Behörden deuten zudem darauf hin, dass die Zahl der PKK-Kämpfer auf türkischem Boden zurückgegangen ist (MBZ 31.8.2023, S. 16).
Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Berichte, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat. Die PKK verübte weiterhin Anschläge auf Zivilisten; die Regierung bemühte sich weiterhin, solche Angriffe zu verhindern (USDOS 22.4.2024, S. 3, 24). Die Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 3.5.2024), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK mit Drohnenangriffen im Nordirak, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend auch im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten und von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), wo die Angriffe der Türkei im Oktober 2023 kritische Infrastrukturen beschädigten und die Wasser- und Stromversorgung von Millionen von Menschen unterbrachen. Die Türkei hält weiterhin Gebiete in Nordsyrien besetzt, wo ihre lokalen syrischen Vertreter ungestraft die Rechte der Zivilbevölkerung verletzen (HRW 11.1.2024). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 22.4.2024, S. 24). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 3.5.2024).
NZZ 18.1.2024 (Karte von Ende November 2021)
Zuletzt kam es im Dezember 2023 und Jänner 2024 zu einer Eskalation. - Am 12.1.2024 wurden bei einem Angriff der PKK auf eine türkische Militärbasis im Nordirak neun Soldaten getötet. Ende Dezember 2023 waren bei einer ähnlichen Aktion zwölf Armeeangehörige ums Leben gekommen. Die türkische Regierung berief umgehend einen Krisenstab ein und holte, wie stets in solchen Fällen, zu massiven Vergeltungsschlägen aus. Bis zum 17.1.2024 waren laut Verteidigungsministerium mehr als siebzig Ziele durch Luftangriffe zerstört worden. Die Türkei beschränkte ihre Vergeltungsaktionen nicht auf den kurdischen Nordirak, sondern griff auch Positionen der SDF sowie Infrastruktureinrichtungen im Nordosten Syriens an. Ankara betrachtet die SDF und vor allem deren wichtigste Einheit, die kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten (YPG), als Arm der PKK und somit als Staatsfeind (NZZ 18.1.2024; vgl. RND 14.1.2024).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2023 242 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 173 bewaffnete Kämpfer, 69 Angehörige der Sicherheitskräfte, jedoch keine Zivilisten (İHD/HRA 23.8.2024, S. 2). Das waren deutlich weniger als in der İHD-Zählung von 2022 als 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten den Tod fanden (İHD/HRA 27.9.2023b). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum Dezember 20.9.2024 7.119 (4.763 PKK-Kämpfer, 1.491 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.055], aber auch 304 Polizisten und 132 sogenannte Dorfschützer - 639 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen (ICG 20.9.2024).
Quelle: ICG 20.9.2024
Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 8.11.2023, S. 18). Hierzu bekräftigte das Europäische Parlament im September 2023 neuerlich (nach Juni 2022), "dass die Wiederaufnahme eines verlässlichen politischen Prozesses, bei dem alle relevanten Parteien und demokratischen Kräfte an einen Tisch gebracht werden, dringend erforderlich ist, um sie friedlich beizulegen; [und] fordert die neue türkische Regierung auf, sich durch die Förderung von Dialog und Aussöhnung in diese Richtung zu bewegen" (EP 13.9.2023, Pt. 16).
Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 13.9.2024; vgl. EDA 3.5.2024). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis 24 24.11.2022). Die Maßnahmen der Sicherheitskräfte gegen die PKK betreffen in unverhältnismäßiger Weise kurdische Gemeinschaften. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen. - Ausgangssperren und Verbote öffentlicher Versammlungen, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die Operationen gegen die PKK und die Militäroperation des Landes in Nordsyrien verhängt wurden, schränkten die Bewegungs- und Meinungsfreiheit ebenfalls ein. (USDOS 22.4.2024, S. 24, 42, 68).
2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AlMon 20.4.2022). Der damalige Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26.9.2022 das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, AN 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (AN 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AlMon 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AlMon 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (AnA 18.11.2022). Anfang Oktober 2023 kam es zu einem Bombenanschlag in Ankara. Ein Selbstmordattentäter hatte sich im Zentrum der Hauptstadt in die Luft gesprengt. Ein zweiter Täter wurde nach Angaben des Innenministeriums erschossen. Der Angriff richtete sich gegen den Sitz der Polizei und gegen das Innenministerium, die sich in einem Gebäudekomplex in der Nähe des Parlaments befinden. Bei einem Schusswechsel im Anschluss an die Explosion wurden zwei Polizisten leicht verletzt. Die PKK bekannte sich zu dem Anschlag (DW 1.10.2023b; vgl. Presse 4.10.2023). Nach dem Anschlag kam es zu landesweiten Polizei-Razzien in 64 Provinzen. Offiziellen Angaben zufolge wurden 928 Personen wegen illegalen Waffenbesitzes und 90 Personen wegen mutmaßlicher PKK-Mitgliederschaft verhaftet (AJ 3.10.2023). Die Zahl erhöhte sich hernach auf 145 (Alaraby 3.10.2023).
Das türkische Parlament stimmte im Oktober 2023 einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP), inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt, waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vgl. AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).
Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023
Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei für drei Monate in Kraft (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). - Dieser endete im Mai 2023 (JICA 23.8.2023). - Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).
Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind" (ANF 9.2.2023; vgl. FR24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023). - Die PKK verkündete, die neuen Angriffswellen der türkischen Sicherheitskräfte beklagend, Mitte Juni 2023 das Ende ihres einseitigen Waffenstillstands (SBN 14.6.2023; vgl. ANF 14.6.2023).
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Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Letzte Änderung 2024-10-09 10:45
Die marxistisch orientierte Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê - PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27). Zu den Kernforderungen der PKK gehören eine kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung für die Kurden in ihren Siedlungsgebieten in der Türkei, aber auch im Nordirak und im Norden Syriens an. Hierzu bedient sich die PKK des bewaffnet geführten Kampfes, zu dem ihr Gründer Abdullah Öcalan bereits 1984 aufgerufen hat (BMIH 18.6.2024, S. 267). Maßgeblich bleibt hierbei allein die von den Führungskadern vorgegebene Parteilinie (BMIH/BfV 20.6.2023, S. 241; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27). Daneben konzentrieren sich die politischen Forderungen der PKK auf die Freilassung ihres seit 1999 inhaftierten Gründers Abdullah Öcalan respektive auf die Verbesserung seiner Haftbedingungen (BMIH/BfV 7.6.2022, S. 259; vgl. PKK 7.10.2021). Trotz seiner seit 1999 fortbestehenden Inhaftierung in der Türkei ist Öcalan weiterhin die unumstrittene Führungs- und Symbolfigur innerhalb der PKK (BMIH 18.6.2024, S. 267).
Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21).
Die PKK ist laut deutschem Verfassungsschutz streng hierarchisch aufgebaut und auf ihre Führungsspitze hin ausgerichtet. Die Strukturen in Europa sind nahtlos in den PKK-Aufbau eingegliedert und setzen die von der PKK-Führungsspitze vorgegebenen Ziele ohne eigenverantwortlichen Entscheidungsspielraum um (BMIH 18.6.2024, S. 268).
Zu weiteren aktuellen Zahlen und Details siehe das Kapitel: Sicherheitslage
2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess", bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (i. e. Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien (gegen den Islamischen Staat) brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27f.). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Aktionen der Exekutive gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 1.6.2016). Der sog. Lösungsprozess wurde von Staatspräsident Erdoğan für gescheitert erklärt. Ab August 2015 trug die PKK den bewaffneten Kampf in die Städte des Südostens: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu versperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 28).
Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 21.7.2024 4.695 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe. - Mitte 2023 gaben die türkischen Behörden an, dass seit der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten im Juli 2015 fast 40.000 Militante "neutralisiert" wurden (entweder getötet, gefangen genommen oder sich ergeben haben) (ICG 21.7.2024). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen "Adlerklaue" und "Tigerkralle" gegen PKK-Stellungen im Nordirak (BMIBH 15.6.2021, S. 261).
Beispiele für rezente Vorfälle und Verhaftungen
Drei Wochen vor den Parlaments- und Präsidentenwahl (14.5.2023) startete die türkische Polizei einen sogenannten Anti-Terror-Einsatz. In 21 Provinzen wurden 110 Personen gefasst, die der verbotenen Kurden-Organisation PKK nahestehen sollen (DW 25.4.2023; vgl. Standard 25.4.2023). Am 9.2.2023 verkündete die PKK angesichts des Erdbebens in der Türkei einen einseitigen temporären Waffenstillstand (ANF 9.2.2023; vgl. FR24 10.2.2023). Mitte Juni, allerdings, beendete die PKK den Waffenstillstand mit dem Argument neuerlicher türkischer Militäroperationen (TDP 15.6.2023). Die PKK hatte sich Anfang Oktober zu einem Selbstmordanschlag in der Nähe des türkischen Parlaments in Ankara bekannt (DW 1.10.2023a). Staatliche Medien melden landesweit 145 Verhaftungen in Reaktion auf das Attentat in Ankara. Darüber hinaus erfolgten Luftangriffe auf PKK-Ziele im Nordirak (Spiegel 3.10.2023; vgl. Alaraby 3.10.2023). Laut Jahresbilanz des Innenministeriums sollen 2023 insgesamt 1.022 PKK-Terroristen neutralisiert worden sein (HDN 13.6.2024). Und das Verteidigungsministerium gab Mitte September 2024 bekannt, dass seit 1.1.2024 im Nordirak und in Syrien der "neutralisierten Terroristen" sich auf 2.013 beläuft, davon 1.017 im Irak und 996 in Nordsyrien (DS 19.9.2024).
Mitte Jänner 2024 gab Innenminister Ali Yerlikaya bekannt, dass 165 Verdächtige, die mit der PKK in Verbindung stehen, bei landesweiten Operationen unter dem Namen "Heroes-43" festgenommen wurden. In Istanbul wurden zudem weitere 20 Verdächtige aus dem Frauennetzwerk der PKK verhaftet (DS 16.1.2024a; vgl. BNN 16.1.2024). Unter den Festgenommenen befanden sich allerdings auch Mitglieder der Friedensmütter, einer Gruppe von Frauen, die sich für Frieden und ein Ende des bewaffneten Konflikts in der Region einsetzen. Die Liste der Inhaftierten umfasste auch Aktivisten, Mitglieder politischer Parteien - wie beispielsweise der Partei der Demokratischen Regionen - DEM-Partei (Nachfolgerin der HDP) - Künstler und mehrere Personen, die der Verbreitung terroristischer Propaganda beschuldigt wurden (BNN 16.1.2024). - Bei einem Einsatz gegen die PKK unter der Bezeichnung "Gürz-8" wurden im August 2024 in 36 Provinzen 222 Verdächtige festgenommen (TRT Haber 17.8.2024; vgl. Rudaw 17.8.2024). Und im September 2024 verkündete Innenminister Yerlikaya die Festnahme von 33 Verdächtigten, die mit der PKK in Verbindung stehen im Rahmen der Operation "Gürz-13" in zwölf türkischen Städten (DS 9.9.2024).
Zu Beispielen zu Verhaftungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern und PKK-Unterstützern aus 2022 siehe vormalige Versionen der Länderinformationen Türkei.
In einem Interview mit dem türkischen Internetportal T24 am 18.7.2022 sagte Selahattin Demirtaş, ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP und seit November 2016 inhaftiert, dass die PKK ihre Waffen niederlegen sollte. Demirtaş dementierte zudem, dass die HDP ein verlängerter Arm, Sprecherin oder Unterstützerin der PKK sei. Allerdings sah Demirtaş auch zwei Hindernisse, die einen Friedensprozess blockieren: einerseits das Beharren der türkischen Regierung auf Waffengewalt statt Verhandlungen, und andererseits die Isolationshaft des PKK-Chefs und -Gründers Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali (BZ 18.7.2022; vgl. T24 18.7.2022).
In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit "gefällt mir" markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 28).
Die PKK als nicht-staatlicher Verfolger
Die PKK setzt Einschüchterungen ein, wodurch das Recht auf freie Meinungsäußerung und andere verfassungsmäßige Rechte im Südosten des Landes eingeschränkt werden. Einige Journalisten, Vertreter politischer Parteien und Einwohner berichteten über Druck, Einschüchterung und Drohungen, wenn sie sich gegen die PKK aussprachen oder die Sicherheitskräfte der Regierung lobten (USDOS 22.4.2024, S. 35).
Die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK)
Anfang der 2000er-Jahre versuchte die PKK sich neue Organisationsformen zu geben, begleitet von zahlreichen Umbenennungen, an deren Ende die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK), stand. 2005 gab sich die PKK im Rahmen des sogenannten KCK-Abkommens diese neue Organisationsform. Die Kontinuität PKK - KCK wurde im Abkommen festgeschrieben, wodurch jeder, der im Rahmen des KCK-Systems tätig ist, auch die ideologischen und moralischen Maßstäbe der PKK anwenden muss. So gesehen ist die KCK die ideologische und organisatorische Ummantelung der PKK (Posch 10.2.2016, S. 140f.). Bei der KCK handelt es sich um einen kurdischen Dachverband, dem neben der PKK auch ihre Schwesterparteien im Irak, im Iran und in Syrien sowie verschiedene gesellschaftliche Gruppen angehören (BMIBH 15.6.2021, S. 261, FN 92). Die Türkei hat in den letzten Jahren zahlreiche kurdische Politiker, Aktivisten und Journalisten wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur KCK inhaftiert und verurteilt (Rudaw 3.10.2021). Dieser Trend setzte sich fort. So wurden beispielsweise im Oktober 2021 im sog. KCK-Yüksekova-Fall von einem Gericht in Hakkâri 30 Personen wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu Haftstrafen zwischen acht Jahren und neun Monaten und 17,5 Jahren verurteilt (Bianet 4.10.2021; vgl. WKI 5.10.2021). Zu 17,5 Jahren wurde Remziye Yaşar, die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Yüksekova aus den Reihen der HDP, verurteilt (Rudaw 3.10.2021; vgl. TM 2.10.2021). Am 25.1.2022 wurde der Ko-Vorsitzende der HDP des Bezirks Iskenderun, Abdurrahim Şahin, wegen "Propaganda für eine illegale Organisation" zu zwei Jahren und einem Monat verurteilt (TİHV/HRFT 26.1.2022).
Quellen
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Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Letzte Änderung 2024-10-15 13:18
Allgemeine Situation der Rechtsstaatlichkeit und des Justizwesens
Der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit der Justiz ist eines der größten Probleme in der Türkei. Die Exekutive bzw. die Regierung übt eine erhebliche Kontrolle über die Justiz aus und mischt sich häufig in gerichtliche Entscheidungen ein, wodurch die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz immer weiter zurückgedrängt werden. Die Justiz ist nach wie vor ein zentrales Instrument der Regierung, um die Opposition zum Schweigen zu bringen und Andersdenkende zu inhaftieren (BS 19.3.2024, S. 12f.; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 11f., CAT 14.8.2024, S. 11). Die Justiz ist der Einmischung der Regierung ausgesetzt, auch bei der Untersuchung und Verfolgung größerer Korruptionsfälle (USDOS 22.4.2024, S. 58).
2022 zeigte sich das Europäische Parlament in einer Entschließung "weiterhin besorgt über die fortgesetzte Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, die mit der abschreckenden Wirkung der von der Regierung in den vergangenen Jahren vorgenommenen Massenentlassungen sowie öffentlichen Stellungnahmen von Personen in führender Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren verbunden sind, wodurch die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die allgemeine Fähigkeit der Justiz, bei Menschenrechtsverletzungen wirksam Abhilfe zu schaffen, geschwächt werden [und] stellt mit Bedauern fest, dass diese grundlegenden Mängel bei den Justizreformen nicht in Angriff genommen werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. AI 29.3.2022a). Nicht nur, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz verschlechtert hat, mangelt es ebenso an Verbesserungen des Funktionierens der Justiz im Ganzen (EC 12.10.2022, S. 23f.; vgl. EC 8.11.2023, S. 23, USDOS 22.4.2024, S. 1, 11f.). Am 13.9.2023 bekräftigte das Europäische Parlament uneingeschränkt den Inhalt seiner vormaligen Entschließung, dass die "dargestellte desolate Lage in Bezug auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit nach wie vor unverändert ist" (EP 13.9.2023, Pt. 8).
Bei der Anwendung des EU-Besitzstands und der europäischen Standards im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte befindet sich die Türkei laut der Europäischen Kommission (EK) noch in einem frühen Stadium. Laut EK kam es sogar zu Rückschritten (EC 8.11.2023, S. 23). In diesem Zusammenhang betonte die Präsidentin der "Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés (MEDEL)", der Vereinigung der Europäischen Richter für Demokratie und Freiheit, Mariarosaria Guglielmi, im Juni 2023, dass die türkischen Bürgerinnen und Bürger aufgrund der jahrelangen Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, des harten Zugriffs der politischen Mehrheit auf den Obersten Justizrat und der Massenverhaftungen und Prozesse gegen Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte derzeit keinen wirksamen gerichtlichen Schutz ihrer Grundrechte genießen. Diese Situation wird durch die Anwendung der Anti-Terror-Gesetzgebung noch verschärft, die zu einem mächtigen Instrument für die Verfolgung von Oppositionellen und all jenen, die unrechtmäßig verhaftet wurden, durch die Justiz geworden ist (MEDEL 23.6.2023).
Das im April 2023 verabschiedete siebente Reformpaket beinhaltet einige positive Schritte. Allerdings wurden viele strukturelle Probleme im Justizsystem bislang nicht angegangen. Somit kam es insgesamt zu keiner nennenswerten Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit. Die in der Justiz vorherrschenden Probleme ergeben sich nicht aus fehlenden rechtlichen Regelungen, sondern im Vollzug der Gesetze. Grundprobleme bleiben die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte sowie problematische, vage und weit auslegbare Bestimmungen, v. a. im Strafrecht und im Bereich der Anti-Terror-Gesetzgebung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 19). Die Korrektur der Anti-Terror-Gesetzgebung stand im Zentrum des achten Reformpaketes, welches im März 2024 in Kraft trat. - Die umstrittenste Bestimmung des Pakets betraf nämlich den Straftatbestand der "Begehung von Straftaten im Namen einer terroristischen Vereinigung, ohne deren Mitglied zu sein", der in Artikel 220/6 des türkischen Strafgesetzbuchs (TCK) geregelt war, aber im September 2023 vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben worden war. In der Begründung für seine einstimmige Entscheidung erklärte das Verfassungsgericht, dass die Bestimmung "nicht klar und vorhersehbar genug ist, um willkürliche Praktiken von Behörden zu verhindern, und nicht den Kriterien der Rechtmäßigkeit entspricht" (EI 4.4.2024; vgl. AI 29.2.2024, S. 1, MLSA 23.2.2024). Darüber hinaus argumentierte das Gericht, dass "wenn die begangene Straftat im Zusammenhang mit der Ausübung von Grundrechten steht, die weite Auslegung aufgrund der Unbestimmtheit des Begriffs im Namen einer Organisation eine abschreckende Wirkung auf die Ausübung von Grundrechten wie der Meinungsfreiheit, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit oder der Religions- und Gewissensfreiheit hat". Die Änderung von Artikel 220/6 trägt allerdings den bereits bestehenden Bedenken in Bezug auf Klarheit und Vorhersehbarkeit zum besseren Schutz der Menschenrechte von Personen, die einer Straftat beschuldigt werden, nicht in vollem Umfang Rechnung, da der vorgeschlagene Artikel nach wie vor keine klaren Kriterien dafür enthält, wann die Begehung einer Straftat im Namen einer bewaffneten Organisation unter Strafe gestellt werden kann, und somit keine auf internationalen Standards basierenden Garantien gegen willkürliche Eingriffe durch staatliche Behörden bietet (AI 29.2.2024, S. 2f.). Das heißt, mit dem Justizreformpaket 2024 wurde die Vorschrift über die "Begehung von Straftaten im Namen einer Organisation, ohne Mitglied zu sein", trotz vorhergehender Aufhebung und des Auftrages durch das Verfassungsgericht an den Gesetzesgeber innert vier Monaten die Mängel im Gesetzestext zu beheben, unverändert übernommen. Die gleiche Bestimmung gilt auch für "bewaffnete kriminelle Organisationen" gemäß Artikel 314 des Strafgesetzbuches (MLSA 23.2.2024).
Laut der offiziellen Statistik des türkischen Justizministeriums für das Jahr 2021 wurden 7.059 Strafurteile gem. Art. 220 und 44.042 gem. Art. 314 des Strafgesetzbuches (Gesetz Nr. 5237) gefällt. 3.057 wurden nach Art. 220 und 18.816 nach Art. 314 zu Haftstrafen verurteilt. 1.912 (Art. 220) bzw. 12.093 (Art. 314) fielen in die Kategorie sonstigen Verurteilungen. 7.098 Angeklagte nach Artikel 220 und 17.970 nach Artikel 314 wurden freigesprochen [der Rest fällt in diverse andere Kategorien, welche hier nicht speziell angeführt werden]. 2021 gab es nach dem Anti-Terror-Gesetz (Gesetz Nr. 3713) 2.892 Verurteilungen, davon 1.149 Haftstrafen und 210 bedingte Haftstrafen. Die Zahl der sonstigen Verurteilungen von Angeklagten vor Strafgerichten nach dem Anti-Terror-Gesetz betrug 751 (MoJ - GDJR&S 2022, S. 95, 98, 102, 112, 154, 157, 163, 166, 181, 184; S. 63, 113, 122, 140, 158, 167).
Faires Verfahren
Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2023 betrafen von den 72 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 17 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 1.2024). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9).
Bereits im Juni 2020 wies der damalige Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan [Anm.: am 21.3.2024 aus dem Amt geschieden], darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 16).
Einschränkungen für den Rechtsbeistand
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 20.5.2024, S. 12; vgl. AI 26.10.2020). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11).
Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019). Ein jüngstes, prominentes Beispiel hierfür:
In seinem Urteil vom 6.6.2023 in der Rechtssache Demirtaş und Yüksekdağ Şenoğlu [seit November 2016 in Haft] gegen die Türkei entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrheitlich (mit 6 gegen 1 Stimme), dass ein Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf eine rasche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) vorliegt. Die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP beschwerten sich darüber, dass sie keinen wirksamen Rechtsbeistand erhalten hatten, um gegen ihre Untersuchungshaft zu klagen, da die Gefängnisbehörden ihre Treffen mit ihren Anwälten überwacht und die mit ihnen ausgetauschten Dokumente beschlagnahmt hatten. Der EGMR war der Ansicht, dass die nationalen Gerichte keine außergewöhnlichen Umstände dargelegt hatten, die eine Abweichung vom Grundprinzip der Vertraulichkeit der Gespräche der Beschwerdeführer mit ihren Rechtsanwälten rechtfertigen könnten, und dass die Verletzung des Anwaltsgeheimnisses den Beschwerdeführern einen wirksamen Beistand durch ihre Rechtsanwälte im Sinne von Artikel 5 § 4 der Konvention vorenthalten hatte. In Anbetracht der in seinen früheren Urteilen getroffenen Feststellungen war der Gerichtshof außerdem der Ansicht, dass es nicht möglich war, das Vorliegen solcher Umstände nachzuweisen, da der Gerichtshof das Argument der türkischen Regierung vormals zurückgewiesen hatte, dass sich die Beschwerdeführer wegen terrorismusbezogener Straftaten in Untersuchungshaft befunden hätten. Schließlich stellte das Gericht fest, dass die nationalen Behörden keine detaillierten Beweise vorgelegt hatten, die die Verhängung der angefochtenen Maßnahmen gegen die Kläger im Rahmen des Notstandsdekrets Nr. 676 rechtfertigen könnten. Das Gericht entschied, dass die Türkei den Klägern jeweils 5.500 Euro an immateriellem Schaden und zusammen 2.500 Euro an Kosten und Auslagen zu zahlen hat (ECHR 6.6.2023).
Verfolgung von Strafverteidigern bei Terrorismusverfahren
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 20.3.2023 S. 11, 19). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (USDOS 20.3.2023, S. 11; vgl. TT/Perilli 2.2021, S. 41, HRW 13.1.2021). Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 15). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben (AI 26.10.2020). Im Mai (2023) erklärte der damalige Innenminister Soylu: "Wenn die Anwälte der PKK eingesperrt werden, dann wird es in der Türkei keine PKK mehr geben. Sie sind das Ziel ... Die PKK vergiftet die Türkei über die Anwälte" (USDOS 22.4.2024, S. 9).
Siehe, insbesondere zum sog. Kobanê-Prozess, auch das Unterkapitel: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition
Geheime bzw. anonyme Zeugen
Das Thema der geheimen Zeugenaussagen kam mit dem 2008 verabschiedeten Zeugenschutzgesetz auf der Tagesordnung. Trotz dutzender Skandale fällen die Gerichte nach wie vor Urteile auf der Grundlage der Aussagen anonymer bzw. geheimer Zeugen, bzw. sehen diese kritisch als ein politisches Instrument. So soll einst die Gülen-Bewegung, als sie gemeinsam mit der regierenden AKP die Macht teilte, anonyme Zeugen gegen ihre Gegner verwendet haben. Nach dem Putschversuch 2016 waren es dann vor allem vermeintliche Gülen-Mitglieder, gegen welche sich das Instrument der geheimen Zeugen richtete. Ein Zeuge mit dem Codenamen "Garson" (Kellner) ist wahrscheinlich der bekannteste, da er Zeuge in einem Fall war, an dem rund 4.000 Polizisten, vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung, beteiligt waren. Problematisch sind insbesondere Fälle, bei denen sich herausstellt, dass die anonymen Zeugen gar nicht existieren. Etwa wurden die Aussagen des anonymen Zeugen "Mercek" zur Begründung für die Verurteilung vieler Politiker herangezogen, u. a. auch gegen den seit 2016 inhaftierten, ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş. Später stellte sich jedoch heraus, dass es diese Person gar nicht gab (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020b). Mitunter geben die Behörden zu, dass es keine anonymen Zeugen gibt. So musste die Polizeibehörde von Diyarbakır 2019 eingestehen, dass eine anonyme Zeugin mit dem Codenamen "Venus", deren Aussage zur Festnahme und Inhaftierung zahlreicher Personen führte, in Wirklichkeit nicht existierte (NaT 19.2.2019). Im seit 2022 laufenden Verbotsverfahren gegen die HDP wurde zumindest ein anonymer Zeuge gehört, der laut HDP-Parlamentarierin, Meral Danış-Beştaş, der Generalstaatsanwaltschaft Auskunft über die Parteifinanzen erteilte, was vermeintlich zur Sperrung der Parteienförderung für die HDP führte (Bianet 30.1.2023).
Im Februar 2022 stellte das türkische Verfassungsgericht fest, dass die Aussagen geheimer Zeugen, die konkrete Tatsachen enthalten, als "starke Indizien für eine Straftat" akzeptiert werden können, ohne dass sie durch andere Beweise gestützt werden, und dass die auf diese Weise vorgenommenen Verhaftungen im Einklang mit dem Gesetz stehen würden (DW 17.2.2022; vgl. Duvar 18.2.2022). Allerdings liegt die Betonung auf "konkrete Tatsachen", denn das Urteil war die Folge einer laut Verfassungsgericht rechtswidrigen Verhaftung eines Gemeinderates in Diyarbakır-Eğil im Jahr 2020 und basierte auf einer geheimen Zeugenaussage, mit welcher der Gemeinderat der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" beschuldigt wurde. Diese Aussage war rechtswidrig weil "abstrakt" und eben nicht "konkret". Kritiker der Hinzuziehung geheimer bzw. anonymer Zeugen betrachten diese Praxis als Instrument, Zeugenaussagen zu fälschen und abweichende Meinungen und Widerstand zum Schweigen zu bringen (Duvar 18.2.2022).
Im Gegensatz zum Verfassungsgericht hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits Mitte Oktober 2020 entschieden, dass geheime Zeugenaussagen, welche die türkischen Gerichte insbesondere in Prozessen gegen politische Dissidenten als Beweismittel akzeptiert haben, nicht als ausreichendes Beweismaterial für eine Verurteilung angesehen werden können. Wenn die Verteidigung die Identität des Zeugen nicht kennt, wird ihr nach Ansicht des EGMR in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit genommen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen infrage zu stellen oder in Zweifel zu ziehen. Infolgedessen können geheime Zeugenaussagen allein keine rechtmäßige Verurteilung begründen, es sei denn, eine Verurteilung stützt sich noch auf andere solide Beweise (SCF 26.11.2022; vgl. TM 26.11.2020b).
Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung
Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (Rat der EU 14.12.2021, S. 16, Pt. 34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählt insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes. Opposition, Zivilgesellschaft und namhafte Juristen kritisieren die Einschränkungen als eine Perpetuierung des Ausnahmezustands. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7). Das Europäische Parlament (EP) "betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 29) "unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S. 9, Pt. 14).
Auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S. 44).
Siehe auch die Kapitel: Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im AuslandSicherheitslage / Gülen- oder Hizmet-Bewegung.
Beleidigung des Präsidenten sowie die Herabwürdigung des türkischen Staates und der türkischen Nation als Strafbestand
"[E]ntsetzt über den grob missbräuchlichen Rückgriff auf Artikel 299 des Strafgesetzbuchs der Türkei über Beleidigungen des Präsidenten, die eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren nach sich ziehen können", forderte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 7.6.2022, "das Gesetz über die Beleidigung des Staatspräsidenten gemäß den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ändern" (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021).
Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt (DW 9.2.2022; vgl.ARTICLE19 8.4.2022). 106 der Schuldsprüche betrafen Kinder unter 18 Jahren, von denen zehn zu Haftstrafen verurteilt wurden (ARTICLE19 8.4.2022). Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022). Beispielsweise wurde im Mai 2022 ein marokkanischer Tourist von der Polizei verhaftet, nachdem dieser die Türkei als "Terroristenstaat" bezeichnete und Präsident Erdoğan beleidigte. Der damalige türkische Innenminister Soylu warnte bereits im März 2019, dass der Staat alle Touristen, die im Verdacht stehen, gegen das Regime von Präsident Erdogan zu opponieren, festnehme, sobald sie türkischen Boden betreten (MWN 9.5.2022).
Die Zahl der Personen, gegen die nach den Artikeln 299 und 301 (Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen) des Strafgesetzbuches ermittelt wurde, stieg im Jahr 2022 laut den Statistiken des Ministeriums auf 16.753 von zuvor 12.304 im Jahr 2021 (TM 14.3.2024). Im einzelnen wurden im Jahr 2021 gemäß Artikel 299 1.239 Personen zu Haftstrafen verurteilt, darunter nur zwei Minderjährige im Alter zwischen 15 und 17. 38 Personen wurden gemäß Artikel 300, der Herabwürdigung staatlicher Symbole, und 111 Personen (darunter auch ein Minderjähriger in der Altersklasse 12-14) laut Artikel 301 zu Gefängnisstrafen verurteilt. Sonstige Strafen gem. Artikel 299 wurden gegen 1.130, gem. Artikel 300 gegen 24 und dem Artikel 301 folgend gegen 87 Individuen verfügt [Anm.: Neuere Statistiken differenzieren nicht mehr nach einzelnen Artikeln des Strafgesetzbuches.] (MoJ - GDJR&S 2022, S. 120, 156).
Siehe, insbesondere für konkrete Beispiele, auch die (Unter-)Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit / InternetVersammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition.
Politisierung der Justiz
Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diesen vom Präsidenten zu ernennenden Gouverneuren der 81 Provinzen werden weitreichende Kompetenzen eingeräumt. Sie können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten und auch Versammlungen untersagen. Sie haben zudem großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7f.; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 38, 42).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (Bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert hatten (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S. 10, Pt. 19).
Im vom "World Justice Project" jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2023 auf Rang 117 von 142 Ländern (2021: Platz 116 von 140 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator viel weiter auf 0,41 ab (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,30 (Rang 133 von 142) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 137 von 142) sowie bei der Strafjustiz mit 0,34 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,72, der annähernd dem globalen Durchschnitt entsprach (WJP 12.2023).
Konflikte der Höchstgerichte und dessen Politisierung durch die Regierung
Am 25.10.2023 entschied das Verfassungsgericht, dass der inhaftierte TİP-Politiker Can Atalay, der bei den Parlamentswahlen im Mai zum Abgeordneten gewählt worden ist, in seinem Recht zu wählen und gewählt zu werden sowie in seinem Recht auf persönliche Sicherheit und Freiheit verletzt wurde. Das Verfassungsgericht ordnete die Freilassung Atalays an. Das zuständige Strafgericht setzte dieses Urteil nicht um, sondern verwies den Fall an das Kassationsgericht. Dieses wiederum entschied am 9.11.2023 in Überschreitung seiner Zuständigkeit, dass das Urteil des Verfassungsgerichts nicht rechtserheblich und daher nicht umzusetzen sei, mit der Begründung, dass das Verfassungsrecht seine Kompetenzen überschritten habe. Überdies verlangte das Kassationsgericht, ein Strafverfahren gegen jene neun Richter des Verfassungsgerichts einzuleiten, welche für die Freilassung Atalays gestimmt hatten. Die Begründung des Kassationsgerichts hierfür lautete, dass diese Richter gegen die Verfassung verstoßen und ihre Befugnisse überschritten hätten. Staatspräsident Erdoğan unterstützte die Entscheidung des Kassationsgerichts, das Urteil des Verfassungsgerichts nicht umzusetzen. Er und andere AKP-Politiker junktimieren diese Frage mit dem prioritären Ziel der Regierung, eine neue Verfassung zu verabschieden, mit der Begründung, dass zur Lösung dieses Kompetenzkonfliktes eine Verfassungsreform nötig sei. Durch die Kritik Erdoğans am Verfassungsgericht wird die Umsetzung von Verfassungsgerichtsurteilen, insbesondere wenn diese der Umsetzung von EGMR-Urteilen dienen, und das Vertrauen in Unabhängigkeit der Justiz weiter geschwächt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11f.; vgl. LTO 29.11.2023, Standard 9.11.2023). Erdoğans Regierungspartner Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP bezeichnete den Präsidenten des Verfassungsgerichts als Terrorist und verlangte, dass das Verfassungsgericht entweder geschlossen oder umstrukturiert werden muss. Passend dazu hatte kurz vorher die regierungstreue Zeitung Yeni Şafak mit Fotos der neun umstrittenen Verfassungsrichter getitelt und ihnen vorgeworfen, die "Pforte für Terroristen geöffnet" zu haben. - Anwälte verwiesen auf die türkische Verfassung, wonach Entscheidungen des Verfassungsgerichts endgültig sind und die gesetzgebenden, exekutiven und judikativen Organe sowie die Verwaltungsbehörden und natürliche, wie juristische Personen binden (Absatz 6). Für die Einleitung einer Untersuchung der Richter bräuchte es die Genehmigung der fünfzehnköpfigen Generalversammlung des Verfassungsgerichts, das für eine abschließende Entscheidung eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Die Istanbuler Anwaltskammer protestierte gegen das Vorgehen und reichte am 1.11.2023 eine Klage gegen den Präsidenten und die Mitglieder der 3. Strafkammer des Kassationsgerichts ein. Die Vorwürfe lauten etwa "Freiheitsbeschränkung", weil der Abgeordnete Atalay noch immer im Gefängnis sitzt und "Amtsmissbrauch". Mehrere Tausend Anwälte unterstützen das Verfahren per Unterschriftenliste. Die Anzeige dürfte aber vor allem Symbolcharakter haben, denn die Klage wurde beim Ersten Präsidialausschuss des Kassationsgerichts eingereicht, also bei jener Behörde, aus der Mitglieder sich gerade gegen das Verfassungsgericht erheben (LTO 29.11.2023). Richter des Verfassungsgerichts bekräftigten gegenüber dem Ko-Berichterstatter des Europarates im Juni 2014, dass das Urteil des Verfassungsgerichts bindend und die Nichteinhaltung auf die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts zurückzuführen sei, das sich geweigert habe, den Fall wieder aufzunehmen (CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 14).
Infragestellung der Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte
Es gab der Europäischen Kommission zufolge keine Fortschritte bei der Beseitigung des unzulässigen Einflusses und Drucks der Exekutive auf Richter und Staatsanwälte, was sich wiederum negativ auf die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Qualität der Justiz auswirkt (EC 8.11.2023, S. 5, 24).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme, wie Druck auf Richter und Staatsanwälte, unterlaufen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (Hakimler ve Savcilar Kurumu - HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019; ÖB Ankara 28.12.2023, CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 13). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S. 5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019). Infolgedessen sind Staatsanwälte und Richter häufig auf der Linie der Regierung. Richter, die gegen den Willen der Regierung entscheiden, wurden abgesetzt und ersetzt, während diejenigen, die Erdoğans Kritiker verurteilen, befördert wurden (FH 29.2.2024, F1).
Sami Selçuk, vormaliger und Ehrenpräsident des Kassationsgerichts, kritisierte Ende Mai 2024 die in der Türkei weitverbreitete Praxis der Ersetzung von Richtern, insbesondere in politisch motivierten, kritischen Prozessen, wie z. B. in den Verfahren gegen Osman Kavala, den oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, und pro-kurdische Parlamentarier, darunter der inhaftierte Selahattin Demirtaş. Dementsprechen erklärte Selçuk, dass 99 Prozent der Gerichtsurteile in der Türkei "null und nichtig" seien. Die Kritik steht in einer Linie mit einer früheren Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten, wonach die Unabhängigkeit der Justiz davon abhängt, dass die Richter eine sichere Amtszeit haben, unabsetzbar sind, und eine Entlassung nur bei schwerwiegenden Verstößen gegen das Gesetz oder bei Unfähigkeit zulässig ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte in einem früheren Urteil festgestellt, dass Richter im türkischen Rechtsrahmen weder über eine solche Garantie noch über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügen, um Entscheidungen über ihre Versetzung anzufechten, die sie nicht beantragt haben (TM 30.5.2024; vgl. SCF 30.5.2024).
Laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission entschied der Staatsrat (Verwaltungsgerichtshof) im Oktober 2022 zugunsten der Wiedereinsetzung von 178 Richtern und Staatsanwälten, die im Rahmen der Notstandsdekrete von 2016 wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen worden waren, und begründete dies damit, dass die ihnen zur Last gelegten Handlungen nicht ausreichten, um ihre Verbindungen zur Bewegung zu beweisen. Der Staatsrat ordnete außerdem an, dass der Staat den Richtern und Staatsanwälten Entschädigung und Schadenersatz zahlen muss. Bis März 2023 waren 3.683 der Entlassungsverfahren abgeschlossen und die Verfahren liefen noch. 845 entlassene/suspendierte Richter und Staatsanwälte wurden wieder in ihr Amt eingesetzt (EC 8.11.2023, S. 26).
Das Fehlen objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und vorab festgelegter Kriterien für die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten gibt weiterhin Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 5, 24). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt. Es wurden (Stand: Dez. 2023) keine Maßnahmen gesetzt, um den Empfehlungen der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 nachzukommen. Diese hatte festgestellt, dass die Entscheidungsprozesse betreffend die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten unzulänglich seien und jede Entlassung eines Richters individuell begründet und auf verifizierbare Beweise abgestützt sein müsse (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10). Häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten beeinträchtigte weiterhin die Qualität der Justiz, ebenso wie die Ernennung von neu eingestellten und weniger erfahrenen Richtern und Staatsanwälten an den Strafgerichten (EC 8.11.2023, S. 26). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignorierten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11; vgl. EC 19.10.2021, S. 23).
Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9f.; vgl. SCF 3.2021, S. 46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S. 46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10).
Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 7f). - Die Amtszeit der 15 Mitglieder des Gerichts ist auf zwölf Jahre begrenzt. Zwölf Mitglieder werden vom Präsidenten aus einer Liste von Kandidaten ernannt, die von obersten Gerichten oder aus dem Kreis hochrangiger Bürokraten vorgeschlagen werden, während drei Mitglieder vom Parlament ernannt werden, das derzeit von Erdoğans regierender AKP dominiert wird. - Mit der Nominierung von Metin Kıratlı, eines Spitzenbürokraten aus dem Präsidentenpalast, zum Verfassungsrichter im Juli 2024, hat Staatspräsident Erdoğan mittlerweile zehn der 15 Verfassungsrichter ernannt (TM 18.7.2024). Das Verfassungsgericht hat seit 2019 zwar eine gewisse Unabhängigkeit gezeigt, doch ist es nicht frei von politischer Einflussnahme und fällt oft Urteile im Sinne der Interessen der regierenden AKP (FH 29.2.2024, F1). Siehe hierzu Beispiele in diversen Kapiteln!
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10f.).
Aufbau des Justizsystems
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Höchstgerichte sind gemäß der Verfassung das Verfassungsgericht (auch Verfassungsgerichtshof bzw. Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) als oberste Instanz in Verwaltungsangelegenheiten, der Kassationsgerichtshof (Yargitay) als oberste Instanz in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Da die Friedensrichter als von der Regierung selektiert und ihr loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Venedig-Kommission des Europarates forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z. B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sondern wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurden, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten ist für einen bestimmten Katalog von Straftaten bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S. 24; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8).
Rolle des Verfassungsgerichts
Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde (bireysel başvuru) beim Verfassungsgericht. Die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden kann durch Ausschüsse einer Vorprüfung unterzogen werden. Sie ist nur gegen Gerichtsentscheidungen letzter Instanz, nicht gegen Gesetze statthaft (RRLex 7.2023, S. 4; vgl. AA 20.5.2024, S. 5), eingeführt u. a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 sind bis Ende 2021 beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5 % seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022). Die Individualbeschwerde hat große Akzeptanz gefunden, ist jedoch stark formalisiert und leidet unter langer Verfahrensdauer (RRLex 7.2023, S. 4).
Infolge der teilweise sehr lang andauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge Mahkemeleri) eingerichtet worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Denn große Teile der Richterschaft arbeiten unter erheblichen Druck, um die Rückstände bei den Verfahren aufzuarbeiten bzw. laufende Verfahren abzuschließen. Allerdings scheint laut Justizministerium die Zahl der unbehandelten Verfahren rückläufig zu sein (ÖB Ankara 28.12.2023 S. 9).
Der Widerstand der türkischen Gerichte oder auch des Parlaments, sich an die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu halten, ist ein Problem, was durch wiederholte verbale Angriffe von Amtsträgern auf das Verfassungsgericht noch verstärkt wird (CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 14). Das heißt, untergeordnete Gerichte ignorieren mitunter die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts oder verzögern sie erheblich. Das Ministerkomitee des Europarats berichtete, dass die meisten EGMR-Entscheidungen zur Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit nicht umgesetzt wurden (USDOS 22.4.2024, S. 13). Das Verfassungsgericht hat aber auch uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).
Zur neuesten Rechtssprechung des Verfassungsgerichts hinsichtlich der Meinungs- und Pressefreiheit siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit / Internet.
Präsidentendekrete
Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war [Siehe auch Kapitel: Politische Lage]. Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen gewisse Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).
Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welches ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 12.10.2022, S. 43). Auf Basis des Anti-Terrorgesetzes Nr. 3713 kann der Zugang einer in Polizeigewahrsam befindlichen Person zu einem Rechtsvertreter während der ersten 24 Stunden eingeschränkt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Die Gründe für eine Untersuchungshaft sind in der türkischen Strafprozessordnung (StPO) festgelegt: Fluchtgefahr; Verhalten des Verdächtigen/Beschuldigten (Verdunkelungsgefahr und Beeinflussung von Zeugen, Opfer etc.) sowie Vorliegen dringender Verdachtsgründe, dass eine der in Art. 100 (3) StPO taxativ aufgezählten Straftaten begangen wurde, wie zum Beispiel Genozid, Schlepperei und Menschenhandel, Mord, sexueller Missbrauch von Kindern. Zu den im vierten Justizreformpaket von Juli 2021 angenommenen Änderungen betreffend die Verhaftung aufgrund von Verbrechen, die unter sog. "Katalogverbrechen" fallen und bei denen jedenfalls die Notwendigkeit einer Untersuchungshaft angenommen wird, zählen z. B. Terrorismus und organisiertes Verbrechen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 12f.).
Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen (OHAL)
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter 15.000 und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 19).
Die mittels Präsidentendekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission [türkische Abk.: OHAL] begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 19f.). Bis Jänner 2023 waren laut Beschwerdekommission die Klassifizierung, Registrierung und Archivierung von insgesamt fast einer halben Million Akten, darunter Personalakten, die von ihren Institutionen übernommen wurden, Gerichtsakten und frühere Bewerbungen, abgeschlossen. Bis zum 12.1.2023 waren 127.292 Anträge gestellt worden. Davon hat die Kommission seit ihrer Errichtung im Dezember 2017 alle Anträge bearbeitet, wobei lediglich 17.960 positiv gelöst wurden. 72 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen, Schulen, Zeitungen und Fernsehstationen (ICSEM 1.2023). Es bestehen nach wie vor große Bedenken hinsichtlich der Qualität der Arbeit der Untersuchungskommission, auch wenn sie die Prüfung aller Fälle abgeschlossen hat. Bezweifelt wird, ob die Fälle einzeln geprüft und die Verteidigungsrechte gewahrt wurden und ob das Bewertungsverfahren internationalen Standards entsprach (EC 8.11.2023, S. 23).
Die Beschwerdekommission stand in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder wurden von der Regierung ernannt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20). Betroffene hatten keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrechterhalten wurde, stützte sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zog an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20; vgl. EC 12.10.2022, S. 23). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird (bzw. wurde) auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen kritisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20).
Die Fälle Kavala und Demirtaş als prominente Beispiele der Missachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S. 20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei (AA 20.5.2024, S. 16). Zuletzt sorgte die beharrliche Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Kulturmäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen die EMRK festgestellt und die Freilassung gefordert (AA 28.7.2022, S. 16).
Im Falle Kavalas lehnte ein Gericht in Istanbul auch 2022 trotz Aufforderung des Europarats die Enthaftung ab (DW 17.1.2022; vgl. AA 20.5.2024, S. 16). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Frage zu befassen (CoE-CM 3.12.2021; vgl. AA 20.5.2024, S. 16), verwies das Ministerkomitee nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE-CM 3.2.2022; vgl. AA 20.5.2024, S. 16). Trotz alledem wurde Kavala am 25.4.2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen "Umsturzversuches" zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Neben Kavala wurden sieben weitere Angeklagte wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt (FR 25.4.2022; vgl. DW 25.4.2022, AA 20.5.2024, S. 16). Weil die Türkei das Urteil des EGMR aus dem Jahr 2019 zur sofortigen Freilassung Kavalas jedoch missachtet hatte, verurteilte der EGMR Mitte Juli 2022 die Türkei ein zweites Urteil, in dem er gemäß Artikel 46 § 4 feststellte, dass die Türkei durch die Nichtfreilassung von Herrn Kavala ihrer Verpflichtung, dem ersten Urteil nachzukommen, nicht nachgekommen war. Dies ist der einzige vom Ministerkomitee überwachte Fall, in dem der Gerichtshof eine Verletzung von Artikel 46 § 4 festgestellt hat und die geforderten individuellen Maßnahmen - hauptsächlich die Freilassung des Klägers - immer noch nicht ergriffen wurden (CoE-CM 11.4.2024, S. 28, vgl. AA 20.5.2024, S. 16). Das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft weiter (DW 11.7.2022; vgl. AA 20.5.2024, S. 16). Ende Dezember 2022 bestätigte trotz alledem ein Berufungsgericht in Istanbul die lebenslängliche Strafe gegen Kavala sowie die Verurteilung von sieben weiteren Angeklagten zu 18 Jahren Haft als rechtens (Zeit Online 28.12.2022). Am 28.9.2023 hat das Kassationsgericht die lebenslange Haftstrafe für Osman Kavala bestätigt (AI 29.9.2023; vgl. DW 28.9.2023, AA 20.5.2024, S. 16). Die beiden Berichterstatter für die Türkei des Europarates zeigten im September 2023 sich angesichts dessen extrem enttäuscht und kündigten an, dass sie und der Europarat weiterhin Druck auf die türkischen Behörden ausüben werden, damit letztere den Urteilen des EGMR nachkommen und alle Angeklagten freilassen (CoE-PACE 29.9.2023). Zuletzt erinnerte Ko-Berichterstatter, Stefan Schennach, bei seinen Treffen mit den Regierungsvertretern in Ankara im Juni 2024 daran, dass die Umsetzung von Urteilen des EGMR eine rechtliche Verpflichtung darstellt, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist, fordernd, dass die Autoritäten unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Urteile des EGMR in Bezug auf die Herren Kavala und Demirtaş umzusetzen (CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 25). Am 15.5.2024 jedoch hat ein Istanbuler Gericht für schwere Straftaten den Antrag Kavalas auf Wiederaufnahme des Verfahrens zum dritten Mal abgelehnt (Duvar 15.5.2024).
Quellen
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AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Auswärtiges_Amt_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2022)_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2020),_24.08.2020.pdf, Zugriff 8.9.2023 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt ,_B3richt_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf, Zugriff 6.11.2022 [Login erforderlich]
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Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung 2024-10-09 10:51
Die Regierung (Exekutive) verfügt weiterhin über weitreichende Befugnisse gegenüber den Sicherheitskräften. Der Umfang des militärischen Justizsystems wurde eingeschränkt. Höhere zivile Gerichte überprüfen weiterhin Berufungen gegen Entscheidungen von Militärgerichten. Die zivile Aufsicht über die Sicherheitskräfte bleibt jedoch unvollständig, da es keine wirksamen Rechenschaftsmechanismen gibt. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsinstitutionen muss laut Europäischer Kommission gestärkt werden. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin weit verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung nach wie vor weitreichenden gerichtlichen und administrativen Schutz. Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Militärangehörigen und der obersten Kommandoebene werden weiterhin rechtliche Privilegien gewährt. Die Untersuchung mutmaßlicher militärischer Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, erfordert die vorherige Genehmigung entweder durch militärische oder zivile Vorgesetzte (EC 8.11.2023, S. 17).
Das Militär trägt die Gesamtverantwortung für die Bewachung der Grenzen (USDOS 20.3.2023, S. 1). Seit 2003 jedoch wurden die Befugnisse des Militärs schrittweise beschränkt und hohe Positionen innerhalb der Streitkräfte im Laufe der Zeit durch regierungsnahe Persönlichkeiten ersetzt. Diese Politik hat sich seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016, nach dem 29.444 Angehörige aus den türkischen Streitkräften (hier allein: 15.000), der Gendarmerie und der Küstenwache entlassen wurden, noch einmal verstärkt. Die Einschränkung der Macht des Militärs wurde in der Bevölkerung und der Politik zum Teil sehr begrüßt. Allerdings zeigt sich gegenwärtig, dass mit diesem Prozess nicht die Stärkung der demokratischen Institutionen einhergeht. Die Umstrukturierung der Streitkräfte soll den Einfluss des Militärs nochmals einschränken, u. a. durch den Ausbau politischer Kontrollmechanismen. Der geplante Einflussverlust etwa des Generalstabs macht sich daran fest, dass einerseits einige seiner Kompetenzen an das Verteidigungsministerium übergehen und dass der Generalstab, wie auch andere militärische Institutionen, andererseits vermehrt mit ideologisch und persönlich loyalen Personen besetzt werden soll. Während die drei Teilstreitkräfte nun dem Verteidigungsministerium direkt unterstellt sind, sind die paramilitärischen Einheiten dem Innenministerium angegliedert. Auch der Hohe Militärrat, die Kontrolle der Militärgerichtsbarkeit, das Sanitätswesen der Streitkräfte und das militärische Ausbildungswesen werden zunehmend zivil besetzt (BICC 7.2024, S. 2, 17f., 25).
Die Polizei und die Gendarmerie (türk.: Jandarma), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten (Polizei) respektive in ländlichen und Grenzgebieten (Gendarmerie) zuständig (USDOS 20.3.2023, S. 1; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Gendarmerie ist für die öffentliche Ordnung in ländlichen Gebieten, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizeikräfte fallen, sowie für die Gewährleistung der inneren Sicherheit und die allgemeine Grenzkontrolle zuständig. Die Verantwortung für die Gendarmerie wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 7.2024, S. 18; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei. Nach Ermittlungen der Polizei wegen Korruption und Geldwäsche gegen ranghohe AKP-Funktionäre 2013, insbesondere aber seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden massenhaft Polizisten entlassen (BICC 7.2024, S. 2). Die Polizei hatte 2023 einen Personalstand von fast 339.400 (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Gendarmerie mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.100 und 196.285 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21; vgl. BICC 7.2024, S. 17, 25). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 7.2024, S. 17, 25).
Es gab Berichte, dass Gendarmerie-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende schossen, die versuchten die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). [Siehe hierzu u. a. das Kapitel: Flüchtlinge]. Das Generalkommando der Gendarmerie beaufsichtigt auch die sogenannten Dorfschützer (Köy Korucusu), 2017 in Sicherheitswächter (Güvenlik Korucusu) umbenannt. Diese sind paramilitärische Einheiten [oft kurdischer Herkunft], welche vornehmlich in ländlichen Regionen im Südosten der Türkei hauptsächlich zur Bekämpfung der PKK eingesetzt werden (BAMF 2.2023, S. 1; vgl. USDOS 13.3.2019). Gemäß einer Studie sollen Dorfbewohner dem Dorfschützersystem in der Vergangenheit zwangsweise als Teil ihres Clans, aus finanzieller Notwendigkeit oder aufgrund von Zwangsrekrutierungen durch staatliche Sicherheitskräfte beigetreten sein (BAMF 2.2023; vgl. JSPP/Acar Y.G. 18.12.2019). Sowohl die Dorfschützer als auch die Opfer von Dorfschützern erzählten Ähnliches über den Druck, Dorfschützer zu werden, und die Räumung der Dörfer: Die Sicherheitskräfte betraten das Dorf und sagten den Dorfbewohnern, dass sie Dorfschützer werden oder ihr Dorf verlassen müssen. Wenn die Dorfbewohner nicht in der Lage waren, sich zwischen der Ablehnung oder der Annahme, Dorfwächter zu werden, zu entscheiden, räumten die Soldaten ihr Dorf (JSPP/Acar Y.G. 18.12.2019). In den letzten Jahren wurden keine Berichte über Zwangsrekrutierungen bekannt. Inzwischen können sich Personen, die sich für eine Einstellung als Dorfschützer interessieren, bei der Dorfverwaltung bewerben (BAMF 2.2023).
Einige der traditionellen Militäraufgaben sollen durch die Polizei, die zunehmend mit schweren Waffen ausgestattet wird, übernommen werden. Diese Reformen setzen einen Trend fort, der sich schon in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei abgezeichnet hat. Sichtbar wurde dies auch, gemeinsam mit der Gendarmerie, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 7.2024, S. 18; vgl. BICC 12.2022, S. 18).
Polizei, Gendarmerie und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen (AA 20.5.2024, S. 6).
Die 2008 abgeschaffte "Nachbarschaftswache" alias "Nachtwache" (türk.: Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Von 29.000 mit Stand Herbst 2020 (TM 28.11.2020) ist die ihre Zahl (mit Beginn 2023) auf rund 40.000 angewachsen. Das türkische Innenministerium will 1.200 neue "Bekçis" einstellen. Dabei handelt es sich um Wachleute, die, bewaffnet mit Waffe und Schlagstock, vor allem nachts für Ordnung sorgen sollen. Die neuen Sicherheitskräfte sollen in 26 Provinzen zum Einsatz kommen (FR 20.1.2023). Sie werden nach nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt (BIRN 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BIRN 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (MBZ 2.3.2022; S. 19; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 20). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum ausgebildet sein (AA 20.5.2024, S. 6; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 20, BIRN 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Vor allem kritisiert die Opposition, dass Erdoğan ein ihm loyal verbundenes Gegengewicht zur Gendarmerie und Polizei aufbaut (FR 20.1.2023). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Mit der Gesetzesänderung tauchten u. a. Bilder auf, wie die neuen Sicherheitskräfte willkürlich Personen kontrollieren und Gewalt ausüben (FR 20.1.2023). Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums handeln die Bekçi in der Regel nach ihren eigenen nationalistischen und konservativen Normen und Werten. So griffen sie beispielsweise ein, wenn jemand auf Kurdisch öffentlich sang, einen kurzen Rock trug oder einen "extravaganten" Haarschnitt hatte. Wenn die angehaltene Person nicht kooperierte, wurden ihr Handschellen angelegt und sie wurde der Polizei übergeben (MBZ 2.3.2022, S. 19). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). Beispiele für Übergriffe der Nachtwache: Im August 2021 wurden drei Journalisten von Mitgliedern der Nachtwache attackiert, weil sie über das nächtliche Verschwinden eines, später tot aufgefundenen, Kleinkindes im Istanbuler Ortsteil Beylikdüzü berichteten (SCF 19.8.2021). Im Mai 2022 wurde angeblich eine 16-Jährige durch Angehörige der Nachtwache in Istanbul verhaftet und sexuell belästigt (SCF 11.5.2022). Und Mitte Juli 2022 wurden drei Transfrauen in der westtürkischen Provinz Izmir von Mitgliedern der Nachtwache im Rahmen einer Ausweiskontrolle mit Tränengas besprüht, geschlagen und in Handschellen auf die Polizeistation gebracht (Duvar 18.7.2022).
Das Verfassungsgericht entschied mit seinem am 1.6.2023 veröffentlichten Urteil, dass Nachbarschaftswachen nicht mehr befugt sind, Maßnahmen zu ergreifen, um Demonstrationen zu verhindern, die die öffentliche Ordnung stören könnten. Derartige Befugnisse würden einen Verstoß gegen das Versammlungs- und Demonstrationsrecht darstellen. Das Verfassungsgericht bestätigte allerdings, dass die Nachbarschaftswachen weiterhin befugt sind, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen sowie Identitätskontrollen durchzuführen. Das Verfassungsgericht räumte dem Parlament eine Frist von neun Monaten ein, um das genannte Urteil in ein Gesetz zu gießen (MBZ 31.8.2023, S. 20).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichten- und Geheimdienststellen. Ebenso unterhält die Gendarmerie einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 22f.).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (AnA 27.3.2015).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei [Anm.: Generaldirektion für Sicherheit - Emniyet Genel Müdürlüğü/ EGM] und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die Türkischen Streitkräfte (TSK), EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S. 15, Pt. 38).
Das türkische Verfassungsgericht hat mehrere Artikel zweier Gesetze über den Ausnahmezustand im Jänner 2023 für nichtig erklärt. Unter anderem erklärte es eine Bestimmung für nichtig, wonach Angehörige der türkischen Streitkräfte (TSK), des Generalkommandos der Gendarmerie, des Kommandos der Küstenwache und der Generaldirektion für Sicherheit wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation aus dem Dienst entfernt werden können, ohne dass eine Untersuchung gegen sie durchgeführt wird. Überdies wurde eine Verordnung, die vorsah, dass der türkische Geheimdienst (MİT) ohne Ausnahmen vom Geltungsbereich des Gesetzes Nr. 4982 über das Recht auf Information ausgenommen wird, für ungültig erklärt, da sie "die Möglichkeit, das Recht auf Information auszuüben, vollständig abschafft" (TM 16.1.2023).
Quellen
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Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung 2024-10-18 11:51
Die Verfassung und das Gesetz verbieten Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (USDOS 22.4.2024, S. 4). Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 20.5.2024, S. 16). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen (Committee against Torture - CAT) zeigte sich jedoch im August 2024 besorgt, dass Artikel 94 des Strafgesetzbuches die in der Konvention enthaltene Definition von Folter nicht vollständig umfasst (CAT 14.8.2024, S. 2).
Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen selbst über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren halten an. Folter und Misshandlungen erfolgen dabei in Anhaltezentren, Gefängnissen, informellen Anhaltezentren sowie auch im öffentlichen Raum (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 32, EC 8.11.2023, S. 31, İHD/HRA 6.11.2022a).
Mehr als 40 NGOs hatten während der 80. Sitzung des UN-Komitees gegen Folter (CAT) vom 8. bis 26.7.2024 Berichte vorgelegt, in denen sie sowohl systematische Folterungen und Misshandlungen, das Verschwindenlassen von Personen, extralegale Hinrichtungen als auch die weitestgehend vorhandene Straffreiheit für Sicherheitskräfte, die mit Folter und Misshandlungen in Verbindung stehen sollen, kritisierten. Die türkischen Behörden wurden beschuldigt, Folter als Mittel einzusetzen, um Geständnisse zu erzwingen oder politische Aktivistinnen und Aktivisten, Medienschaffende und Angehörige der kurdischen Minderheit einzuschüchtern (SCF 12.7.2024; vgl. BAMF 9.9.2024, S. 11).
Auch das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) weist in seinem Bericht über den Besuch in der Türkei im Mai 2019 auf Vorfälle von übermäßiger Gewaltanwendung durch Beamte gegenüber Festgenommenen mit dem Ziel von Geständnissen oder als Strafe hin (die Berichte über den Besuch im Jänner 2021 und über den Ad-hoc-Besuch im September 2022 wurden auf Betreiben der Türkei bislang nicht veröffentlicht). Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann nach derzeitigem Wissensstand dennoch nicht die Rede sein (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Hierzu äußerten sich im September 2022 die Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem zweiten Besuch im Land. Demnach muss die Türkei weitere Maßnahmen ergreifen, um Häftlinge vor Folter und Misshandlung zu schützen, insbesondere in den ersten Stunden der Haft, und um Migranten in Abschiebezentren zu schützen (OHCHR 21.9.2022).
In Bezug auf die Türkei zeigte sich auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) "[...] alarmiert über glaubwürdige Berichte, die darauf hindeuten, dass Folter und andere Formen der Misshandlung in Staaten wie [...] der Türkei tendenziell systematisch und/oder weit verbreitet sind [und] besorgt über Berichte, die darauf hinweisen, dass trotz der "Null-Toleranz"-Botschaft der Behörden die Anwendung von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnis in den letzten Jahren zugenommen hat und die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich überschattet. Die Versammlung begrüßt die jüngsten Entscheidungen des Verfassungsgerichts, in denen Verstöße gegen das Verbot von Misshandlungen festgestellt und neue Untersuchungen von Beschwerden angeordnet wurden, und ermutigt andere nationale Gerichte, dieser Rechtsprechung zu folgen" [Anm.: Originalzitat englisch] (CoE-PACE 24.1.2024, S. 2).
Ebenso äußerte sich das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen CAT im Sommer 2024 "[...] besorgt über die Vorwürfe, dass Folter und Misshandlung im Vertragsstaat weiterhin in allgemeiner Form vorkommen, insbesondere in Haftanstalten, einschließlich der Vorwürfe von Schlägen und sexuellen Übergriffen und Belästigungen durch Strafverfolgungs- und Geheimdienstbeamte sowie des Einsatzes von Elektroschocks und Waterboarding in einigen Fällen" [Anm.: Originalzitat englisch] (CAT 14.8.2024, S. 6).
Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizei- und Gendarmeriegewahrsam und -gefängnissen wurden selten gründlich untersucht und die Täter noch seltener strafrechtlich verfolgt. Neben anhaltenden Berichten über grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung und Überbelegung in Abschiebezentren, in denen Ausländer, einschließlich Asylbewerber, bis zum Abschluss des Abschiebungsverfahrens in Verwaltungshaft genommen werden, gab es gut dokumentierte Fälle, in denen Soldaten und Gendarmerie auf Migranten und Asylbewerber schossen oder diese schwer misshandelten, die versuchten, die Grenze von Syrien zur Türkei zu überqueren (HRW 11.1.2024).
In den Tagen nach den Erdbeben im Februar 2023 gab es mehrere Berichte über Vorfälle im Katastrophengebiet, bei denen einfache Bürger von Polizisten, Gendarmen Polizisten, Gendarmen, Soldaten oder Nachbarschaftswächtern misshandelt oder gefoltert wurden. Gerechtfertigt wurde dies mit dem Vorwurf der Plünderung. Besonders vulnerabel waren hier wiederum die syrischen Flüchtlinge (HRW 11.1.2024; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 39, AlMon 21.2.2023, DW 16.2.2023).
Trotz des verfassungsmäßigen und gesetzlichen Verbots von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung berichten inländische und internationale Menschenrechtsgruppen, dass Polizeibeamte, Gefängnisbehörden sowie Militär- und Geheimdiensteinheiten diese Praktiken anwenden. Personen, denen eine Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, sind mit größerer Wahrscheinlichkeit Misshandlungen ausgesetzt. Ebenso sind laut Berichten Übergriffe in Polizeieinrichtungen in Teilen des Südostens häufiger als anderenorts (USDOS 22.4.2024, S. 4).
Straflosigkeit staatlicher Gewalt
Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/HRA/OMCT/CİSST/TİHV/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß von Folter entsprechen (İHD/HRA 6.11.2022a, S. 11; vgl. TİHV/HRFT 6.2021, S. 13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung, grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und in Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 12.1.2023b, vgl. İHD/HRA/OMCT/CİSST/TİHV/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021).
In einer Entschließung vom 7.6.2022 wiederholte das Europäische Parlament (EP) "seine Besorgnis darüber, dass sich die Türkei weigert, die Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe umzusetzen" und "fordert die Türkei auf, bei Folter eine Null-Toleranz-Politik walten zu lassen und anhaltenden und glaubwürdigen Berichten über Folter, Misshandlung und unmenschliche oder entwürdigende Behandlung in Gewahrsam, bei Verhören oder in Haft umfassend nachzugehen, um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 32). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte (HRW 12.1.2023a). Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 11.1.2024). Laut der "Menschenrechtsstiftung der Türkei" (TİHV) sollen zwischen 2018 und 2021 in der Türkei mindestens 13.965 Menschen unter Folter und Misshandlung festgenommen worden sein. Von diesen gewaltsamen Verhaftungen erfolgten 3.997 im Jahr 2018, 4.253 im Jahr 2019, 2.014 im Jahr 2020 und 3.701 im Jahr 2021 (Duvar 22.3.2022). Auch der Polizei wird vorgeworfen, dass deren Personal im Falle von Menschenrechtsverletzungen weitgehend unbelangt bleibt. So berichtete 2022 der damalige Innenminister Süleyman Soylu infolge einer parlamentarischen Anfrage, dass lediglich zwölf von 2.594 Polizeioffizieren, welche in den vergangenen fünf Jahren verdächtigt wurden, exzessive Gewalt angewendet zu haben, in irgendeiner Weise bestraft wurden (TM 21.1.2022).
Reaktionen der Höchstgerichte und der Behörden auf Foltervorwürfe
Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten von Klägern, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).
Institutionen
Die Opfer von Misshandlungen oder Folter können sich zwar an formelle Beschwerdeverfahren wenden, doch sind diese Mechanismen nicht besonders wirksam. Dies gab Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Autonomie staatlicher Stellen wie der Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu (Menschenrechts- und Gleichstellungsbehörde der Türkei, TİHEK, engl. Abk.: HREI ) und der Ombudsperson. So ist die TİHEK mehreren Quellen zufolge bei der Bearbeitung von Berichten über Misshandlungen und Folter weder effizient noch autonom (MBZ 31.8.2023, S. 40; vgl. CAT 14.8.2024, S. 3). Die TİHEK führt zwar offizielle Besuche in den Gefängnissen durch, doch geht es dabei in erster Linie um hygienische Fragen und nicht um Fälle von Misshandlung und Folter. Die Beamten auf den Polizeidienststellen zeigen häufig kein Interesse an der Bearbeitung von Beschwerden im Zusammenhang mit staatlich geförderter Gewalt. Die Opfer haben bessere Erfolgsaussichten, wenn sie ihre Beschwerden direkt bei der Staatsanwaltschaft einreichten, vor allem, wenn sie durch stichhaltige Beweise wie medizinische Berichte oder Videomaterial untermauert waren. Derselben Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge riskieren Bürger, die Vorfälle staatlich geförderter Gewalt meldeten, wegen Verleumdung angeklagt zu werden (MBZ 31.8.2023, S. 40). Auch die Europäische Kommission stellte im November 2023 fest, dass, obwohl mit der Rolle des Nationalen Präventionsmechanismus (NPM) betraut, die TİHEK/ HREI nicht die wichtigsten Anforderungen des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (OPCAT) erfüllt und Fälle, die an sie verwiesen wurden, nicht wirksam bearbeitet (EC 8.11.2023, S. 31).
Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter nicht nur wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen, sondern es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (MBZ 18.3.2021, S. 34; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 32f.). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S. 30).
Andauern von Folter und unmenschlicher Behandlung
Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD/HRA) beklagte anlässlich ihres Jahresberichts aus dem Jahr 2022 ein Andauern der Folterpraxis. Hierbei spricht die Menschenrechtsvereinigung die Problematik an, wonach die Dokumentation von Folter ein weiteres Problem darstellt, da die türkische Justiz nur die Berichte des Instituts für Rechtsmedizin als Beweismittel akzeptiert, was bedeutet, dass Folter nur von einer offiziellen Experteninstitution dokumentiert werden kann, wobei das Institut für Rechtsmedizin eine staatliche Einrichtung ist, und somit völlig dem politischen Willen unterworfen (İHD/HRA 27.9.2023a). Das UN Anti-Folter-Komitee zeigte sich aktuell im August 2024 besorgt über Vorwürfe des übermäßigen Einsatzes von Gewalt durch die Strafverfolgungsbehörden im Zusammenhang mit der Polizeiarbeit und der Auflösung von Protesten sowie über den Einsatz unzulässiger Zwangsmittel im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen (CAT 14.8.2024, S. 7). Nach Angaben der Menschenrechtsvereinigung (İHD/HRA) wurden im Jahr 2023 insgesamt 5.312 Menschen durch Sicherheitskräfte gefoltert oder misshandelt. 348 Fälle von Folter fanden in Polizeihaft und weitere 733 außerhalb von Hafteinrichtungen statt. 594 Fälle wurden aus den Gefängnissen gemeldet. 3.487 Personen wurden anlässlich von Protesten durch Sicherheitskräfte geschlagen und verwundet (BAMF 9.9.2024, S. 11; vgl. İHD/HRA 23.8.2024).
Beispiele:
Anfang Dezember 2021 starb Garibe Gezer in Einzelhaft in Kandıra, einem Hochsicherheitsgefängnis des Typs F außerhalb Istanbuls. Gezer, eine kurdische Politikerin der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), der lokalen Schwesterpartei der HDP, war 2016 zu lebenslanger Haft wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK verurteilt worden. Nachdem Gezer enthüllt hatte, dass sie von Gefängniswärtern gefoltert und sexuell missbraucht worden war, forderten Ende Oktober 2021 sowohl die HDP als auch die Menschenrechtsvereinigung (İHD) von den Behörden Gezers Beschwerden zu untersuchen. Eine Untersuchung unterblieb, und als Gezer Anfang Dezember 2021 im Gefängnis starb, sprachen HDP und İHD von einem "Tod unter verdächtigen Umständen". Die Gefängnisbehörden erklärten jedoch, Gezer habe Selbstmord begangen (MBZ 2.3.2022, S. 33; vgl. Bianet 15.12.2021). Augenzeugenberichten zufolge schlugen im April 2022 zahlreiche Wärter im Istanbuler Marmara-Gefängnis (ehemals Silivri-Gefängnis) auf Insassen ein und versuchten sie, in den Selbstmord zu treiben. Der Häftling Ferhan Yılmaz starb im April 2022 im Krankenhaus, nachdem er mutmaßlich von Gefängniswärtern gefoltert und misshandelt worden war. Zehn weitere Gefangene sollen in verschiedene Gefängnisse im ganzen Land verlegt worden sein, nachdem auch sie angegeben hatten, dass Gefängniswärter sie geschlagen hätten (AI 28.3.2023).
Gegen das geschlossene Gefängnis "Typ-S" [Anm.: Dieser Gefängnistyp wurde erst 2021 als Ergänzung zum Hochsicherheits Typ-F eingeführt. Er gilt bei Kritikern hauptsächlich als neues Isolationsgefängnis für politische Gefangene.] in der osttürkischen Provinz Iğdır sind im Juni 2023 erneut Foltervorwürfe laut geworden, über welches immer wieder Berichte über Menschenrechtsverletzungen und Misshandlungen auftauchen. Nach Angaben des Anwalts Ridvan Sahin wird den Gefängniswärtern vorgeworfen, Überwachungskameras absichtlich auszuschalten, bevor sie Häftlinge körperlich misshandeln. Das Gefängnis geriet nach den verdächtigen Todesfällen von Sezer Alan im Februar 2022 und Sinan Kaya im März 2022, die von den Gefängnisbehörden als "Selbstmord" bezeichnet wurden, ins Visier der Öffentlichkeit. Nach Berichten der Agentur Mezopotamya erstrecken sich die Verstöße nicht nur auf die Gefangenen, sondern auch auf die Anwälte. Der Anwalt Ridvan Sahin, der behauptet, bei einem Besuch seiner Mandanten von Wärtern angegriffen worden zu sein, sprach über die Verstöße im Gefängnis und die körperlichen Übergriffe, die er erlebt hat (Gercek 15.6.2023).
Folter und Misshandlungen im Zuge der Erdbeben 2023
Es gibt Berichte über mehrere Fälle von Gewalt, Folter und anderen Misshandlungen durch Polizei und Gendarmerie in den von den Erdbeben im Februar 2023 betroffenen Regionen sowie über Drohungen gegen Anwälte, die einen Folterfall dokumentiert haben (EC 8.11.2023, S. 31; vgl. AlMon 21.2.2023). In manchen Fällen kam es auch zu Gegenreaktionen (AlMon 21.2.2023). So gab die HDP bekannt, dass sie Strafanzeige gegen den Gouverneur von Hatay und den Polizeichef von Iskenderun wegen "schwerer Folter" von zehn Bürgern erstattete, die bei den Erdbeben ihre Angehörigen und ihr Zuhause verloren hatten. Unter den Opfern war auch ein HDP-Funktionär. Laut HDP seien die Betroffenen geschlagen worden, sodass sie schwere Verletzungen im Gesicht und am Körper aufwiesen. Sie seien überdies beleidigt und erniedrigend behandelt worden (AlMon 21.2.2023). In den Tagen nach dem Erdbeben wurden viele Menschen gelyncht, weil sie angeblich geplündert hatten, was nach den schweren Erdbeben vom 6. Februar zu einem großen Problem wurde. Eine dieser Personen war Muhammet Gündüz, der in der südlichen, vom Erdbeben betroffenen Provinz Hatay von der Polizei verprügelt wurde. Er gab an, dass er und sein Freund sofort, ohne vorhergehende Leibesvisitation, zusammengeschlagen wurden. Nachdem sich herausstellte, dass Gündüz im Gegenteil an Rettungsaktionen teilnahm, erstattete dieser auf der Polizeiwache einer entfernteren Provinz Anzeige gegen die Beamten, die ihn geschlagen hatten (Duvar 18.2.2023).
Siehe auch das Unterkapitel: Ethnische Minderheiten / Kurden
Quellen
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Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland
Letzte Änderung 2024-10-18 12:04
Die Türkei hat das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen noch nicht unterzeichnet (EC 8.11.2023, S. 29). Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen selbst über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren halten an. Menschenrechtsgruppen berichteten über vereinzelte Fälle von „Verschwindenlassen“, die zum Teil politisch motiviert gewesen seien. Immer wieder werden auch Entführungen aus dem Ausland durchgeführt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40f.).
Zu unterscheiden ist zwischen den Entführungen innerhalb Türkei und jenen türkischer Staatsbürger im Ausland, um sie in die Türkei zurückzubringen. In Bezug auf Erstere bestreitet die Türkei konsequent jede Beteiligung, in Bezug auf Letztere gibt sie offen zu, diese Entführungen durchgeführt zu haben. In beiden Fällen ist der Ablauf der Ereignisse identisch: (Vermeintliche) Gegner der Regierung werden entführt und verschwinden in der Folge von der Bildfläche, einige sind bis heute vermisst (TT 7.2021, S. 2). Die meisten von ihnen tauchen jedoch nach ein paar Monaten, z. B. in bestimmten Polizeistationen wieder auf (TT 7.2021, S. 2; vgl. FR 15.2.2021, TM 10.9.2021). Im September 2021 wurde beispielsweise bekannt, dass Hüseyin Galip Küçüközyiğit, der neun Monate lang vermisst worden war, sich im Gefängnis von Ankara befand. Wo er sich all die Zeit befand, ist bislang unbekannt. Die Behörden hatten bestritten, dass sich der ehemalige Rechtsberater des Ministerpräsidenten, dem Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wurden, in Gewahrsam befand (AI 29.3.2022b; vgl. Duvar 14.9.2021). - Offenkundig eingeschüchtert, schweigen die meisten Betroffenen nach ihrem Wiederauftauchen (TM 10.9.2021). Entführungen und gewaltsames Verschwindenlassen von Personen werden jedenfalls weiterhin vermeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht (HRW 13.1.2022). Immer wieder werden auch Entführungen aus dem Ausland durchgeführt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40f.). Besorgniserregend ist hierbei nach wie vor, so die Europäische Kommission, dass extraterritoriale Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit gerechtfertigt werden (EC 8.11.2023, S. 20).
Gemeinsame Recherchen des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) und acht internationaler Medien, koordiniert vom gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben Ende 2018, wonach ein Entführungsprogramm existiert, bei dem der Nationale Nachrichtendienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) nach politischen Gegnern sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und diese foltert, um beispielsweise belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vgl. Correctiv 11.12.2018, Haaretz 11.12.2018). Laut Menschenrechtsorganisationen und Oppositionspolitikern gab es seit 2016 Dutzende mutmaßliche Fälle von Entführungen und des "gewaltsamen Verschwindenlassens" (FR 15.2.2021, AlMon 17.9.2021) durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen, ohne dass angemessene Ermittlungen durchgeführt wurden, auch nicht im Falle von in den Medien berichteten Todesfällen (EC 8.11.2023, S. 31; vgl. AlMon 17.9.2021, MBZ 2.3.2022, S. 34), untermauert durch Aussagen von Augenzeugen, Familienmitglieder, wieder aufgetauchten Entführten sowie vereinzelt durch Videoaufnahmen (TT 7.2021, S. 3; vgl. HRW 29.4.2020).
Es gibt immer noch kein umfassendes, kohärentes Konzept in Bezug auf vermisste Personen, die Exhumierung von Massengräbern oder die unabhängige Untersuchung aller mutmaßlichen Fälle von außergerichtlicher Tötung durch Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamte. Die meisten Ermittlungen in Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen aus den 1990er-Jahren sind nach 20 Jahren verjährt. In den mehr als 1.400 Fällen vermisster Personen wurden nur 16 Gerichtsverfahren eingeleitet. 14 hiervon endeten mit einem Freispruch (EC 8.11.2023, S. 20). Laut der "UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen" (UN Working Group against Enforced and Involuntary Disappearances - UN-WGEID) galten mit Stand 2023 von 240 Fällen noch immer fast 84 als ungelöst (UNHRC/WGEID 8.8.2023, S. 30). Ömer Faruk Gergerlioğlu, Menschenrechtsaktivist und Abgeordneter der pro-kurdischen HDP, geht davon aus, dass seit 2016 mindestens 30 Menschen in der Türkei "verschwunden" sind. In vielen Fällen handle es sich um ehemalige Staatsbedienstete (FR 15.2.2021; vgl. TM 10.9.2021) oder um Anhänger der Gülen-Bewegung und Kurden (AlMon 17.9.2021; vgl. TT 7.2021, S. 50, TM 10.9.2021). Einige der Entführten werden Berichten zufolge immer noch vermisst. In jüngster Zeit wurden nach Angaben der türkischen Menschenrechtsstiftung (TİHV) neben HDP-Mitgliedern auch mehrere Aktivisten marxistischer Gruppen auf ähnliche Weise verschleppt. Dies bekräftigten auch die vermeintlich entführten Mitglieder der HDP und linker Organisationen selbst (AlMon 17.9.2021). Fast alle Entführten gaben an, dass sie unter Druck gesetzt wurden, ihre Organisationen zu verraten. Einige gaben an, sie seien schwer gefoltert worden (AlMon 17.9.2021; vgl. TT 7.2021, S. 2). Die Entführten werden auch unter Druck gesetzt, sich nicht umfassend zu verteidigen, und gezwungen, Beschwerden über Folter und Misshandlung zurückzuziehen. Außerdem ist es ihnen untersagt, unabhängige Ärzte zu konsultieren, um ihre Verletzungen zu bescheinigen (TT 7.2021, S. 2). Vielfach wurden die Betroffenen wegen Spionage angeklagt (FR 15.2.2021). Trotz mehrerer Anfragen von Abgeordneten der Opposition und Journalisten hat sich bisher kein Regierungsvertreter öffentlich zu den Entführungsvorwürfen geäußert FR 15.2.2021; vgl. AlMon 17.9.2021). Laut Gülseren Yoleri von der türkischen Menschenrechtsvereinigung İHD habe diese in allen Entführungsfällen Strafanzeige erstattet, doch all diese Fälle seien eingestellt worden. Ein Gesetz, das die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes (MİT) vor Strafverfolgung schützt, sei ein wichtiger Faktor hierbei. Wenn die Entführung eine MİT-Aktivität ist, könne die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln, so Yoleri (AlMon 17.9.2021). Die türkischen Behörden haben laut Human Rights Watch noch keinen einzigen Fall wirksam untersucht, sodass mehrere Familien sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt haben (HRW 29.4.2020).
Entführungen und Verschwindenlassen im Ausland
Was die Entführungen türkischer Staatsbürger aus dem Ausland betrifft, so zeigte sich die UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen (WGEID) zutiefst besorgt darüber, dass eine Reihe von Staaten, namentlich auch die Türkei, weiterhin extra-territoriale Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit rechtfertigt. Die Situation in der Türkei sei besonders besorgniserregend, da mindestens 100 türkische Staatsangehörige aus zahlreichen Staaten in die Türkei zwangsrückgeführt worden sein sollen, weil sie im Verdacht stehen, Mitglieder einer angeblichen terroristischen Organisation zu sein oder mit dieser zu sympathisieren (UNHRC/WGEID 7.8.2020, S. 16). 40 von den 100 entführten Personen verschwanden unter Gewaltanwendung, meist von der Straße, oder sie wurden aus ihren Häusern und Wohnungen in der ganzen Welt entführt, in mehreren Fällen zusammen mit ihren Kindern (UNHRC/WGEID 5.5.2020, S. 2). In seiner Entschließung vom Juni 2022 verurteilt das Europäischen Parlament "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31).
Wenn es den türkischen Behörden nicht gelingt, die Auslieferung auf legalem Wege zu erwirken, greifen sie in Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden von Drittländern, einschließlich Geheimdiensten und Polizei, auf verdeckte Operationen zurück. Dazu gehören in erster Linie rasche illegale Aktionen, um gefährdete Personen dem Schutz des Gesetzes zu entziehen und sie anschließend zu überstellen (UNHRC/WGEID 5.5.2020, S. 3; vgl. FH 2.2021, S. 10). In einigen Fällen haben diese Handlungen direkt gegen gerichtliche Anordnungen gegen illegale Abschiebungen verstoßen. Angesichts des zunehmenden Drucks seitens der Türkei führen die Aufnahmestaaten eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch, gefolgt von Hausdurchsuchungen und willkürlichen Verhaftungen in verdeckten Operationen. Die Namen der Personen werden mit vorbereiteten Listen abgeglichen, bevor sie gewaltsam zu nicht gekennzeichneten Fahrzeugen gebracht werden. Sie bleiben bis zu mehreren Wochen in geheimer oder Isolationshaft verschwunden, bevor sie in die Türkei abgeschoben werden. Während dieser Zeit sind sie häufig Zwang, Folter und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, um ihre Zustimmung zu einer freiwilligen Rückkehr zu erlangen und Geständnisse zu erpressen, die bei der Ankunft in der Türkei zur Strafverfolgung dienen sollen. In dieser Phase wird den Betroffenen der Zugang zu medizinischer Versorgung und Rechtsbeistand verwehrt, und sie können die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung nicht vor einem zuständigen Gericht anfechten, sodass sie de facto außerhalb des Schutzes des Gesetzes stehen. Ihre Familienangehörigen sind über ihr Schicksal und ihren Verbleib nicht informiert. Den Zeugenaussagen zufolge haben die Opfer dieser Operationen von unverminderten Misshandlungen durch Geheimdienstmitarbeiter berichtet, die vor allem darauf abzielen, ein Geständnis zu erzwingen. Zu den gängigsten Formen der Folter gehören Nahrungs- und Schlafentzug, Schläge, Waterboarding und Elektroschocks (UNHRC/WGEID 5.5.2020, S. 3).
Was die Entführungen außerhalb des Hoheitsgebiets betrifft, so hat die Türkei durch mehrere ihrer höchsten Vertreter, inklusive Staatspräsident Erdoğan, die Verantwortung dafür übernommen (TT 7.2021, S. 50; vgl. FH 2.2021, S. 39f) und hierbei insbesondere die Rolle des Geheimdienstes MİT hervorgestrichen, beispielsweise anlässlich der Entführung von sechs Lehrern aus dem Kosovo (FH 2.2021, S. 39f). Die Entführungen werden in der Türkei öffentlich verkündet und von den Regierungsmedien gefeiert; die Opfer werden beispielsweise in Handschellen öffentlich präsentiert, bevor sie im Kerker verschwinden (DlF 22.6.2021). Beispielsweise verschwand Anfang September 2022 Ugur Demirok in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku auf den Weg in sein Büro. Zwei Monate später verbreitete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu ein Polizeifoto Demiroks in Handschellen zwischen zwei großen türkischen Fahnen. Laut einer regierungsnahen Tageszeitung hatte der Geheimdienst MİT Demirok "gefangen". Auf ihn warte nun eine Anklage wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation (RND 10.12.2022). Auch Flüchtlingslager im Ausland können Ziele der türkischen Sicherheitsbehörden sein. - So nahm 2022 der türkische Geheimdienst MİT bei einem Einsatz im Lager Makhmour im irakischen Gouvernement Ninewa (auch: Nineveh) zwei PKK-Mitglieder fest und verbrachte diese in die Türkei (Shafaq 14.9.2022).
Die UN-Arbeitsgruppe wiederholte [nach 2021] 2022 ihre Besorgnis über die fortgesetzte Rechtfertigung von extra-territorialen Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit. In diesem Zusammenhang fordert die Arbeitsgruppe das Verschwindenlassen von Personen nicht mehr mit dem Schutz der nationalen Sicherheit, der Bekämpfung des Terrorismus und des Extremismus zu rechtfertigen; unabhängige und wirksame Untersuchungen möglicher Verstöße durchzuführen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und den Opfern und ihren Familien das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu gewähren; und alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um ähnliche Fälle in Zukunft zu verhindern (UNHRC/WGEID 12.8.2022, S. 20).
Im Juni 2023 verabschiedete die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) eine Resolution zur transnationalen Gewalt. Die Resolution verurteilt alle Formen und Praktiken der grenzüberschreitenden Repression, einschließlich derjenigen, die direkt von einem Herkunftsstaat außerhalb seiner Grenzen ausgeübt werden, und derjenigen, bei denen ein Herkunftsstaat andere Staaten mit einbezieht, um rechtswidrig gegen eine Zielperson in seinem eigenen Hoheitsgebiet vorzugehen. PACE ist der Auffassung, dass diese Praktiken nicht nur zahlreiche unveräußerliche und grundlegende Menschenrechte der betroffenen Personen verletzen, sondern auch eine Bedrohung für die Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie und die nationale Sicherheit der Staaten darstellen, in denen diese Personen leben und Zuflucht gefunden haben. Grenzüberschreitende Repressionsmaßnahmen, die von den Mitgliedsstaaten durchgeführt werden und die in ihrem Hoheitsgebiet stattfinden oder Auswirkungen haben, untergraben die Werte und Prinzipien, für die der Europarat steht, so der Wortlaut der Resolution. - In diesem Kontext zeigte sich PACE besorgt darüber, dass die Türkei einige der Instrumente der transnationalen Repression eingesetzt hat, insbesondere nach dem Putschversuch vom Juli 2016 bei der Verfolgung von vermeintlichen Anhängern der Gülen-Bewegung. Zu diesen Instrumenten gehören: Überstellungen, der Missbrauch von Auslieferungsverfahren, INTERPOL Red Notices und Maßnahmen zur Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung sowie die Zusammenarbeit mit anderen Staaten. In diesem Zusammenhang stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass die Republik Moldau im Jahr 2018 sieben Lehrer mit türkischer Staatsangehörigkeit rechtswidrig in die Türkei überstellt hatte, wobei sie alle Garantien des innerstaatlichen und internationalen Rechts umging und somit das in Artikel 5/1 der Konvention garantierte Recht auf Freiheit verletzte (CoE-PACE 23.6.2023).
Zuletzt äußerte sich auch das Anti-Folter-Komitee (CAT) der Vereinten Nationen im Sommer 2024 "besorgt über die Vorwürfe, wonach es eine systematische Praxis staatlich geförderter exterritorialer Entführungen und erzwungener Rückführungen von Personen gibt, die angeblich mit der Hizmet/Gülen-Bewegung in Verbindung stehen, in Abstimmung mit Behörden in Afghanistan, Albanien, Aserbaidschan, Kambodscha, Gabun, Kasachstan, Libanon und Pakistan sowie mit Behörden im Kosovo, [...] Solche Entführungen sollen unter Beteiligung des Nationalen Nachrichtendienstes (Millî İstihbarat Teşkilatı) stattgefunden haben und Menschenrechtsverletzungen wie Verschwindenlassen und andere Formen von Folter und Misshandlung (Art. 2, 3, 11–13 und 16) beinhalten" [Übersetzung des englischen Originalzitates] (CAT 14.8.2024, S. 8).
Vergleiche hierzu auch das Unter-Kapitel zu: Sicherheitslage / Gülen- oder Hizmet-Bewegung.
Quellen
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Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2024-10-18 12:11
Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38; vgl. EC 8.11.2023, S. 6, 38). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023, S. 1, 21; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38).
Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Es wurden keine Gesetzesänderungen verabschiedet, um die verbleibenden Elemente der Notstandsgesetze von 2016 aufzuheben (Stand November 2023). Die Weigerung der Türkei, bestimmte Urteile des EGMR umzusetzen, gibt der Europäischen Kommission Anlass zur Sorge hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Türkei hat das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Juli 2022, das im Rahmen des vom Ministerkomitee gegen die Türkei eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens erging, nicht umgesetzt, was darauf hindeutet, dass die Türkei sich von den Standards für Menschenrechte und Grundfreiheiten, die sie als Mitglied des Europarats unterzeichnet hat, entfernt hat. Die Umsetzung des im Jahr 2021 angenommenen Aktionsplans für Menschenrechte wurde zwar fortgesetzt, kritische Punkte wurden jedoch nicht angegangen. - Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 8.11.2023, S. 6, 28). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 20.5.2024, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).
Am Vorabend der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 verzeichnete die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, in einer Stellungnahme, eine Verschärfung des Drucks auf diese wichtigen Akteure der demokratischen Gesellschaft sowie eine Verschlechterung der Menschenrechtslage, insbesondere der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Die türkischen Behörden wurden aufgefordert, das feindselige Umfeld für Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, NGOs und Anwälte zu beenden und sie nicht länger durch administrative und gerichtliche Maßnahmen zum Schweigen zu bringen. Die öffentliche Verwendung hasserfüllter Rhetorik gegen Minderheiten, LGBTI-Personen und Migranten, auch durch hochrangige Beamte, hat laut Mijatović ein alarmierendes Ausmaß erreicht und die bestehende Polarisierung in der Gesellschaft verstärkt, in einem Umfeld, das bereits von zunehmender Gewalt und hasserfüllten Verbrechen gegen Angehörige dieser Gruppen geprägt ist (CoE-CommDH 5.5.2023).
Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören glaubwürdige Berichte über: Verschwindenlassen; Folter oder grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch die Regierung oder im Auftrag der Regierung; willkürliche Verhaftung oder Inhaftierung; schwerwiegende Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; politische Gefangene oder Inhaftierte; grenzüberschreitende Repressionen gegen Personen in einem anderen Land; schwerwiegende Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung und der Medienfreiheit, einschließlich Gewalt und Androhung von Gewalt gegen Journalisten, ungerechtfertigte Verhaftungen oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten, Zensur oder Durchsetzung oder Androhung der Durchsetzung von Gesetzen zur strafrechtlichen Verfolgung wegen Verleumdung, um die Meinungsäußerung einzuschränken; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; erhebliche Eingriffe in die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze hinsichtlich der Organisation, Finanzierung oder Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen und Organisationen der Zivilgesellschaft; Beschränkungen der Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit im Hoheitsgebiet eines Staates und des Rechts, das Land zu verlassen; Zurückweisung von Flüchtlingen in ein Land, in dem ihnen Folter oder Verfolgung drohen, einschließlich schwerwiegender Schäden wie Bedrohung des Lebens oder der Freiheit oder anderer Misshandlungen, die eine gesonderte Menschenrechtsverletzung darstellen würden; schwerwiegende staatliche Beschränkungen oder Schikanen gegenüber inländischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen; umfassende geschlechtsspezifische Gewalt, einschließlich häuslicher oder intimer Partnergewalt, sexueller Gewalt, Gewalt am Arbeitsplatz, Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung, weiblicher Genitalverstümmelung/-beschneidung, Femizid und anderer Formen solcher Gewalt; Gewaltverbrechen oder Gewaltandrohungen gegen Angehörige nationaler und ethnischer Gruppen, wie der kurdischen Minderheit, sowie Flüchtlinge; und Gewaltverbrechen oder Gewaltandrohungen gegen Mitglieder sexueller Minderheiten (LGBTQI+). Hinzukommen glaubwürdige Berichte über willkürliche oder unrechtmäßige Tötungen durch die Vertreter der Staatsmacht, so etwa durch Sicherheitskräfte, Polizei und Gefängniswärter. (USDOS 22.4.2024, S. 1-3; vgl. AI 28.3.2023, EEAS 29.5.2024, S. 23). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 22.4.2024, S. 2; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 39).
Zuletzt zeigte sich (nach Mai 2022) das Europäische Parlament im September 2023 "nach wie vor besorgt über die schwerwiegenden Einschränkungen der Grundfreiheiten – insbesondere der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, für die das Gezi-Verfahren symbolhaft ist – und die anhaltenden Angriffe auf die Grundrechte von Mitgliedern der Opposition, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Gewerkschaftern, Angehörigen von Minderheiten, Journalisten, Wissenschaftlern und Aktivisten der Zivilgesellschaft, unter anderem durch juristische und administrative Schikanen, willkürliche Anwendung von Anti-Terrorgesetzen, Stigmatisierung und Auflösung von Vereinigungen" (EP 13.9.2023, Pt. 10).
Mit Stand 31.8.2024 waren 24.200 (Nov. 2023: 23.750) Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 37,2 % (Nov. 2023: 33,2 %) aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 9.2024; vgl. ECHR 12.2023), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Im Jahr 2024 stellte der EGMR für das Jahr 2023 in 72 Fällen (von 78) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 17, betrafen das Recht auf ein faires Verfahren, gefolgt vom Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), dem Versammlung- und Vereinigungsrecht (16), dem Recht auf Familien- und Privatleben (15) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (10) (ECHR 1.2024).
Das Recht auf Leben
Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD/HRA 6.11.2022b, S. 9).
Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Mutmaßliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte im Südosten, insbesondere während der Ereignisse im Jahr 2015, wurden nicht wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 30f.). Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt, insbesondere im Südosten des Landes (EC 12.10.2022, S. 33).
Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022a).
Siehe hierzu insbesondere die Kapitel bzw. Subkapitel: Sicherheitslage, Folter und unmenschliche Behandlung, Folter und unmenschliche Behandlung / Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland
Quellen
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Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung 2024-10-14 10:24
Grundlegende Rechtslage
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolischen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Jafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 22.4.2024, S. 67). Allerdings wurden in den letzten Jahren Minderheiten in beschränktem Ausmaß kulturelle Rechte eingeräumt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Türkische Staatsangehörige nicht-türkischer Volksgruppenzugehörigkeit sind keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen. Ausweispapiere enthalten keine Aussage zur ethnischen Zugehörigkeit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35).
Demografie
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 20.5.2024, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRG 6.2018c).
Intoleranz, Diskriminierung, Hassreden
Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen. Das Maß an Vertrauen und Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten und Nicht-Muslimen hat abgenommen (BS 19.3.2024, S. 7, 17). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (BPB 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).
Hassreden gegen und Hassverbrechen an Angehörigen ethnischer und nationaler Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 8.11.2023, S. 43). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).
Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023, S. 87).
Bildung und Kultur
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt. Das Gesetz beschränkt den Gebrauch von anderen Sprachen als Türkisch in der Regierung und in öffentlichen Diensten (USDOS 22.4.2024, S. 67f.).
Im Bereich der kulturellen Rechte gab es keine Entwicklungen in der Gesetzgebung, welche die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch ermöglicht hätten. Die gesetzlichen Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Sekundarschulen blieben bestehen (EC 8.11.2023, S. 44). Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache gelehrt werden darf (EC 19.10.2021, S. 41). An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch und Tscherkessisch angeboten. Allerdings wirken die Mindestanzahl von zehn Schülern für einen Kurs sowie der Mangel oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen. Universitätsprogramme sind in Kurdisch, Zazaki, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch vorhanden. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten, insbesondere der Kurden, ausgewirkt (EC 8.11.2023, S. 44).
Siehe hierzu insbesondere das Unterkapitel: Ethnische Minderheiten / Kurden
Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023; S. 36).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, https://web.archive.org/web/20180220015658/http:/www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr-2017-2018 , Zugriff 18.1.2024
BS - Bertelsmann Stiftung (19.3.2024): BTI 2024 Country Report Türkiye, https://www.ecoi.net/en/file/local/2105839/country_report_2024_TUR.pdf , Zugriff 26.3.2024
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023
EC - Europäische Kommission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 31.10.2023
EC - Europäische Kommission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 17.10.2023
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023
HDF - Hrant Dink Foundation (3.11.2020): Hate Speech and Discriminatory Discourse in Media 2019 Report, https://hrantdink.org/attachments/article/2728/Hate-Speech-and-Discriminatory-Discourse-in-Media-2019.pdf , Zugriff 18.1.2024
MRG - Minority Rights Group (6.2018c): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/ , Zugriff 18.1.2024
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich]
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU ̈RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 29.9.2023
Kurden
Letzte Änderung 2024-10-18 21:31
Demografie und Selbstdefinition
Die kurdische Volksgruppe hat laut Schätzungen ca. 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung und lebt zum Großteil im Südosten des Landes sowie in den südlich und westlich gelegenen Großstädten Adana, Antalya, Gaziantep, Mersin, Istanbul und Izmir (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 47, UKHO 10.2023a, S. 6). Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20). Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Türkei, jedoch liegen keine Angaben über deren genaue Größe vor. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. - Erstens wird bei den türkischen Volkszählungen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen nicht erfasst. Zweitens verheimlichen einige Kurden ihre ethnische Zugehörigkeit, da sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer kurdischen Herkunft befürchten. Und drittens ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer zum kurdischen Teil der Bevölkerung gehört. So identifizieren sich Sprecher des Zazaki - einer Sprachvariante, die mit Kurmandji ("Kurdisch") verwandt ist - teils als Kurden und teils eben als eine völlig separate Bevölkerungsgruppe (MBZ 31.8.2023, S. 47).
Allgemeine Situation, politische Orientierung und Vertretung
Es gibt Belege für eine anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über rassistische Angriffe gegen Kurden (auch) im Jahr 2023. In einigen Fällen wurden diese Angriffe möglicherweise nicht ordnungsgemäß untersucht oder nicht als rassistisch erkannt (UKHO 10.2023a, S. 8f.). Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. UKHO 10.2023a, S. 8f.).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) [inzwischen in Partei für Gleichberechtigung und Demokratie der Völker - DEM-Partei umbenannt] (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 48). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Scharia eintritt. Zwar tritt sie wie die HDP für die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem ein, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (MBZ 31.10.2019). Die Unterstützung wiederholte sich auch angesichts der Präsidenten- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2023. - Bei den Parlamentswahlen 2023 zogen vier Abgeordnete der Hüda-Par über die Liste der AKP ins türkische Parlament ein. Möglich war das durch einen umfangreichen Deal mit Präsident Erdoğan. Für die vier sicheren Listenplätze erhielt dieser die Unterstützung der Hüda-Par bei den gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen (FR 19.5.2023; vgl. Duvar 9.6.2023). Die Hüda-Par gilt beispielsweise nicht nur als Gegnerin der Istanbuler Konvention, sondern generell der Frauenemanzipation. Die Frau ist für Hüda-Par in erster Linie Mutter. Die Partei möchte zudem außereheliche Beziehungen verbieten (FR 19.5.2023). Mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober 2023 stellte sich die Hüda-Par als Unterstützerin der HAMAS heraus, die in der EU, den USA und anderen Ländern, nicht jedoch in der Türkei, als Terrororganisation gilt. So empfing die Parlamentsfraktion der Hüda-Par bereits am 11.10.2023 eine Delegation der HAMAS unter Führung von Basam Naim im türkischen Parlament. Şehzade Demir, Abgeordneter der Hüda-Par, warf bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Israel nicht nur Kriegsverbrechen vor, sondern erklärte, dass "das zionistische Regime der gesamten islamischen Gemeinschaft und unseren heiligen Werten den Krieg erklärt" hätte (Duvar 12.10.2023). Zudem begrüßte Demir den HAMAS-Angriff vom 7.10.2023 und nannte Israel eine Terrororganisation, zu der alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen beendet werden sollten (FR 12.10.2023).
Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobanê-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (MBZ 31.10.2019).
Religiöse Orientierung
In religiöser Hinsicht sind die Kurden in der Türkei nicht einheitlich. Nach einer Schätzung sind siebzig Prozent der Kurden Sunniten, die restlichen dreißig Prozent sind Aleviten und Jesiden [eine verschwindend geringe Zahl] (MBZ 31.8.2023, S. 48; vgl. MRG 6.2018b). Die sunnitische Mehrheit unter den Kurden gehören allerdings in der Regel der Shafi'i-Schule und nicht der Hanafi-Schule wie die meisten ethnischen Türken an. Die türkischen Religionsbehörden betrachten beide Schulen als gleichwertig, und Anhänger der Shafi'i-Schule werden aus religiösen Gründen nicht unterschiedlich behandelt. Kurdische Aleviten verstehen sich eher als Aleviten denn als Kurden (DFAT 10.9.2020, S. 20, 24).
Allgemeine Einschätzungen zur Lage der Kurden durch die EU-Institutionen
Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich auch 2023 "besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Künstler, einschließlich Massenverhaftungen vor den Wahlen [2023] sowie über das laufende Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker". Überdies zeigte sich das EP "beunruhigt über die schwere und zunehmende Unterdrückung der kurdischen Gemeinschaft, insbesondere im Südosten des Landes, unter anderem durch die weitere Einschränkung der kulturellen Rechte und rechtliche Einschränkungen im Hinblick auf den Gebrauch der kurdischen Sprache als Unterrichtssprache im Bildungswesen" (EP 13.9.2023, Pt. 13, 16).
2022 zeigte sich das EP zudem "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 44).
Laut Europäischer Kommission dauern Hassverbrechen und Hassreden gegen Kurden an (EC 8.11.2023, S. 19). Auch das EP weist darauf hin, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 19.5.2021, S. 16f, Pt. 44).
Kurdische Zivilgesellschaft
Es gab mehrere Angriffe gegen ethnische Kurden, die nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen rassistisch motiviert waren. Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt (USDOS 22.4.2024, S. 69). Hunderte von kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023, S. 85) und die meisten blieben es auch (EC 8.11.2023, S. 18, 44). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass Letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete. Allerdings wurde das Urteil des Verfassungsgerichts (mit Stand November 2023) nicht umgesetzt (EC 8.11.2023, S. 18f.; vgl. CCRT 8.4.2021).
Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes mit der Kurdischen Arbeiterpartei - PKK
Dennoch wird der Krieg der Regierung gegen die PKK zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen. Die Behörden nehmen regelmäßig Massenverhaftungen in kurdisch dominierten Provinzen vor und beschuldigen die Verhafteten, die PKK zu unterstützen. Ende April 2023 nahm die Polizei in Diyarbakır und anderen Provinzen über 100 Personen fest, darunter Politiker, Rechtsanwälte und Journalisten (FH 29.2.2024, F4). Auch 2024 setzte sich dieses Vorgehen fort. - Am 16.1.2024 nahm die Polizei bei mehreren Razzien in 28 Provinzen insgesamt 165 Personen fest, darunter Mitglieder der pro-kurdischen Partei für Demokratie und Gleichheit (DEM-Partei), wegen mutmaßlicher Verbindungen zu terroristischen Organisationen. Das Innenministerium erklärte, die Festgenommenen seien wegen mutmaßlicher Unterstützung der PKK oder wegen der Verbreitung von PKK-Propaganda in den sozialen Medien festgenommen worden. Unter den Festgenommenen waren mehrere Mitglieder der sog. Peace Mothers, eine Gruppe von Aktivistinnen, die sich für eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen dem Staat und der PKK einsetzt, sowie Mitglieder der Jugend- und Frauennetzwerke der DEM-Partei (BAMF 30.6.2024, S. 1).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli (Dersim) blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 22.4.2024, S. 24, 68f.). Die Lage im Südosten bleibt besorgniserregend und wurde durch die Erdbeben im Februar 2023, von denen auch ein Teil der Region betroffen war, noch verschärft. Die Regierung setzte ihre inländischen und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen in Irak und Syrien fort, auch nach den Erdbeben. Die Sicherheitslage in den Grenzgebieten bleibt aufgrund der terroristischen Angriffe der PKK prekär (EC 8.11.2023, S. 18).
Für weiterführende Informationen siehe Kapitel bzw. Unterkapitel: Sicherheitslage, Sicherheitslage / Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 18). Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise betroffen. In einem Prozess in Diyarbakır gegen 18 kurdische Journalisten und Medienschaffende, die der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" beschuldigt wurden, verbrachten 15 von ihnen 13 Monate (seit Juni 2022) in Untersuchungshaft, bevor sie bei ihrer ersten Anhörung im Juli freigelassen wurden (HRW 11.1.2024; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). In einem Verfahren in Ankara gegen elf kurdische Journalisten verbrachten neun von ihnen sieben Monate in Untersuchungshaft, bevor sie im Mai 2023 bei ihrer ersten Anhörung freigelassen wurden (Die beiden Verfahren dauerten mit Stand Ende 2023 noch an.) (HRW 11.1.2024). Laut eigenen Angaben werden kurdische Journalisten schlicht wegen ihrer Berichte über die sich verschlimmernde Menschenrechtslage in den Kurdengebieten angeklagt (BIRN 8.12.2023).
Vom Vorwurf der Terrorismusunterstützung sind nebst pro-kurdischen politischen Parteien [siehe hierzu das Unterkapitel Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition] auch Vertreter kurdischer NGOs und Vereine betroffen. - So hat ein Gericht in Diyarbakır Narin Gezgör, ein Gründungsmitglied der "Rosa Frauenvereinigung", einer kurdischen Frauenrechtsgruppe, im September 2023 wegen Terrorismus zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Zu den gegen Gezgör vorgebrachten Beweisen gehörten ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung sowie ihre Medieninterviews und anonyme Zeugenaussagen, die sie belasteten (SCF 11.9.2023; vgl. ANF 11.9.2023).
Zur Verfolgung kurdischer Journalisten siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 20.5.2024, S. 8f.). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), am 1. Mai (WKI 3.5.2022) oder routinemäßig zum kurdischen Neujahrsfest Newroz. So wurden 2023 gemäß offiziellen Angaben 224 Personen in Istanbul anlässlich des Frühlingsfestes verhaftet (Duvar 20.3.2023). 2024 berichteten regierungstreue Medien, dass mindestens 75 Personen festgenommen wurden, weil sie laut lokalen Behörden bei einer Newroz-Feier in Istanbul terroristische Propaganda verbreitet haben sollen, u. a. in Form der Verteilung von Postern mit dem Bild Abdullah Öcalans oder des Skandierens "illegaler Slogans" (DS 18.3.2024). Im Zuge dessen ist auch eine AFP-Journalistin von der Polizei verhaftet worden. Laut ihren Angaben sei sie festgenommen und in einen Polizeiwagen gebracht worden, nachdem sie sich gegen eine Leibesvisitation gewehrt habe. Sie wurde bis zur Freilassung für sechs Stunden zusammen mit 14 weiteren Personen von der Polizei festgehalten. Sie und die anderen festgesetzten Personen seien von der Polizei beschimpft und bedroht worden. Zwei Journalisten der pro-kurdischen Nachrichtenseite Bianet, welche die Verhaftungen gefilmt hatten, berichteten, sie seien von der Polizei geschlagen und zu Boden geworfen worden (BAMF 25.3.2024).
Gewaltsame Übergriffe und behördliches Vorgehen
Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (MBZ 2.3.2022, S. 43; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 2). Im Juli 2021 veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021). Auch in den Jahren 2022 und 2023 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Dieser Trend setzte sich 2024 fort.
Beispiele 2023: Bilder von Fans des Fußballklubs Bursaspor, die Spieler von Amedspor aus Diyarbakır mit scharfen Gegenständen, leeren Patronenhülsen und Flaschen bewarfen und dabei rassistische Parolen riefen, schockierten das Land im März 2023. Ein kurdischer Jugendlicher, der es wagte, ein Amedspor-Transparent hochzuhalten, wurde von Bursaspor-Anhängern brutal zusammengeschlagen. Amedspor-Spieler gaben an, dass sie in den Umkleidekabinen von "privaten Sicherheitsleuten, Sicherheitsbeamten des Vereins, Vereinsmitarbeitern und Polizeibeamten" schikaniert wurden (AlMon 6.3.2023). Anfang April 2023 kam es zu einem gewaltsamen Übergriff auf drei Bauarbeiter im Bezirk Bodrum der Provinz Muğla, weil sie Kurdisch sprachen. Die Angreifer griffen die kurdischen Arbeiter mit einer Schrotflinte, einer Axt und Eisenstangen an und setzten danach ihre Drohungen mit WhatsApp-Nachrichten fort (Gercek 3.4.2023; vgl. TİHV/HRFT 3.4.2023). Am 2.5.2023 wurde der kurdische Straßensänger Cihan Aymaz in Istanbul von einem Mann erstochen, da er verweigerte, das Lied "Ölürem Türkiyem" ("Ich würde für meine Türkei sterben") sofort zu singen, und zudem regelmäßig kurdische Lieder sang (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. Bianet 4.5.2023). Die Istanbuler Polizei hat kurdische Jugendliche daran gehindert, Halay, einen traditionellen kurdischen Volkstanz, zu kurdischer Musik zu tanzen und vier von ihnen nach einem Gerangel festgenommen. Anschließend tauchte ein Video auf, das zeigt, wie die Polizei die Festgenommenen zwingt, osmanische Militärmusik zu hören, während sie mit gefesselten Händen auf dem Boden liegen (Duvar 22.5.2023). Das Sicherheitspersonal eines Flughafens in Provinz Trabzon griff am 16.12.2023 vier Bauarbeiter an, weil sie sich auf Kurdisch unterhielten. Ein Arbeiter sagte, dass nur drei Angreifer auf die Polizeiwache gebracht wurden, obwohl sie eigentlich von etwa 25 Personen attackiert wurden (Duvar 17.12.2023).
Beispiele 2024: Ein kurdischer Betreiber eines Cafés in Diyarbakır wurde Ende Mai 2024 verhaftet, nachdem er anlässlich des Tages der kurdischen Sprache (15. Mai) angekündigt hatte, seine Kunden künftig ausschließlich auf Kurdisch zu bedienen. Die Behörden werfen dem Gastronomen vor, durch sein Vorhaben terroristische Propaganda zu betreiben, ein diesbezügliches Strafverfahren wurde eingeleitet. Zuvor war der Cafébesitzer bereits in den sozialen Medien angefeindet worden (BAMF 3.6.2024, vgl. BIRN 30.5.2024).
Im Sommer 2024 wurden an mehreren Orten Hochzeitsgäste, die kurdische Lieder sangen und kurdische Tänze tanzten von der Polizei verhaftet bzw. wurde Anklage wegen "Verbreitung von Terrorismuspropaganda" erhoben. Dieses Verbrechen kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte schon zuvor entschieden, dass das Singen von Volksliedern oder das Vortragen von Gedichten, das Rufen allgemeiner Slogans, auch bei öffentlichen Versammlungen, oder der Verweis auf den 40-jährigen Aufstand der bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegen das türkische Militär rechtlich erlaubte Meinungsäußerungen darstellen. Denn der Inhalt der Lieder und Slogans auf den Hochzeitsfeiern und anderswo ruft weder zur Gewalt auf noch stellt er eine unmittelbare Gefahr für Personen dar, die eine strafrechtliche Verfolgung rechtfertigen könnte (HRW 15.8.2024). - Mehr als 30 Verhaftungen erfolgten im Juli in den Provinzen Istanbul, Aydın, Mersin, Ağrı, Siirt, Batman und Hakkâri. So wurden am 27.7.2024 Presseberichten zufolge insgesamt elf Personen verhaftet, die in Istanbul bei verschiedenen Hochzeiten laut eines Istanbuler Gerichts "Propaganda für terroristische Organisationen" betrieben haben sollen. In Hakkâri kam es am 28.7.2024 zu Razzien während Hochzeitsfeierlichkeiten, da auf jenen kurdische Lieder gespielt und dazu getanzt worden sei. Berichten zufolge sollen bei den Razzien eine nicht näher bekannte Anzahl an Musikern und Hochzeitsgästen ebenfalls unter dem Vorwurf der "Propaganda für eine terroristische Organisation" festgenommen worden sein. Am 5.8.2024 wurden fünf Personen festgenommen, da sie auf einer Hochzeit in der Provinz Osmaniye kurdischsprachige Lieder gesungen, den kurdischen Volkstanz "Halay" aufgeführt und die Hochzeitsfahrzeuge mit gelben und roten Luftschlangen geschmückt haben sollen. Unter den Festgenommenen waren auch die beiden Ko-Vorsitzenden der Partei für Gleichheit und Demokratie (DEM) des Bezirks Osmaniye (BAMF 12.8.2024, S. 7; vgl. Bianet 30.7.2024, MLSA 1.8.2024b). Am 10.8.2024 führte die Istanbuler Polizei eine Razzia bei einer Hochzeit im Stadtteil Esenyurt durch, bei der acht Personen festgenommen wurden, darunter die Gastgeber der Hochzeit und Musiker. Die Razzia wurde Berichten zufolge durch das Abspielen "politischer Lieder" ausgelöst. Fünf der acht Personen, die wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" angeklagt waren, wurden nach ihrer Aussage auf dem Polizeirevier Kıraç wieder freigelassen. Drei Musiker, die nach ihrer Aussage an die Staatsanwaltschaft verwiesen wurden, wurden mit dem Antrag auf Freilassung auf Bewährung an das Gericht verwiesen, welches infolge die Musiker auf Bewährung freiließ (Mezopotamya 12.8.2024; vgl.Bianet 12.8.2024).
Ende Juli 2024 kam es zu mutmaßlichen Festnahmen und Misshandlungen von sechs kurdischen Jugendlichen in der Stadt Yüksekova in der Provinz Hakkâri durch die Polizei. Die Jugendlichen seien laut ihrer eigenen Aussage festgenommen worden, da sie sich gegen die Verhaftung eines Freundes während einer Identitätskontrolle zur Wehr gesetzt hätten. Bei der Befragung der Jugendlichen in einem Polizeiauto seien sie laut ihrer Aussage schließlich von Polizisten wiederholt auf den Kopf geschlagen und beleidigt worden. Gemäß Presseberichten hätten sich am Tag der Festnahme die Familien und Anwälte der Jugendlichen beim lokalen Polizeipräsidium gemeldet. Dort sei ihnen jedoch gesagt worden, dass die Jugendlichen nicht dort wären und es auf dem Präsidium keine Bürger gäbe, die von Polizeieinheiten festgenommen worden wären (BAMF 19.8.2024, S. 10; vgl. SCF 2.8.2024).
[Anmerkung: Für Beispiele vor dem Jahr 2023 siehe vormalige Versionen der Länderinformationen Türkei!]
Stellung der kurdischen Sprache im Bildungssystem
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 20.5.2024, S. 10), so auch als Unterrichtssprache (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Unterricht in kurdischer Sprache ist an öffentlichen Schulen seit 2012 und an privaten Einrichtungen seit 2014 möglich (als Wahlpflichtfach). Der Unterricht wird in der Praxis aufgrund faktischer Barrieren aber oftmals nicht angeboten (AA 20.5.2024). Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift, wobei die Kurdischkenntnisse vor allem in den Großstädten zurückgehen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Nur wenige politische Parteien haben muttersprachlichen Unterricht ausdrücklich in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirken sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus, und eine Reihe von Kunst- und Kulturgruppen in kurdischer Sprache wurden von den Treuhändern entlassen. Ein Dutzend Konzerte, Festivals und kulturelle Veranstaltungen wurden von den Gouvernements und Gemeinden mit der Begründung "Sicherheit und öffentliche Ordnung" verboten. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, Medien und zahlreiche Kunsträume blieben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016, was zu einer weiteren Beschneidung ihrer kulturellen Rechte beitrug (EC 8.11.2023; S. 44). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). 2023 hatte das Ministerium im Rahmen eines Programms mit dem Titel "Lebendige Sprachen und Dialekte" noch 50 Kurdischlehrer eingestellt. 2024 führte die Entscheidung des Bildungsministeriums, von 20.000 neuen Lehrerstellen nur zehn Stellen für Kurdischlehrer (sechs Lehrer für den Kurmanci-Dialekt und vier für Zazaki) zu vergeben, zu heftigen Reaktionen von Politikern und Organisationen der Zivilgesellschaft, die argumentieren, dass dadurch das Recht der Kurden auf Bildung in ihrer Muttersprache untergraben wird (SCF 9.5.2024; vgl. VOA 9.5.2024).
Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (MBZ 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AlMon 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der damals nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).
Verwendung des Kurdischen in den Medien, im Kulturbereich und Gefängnissen
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8; vgl. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Doğan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. - Der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AlMon 10.8.2022; vgl. ÖB Ankara 30.11.2021). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Sprachkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022). Und im Jänner 2023 teilte der Parlamentsabgeordnete der HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, mit, dass zwei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Hevra festgenommen wurden, weil sie auf Kurdisch auf einem vom HDP-Jugendrat organisierten Konzert in Darıca nahe Istanbul gesungen hatten (Duvar 23.1.2023).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021a). Ein Gefängnis in der türkischen Provinz Şırnak hat im August 2024 ein Verbot des Gebrauchs der kurdischen Sprache bei Telefongesprächen zwischen Insassen und ihren Familien verhängt (SCF 12.8.2024; vgl. TR724 12.8.2024).
Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April 2022 nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).
Laut manchen Medienberichten bzw. Vertreter kurdischer Kultur- und Sprachvereine kam es in der Vergangenheit sogar zu massiven Gewalttaten, vereinzelt mit Todesfolge, an Personen, die in der Öffentlichkeit Kurdisch sprachen, wobei die Behörden die Taten ignorierten bzw. nicht ahndeten (SCF 12.5.2021; vgl. DW 22.10.2019). So wurde 2018 beispielsweise ein Kurde namens Kadir Sakci in der Schwarzmeerprovinz Sakarya angeschossen und getötet. Sein 16-jähriger Sohn wurde schwer verletzt. Die beiden sprachen kurdisch, als sie angegriffen wurden. Ein weiterer Fall machte Schlagzeilen, kurz nachdem die Türkei ihre Offensive in Nordsyrien begonnen hatte. Sirin Tosun starb 2019 auf einer Intensivstation an den Verletzungen, die er Ende August desselben Jahres erlitten hatte, als er mit seiner Familie in Adapazari, ebenfalls in der Provinz Sakarya, Haselnüsse sammeln wollte. Sechs Personen schlugen und schossen auf ihn, weil er angeblich kurdisch sprach (DW 22.10.2019; vgl. Duvar 15.10.2019).
Amtlicher Verwendung des Kurdischen und dessen neuerliche Einschränkung
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020). Die vom Staat ernannten Treuhänder im Südosten änderten weiterhin die ursprünglichen (kurdischen) Straßennamen (EC 8.11.2023; S. 44). Im August 2024 sind in der Provinz Diyarbakır auf Anweisung des Gouverneursamtes zum wiederholten Male kurdischsprachige Verkehrsschilder entfernt worden. Das Innenministerium hatte zuvor eine Richtlinie erlassen, wonach alle Verkehrsschilder den von der türkischen Generaldirektion für Autobahnen (KGM) festgelegten Standards entsprechen müssten. Die KGM hatte die Entfernung der kurdischen Verkehrsschilder auf Anweisung des Ministeriums veranlasst, aber die Gemeinden hatten die Schilder zunächst in Van und anschließend in Diyarbakır, Batman und Mardin wieder aufgestellt. Die Schilder seien nun in Diyarbakır ein zweites Mal entfernt worden. Laut des stellvertretenden Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakır gebe es keine rechtlichen Hindernisse, die Gemeinden daran hindern, öffentliche Dienstleistungen in verschiedenen Sprachen anzubieten und außerdem gebe es seit 15 Jahren Warnschilder auf Kurdisch in Diyarbakır (BAMF 12.8.2024, S. 7f., vgl. Bianet 31.7.2024a, MLSA 1.8.2024b).
Die Verwendung bzw. Nennung der (ursprünglichen) kurdischen Namen für Städte und andere Orte kann zu Beleidigungen und Drohungen führen, wie das Beispiel einer Kurdischlehrerin aus Diyarbakır im November 2023 zeigte. Die Anwaltskammer von Şırnak verurteilte die Online-Schikanen gegen die Lehrerin sogar als Symptom für einen unterschwelligen Hass auf die kurdische Sprache. - Die Republik Türkei, die als Nationalstaat gegründet wurde und sich auf die vorherrschende türkische Identität stützt, änderte im Verlaufe der Zeit die Namen vieler Städte und Dörfer, deren frühere Bezeichnungen ihr kurdisches oder auch armenisches, georgisches, griechisches oder assyrisches Erbe widerspiegelten. Laut einer Studie aus dem Jahr 2011 wurden in den meisten südöstlichen Provinzen [Zentrum der kurdischen Bevölkerung] sogar mehr als 75 % der Namen geändert (SCF 10.11.2023).
2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).
Siehe auch das Unterkapitel: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / OppositionHaftbedingungen
Verwendung des Begriffes "Kurdistan"
Obwohl der einstige türkische Staatspräsident Abdullah Gül bei seinem historischen Besuch 2009 im Nachbarland Irak zum ersten Mal öffentlich das Wort "Kurdistan" in den Mund nahm, auch wenn er sich auf die irakische autonome Region bezog, galt dies damals als Tabubruch (FAZ 24.3.2009). Laut dem pro-kurdischen Internetportal Bianet lassen sich etliche Beispiele finden, wonach das Wort "Kurdistan" in der Türkei je nach der politischen Atmosphäre gesagt oder nicht gesagt werden kann. Das Wort "Kurdistan" zu sagen, kann eine Beleidigung sein oder auch nicht. Aber am gefährlichsten ist es immer, wenn Kurden "Kurdistan" sagen (Bianet 16.7.2019). - Während auch Erdoğan, damals Regierungschef, den Begriff anlässlich des Besuchs des Präsidenten der Kurdischen Region im Nordirak, Massoud Barzani, in Diyarbakır im Oktober 2013 verwendete (DW 19.11.2013), kam es kaum einen Monat später zu Spannungen im türkischen Parlament, weil in einem Bericht der pro-kurdischen BDP [Vorgängerpartei der HDP] zum Budgetentwurf der Regierung der Begriff "Kurdistan" zur Beschreibung der kurdischen Siedlungsgebiete in Ost- und Südostanatolien auftauchte. Die anderen Parteien im Parlament wandten sich gegen die Benutzung des Wortes, das bei türkischen Nationalisten als Ausdruck eines kurdischen Separatismus gilt. Während einer Debatte über den BDP-Bericht gingen Abgeordnete von BDP und ultra-nationalistischen MHP aufeinander los (Standard 10.12.2013). - Nach der parlamentarischen Geschäftsordnung können Abgeordnete wegen der Verwendung des Wortes "Kurdistan" oder anderer sensibler Begriffe im Plenum des Parlaments verwarnt oder vorübergehend aus dem Parlament ausgeschlossen werden. Die Behörden wendeten dieses Verfahren nicht einheitlich an (USDOS 22.4.2024, S. 28).
2019 sagte Binali Yıldırım, der AKP-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von İstanbul und ehemaliger Ministerpräsident, auf einer Kundgebung vor den Wahlen "Kurdistan", und als er darauf angesprochen wurde, antwortete er, dass das Wort Kurdistan jenes sei, welches Mustafa Kemal Atatürk für die Vertreter verwendet hatte, die während des Unabhängigkeitskampfes vor der Gründung der Republik aus dieser Region kamen. Für die "Vereinigung der Jugendbewegung Kurdistans" in Istanbul hingegen erklärte das Innenministerium, dass die Verwendung des Wortes "Kurdistan" ein Verstoß gegen Artikel 14 der Verfassung und Artikel 302 des türkischen Strafgesetzbuches sei. Es dürfe nicht im Namen einer Vereinigung verwendet werden. Es folgte eine Klage gegen den Verein (Bianet 16.7.2019). Und im Oktober 2021 verhaftete die Polizei in Siirt vorübergehend einen kurdischen Geschäftsmann, nachdem er während eines Streits mit einem nationalistischen Politiker seine Stadt als Teil von "Kurdistan" bezeichnet hatte. Ihm wurde vorgeworfen, Propaganda für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu machen (Rudaw 29.10.2021).
Die Auseinandersetzung hinsichtlich der Verwendung des Begriffes "Kurdistan" hat mittlerweile selbst den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erreicht. - Dieser entschied am 13.6.2023, dass die türkischen Behörden die Rechte des ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Volkspartei (HDP), Osman Baydemir, verletzt hatten, indem sie gegen ihn eine Strafe verhängten, weil er 2017 während einer Rede im Parlament den Begriff "Kurdistan" verwendet hatte. In seinem Urteil vom 13.6.2023 stellte der EGMR fest, dass Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über "Meinungsfreiheit" verletzt worden sei. Der EGMR verurteilte die Türkei zur Zahlung einer Entschädigung von fast 17.000 Euro an Baydemir (Duvar 13.6.2023; vgl. ECHR 13.6.2023).
Die Thematik bleibt allerdings aktuell. - So entschied das Verfassungsgericht zugunsten von Abdurrahim Kılıç, der zuvor wegen des Tragens eines T-Shirts mit dem Wort "Kurdistan" und dem Emblem der Mesopotamischen Sonne verurteilt worden war. Im Jahr 2016 verurteilte ihn das schwere Strafgericht Midyat wegen "terroristischer Propaganda" zu einer Geldstrafe von 7.300 Lira [Anm.: zum damaligen Kurs um die 2.200 Euro]. Infolge der Bestätigung des Urteils durch den Kassationsgerichtshof 2021 reichte Kılıç eine Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht ein. Am 12.6.2024 entschied das Verfassungsgericht, dass Kılıçs Recht auf freie Meinungsäußerung, das durch Artikel 26 der Verfassung geschützt ist, verletzt worden war. In seinem ausführlichen Urteil kritisierte das Gericht die mangelnde Begründung der Vorinstanz für die Verurteilung von Kılıç und stellte fest, dass in dem Urteil weder die Bedeutung der Symbole auf dem T-Shirt noch ihre angebliche Verbindung zu einer terroristischen Organisation erläutert wurde. Darüber hinaus wies das Gericht darauf hin, dass nicht bewertet wurde, inwiefern das Tragen des T-Shirts zu Gewalt aufrief oder die öffentliche Ordnung bedrohte (Bianet 31.7.2024b; vgl. IFE 2.8.2024, Duvar 30.7.2024).
Quellen
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AlMon - Al Monitor (6.3.2023): Anti-Kurdish racism stains soccer pitch in western Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2023/03/anti-kurdish-racism-stains-soccer-pitch-western-turkey , Zugriff 22.1.2024 [Login erforderlich]
AlMon - Al Monitor (10.8.2022): Kurdish diva brokenhearted but resolute in face of language discrimination in Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2022/08/kurdish-diva-brokenhearted-resolute-face-language-discrimination-turkey , Zugriff 23.1.2024
AlMon - Al Monitor (9.11.2021): Turkey’s Kurds revive fight for language rights, https://www.al-monitor.com/originals/2021/11/turkeys-kurds-revive-fight-language-rights , Zugriff 20.4.2022 [Login erforderlich]
ANF - Firat News Agency (11.9.2023): Linguistin wegen Engagement für Frauenverein verurteilt, https://anfdeutsch.com/frauen/linguistin-wegen-engagement-fur-frauenverein-verurteilt-38970 , Zugriff 4.9.2024
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BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (3.6.2024): Briefing Notes KW23 / 2024, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2024/briefingnotes-kw23-2024.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 19.6.2024
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (25.3.2024): Briefing Notes KW13 / 2024, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2024/briefingnotes-kw13-2024.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 27.3.2024
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Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung 2024-10-14 10:56
Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13; vgl., USDOS 22.4.2024 S. 41). So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 29.2.2024, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7; vgl. USDOS 22.4.2024 S. 42), obschon die Verfassung vorschreibt, dass nur Richter die Bewegungsfreiheit von Bürgern limitieren können, und auch nur in Verbindung mit einer strafrechtlichen Untersuchung bzw. Verfolgung (USDOS 22.4.2024 S. 42).
Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar. Die Ausreisekontrollen an türkischen Grenzübergängen sind in der Regel streng. Ein- und Ausreisedaten werden genauestens erfasst und die Reisenden in den entsprechenden Fahndungssystemen überprüft (AA 20.5.2024, S. 24f.).
Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, S. 27f.; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, S. 27). Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Und Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022). Vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Parlamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023). Im März 2024 weigerte sich das 22. Hoche Strafgericht von Ankara das Verfahren auszusetzen und so die Ausreisesperre gegen den Vize-Parlamentsprecher der DEM-Partei, Sırrı Süreyya Önder, aufzuheben, der zu jener Gruppe der 15 Parlamentarier gehörte, und dies trotz seiner parlamentarischen Immunität, und zwar wegen des laufenden Kobanê-Prozesses (Duvar 22.3.2024). Und im Juni 2024 zogen die Behörden die Pässe von neun Ko-Bürgermeistern aus Gemeinden mit kurdischer Mehrheit ein, darunter die Bürgermeisterin von Diyarbakır Serra Bucak, ohne dass ein Gerichtsbeschluss vorlag. Das Innenministerium verteidigte den Schritt mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung (Medya 24.6.2024; vgl. Rudaw 24.6.2024).
Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit Online 16.11.2023).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z. B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, S. 27f).
Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 22.4.2024, S. 42f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45).
Urteile des Verfassungsgerichtes im Sinne der Bewegungsfreiheit
Das türkische Verfassungsgericht hob Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung auf, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Das Verfassungsgericht entschied überdies Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Im Frühjahr 2024 erklärte das Verfassungsgericht, dass das gegen die Menschenrechtsaktivistin Nurcan Kaya verhängte internationale Reiseverbot ihre Meinungsfreiheit verletze. Nurcan Kaya wurde am Istanbuler Flughafen im Oktober 2019 festgenommen, als sie versuchte, an einer Sitzung der Vereinten Nationen teilzunehmen. Kaya wurde im Rahmen einer Untersuchung inhaftiert unter der Anschuldigung "Hass und Feindschaft unter den Menschen zu schüren", nachdem sie 2014 in einem Tweet geschrieben hatte: "Nicht nur die Kurden, sondern alle in Kobanê lebenden Völker leisten Widerstand." Während ihres Prozesses unterlag Kaya einer 1,5-monatigen gerichtlichen Kontrolle, die ein internationales Reiseverbot und die Beschlagnahme ihres Reisepasses beinhaltete. - Das Verfassungsgericht erkannte an, dass die gerichtlichen Maßnahmen Kayas Fähigkeit zur Teilnahme am öffentlichen Diskurs beeinträchtigten, und sprach Kaya 13.500 Lira (ca. 390 Euro mit 6.3.2024) als immateriellen Schadenersatz zu. Darüber hinaus kritisierte das Verfassungsgericht die Justiz dafür, dass sie vor der Verhängung des Reiseverbots keine weniger restriktiven Maßnahmen in Betracht gezogen und Berufungen gegen das Verbot aus „abstrakten Gründen“ abgelehnt hatte (Duvar 7.3.2024; vgl. MLSA 6.3.2024).
Quellen
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Grundversorgung / Wirtschaft
Letzte Änderung 2024-10-14 11:09
Das Wirtschaftswachstum könnte sich 2024 infolge der strafferen Geldpolitik laut Internationalem Währungsfonds auf 3,1 % abschwächen, verglichen mit rund 4,5 % im Jahr 2023 (GTAI 1.7.2024; vgl. WKO 4.2024). Getragen von privatem Verbrauch und Staatsausgaben haben Wahlkampfgeschenke, Lohn- und Pensionssteigerungen, Frühpensionierungen und günstige Kredite das Wachstum angetrieben. Die türkische Wirtschaft profitiert zudem davon, dass viele Unternehmen aus der EU in die Türkei ausweichen, um das verlorene Geschäft mit Russland bzw. der Ukraine auszugleichen (WKO 4.2024, S. 4). - Das Wachstum des BIP im Jahr 2023 war vor allem auf den robusten Anstieg des privaten Verbrauchs (real 12,8 %), der Investitionen (8,9 %) und der Staatsausgaben (5,2 %) zurückzuführen. Die Exporte hingegen schrumpften 2023 um 2,7 %, während die Importe mit 11,7 % kräftig zulegten und das Wachstum bremsten. Der Dienstleistungssektor wuchs um 4,8 % und der Bausektor um 7,8 % profitierend von den Wiederaufbaumaßnahmen nach dem Erdbeben (WB 9.4.2024).
Nach der gewonnenen Wahl im Mai 2023 vollzog Staatspräsident Erdoğan einen Kurswechsel hin zu einer restriktiven Geldpolitik, mit dem obersten Ziel, die horrende Inflation zu bekämpfen. - Im Mai 2024 lag sie bei 75 %. Die Niedrigzinspolitik der Vorjahre hat Spuren hinterlassen. Sie befeuerte die Inflation und den Abwertungsdruck auf die türkische Lira. Die Nettoreserven der Zentralbank sind gesunken, die Auslandsverschuldung und Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen ist hoch. Die bisherigen Entscheidungen lassen auf eine verlässlichere Wirtschafts- und Geldpolitik hoffen. Viele Unternehmen befürchten allerdings weitere Kehrtwenden Erdoğans. Für die künftige Wirtschaftsentwicklung wird es entscheidend sein, Vertrauen bei internationalen Investoren und der heimischen Wirtschaft zurückzugewinnen. Die Inflation hat die reale Kaufkraft der Haushalte geschmälert. Gehaltserhöhungen federn die Einbußen meist nur ab. Die Leitzinserhöhungen könnten mittelfristig den Konsum dämpfen. Noch treibt die Inflation den Konsum an, denn Sparen lohnt sich kaum. Die Bevölkerung flüchtet wegen der schwachen Lira in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien (GTAI 1.7.2024; vgl. WKO 4.2024, S. 5).
Inoffizielle Erhebungen ergeben teilweise um bis zu doppelt so hohe Inflationsraten. Zu den größten Preistreibern zählen derzeit die Sektoren Hotellerie und Gastronomie, Gesundheit, Lebensmittel, nicht-alkoholische Getränke und Transport (WKO 4.2024, S. 5).
Die offizielle saisonal bereinigte Arbeitslosenquote ist wieder leicht angestiegen. Betrug sie im November 2021 noch 11,1 %, sank sie im Oktober 2023 laut türkischem Statistikamt auf 8,6 % (TUIK 10.1.2024). Im Juni 2024 waren hingegen wieder 9,2 % arbeitslos. Die Frauenarbeitslosenquote (saisonbereinigt) betrug im Juni 2024 hingegen 12,4 %, verglichen mit 7,6 % bei den Männern (TUIK 12.8.2024).
Neben der hohen Jugendarbeitslosigkeit bleibt die Langzeitarbeitslosigkeit von 20,8 % ein Problem. Lag die Jugendarbeitslosigkeit (Altersgruppe 15-24) im Herbst 2023 noch bei von 17,2 % (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52), erhöhte sich diese auf 17,6 % im Juni 2024, wobei diese bei jungen Frauen gar bei 23,2 %, verglichen mit 14,8 % bei den jungen Männern, lag. - Die offizielle saisonbereinigte Erwerbsquote lag im Juni 2024 bei 49,3 %. Die Erwerbsquote war bei den Männern mit 66,9 % mehr als doppelt so hoch wie bei den Frauen mit lediglich 32,1 % (TUIK 12.8.2024).
Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine empirische Studie der Forschungsagentur KONDA vom Mai 2024 unter 930 Jugendlichen zwischen 15 und 29 (von insgesamt 3.147 Befragten aller Altersgruppen) ergab, dass fast 60 % der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren im Ausland leben wollen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. In der Altersgruppe der 25- bis 29-Jährigen ging dieser Anteil zwar leicht zurück, lag aber immer noch bei mehr als der Hälfte (Duvar 24.6.2024).
Armut und soziale Ungleichheit
Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).
Was die soziale Inklusion und den sozialen Schutz betrifft, so verfügt die Türkei laut Europäischer Kommission noch immer nicht über eine gezielte Strategie zur Armutsbekämpfung. Der anhaltende Preisanstieg hat das Armutsrisiko für Arbeitslose und Lohnempfänger in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter erhöht. Die Armutsquote erreichte 2022 14,4 % gegenüber 13,8 % im Jahr 2021. Die Quote der schweren materiellen Verarmung (severe-material-deprivation rate) erreichte im Jahr 2022 28,4 % (2021: 27,2 %). Die Kinderarmutsquote war im Jahr 2022 mit 41,6 % besonders hoch (EC 8.11.2023, S. 102). Der Gini-Koeffizient als Maß für die soziale Ungleichheit (Dieser schwankt zwischen 0, was theoretisch völlige Gleichheit, und 1, was völlige Ungleichheit bedeuten würde.) stieg auch 2023 nach Einberechnung der dämpfend wirkenden Sozialtransfers weiterhin an. Betrug er 2014 noch 0,391, stieg er 2023 auf den Höchstwert von 0,433 (TUIK 29.1.2024) [Anm.: In Österreich betrug laut Momentum Institut der Gini-Koeffizient nach Steuern und staatlichen Transferleistungen 2020 0,28].
Zu den bekannten Auswirkungen hoher Inflation gehört, dass die Schere zwischen niedrigen und hohen Einkommen weiter auseinandergeht. Von 2014 bis 2023 ist der Anteil der niedrigsten vier Einkommensgruppen (80 %) am Gesamteinkommen gesunken, während der Anteil der höchsten Einkommensgruppe von 45,9 auf 49,8 % gestiegen ist. Das bedeutet, dass die obersten 20 % fast die Hälfte des verfügbaren Einkommens besitzen. Während Haushalte in der niedrigsten Einkommensgruppe mehr als 36 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke aufwenden müssen, beträgt dieser Anteil in der höchsten Einkommensgruppe nur gut 14 %. Das bedeutet, dass die niedrigste Einkommensgruppe mit 78 % überdurchschnittliche von der Inflation betroffen ist. Betrachtet man den Zeitraum von zehn Jahren, so ist der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke in der niedrigsten Einkommensgruppe von 28,8 % in 2014 auf 36,6 % in 2023 angestiegen (FES 11.7.2024).
Die Armutsgrenze in der Türkei lag Ende Dezember 2023 laut Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) bei 47.000 Lira (rund 1.400 Euro). - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag Ende Dezember 2023 bei 14.431 Lira (rund 440 Euro) (Duvar 3.1.2024a). Die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KAMU-AR gab gegen Ende Jänner 2024 bereits eine weitere Steigerung an. - Demnach lag die Hungergrenze bei 17.442 und die Armutsgrenze bereits bei 48.559 Lira (TM 25.1.2024).
Laut Statistikamt erhöhten sich die Preise im Jänner 2024 im Vergleich zum Vorjahresmonat um durchschnittlich fast 65 %. Daraufhin wurde der Mindestlohns zu Beginn des Jahres 2024 auf rund 17.000 Lira (516 Euro) angehoben. Seit Januar 2023 hat sich der Mindestlohn damit verdoppelt (Zeit Online 5.2.2024). Anders als für 2023 schloss Staatspräsident Erdoğan eine zweite Anpassung im Jahr 2024 aus (Duvar 27.12.2023). Auch Arbeitsminister Vedat Işıkhan schloss im Juni 2024 eine Erhöhung des Mindestlohns für die zweite Hälfte des Jahres 2024 aus und blieb bei der Position der Regierung, dass häufige Lohnerhöhungen die Inflation verschärfen könnten. Die Gewerkschaften waren der Ansicht, dass die Lohnempfänger nicht unter den Folgen der hohen Inflation leiden dürfen und dass die Regierung andere Wege zur Eindämmung der Inflation suchen sollte, anstatt den Arbeitnehmern eine Lohnerhöhung vorzuenthalten (TM 15.7.2024).
Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betrugen Anfang 2023 die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern im Mittel 25.365 Lira (ca. 1.260 Euro), und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023). So lagen die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten für eine vierköpfige Familie in der Istanbul im Januar 2024 bei 53.000 Lira (rund 1.540 Euro) und damit etwa dreimal so hoch wie der Mindestlohn (17.002 Lira), was zudem einer Steigerung um über 80 % im Vergleich zum Vorjahr (2023) entsprach (Duvar 11.2.2024).
Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befand sich 2023 mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).
Die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen betrugen 2021 lediglich 10,8 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).
Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gewährleistet. Unterkünfte im unteren Preissegment sind Mangelware. Die Zahl der Obdachlosen steigt durch Flüchtlinge, Inflation und zuletzt durch das Erdbeben. Bis auf einige gemeinnützige Einrichtungen mit wenigen Plätzen gibt es keine staatlichen Obdachlosenunterkünfte (AA 20.5.2024, S. 21).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
Duvar - Duvar (24.6.2024): Some 56 pct of young people in Turkey want to live abroad if given opportunity, https://www.duvarenglish.com/some-56-pct-of-young-people-in-turkey-want-to-live-abroad-if-given-opportunity-news-64562 , Zugriff 27.8.2024
Duvar - Duvar (11.2.2024): Cost of living for a family of four exceeds 53,000 liras in Istanbul, https://www.duvarenglish.com/cost-of-living-for-a-family-of-four-exceeds-53000-liras-in-istanbul-news-63818 , Zugriff 28.8.2024
Duvar - Duvar (3.1.2024a): Turkey’s poverty threshold hits nearly three times of new minimum wage, https://www.duvarenglish.com/turkeys-poverty-threshold-hits-nearly-three-times-of-new-minimum-wage-news-63595 , Zugriff 31.1.2024
Duvar - Duvar (27.12.2023): Turkey increases minimum wage by 49 percent to $578, https://www.duvarenglish.com/turkey-increases-minimum-wage-by-49-percent-to-578-news-63558 , Zugriff 9.1.2024
Duvar - Duvar (7.6.2022): 14.8 million people in Turkey suffer from undernourishment: UN report, https://www.duvarenglish.com/148-million-people-in-turkey-suffer-from-undernourishment-un-report-news-60908 , Zugriff 8.11.2023
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EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023
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GCT - Greek City Times (8.6.2022): Malnutrition in Turkey explodes as Erdoğan escalates war rhetoric against Greece, https://greekcitytimes.com/2022/06/08/malnutrition-in-turkey-erdogan/ , Zugriff 8.11.2023
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ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
Standard - Standard, Der (25.7.2022): Türkei lernt, mit Inflationsraten jenseits der 100 Prozent zu leben, https://www.derstandard.at/story/2000137723848/tuerkei-lernt-mit-inflationsraten-jenseits-der-100-prozent-zu-leben?ref=loginwall_articleredirect , Zugriff 9.1.2024
TM - Turkish Minute (15.7.2024): Turkeys poverty line nears $2,000, quadruple the minimum wage - Turkish Minute, https://turkishminute.com/2024/07/15/turkey-poverty-line-near-2000-quadruple-minimum-wage , Zugriff 28.8.2024
TM - Turkish Minute (25.1.2024): Hunger line surpasses Turkey’s 2024 minimum wage in January: union - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2024/01/25/hunger-line-surpass-turkey-2024-minimum-wage-in-january-union , Zugriff 31.1.2024
TM - Turkish Minute (8.6.2022): 90 percent of Turks struggling to make ends meet amid economic crisis: poll, https://www.turkishminute.com/2022/06/08/rcent-of-turks-struggling-to-make-ends-meet-amid-economic-crisis-poll/ , Zugriff 7.11.2023
TM - Turkish Minute (7.6.2022): 14.8 million Turks suffer from insufficient food consumption, UN data show, https://www.turkishminute.com/2022/06/07/illion-turks-suffer-from-insufficient-food-consumption-un-data-show/ , Zugriff 8.11.2023
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TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (29.1.2024): TÜİK Kurumsal, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Income-Distribution-Statistics-2023-53711 , Zugriff 22.8.2024
TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (10.1.2024): TURKSTAT - Labour Force Statistics, November 2023, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Labour-Force-Statistics-November-2023-49378&dil=2 , Zugriff 26.1.2024
WB - Weltbank (9.4.2024): Türkiye - Overview: Economy, https://www.worldbank.org/en/country/turkey/overview#3 , Zugriff 22.8.2024
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (4.2024): Außenwirtschaft Wirtschaftsbericht Türkei, https://www.wko.at/oe/aussenwirtschaft/tuerkei-wirtschaftsbericht.pdf , Zugriff 22.8.2024
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (10.3.2023): Mindestlohn ab 1.1.2023 um 55 % höher - Lebenshaltungskosten steigen weiter, http://web.archive.org/web/20230401112003/https:/www.wko.at/service/aussenwirtschaft/mindestlohn-ab-2023-55-prozent-hoeher.html , Zugriff 8.11.2023
Zeit Online - Zeit Online (5.2.2024): Wirtschaftskrise: Inflation in der Türkei steigt nach Mindestlohnerhöhung deutlich an, https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-02/tuerkei-wirtschaftskrise-inflation-mindestlohn-zentralbank , Zugriff 28.8.2024
Sozialbeihilfen / -versicherung
Letzte Änderung 2024-10-14 11:09
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 20.5.2024, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfı) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 20.5.2024, S. 21).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 46 Sozialunterstützungsleistungen, wobei der Anspruch an schwer zu erfüllende Bedingungen gekoppelt ist. - Hierzu zählen (alle mit Stand: November 2023): Sachspenden in Form von Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 türkische Lira (TL) für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von zwölf Monaten über monatlich 350 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 3.800 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 520 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Pensionen und Betreuungsgeld für Behinderte und ältere pflegebedürftige Personen: zwischen 1.200 TL und 1.800 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 5.089 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hatte 2023 monatlich Anspruch auf 2.250 TL aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt 23.308 TL, ansonsten 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SSA 9.2018).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt ,_B3richt_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf, Zugriff 6.11.2022 [Login erforderlich]
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
SGK - Anstalt für Soziale Sicherheit (Sosyal Güvenlik Kurumu) [Türkei] (2016): Universal Health Insurance, https://web.archive.org/web/20170103191505/http:/www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins , Zugriff 6.11.2023
SSA - Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 7.11.2023
Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung 2024-10-14 11:10
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR o.D.; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51).
Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 7.2023; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53., İŞKUR o.D.). Zudem muss der Arbeitnehmer die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).
Für das Jahr 2024 gab das türkische Arbeitsamt an, dass das Mindest-Arbeitslosengeld 7.940 TL (ca. 242 Euro, Wechselkurs vom 10.1.2024) und das Maximum an Arbeitslosenunterstützung 15.880 TL (ca. 484 Euro) betragen wird. Hierbei gilt generell die Bestimmung, wonach das maximale Arbeitslosengeld 80 % des Brutto-Mindestlohns nicht überschreiten darf, welcher für 2024 mit 20.002 TL (ca. 610 Euro) festgesetzt wurde (İŞKUR o.D.).
Quellen
IOM - International Organization for Migration (7.2023): Länderinformationsblatt 2023, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2023_Türkiye_DE.pdf , Zugriff 23.8.2024
IOM - International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 7.11.2023
İŞKUR - Turkish Employment Agency (Türkiye İş Kurumu) [Turkey] (o.D.): Unemployment Benefit, https://www.iskur.gov.tr/en/job-seeker/unemployment-insurance/unemployment-benefit/ , Zugriff 10.1.2024
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
Pension
Letzte Änderung 2024-10-14 11:11
Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der oder die Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er oder sie eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung. Personen, die älter als 65 sind, Menschen mit Behinderungen über 18 und Personen mit Verwandten unter 18 Jahren mit Behinderungen, für die sie die gesetzliche Vormundschaft übernehmen, können eine regelmäßige monatliche Zahlung erhalten. Unmittelbare Familienmitglieder von Versicherten, die nach ihrer Pensionierung verstorben sind und/oder mindestens zehn Jahre gearbeitet haben, haben Anspruch auf Witwen- oder Waisenhilfe. Wenn der/die Verstorbene länger als fünf Jahre gearbeitet hat, haben seine/ihre Kinder unter 18 Jahren, Kinder in der Sekundarschule unter 20 Jahren und Kinder, die unter 25 Jahre alt sind und an einer Hochschule eingeschrieben sind, Anspruch auf Waisenhilfe. Die Voraussetzungen für den Zugang für Rückkehrende sind folgende: Türkische Staatsbürger über 18 Jahre; Expatriates, die ihre Arbeit im Ausland dokumentieren können (einschließlich ein Jahr Arbeitslosigkeit); Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Pension erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben. Um um eine Pension anzusuchen müssen Rückkehrer sich bei der Sozialversicherung SGK anmelden, bei der sie ihre Prämie innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Ankunft gezahlt haben. Aus dem Ausland gezahlte Prämien können in die Türkei überwiesen und zum jeweiligen Wechselkurs bei Zeitpunkt der Überweisung in türkischen Lira zurückgezahlt werden. Erforderliche Dokumente umfassen eine beglaubigte Kopie des Personalausweises, Erklärungs- und Verpflichtungsschreiben sowie eine Quittung zur Bestätigung der Zahlung (IOM 7.2023).
Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2 % für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90 %. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018).
Kurz vor dem Jahreswechsel 2022/2023 hat Präsident Erdoğan das Mindestalter für die Pension aufgehoben und damit mehr als zwei Millionen Bürgern die Möglichkeit gegeben, sofort in den Ruhestand zu treten. Bislang galt in der Türkei ein Mindestalter von 60 Jahren für Männer und 58 für Frauen (Zeit Online 29.12.2022). Ab Mitte Jänner 2023 zählt nur noch die gearbeitete Zeit. 7.200 Tage berechtigen dann zum Pensionseintritt. Allerdings arbeiten viele Pensionisten trotzdem weiter, da die Pension nicht zum Leben reicht. Über zwei Mio. Türken würden in den Genuss der neuen Regelung kommen (ARD 2.1.2023).
Nachdem das staatliche türkische Statistikamt (TÜİK) bekannt gegeben hatte, dass der jährliche Verbraucherpreisindex für 2023 bei fast 65 % liegt, wurde u. a. auch die Erhöhung der Pensionen in die Wege geleitet. Die neue Mindestpension bleibt jedoch unter der Hungergrenze. Die Pensionen werden um 37,5 % erhöht. Dies ist jedoch nicht notwendigerweise der offizielle Betrag, da die Regierung u. a. einen Sozialanteil für alle Pensionisten hinzufügen kann. Die Hungergrenze in der Türkei lag im Dezember 2023 bei 14.431 Lira [rund 440 Euro mit Stand Jänner 2024], wie aus Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) hervorgeht. Die Gehälter von Beamten sowie Beamtenpensionen sollten um 46,5 % steigen (Duvar 3.1.2024b; vgl. TPE 17.12.2023).
Bei den Empfängern von Mindestpensionen erfolgt keine automatische Erhöhung mehr. Die Mindestpension setzt sich zusammen aus dem Pensionsanspruch und einer Zuzahlung aus dem Budget, der die Pension dann auf das Niveau der Mindestpension aufstockt. Die gesetzliche Erhöhung der Pension um die Inflation im ersten Halbjahr erhöht dann zwar den Pensionsanspruch, doch weil die Mindestpension nicht gesetzlich angehoben wurde, verringert sich dadurch nur die staatliche Zuzahlung. Aus diesem Grund haben Empfänger von Mindestpensionen im Jahr 2023 keine Erhöhung ihrer Zahlungen erhalten. Auch für Jahr 2024 war eine Erhöhung der Mindestpension zur Jahresmitte nicht vorgesehen (FES 11.7.2024).
Die türkischen Pensionisten gehören zu den ärmsten der Welt. Das Pensionsniveau in der Türkei liegt bei knapp 22 % des Wertes der nationalen Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Pension nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern (ILO 2021 S. 56f).
Quellen
ARD - Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (2.1.2023): Erdogans Rentengeschenk, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/erdogan-schafft-renteneintrittsalter-ab-101.html , Zugriff 7.11.2023
Duvar - Duvar (3.1.2024b): Turkey’s lowest pensioner salary to stay below hunger threshold after hike, https://www.duvarenglish.com/turkeys-lowest-pensioner-salary-to-stay-below-hunger-threshold-after-hike-news-63594 , Zugriff 10.1.2024
FES - Friedrich-Ebert-Stiftung (11.7.2024): AKP UND CHP IM DIALOG, https://turkey.fes.de/de/e/akp-und-chp-im-dialog.html , Zugriff 21.8.2024
ILO - International Labour Organization (2021): World Social Protection Report 2020–22: Social Protection at the Crossroads – in Pursuit of a Better Future, http://web.archive.org/web/20210901120748/https:/www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/---publ/documents/publication/wcms_817572.pdf , Zugriff 7.11.2023
IOM - International Organization for Migration (7.2023): Länderinformationsblatt 2023, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2023_Türkiye_DE.pdf , Zugriff 23.8.2024
SSA - Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 7.11.2023
TPE - Turkey Posts English (17.12.2023): The Central Bank’s inflation expectation has changed, the calculations are confused regarding the raises of retirees and civil servants! Here are the increased pension and civil servant salaries, https://turkey.postsen.com/business/462354/The-Central-Bank ’s-inflation-expectation-has-changed-the-calculations-are-confused-regarding-the-raises-of-retirees-and-civil-servants-Here-are-the-increased-pension-and-civil-servant-salaries.html, Zugriff 10.1.2024
Zeit Online - Zeit Online (29.12.2022): Türkei schafft Mindestalter für Altersrente ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-12/recep-tayyip-erdogan-alter-rente-tuerkei-aufgehoben?utm_referrer=https://www.zeit.de/thema/tuerkei , Zugriff 7.11.2023
Behandlung nach Rückkehr
Letzte Änderung 2024-10-14 11:12
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).
Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in bzw. für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen (AA 20.5.2024, S. 15f.), auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) (AA 28.7.2022, S. 15) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 20.5.2024, S. 15f.). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 10.1.2024). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (MBZ 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 10.1.2024). Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren sind auch im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien zu beobachten, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt z. B. in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben (AA 10.1.2024). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 10.1.2024).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13f.).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 50). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Eine Abfrage im Zentralen Personenstandsregister ist verpflichtend vorgeschrieben, insbesondere bei Rückübernahmen von türkischen Staatsangehörigen. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien und der Ukraine, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 57). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. MBZ 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (MBZ 18.3.2021, S. 71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB Istanbul 1.3.2023; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 20). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB Istanbul 1.3.2023).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: http://bruecke-istanbul.com/
TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf (DFAT 10.9.2020, S. 50).
Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Gegen Personen, die im Ausland für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurden, kann in der Türkei erneut ein Verfahren geführt werden (Art. 9). Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11/1). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben und Geldfälschung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51). Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S. 50).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat begangen wird: entweder gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE-VC 15.2.2016).
Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wird die illegale Ausreise aus der Türkei nicht als Straftat betrachtet. Infolgedessen müssten Personen, die unter diesen Umständen zurückkehren, wahrscheinlich nur mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 88).
Quellen
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USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich]
VB Istanbul - VB - Verbindungsbeamte des BMI in Ankara/Istanbul [Österreich] (1.3.2023): Auskunft des Büros des ÖB Militärattachés, Antwort per E-Mail
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in die Verfahrensakte der bB und die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks der BF im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung, Einholung aktueller Auszüge aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister, dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister, dem AJWEB und dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich und im Wege der Einsichtnahme in die vom BVwG in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquelle betreffend die Lage im Herkunftsstaat der BF, nämlich das Länderinformationsblatt Türkei der Staatendokumentation vom 18.10.2024 (Version 9).
Berücksichtigt wurden auch die von den BF im Zuge des Beschwerdeverfahrens eingebrachten Beweismittel, nämlich
1) ein Protokolls- und Urteilsvermerk des XXXX vom 18.12.2012, Zl. XXXX , betreffend die „Verurteilung“ des XXXX , geb. XXXX , zu einer „bedingten Freiheitsstrafe“ in der Dauer von zehn Monaten samt Entzug der Lenkberechtigung für die Dauer von zehn Monaten (Urteilsverkündung wurde ausgesetzt; Probezeit: 5 Jahre),
2) ein Beschluss des XXXX vom 07.03.2013, Zl. XXXX , betreffend die Zurückweisung des Einspruchs des XXXX gegen die Entscheidung des XXXX vom 18.12.2012,
3) eine Niederschrift der Polizeistation XXXX vom 08.12.2020, Zl. XXXX , betreffend eine Aussage bzw. Anzeige des BF2 wegen vorsätzlicher Körperverletzung,
4) ein Krankenhausbericht bzw. medizinisches Attest des Stadtkrankenhauses XXXX vom 08.12.2020 betreffend den BF2,
5) ein Referenzschreiben der Firma „ XXXX GmbH“ betreffend den BF1 (undatiert und nicht unterschrieben) sowie
6) das Deckblatt eines auf den Namen des BF1 lautenden Mietvertrages.
Die türkischsprachigen Beweismittel wurden jeweils einer Übersetzung zugeführt.
Die BF stellten im Verfahren vor dem BVwG keine über die Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinausgehenden Beweisanträge. Auch die bB brachte keine Beweisanträge ein.
2.2. Die bB konnte die Identität der BF aufgrund der Vorlage authentischer herkunftsstaatlicher Dokumente feststellen. Dem schließt sich der erkennende Richter mangels gegenteiliger Hinweise vollinhaltlich an. Hinsichtlich der Volksgruppenzugehörigkeit, des religiösen Hintergrundes und des allgemeinen Personenstandes erwiesen sich die BF als glaubwürdig.
Die Feststellungen zur Abstammung der BF und ihrer persönlichen und familiären Lebensumstände im Herkunftsstaat bis zur Ausreise sowie der Familienverhältnisse unter Punkt 1.1. und 1.2. beruhen auf den insoweit stringenten Angaben der BF im Verfahren erster Instanz und vor dem BVwG. Substantielle Zweifel an ihren diesbezüglichen Angaben bestehen nicht.
2.3. Die Gesundheitszustände wurden aufgrund der gleichlautenden diesbezüglichen Angaben der BF gegenüber der bB und dem BVwG festgestellt.
2.4. Die BF selbst legten keine Verfolgung aufgrund ihres politischen, ethnischen und religiösen Hintergrundes dar und gibt es auch keine dementsprechenden Hinweise.
Hinsichtlich des Fluchtvorbringens ist Folgendes auszuführen:
2.4.1. Im Wesentlichen beriefen sich die BF gegenüber der bB und dem BVwG auf eine Verfolgung durch einen (ehemaligen) Polizisten, der 2012 einen Unfall mit einem älteren Bruder der BF verschuldet habe, dessentwegen dieser sowohl straf- als auch zivilrechtlich belangt und vom Polizeidienst (vorübergehend) suspendiert worden sei. Daraufhin habe der Verfolger aus persönlichen Rachegelüsten die Familie der BF über die nachfolgenden Jahre hinweg ins Visier genommen und diese – in wechselhafter Intensität - mit telefonischen Drohanrufen sowie physischen Attacken behelligt. Die BF hätten mitunter auch Verletzungen davongetragen. Auf eine Verfolgung aus anderen Gründen stützten sich die BF nicht.
Abstrakt denkmöglich erscheint unter diesen Vorzeichen eine Subsumtion des Vorbringens der BF unter den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Ausschließlich im Beschwerdeschriftsatz machten die BF darüberhinaus antikurdischen Rassismus als mitbestimmendes Tatmotiv beim Verfolger, mithin einen ethnischen Verfolgungsgrund, geltend. Der BF2 relevierte gegenüber der Polizei in der Erstbefragung (und ausschließlich dort) zusätzlich eine antikurdische Diskriminierungssituation in seinem Herkunftsstaat.
2.4.2. Vorauszuschicken ist zunächst, dass das erkennende Gericht (anders als die bB) den BF insoweit Glauben schenkt, als sie einen Verkehrsunfall behaupteten, in welchen XXXX , geb. XXXX , als Schädiger bzw. Täter und XXXX als Geschädigter bzw. Opfer involviert gewesen waren, ebenso wie die vorgebrachten Eigenschaften der angeführten Personen als Polizist (auf Schädiger- bzw. Täterseite) und als Bruder der BF (auf Geschädigten- bzw. Opferseite) als wahr unterstellt werden. Gleichsam wird als glaubhaft zugrunde gelegt, dass der genannte Polizist vom XXXX mit Urteil vom 18.12.2012, Zl. XXXX , zu einer „bedingten Freiheitsstrafe“ in der Dauer von zehn Monaten „verurteilt“ und als sanktionelle Begleitmaßnahme über seine Person der Entzug der Lenkberechtigung für die Dauer von zehn Monaten ausgesprochen wurde, wobei die Urteilsverkündung ausgesetzt und eine Probezeit mit fünf Jahren bestimmt wurde. Ferner steht fest, dass das angeführte Strafurteil mit der Zurückweisung des dagegen von XXXX erhobenen Einspruchs durch Beschluss des XXXX vom 07.03.2013, Zl. XXXX , (zweitinstanzlich) in Rechtskraft erwachsen ist. Schließlich wird im Zweifel als wahr unterstellt, dass der BF2 am 07.12.2020 einem körperlichen Angriff durch unbekannte Täter ausgesetzt war, bei dem er mit Fußtritten und Ohrfeigen traktiert und verletzt wurde, ebenso wie feststeht, dass er daraufhin zur Untersuchung bzw. Behandlung ein Krankenhaus aufsuchte und anschließend Anzeige gegen Unbekannt erstattete. Dies aufgrund der diesbezüglich unstrittigen Beweislage (siehe Pkt. 2.1.), zumal die BF im hg. ergänzenden Ermittlungsverfahren entsprechende Bescheinigungsmittel vorlegten bzw. nachreichten, von deren Authentizität das erkennende Gericht - da eine abschließende Verifizierung nicht möglich ist - im Zweifel ausgeht. Soweit die bB in Betreff der dargelegten Punkte zu abstehenden Beweisergebnissen gelangt, erweist sich ihre dementsprechende Würdigung daher als unrichtig.
Zur Gänze misslingt den BF allerdings die Glaubhaftmachung einer damit in Zusammenhang stehenden Verfolgungsgefahr, da sich erhebliche Zweifel an der Glaubhaftigkeit ihres Vorbringens durch (außerordentlich) zahlreiche Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten (insbesondere Implausibilitäten) ergaben und sich der dokumentierte Beweisgehalt vor diesem Hintergrund bisweilen auch nicht auf die Schilderungen der BF zurückführen lässt. Zu diesem - dem Ergebnis nach mit der behördlichen Entscheidung gleichläufigen - Erkenntnis gelangt das BVwG aus nachfolgenden Erwägungen:
2.4.2.1. Im Recht ist die bB jedenfalls insoweit, als sie (zumindest) zwei gravierende Widersprüche im Vorbringen der BF in den Einvernahmen vor ihrer Stelle lozierte, welche die BF nachfolgend gegenüber dem BVwG auf entsprechende Vorhalte aufzulösen nicht imstande waren:
Als tragenden Beweggrund für die polizeilichen Schikanehandlungen schilderte der BF2 gegenüber dem Bundesamt, dass das Verfahren betreffend die (juristische) Aufarbeitung des Verkehrsunfalls mit dem älteren Bruder noch (in zweiter Instanz) offen gewesen sei und der Täter damit bezweckt habe, über Einschüchterungsversuche gegenüber der Familie eine Klagsrückziehung durch den älteren Bruder zu erwirken (vgl. Seite[-n] des behördlichen Verwaltungsakten [i.d.F. „Aktenseite“ bzw. kurz „AS“] 105 [BF2]). Aus diesem Grund sei bis dato auch (noch) kein (Schmerzen-)Geld an den Bruder geflossen (vgl. ebd.). Der BF1 äußerte sich dazu hingegen diametral entgegengesetzt, gab er diesbezüglich doch an, dass der Polizist keinerlei Forderungen an die Familie der BF gestellt habe, sondern sein Verfolgungsmotiv alleine darin begründet liege, dass er an den älteren Bruder Schmerzengeld gezahlt und die Familie dafür gehasst, mithin einen persönlichen Racheakt angestrebt, hätte (vgl. AS 94f.).
Die Beschwerde versuchte diese offenkundigen Widersprüche sinngemäß dadurch zu entkräften, dass der BF2 einem Erklärungsirrtum erlegen wäre und er seiner Aussage einen anderen Bedeutungsgehalt zugesonnen hätte. Es wäre nämlich nie die Intention des BF2 gewesen, Geldzahlungen gegenüber dem älteren Bruder in voller Absolutheit zu bestreiten, sondern vielmehr darauf hinzuweisen, dass dieser kein Geld dafür angenommen habe, die Anzeige zurückzuziehen (vgl. AS 297 [BF2]). Diese Rechtfertigung überzeugt indes nicht. Nicht nur, dass ihr der klare (und jeglichen weiteren Interpretationsspielraum ausschließende) Wortlaut der Aussage des BF2 entgegensteht (vgl. AS 105 [BF2]: „Der Polizeibeamte musste auch bis heute noch nichts zahlen, weil ja der Fall noch am Laufen ist.“), sie steht auch in völligem Widerspruch sowohl zur objektiven Beweislage im Hinblick darauf, dass das Verfahren zum entsprechenden (Aussage-)Zeitpunkt schon längst abgeschlossen war (siehe oben), als auch zum erwählten Rechtfertigungsansatz vor dem BVwG, gab er dort gegenüber dem erkennenden Richter auf dessen diesbezüglichen Vorhalt doch an, nicht genau zu wissen, ob er die entsprechende Aussage zum Schmerzengeld überhaupt getätigt habe oder nicht (vgl. Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 11.11.2024 [i.d.F. „Verhandlungsschrift“ oder kurz „VHS“], Seite[-n] [i.d.F. „S.“] 23). Demgegenüber bemühte sich der BF1 wiederum darum - merklich auf das Alter des BF2 anspielend -, dessen Aussage und Erinnerungsvermögen herunterzuspielen (vgl. VHS, S. 18), dem jedoch insoweit jegliche Überzeugungskraft abhanden kommt, als der BF2 zum Ausreisezeitpunkt (Oktober 2022) bereits 22 Jahre alt war und sich die entsprechende Insinuation des BF1, so man gemäß seiner Aussage unreflektiert zugrunde legen würde, dass sich der BF2 über die genaue Faktenlage offenbar keine Kenntnis verschafft habe, vor dem Hintergrund der persönlichen Tragweite seiner Fluchtentscheidung, mit der er schlechthin seinen gesamten bisherigen Lebensentwurf zum Einsturz bringen musste, als gänzlich abwegig erweist.
Da sich die BF folglich gegenüber dem Bundesamt nicht nur in nicht völlig nebensächlichen Detailfragen untereinander widersprachen (was bei Heranziehung eines lebensnahen Betrachtungsmaßstabs mit geringfügigen Fehlleistungen des Gedächtnisses erklärt werden könnte), sondern darüber hinaus jeweils für sich nicht nachvollziehbare und nicht einmal gleichbleibende Rechtfertigungsansätze erwählten, um entsprechende Differenzen im Aussagegehalt zu widerlegen, begründet schon für sich eine erhebliche Skepsis gegenüber dem Kernvorbringen der BF in dem Sinne, dass sich der Eindruck eines lediglich gedanklich ersonnenen, aber nicht real erlebten Sachverhalts zwanglos aufdrängt.
2.4.2.2. Erhebliche Abwandlungen waren zwischen den Angaben der BF im Rahmen der behördlichen Einvernahmen und ihren Ausführungen gegenüber dem BVwG auch insoweit zu orten, als sie in der mündlichen Verhandlung erstmals jeweils in Bezug auf ihre eigene Person innerstaatliche Zufluchtnahmen behaupteten (vgl. VHS, S. 16, 19 [BF1] u. 24 [BF2]), wo sie Derartiges auf ausdrückliche Nachfrage gegenüber dem Bundesamt noch dezidiert in Abrede gestellt hatten (vgl. AS 95 [BF1]; AS 105 [BF2]).
Insoweit der BF1 - unter Vorhalt dieses Widerspruchs - versuchte, der Niederschrift des Bundesamts den vollen Beweiswert abzusprechen, indem er die Behauptung aufstellte, der akführende Referent habe dieses Vorbringen (offenbar mutwillig) nicht bzw. (zumal er sich ausdrücklich gegenteilig äußerte) falsch ins Protokoll aufgenommen oder die diesbezügliche Übersetzung nicht veranlasst (vgl. VHS, S. 15f.), war dem die Glaubhaftigkeit gänzlich zu versagen. Dies aufgrund dessen, dass dem - abgesehen von kleineren Unachtsamkeiten, wie die fälschliche herkunftsstaatliche Bezugnahme auf Syrien beim Ländervorhalt (vgl. AS 97 [BF1]; AS 107 [BF2]) - grundsätzlich penibel und einwandfrei geführten behördlichen Protokoll keinerlei Hinweise auf derartige Problemlagen zu entnehmen sind und auch - trotz außer Streit stehender Durchführung einer Rückübersetzung - keine derartigen Umstände im Nachgang der Einvernahme moniert, sondern die Niederschrift vom BF1 gar auf jeder Seite unterfertigt wurde (vgl. AS 87ff.). Zudem unterblieb eine dahingehende Beanstandung im Beschwerdeschriftsatz gänzlich (vgl. AS 243 - 253 [BF1]; Verfahrensfehler wurden lediglich im Hinblick auf die unterbliebene [im Beschwerdeverfahren jedoch nachgeholte] Aufnahme von Beweismitteln moniert). Nicht zuletzt bestätigte der BF1 gegenüber dem Bundesamt aber auch den einwandfreien Verlauf der Einvernahme sowie den Protokollsinhalt auf dessen Richtig- und Vollständigkeit hin (vgl. AS 97f. [BF1]). Gründe dafür, dem entscheidungsbetrauten Organwalter des Bundesamts zu unterstellen, entsprechend dem Vorwurf des BF1 gehandelt zu haben, sind in keiner Weise indiziert, zumal Fehlprotokollierungen nicht zuletzt auch dienst- und/oder strafrechtliche Konsequenzen für seine Person nach sich ziehen könnten und kein diesbezügliches Eigeninteresse naheliegend ist. Jedenfalls wäre aber auch anzunehmen gewesen, dass dies spätestens im Beschwerdeschriftsatz vom BF1 aufgegriffen worden wäre. So jedoch ist der Versuch, den Beweiswert des Einvernahmeprotokolls der bB zwecks Optimierung der Erfolgsaussichten im Nachhinein zu erschüttern, offenkundig und sieht sich der erkennende Richter in keiner Weise veranlasst, den diesbezüglichen Angaben des BF1 Glauben zu schenken. Dass es sich hierbei lediglich um eine Schutzbehauptung handelt, ist ferner deshalb evident, weil er sich mit seinen nunmehrigen Angaben zur Chronologie seiner Fluchtbewegungen abermals in Widerspruch zu seinen Angaben beim Bundesamt setzt: während er sich dort im Hinblick auf seine Erwerbstätigkeiten im Herkunftsstaat nämlich dahin verantwortete, dass er zuerst als „Fabriksarbeiter in einer Tabakfabrik“ Anstellung gefunden habe und erst „danach“ als Elektriker tätig gewesen sei (vgl. AS 93 [BF1]), verkehrte er seine diesbezüglichen Aussagen beim BVwG - augenscheinlich zum Versuch, seine näheren Fluchtangaben dadurch zu untermauern - geradezu ins Gegenteil (vgl. VHS, S. 16: „Ich habe meine Stadt verlassen, bin nach XXXX und nach XXXX übersiedelt. Ich war da mit einem Cousin zusammen. Wir haben gemeinsam Elektrikerarbeiten verrichtet. Auch dort rief er uns an. Er sagte immer wieder, dass das Ganze nicht liegen wird. Sowohl in XXXX als auch in XXXX rief er uns an. Nachdem das nicht aufhörte, bin ich wieder zu meinen Eltern zurückgekehrt und habe dort in der Zigarettenfabrik zu arbeiten begonnen.“ iVm VHS, S. 19).
Keinesfalls vermag der BF1 dadurch, den vollen Beweiswert der Niederschrift gemäß § 15 AVG zu erschüttern, sondern sieht das erkennende Gericht die Essenz der entsprechenden Schutzbehauptung durch seine Person im Lichte der getätigten Ausführungen allein darin begründet, sich hinsichtlich widersprüchlichen Vorbringens die Möglichkeit zur (nachträglichen) Rechtfertigung vorzubehalten.
Bezeichnend und die diesbezügliche Unglaubwürdigkeit des BF1 abrundend ist, dass der BF2 Derartiges zu keinem Zeitpunkt im Verfahren monierte, sondern im Gegenteil - trotz expliziter Fragestellung des erkennenden Richters - keine Kritik an der behördlichen Einvernahme bzw. deren - der Person nach identen - Leiter übte (vgl. VHS, S. 21).
2.4.2.3. Ein weiterer eklatanter Widerspruch, der sich zwischen den Angaben der BF untereinander gegenüber dem BVwG erblicken ließ, lag darin begründet, dass der BF1 bei seinem Fluchtvortrag grundlegend seine persönliche (gar mehrmalige) Betroffenheit (wie auch jene des BF2) von körperlichen Übergriffen bzw. Verletzungshandlungen durch den Verfolger unterstrich (vgl. VHS, S. 15ff.), wohingegen der BF2 (sich gleichzeitig damit auch in Widerspruch zu seiner Erstbefragung setzend [vgl. AS 13 [BF2]; arg.: „Wir“]) behauptete, lediglich er, der BF2, wäre geschlagen worden (vgl. VHS, S. 22). Auf Rückfrage des erkennenden Richters relativierte er diese Aussage - unter gleichzeitigem Verweis auf sein junges Alter - zwar postwendend dahin, Derartiges auch in Bezug auf seinen ältesten Bruder (Anm.: XXXX ) nicht ausschließen zu können, verabsäumte es aber neuerlich, den hervorgetretenen Widerspruch zum Antwortverhalten des BF1 zu egalisieren (vgl. ebd.). Dass ein derart gravierender Eingriff in die persönliche Sphäre nicht gleichlautend in Bezug auf die jeweils betroffene Person wiedergegeben werden kann, spricht klar dagegen, dass die behauptete Verfolgung tatsächlich stattgefunden hat, anderenfalls - insbesondere angesichts der angeführten Bedeutung für das Leben der BF - jedenfalls anzunehmen wäre, dass diese auch Jahre später übereinstimmend geschildert werden könnte. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der letzte (vorgeblich fluchtkausale) körperliche Angriff auf den BF1 laut eigenen (hier unkritisch zugrunde gelegten) Angaben seiner Person 2022 erfolgte, ergo dieser Vorfall nicht so viele Jahre zurückliegt, sodass Unterschiede im Parteienvorbringen (gerade dafern sie [wie vom BF2 suggeriert] durch altersbedingte Erinnerungslücken hervorgerufen worden sein sollten) in Relation zum vergangenen Zeitraum nicht erheblich ins Gewicht fallen müssten, sondern sich vor weniger als zwei Jahren ereignete, weshalb die Erinnerungen einerseits aktuell sein, andererseits die unterschiedlichen Schilderungen noch mehr in den Vordergrund treten müssen. Dass der BF2 über die Fluchtmotive des BF1 im Unklaren gewesen sei, erscheint vor dem Hintergrund, dass es sich bei hier vorliegender Sachverhaltskonstellation um einen gemeinsamen (Kern-)Familienkreis handelt und der Ausreise auch ein gemeinsamer Fluchtentscheid der BF zugrunde lag, völlig unrealistisch.
2.4.2.4. Widersprüchlich war auch die Parteieneinlassung des BF1 und BF2 im Hinblick auf die dienstrechtliche Stellung des Verfolgers. Der BF1 behauptete, dieser wäre bloß vorübergehend, nämlich zehn Monate suspendiert (vgl. VHS, S. 18), während der BF2 auf Nachfrage demgegenüber ausdrücklich vorbrachte, der Verfolger wäre dauerhaft aus dem Polizeidienst entlassen worden (vgl. VHS S. 24). Nicht zuletzt steht aber die gegenteilige Äußerung des BF2 auch insoweit (zumindest) im Spannungsfeld zu seinen eigenen Angaben, als er seiner (individuellen) Verfolgungssituation zunächst einen politischen bzw. staatlichen Charakter aufzuprägen suchte (vgl. VHS, S. 23), was erheblich für ein aktives polizeiliches Dienstverhältnis sprach. Sein nachfolgender Erklärungsversuch, er habe dabei auf die ehemalige Kollegenschaft des Polizisten rekurriert, überzeugt insofern nicht, als unter der Prämisse nicht zu ersehen ist, weshalb er von seiner Dienststelle überhaupt erst ausgeschlossen worden wäre, kontraindizieren doch derart gravierende disziplinarrechtliche Maßnahmen, wie Entlassungen, jegliche (hier geradezu ins Kriminelle ausuferende) Loyalitätsgesinnung vonseiten der exekutivdienstlichen Gespannschaft.
2.4.2.5. Nicht zuletzt ist festzuhalten, dass sich die Eltern, zwei weitere Brüder und darüber hinaus der vom Verkehrsunfall unmittelbar betroffene Bruder der BF im Herkunftsstaat an deren üblichen Wohnadresse nach wie vor aufhalten und die BF gegenüber dem erkennenden Richter unisono zu verstehen gaben, ihren Angehörigen gehe es grundsätzlich gut (vgl. VHS, S. 12; arg.: „Nachgefragt, ob meine Verwandten in der Türkei Probleme haben, meines Wissens nach nicht. BF 2: Ich schließe mich der Aussage meines Bruders an.“), was darauf schließen lässt, dass sich diese Personengruppe offensichtlich - trotz vorgeblich nachhaltigem Behelligungseifer des Verfolgers - auch bislang nicht zur Ausreise veranlasst gesehen hat. Daraus ist jedoch konsequenterweise auch abzuleiten, dass, wenn sich die Kernfamilie der BF keiner Bedrohung ausgesetzt sieht, nicht plausibel sein kann, warum die BF mit Verfolgungshandlungen konfrontiert sein sollten, muss die gegenständlich behauptete Familienverfolgung bei lebensnaher Betrachtung doch logischerweise nicht bloß die BF selbst, sondern deren gesamte Kernfamilie (und erst recht den verunfallten Bruder XXXX , wurde auf sein Betreiben hin der Verfolger doch überhaupt erst einer straf-, zivil- und disziplinarrechtlichen Sanktionierung zugeführt) betreffen. Soweit die BF auf diesbezüglichen Vorhalt des erkennenden Richters an späterer Stelle wiederum Gegenteiliges beteuerten (vgl. VHS, S. 18f. u. S. 25), ist dem die Glaubhaftigkeit zu entsagen. Dies insbesondere deshalb, weil einerseits die Behauptung des BF1, er habe von seiner vorherigen wörtlichen (Pauschal-)Rekursnahme auf die Verwandtschaft - als er Probleme verneinte - die Kernfamilie gedanklich ausgeklammert, angesichts sowohl des notorischen Begriffsgehalts (das Wort „Verwandte“ schließt denklogisch auch den engeren Familienkreis mit ein) als auch des Aussagekontexts, in dem die (Kern-)Familienverhältnisse seiner Person tragend erörtert wurden (vgl. VHS, S. 12), gänzlich unbegründet ist und vor diesem Hintergrund ad hoc konstruiert erscheint, um - wie bei den vorangehenden Punkten veranschaulicht - augenscheinliche Diskrepanzen in seinen Aussagen nachträglich (und wiederum fremdinitiiert) aufzulösen. Andererseits ist auch unter Zugrundelegung allgemeiner Vernunftschlüsse keineswegs zu ersehen, weshalb sich die entsprechende Verfolgungsgefahr in den Personen der näheren Angehörigenschaft - unterstellte man entsprechend seiner Aussage, dass die Familie nunmehr ansinne, nach XXXX zu verziehen (vgl. VHS, S. 18) - erst jetzt - zwölf Jahre nach dem vermeintlich verfolgungskausalen Ereignis (Verkehrsunfall) - manifestieren sollte. Vielmehr war es augenscheinlich so, dass die BF - abermals vom entsprechenden Vorhalt des erkennenden Richters motiviert (wobei einem unter solchen Bedingungen erhobenen Sachvortrag ohnehin untergeordnete Beweiskraft beizumessen ist) - auch ihr Vorbringen zur Kernverwandtschaft gegenüber dem BVwG situationselastisch abwandelten, um auf Basis einer dramatisierten Darstellung der Aufenthaltsverhältnisse das gewünschte Verfahrensresultat (im Sinne einer Schutzerteilung) zu erreichen.
2.4.2.6. Aus den soeben dargestellten Erwägungen zur Vielzahl an im Verfahren hervorgekommenen Widersprüchen und Ungereimtheiten (die sich auf mehrere Verfahrensabschnitte und Vorbringensaspekte erstreckten) war resümierend abzuleiten, dass die persönliche Glaubwürdigkeit der BF eine erhebliche Erschütterung erfuhr. Das BVwG gewann dadurch zwanglos den Eindruck, dass die im Verfahren - über die eingangs angeführte objektive Faktenlage hinaus - gesamthaft vorgetragenen Geschehnisse bzw. Rückkehrbefürchtungen keine reale Grundlage aufweisen, sondern auf einem freien Gedankenkonstrukt beruhten. Jedenfalls wäre davon auszugehen gewesen, dass die BF imstande gewesen wären, wesentliche Eckpunkte ihres Kernvortrages gleichlautend bzw. zumindest in den Grobzügen stringent zu halten, was bei Gesamtbetrachtung der vorangeführten Erwägungen in signifikanter Häufigkeit nicht der Fall war. Kleine Divergenzen, welche erkennbar dem Verstreichen eines längeren Zeitraumes seit den geschilderten persönlichen Erlebnissen geschuldet wären, hätten zwar selbstverständlich nicht geschadet, im gegenständlichen Fall waren jedoch weder die Widersprüche als von bloß marginaler Ausprägung anzusehen, noch war ein erheblicher Zeitraum vergangen, um Erinnerungslücken oder Fehlleistungen bei der entsprechenden Sachverhaltswiedergabe im beschriebenen Ausmaß plausibel erscheinen zu lassen. Dass dem offenbar nicht so war, bekräftigte – wie bereits dargelegt - aus der Sicht des erkennenden Gerichts, dass der von den BF in das gegenständliche Verfahren als ausreisekausal eingebrachte Verfolgungssachverhalt auf einem Gedankenkonstrukt beruhte und im Hinblick auf ihre grundlegenden Fluchtangaben bereits zu keiner Glaubhaftmachung zu führen vermochte. Dass tatsächlich erlebte Sachverhalte im Bewusstsein von Personen deutlich besser verwurzelt sein müssen, diese sohin nach längerer Zeit gegenüber Gedankenkonstrukten im Wesentlichen gleichlautend abgerufen und auch entsprechend wiedergegeben werden können, war vorauszusetzen.
Bezugnehmend darauf, dass fallgegenständlich ein Krankenhausbericht des BF2 aufliegt und diesem ein Sachverhalt bzw. Vorfall (Prügelattacke) vom 07.12.2020 zugrundeliegt, der von seiner Person (in der Eigenschaft des präsumtiven Tatopfers) zur Anzeige gebracht wurde, war infolge der vorab gezogenen Schlussfolgerung daher kein Konnex zum von ihm behaupteten Verfolgungssachverhalt zu erschließen. Auch sonst trat kein diesbezüglich relevanter Verfolgungshintergrund ans Licht. Der tätliche Angriff auf den BF2 stellt nach Überzeugung des erkennenden Richters einen - wenn auch bedauerlichen - ausschließlich kriminell motivierten, jedoch singulären Vorfall dar, aus welchem zu keinem Zeitpunkt weitere nachteilige Konsequenzen für seine Person resultierten oder solche hinkünftig im Raum stehen würden.
2.4.3. Zur (ausschließlich in der Erstbefragung vom BF2 [vgl. AS 13 [BF2]] und im Beschwerdeschriftsatz [vgl. AS 245ff. [BF1]; AS 290ff. [BF2]]) behaupteten Verfolgung (bzw. schutzrelevanten Diskriminierung) von Angehörigen der kurdischen Ethnie ist festzuhalten, dass sich diese angesichts dessen, dass rund 15 Millionen Kurden in der Türkei leben, bereits aus Kapazitätsgründen als vollkommen illusorisch erweist und findet Derartiges auch im Länderinformationsblatt keine Deckung. Wäre es so, dass insbesondere Kurden in der Herkunftsregion der BF mit Problemen konfrontiert wären, wäre es den BF leicht möglich gewesen, in einem anderen Landesteil der Türkei Unterkunft zu nehmen. Eine (irreguläre) Migration nach Europa wäre nicht erforderlich gewesen. Dass die BF ohne Hinzutreten weiterer, sie exponierender, Umstände bloß aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum kurdischen Volk in den Fokus der Behörden geraten würde, kann als ausgeschlossen erachtet werden. Die teils prekäre Situation exponierter Vertreter der kurdischen Opposition wird vom erkennenden Gericht nicht verkannt, gegenständlich ist jedoch weder eine derartige Stellung der Personen der BF in der kurdischen Gesellschaft erkennbar, noch sind Hinweise darauf ersichtlich, dass sie von einer menschenrechtswidrigen Situation persönlich betroffen wären. Diskriminierungshandlungen gegen Angehörige von Minderheiten sind im Übrigen - wenn auch zweifelsohne zu verurteilen - in keinem Staat der Erde auszuschließen, ziehen jedoch in aller Regel keine Schutzrelevanz nach sich.
Im Übrigen ist anzumerken, dass sich die BF - wie erwähnt - lediglich im Rahmen der Beschwerde (vgl. ebd.) aufgrund ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit verfolgt wähnten, hingegen derartiges Vorbringen weder gegenüber der bB noch gegenüber dem BVwG erstatteten, im Gegenteil verneinten sie dies vielmehr einerseits ausdrücklich (vgl. AS 94 [BF1]; AS 104 [BF2]), andererseits machten sie ausschließlich persönliche Rachemotive ihres Verfolgers geltend und gaben sie mögliche Anknüpfungen an weitere Verfolgungsgründe sohin in keiner Weise zu erkennen (vgl. VHS, S. 18 - 20 u. S. 24f.). Im Lichte dieser Erwägungen erwecken die Beschwerdeausführungen zur rassistisch motivierten Individual- und Gruppenverfolgung den Eindruck einer (nicht glaubhaften) Vorbringenssteigerung zur (nachträglichen) Konstruktion einer Asylrelevanz.
Das BVwG geht sohin davon aus, dass die BF sich aufgrund ihrer ethnischen Wurzeln allenfalls diskriminiert wähnen, nennenswerte Eingriffe in ihre persönliche Sphäre jedoch - entsprechend den hg. Erwägungen, welchen aktuelle Länderinformationen einerseits und die konkrete Situation der BF andererseits zugrundegelegt wurden - selbst weder befürchteten noch objektiv in Hinkunft zu besorgen haben werden.
Nicht zuletzt ist darauf zu verweisen, dass die BF im Herkunftsstaat über zahlreiche Verwandte, welche ebenfalls der kurdischen Volksgruppe angehören und welche offenkundig keine Notwendigkeit sehen, die Türkei zu verlassen, verfügen, obschon diese ein den BF entsprechendes Profil aufweisen.
2.4.4. Das erkennende Gericht kommt in einer Gesamtschau der dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen folglich zum Schluss, dass den BF bei einer Rückkehr in die Türkei individuell und konkret aus den angeführten Gründen weder asylrelevante Eingriffe in ihre körperliche Integrität noch Lebensgefahr oder das Erleiden einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung droht. Andere sich auf die Türkei beziehende Fluchtgründe bzw. Rückkehrhindernisse wurden von den BF nicht vorgebracht und sind auch vor dem Hintergrund der ins Verfahren eingebrachten Länderberichte nicht hervorgekommen.
2.5. Dass den BF in ihrem Herkunftsstaat nicht die Verhängung der Todesstrafe droht, war problemlos daraus abzuleiten, dass diese in der Türkei abgeschafft ist und sie darüberhinaus nicht Ziel von Strafverfolgungsmaßnahmen sind. Dafür, dass den BF bei Rückkehr eine Verletzung ihres Rechts auf Leben oder körperliche Unversehrtheit, Folter oder unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohen würde, gibt es bei Zugrundelegung der gerichtlichen Feststellungen keine Hinweise. Dass derartige Eingriffe schlechthin jedem, der in der Türkei lebt, drohen, kann ebenso wenig aus den Länderfeststellungen der Staatendokumentation erschlossen werden. Dass den BF keine Verfolgungshandlungen seitens der türkischen Behörden oder Dritter drohen, gründet sich auf der o.a. Beweiswürdigung (siehe Punkt 2.4.). Nachdem ihnen schon zuvor keine maßgeblichen Verfolgungshandlungen drohten, geht das erkennende Gericht begründeter Weise nicht davon aus, dass ihnen solche nach Rückkehr drohen könnten.
Die direkte und gefahrlose Erreichbarkeit der Herkunftsregion ergibt sich zweifelsohne daraus, dass in der Türkei zwar eine angespannte Wirtschaftslage herrscht, jedoch keinerlei nennenswerte sicherheitsrelevante Vorfälle, die den grenzüberschreitenden oder innerstaatlichen öffentlichen Verkehr beeinträchtigen würden, stattfinden. Gegenteilige Behauptungen wurden im Verfahren nicht vorgebracht.
2.6. Die unter Punkt 1.6. getroffenen Feststellungen zur (nicht sicherheitsrelevanten) Rückkehrsituation der BF ergeben sich grundsätzlich aus ihren diesbezüglichen Angaben. Auf die Integration der BF in der herkunftsstaatlichen Gesellschaft war aufgrund ihrer Geburt und ihres Aufwachsens in der Türkei zu schließen. Ihre familiäre Verwurzelung erschließt sich aus den stringenten Angaben der BF und wird es ihnen nach erfolgter Rückkehr selbstverständlich möglich sein, bei den von ihnen angeführten Angehörigen, insbesondere ihren Eltern, - wie auch schon vor ihrer Ausreise - Unterkunft zu nehmen und zumindest kurzfristig die Unterstützung ihrer Verwandten zu beanspruchen. Auch ist die Familie der BF wirtschaftlich sowie im Hinblick auf deren Wohnraum grundsätzlich abgesichert, verfügen sie doch sowohl über geregelte Einkommen als auch über Immobilien (zweistöckiges Familienhaus, 4,8 ha. landwirtschaftliche Nutzflächen in XXXX [vgl. AS 102 [BF2]]). Aufgrund der familiären und sozialen Vernetzung sowie der adäquaten Ausbildung und der im Herkunftsstaat erworbenen Berufserfahrung hat der erkennende Richter keinerlei Zweifel daran, dass es den BF friktionsfrei möglich sein wird, sich binnen kurzer Zeit erneut eine gesicherte, wenn auch allenfalls bescheidene, Existenz in der Türkei aufzubauen. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass die Kernfamilie der BF über ein zweigeschossiges Haus in XXXX verfügt, welches aktuell von den Eltern und zwei Brüdern der BF bewohnt wird und in welchem sie bereits vor ihrer Ausreise gemeinsam mit diesen zu domizilieren pflegten. Angesichts der engen familiären Bande in der Herkunftskultur der BF ist auch keinesfalls zu erwarten, dass ihre Angehörigen ihre Unterstandslosigkeit in Kauf nehmen würden.
Den BF ist eine Wiedereingliederung in die türkische Gesellschaft und den türkischen Arbeitsmarkt sohin im Ergebnis aus eigener Kraft ohnedies möglich und zumutbar und können sie dabei auch auf die tatkräftige Unterstützung durch ihre Familie vertrauen.
Auf das in der Türkei bestehende Sozialsystem wird an dieser Stelle hingewiesen. Die etwaige Befürchtung, die BF könnten im Falle ihrer Rückkehr in eine aussichtslose Lage geraten, ist sohin - unbeschadet dessen, dass das Gericht die schwierige wirtschaftliche Lage, in der sich die Türkei und deren Bürger gegenwärtig befinden, nicht verkennt - nicht gerechtfertigt.
2.7. Die unter Punkt 1.7. getroffenen Feststellungen zum Aufenthalt der BF in Österreich gründen sich im Wesentlichen auf die bezughabenden Darlegungen ihrer Personen in den Verfahren vor dem Bundesamt und dem BVwG. Ferner wurden von Gerichts wegen Auszüge aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister, dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister, dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich sowie der Sozialversicherungsdatenbank „AJWEB“ beigeschafft, denen nichts Gegenteiliges entnommen werden konnte. Insbesondere legten die BF keine Integrationsunterlagen vor, die vom objektiven Aussagekern der getroffenen Feststellungen abweichende Beweisergebnisse zutage fördern würden. Zweifel an ihren diesbezüglichen Angaben bestanden - soweit sie zur Feststellung erhoben wurden - prinzipiell nicht und wurden diese - insoweit aus den angeführten Auskunftsquellen keine gegenteiligen Ergebnisse zu erschließen waren - mit ihrem äußeren Aussagegehalt als Feststellung positiviert, ansonsten - insoweit Änderungen gegenüber der objektiven Beweislage schlagend waren (so beispielsweise in Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis des BF2 gemäß aktueller Auskunftslage nach dem AJWEB) - an die entsprechenden Abfrageergebnisse angepasst.
Die Feststellungen betreffend die Beschäftigungsverhältnisse und Leistungsbezugsstatus der BF entsprechen der Auskunftslage nach dem AJWEB und der Grundversorgungsdatenbank. Daraus ergibt sich u. a. auch, dass sie zum hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt selbsterhaltungsfähig sind.
Davon, dass die BF im Ergebnis über keine nennenswerten Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen, konnte sich der erkennende Richter selbst durch persönliche Wahrnehmung in der mündlichen Verhandlung überzeugen (vgl. VHS, S. 10f.). Eine Gesprächsführung war, selbst auf schlichtem Niveau, mit keinem der BF möglich (im Hinblick auf seine Freizeitgestaltung äußerte sich der BF1 zwar sinnvermittelnd, jedoch referenzierte er dabei vom Fragekontext abweichende Themenstellungen [Deutschkenntnisse und Arbeitsalltag] und wirkte der nähere Aussagegehalt angesichts der verfehlten Zielrichtung seines Antwortverhaltens geradezu einstudiert, im Übrigen misslang beiden BF eine zusammenhängende Verständigung aber weitestgehend), was vor dem Hintergrund, dass sie sich bis zur mündlichen Verhandlung seit rund zwei Jahren im deutschsprachigen Raum aufgehalten hatten sowie über durchschnittliche kognitive Fähigkeiten verfügen, jegliche maßgebliche Eigeninitivative beim Spracherwerb widerlegt. Ausgehend von ihrer Aussageleistung - und zumal sie abseits davon weder Deutschkursbesuche noch positive Leistungsbeurteilungen zu bescheinigen vermochten - gelangte das BVwG zu den entsprechenden Feststellungen, wonach der BF1 lediglich marginal und der BF2 hingegen gar nicht in deutscher Sprache kommunikationsfähig ist.
Dass sie über keinerlei familiäre Anbindung in Österreich verfügen, hingegen derartige Bande in Gestalt zweier Onkel in der Bundesrepublik Deutschland aufweisen, wiederum jedoch zu diesen keine Kontaktverhältnisse unterhalten, beruht auf den diesbezüglichen unwidersprochenen Angaben der BF in der mündlichen Verhandlung.
Selbiges gilt für die Feststellung der Freizeitaktivitäten der BF.
Die BF gaben zwar an, über Freundeskreise zu verfügen, diesbezüglich konnte ihrem Vorbringen jedoch nicht gefolgt werden, zumal sie einerseits nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, um mit Personen, die weder der türkischen noch der kurdischen Sprache mächtig sind, in einen komplexen Dialog zu treten, wobei die gemeinsame Sprache aber üblicherweise die Grundlage wechselseitiger emotionaler Verbundenheit darstellt, andererseits, weil die bisherige Aufenthaltsdauer von rund zwei Jahren und drei Monaten nicht ausreicht, um einen entsprechenden Nahebezug zu intensivieren. Allenfalls verfügen die BF über oberflächliche Bekanntschaften im Bundesgebiet, welche sich vorwiegend aus dem Arbeitsumfeld speisen. Dafür spricht auch, dass die BF keinen einzigen Freund namhaft zu machen und auch keinerlei Referenzschreiben oder Unterschriftenlisten, in welchen sich für deren Verbleib im Inland ausgesprochen wird, vorzulegen vermochten. Das Empfehlungsschreiben der XXXX GmbH bezieht sich lediglich auf die (erfolgreiche) Arbeitsleistung des BF1 und kann diesem kein darüberhinausgehender Beweiswert entnommen werden.
Wenn der BF1 geltend macht, er pflege eine Liebesbeziehung zu einer ungarischen Staatsbürgerin namens XXXX oder kurz „ XXXX “ (vgl. VHS, S. 9), so wird nicht von einer diesbezüglichen Relevanz für sein Privatleben ausgegangen. Dies deshalb, weil er weder in der Lage war, deren Nachnamen noch ihr Geburstdatum mit Sicherheit anzugeben, sondern sich auf die Aussage beschränken musste, sich mit dem ungarischen Familiennamen „schwer zu tun“ und dass sie 52 Jahre alt sei (vgl. ebd.). Auch die kurze Dauer der angeblichen Beziehung von (ununterbrochen) vier Monaten sowie der Umstand, dass der BF weder Deutsch noch Ungarisch kann, während seine angebliche Freundin auch nicht Türkisch spricht, weshalb zur Verständigung weitgehend Übersetzungsprogramme herangezogen wurden (vgl. ebd.; seine partiell gegenläufige Angabe, wonach sie Deutsch sprechen würden, erwies sich angesichts seiner mangelnden diesbezüglichen Sprachbegabung als nicht glaubhaft) spricht gegen eine intensive wechselseitige Bindung, sodass eine (allenfalls auch dauerhafte) Trennung sowohl dem BF1 als auch seiner angeblichen Freundin jedenfalls zugemutet werden kann. Der BF2 verneinte hingegen das Bestehen einer Liebesbeziehung überhaupt. Relevante Anbindungen waren in dieser Ausformung sohin in Bezug auf keinen der BF feststellbar.
Für die im Übrigen getroffenen Feststellungen bestand kein gegenteiliger Anhaltspunkt in den vorliegenden Verwaltungs- und Gerichtsakten.
2.8. Den Daten des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister kann darüber hinaus entnommen werden, dass der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet nie nach § 46a Abs 1 Z 1 oder Abs 1a FPG geduldet war. Hinweise darauf, dass ihr weiterer Aufenthalt zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig wäre oder die BF im Bundesgebiet Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO wurden, kamen im Verfahren nicht hervor. Es wurde auch kein dahingehendes Vorbringen erstattet, sodass keine positiven Feststellungen in dieser Hinsicht getroffen werden können.
2.9. Die zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen ergeben sich aus den vom BVwG herangezogenen Erkenntnisquellen (aktuelles Länderinformationsblatt zur Türkei), die den BF im Wege ihrer rechtsfreundlichen Vertretung unter gleichzeitiger Angaben der herangezogenen Quellen zur Erstattung einer Stellungnahme übermittelt wurden. Die BF sind den ihnen übermittelten Berichten nicht entgegengetreten.
Insoweit seitens der BF, insbesondere im Rahmen der Beschwerdeschriftsätze, weitere Berichte ins Verfahren eingebracht wurden, standen diese nicht im Widerspruch zu den zur Entscheidungsfindung herangezogenen Länderinformationen der Staatendokumentation.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Gemäß § 7 Abs 1 Z 1 BFA-VG idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Zu A)
3.1. Nichtzuerkennung der Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.):
3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 83/2022 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention), droht.
§ 2 Abs. 1 Z. 11 AsylG 2005 umschreibt Verfolgung als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, worunter – unter anderem – Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182).
Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Eine Verfolgungsgefahr ist anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht.
3.1.2. Glaubhaftmachung bedeutet, die Behörde davon zu überzeugen, dass der behauptete Sachverhalt wahrscheinlich verwirklicht oder nicht verwirklicht worden ist. Die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der hiezu geeigneten Beweismittel, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (AsylGH, 5.5.2009, A11 306.977-2/2009).
Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Nach der Judikatur ist die Wahrscheinlichkeit dann gegeben, wenn die für den ursächlichen Zusammenhang sprechenden Erscheinungen, wenn auch noch so geringfügig, gegenüber den im entgegen gesetzten Sinn verwertbaren Erscheinungen überwiegen (Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht8, Rz 355 mit Hinweisen auf die Judikatur). Hat die Partei ein Ereignis glaubhaft zu machen, trifft die Partei die "Beweislast", dh. kann das Ereignis durch die – von der Partei anzubietenden – Beweise (iS. von Bescheinigungsmitteln) nicht glaubhaft gemacht werden, so ist ihr Antrag abzuweisen (Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht8, Rz 623 mit Hinweisen auf die Judikatur und das Schrifttum). (AsylGH 15.12.2008, E2 244.479-0/2008)
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Begriff der "Glaubhaftmachung" im Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinne des § 274 ZPO zu verstehen (VwGH 15.03.2001, 2001/16/0136; 25.06.2003, 2000/04/0092). Ausgehend von § 274 Absatz 1 letzter Satz ZPO eignet sich nur eine Beweisaufnahme, die sich sofort ausführen lässt (mit Hilfe so genannter "parater" Bescheinigungsmittel) zum Zwecke der Glaubhaftmachung (siehe dazu VwGH 25.06.2003, 2000/04/0092 unter Hinweis auf OGH 23.03.1999, 4 Ob 26/99y, in ÖBl 1999, 240; sowie OGH 23.09.1997, 4 Ob 251/97h, in ÖBl 1998, 225), wobei der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen seiner asylrechtlichen Spruchpraxis von dieser Einschränkung offenkundig abweicht. Mit der Glaubhaftmachung ist aber auch die Pflicht der Verfahrenspartei verbunden, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der behaupteten Voraussetzungen spricht und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen, die objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Voraussetzung liefern. Insoweit trifft die Partei eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Allgemein gehaltene Behauptungen reichen für eine Glaubhaftmachung nicht aus (vgl dazu VwGH 24.02.1993, 92/03/0011; 01.10.1997, 96/09/0007; 25.06.2003, 2000/04/0092; siehe auch Hengstschläger/Leeb, AVG 2. Teilband [2005], § 45 Rz 3 mit Hinweisen auf die Judikatur). (AsylGH 22.10.2008, E2 221.979-0/2008)
Zwar reicht für eine Glaubhaftmachung im Gegensatz zu einer Beweisführung der Nachweis der Wahrscheinlichkeit aus, es müssen aber die für die Annahme eines Sachverhaltes sprechenden Gründe die gegenteiligen Gründe jedenfalls überwiegen, wobei der Aussage des Asylwerbers selbst wesentliche Bedeutung zukommt (AsylGH 15.6.2009, D11 260.145-0/2008/8E).
Auch ein bei der Einvernahme gewonnener unmittelbarer Eindruck von der Glaubwürdigkeit des Vernommenen muss in der Bescheidbegründung in einer nach dem Prüfmaßstab des Verwaltungsgerichtshofes objektiv nachvollziehbaren Art und Weise seinen Niederschlag finden (VwGH 16.5.2007, 2007/01/0151).
Es liegt in der Natur der Sache, dass die vom Asylwerber geltend gemachte Furcht nicht bloß behauptet, sondern auch glaubhaft gemacht werden muss. Dabei steht die Vernehmung des Asylwerbers als wichtigstes Beweismittel zur Verfügung. Im Rahmen der Beweiswürdigung ist grundsätzlich den Angaben des Asylwerbers bei seiner ersten Befragung im Verwaltungsverfahren größere Glaubwürdigkeit zuzumessen als späterem Vorbringen. Erfahrungsgemäß machen nämlich Asylwerber gerade bei der ersten Befragung spontan jene Angaben, die der Wahrheit am nächsten kommen. Als glaubwürdig können Fluchtgründe im Allgemeinen nicht angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens unterschiedlich oder gar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen und wenn er maßgebliche Tatsachen erst spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt. Die erkennende Behörde kann einen Sachverhalt grundsätzlich nur dann als glaubwürdig anerkennen, wenn der Asylwerber gleichbleibende Angaben macht, wenn diese Angaben wahrscheinlich und damit einleuchtend erscheinen und wenn erst spät gemachte Angaben nicht den Schluss aufdrängen, dass sie bloß der Asylerlangung dienen sollen, der Wirklichkeit aber nicht entsprechen (AsylGH, 7.4.2009, D12 219.513-4/2009/2E; VwGH 06.3.1996, 95/20/0650).
Auch der VwGH hat bereits mehrmals ausgesprochen, dass bei gleichbleibenden Verhältnissen im Herkunftsland bei gesteigertem Vorbringen des Asylwerbers die Wertung eines Vorbringens als unglaubwürdig nachvollziehbar sein kann (VwGH 27.4.2006, 2002/20/0170).
Auch der VwGH geht davon aus, dass ein spätes, gesteigertes Vorbringen als unglaubwürdig qualifiziert werden kann. Denn kein Asylwerber würde wohl eine sich bietende Gelegenheit zentral entscheidungsrelevantes Vorbringen zu erstatten, ungenützt vorübergehen lassen (VwGH 7.6.2000, 2000/01/0250).
Erachtet die Behörde im Rahmen der Beweiswürdigung die Angaben des Asylwerbers grundsätzlich als unwahr, dann können die von ihm behaupteten Fluchtgründe gar nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrundegelegt werden und es ist auch deren Eignung zur Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung gar nicht näher zu beurteilen. (VwGH 09.05.1996, 95/20/0380)
3.1.3. Gemäß Art. 9 Abs. 1 StatusRL gelten Handlungen als Verfolgung, die a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a) beschriebenen Weise betroffen ist.
Laut Abs. 2 können als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 unter anderem die folgenden Handlungen gelten:
a) Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
b) gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
c) unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
d) Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
e) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Artikels 12 Abs. 2 fallen, und
f) Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist unter Verfolgung ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen (VwGH 24.11.1999, 99/01/0280).
Bei der begründeten Furcht vor Verfolgung muss es sich um eine solche handeln, die aus objektiver Sicht begründet ist und einen weiteren Verbleib des Asylwerbers in seinem Heimatland unerträglich erscheinen lässt (VwGH 24.7.2001, 97/21/0636; VwGH 25.4.1994, 94/20/0034).
3.1.4. Das BVwG qualifizierte das Vorbringen der BF als weitestgehend unwahr und von ihnen zwecks Legalisierung ihres Aufenthalts in einem ihnen genehmen Mitgliedsstaat der EU konstruiert (bzw. in erheblichem Ausmaß zu selbigem Zwecke dramatisiert). Verfolgungshandlungen durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure gegen die BF, welche deren Begründung in einem von der GFK besonders geschützten individuellen Merkmal finden, traten nicht ans Licht und drohen ihnen solche auch im Rückkehrfall nicht.
3.1.5. Eine schutzrelevante Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe vermochten die BF nicht (substantiiert) darzulegen und schenkte ihnen das BVwG diesbezüglich im Übrigen auch keinen Glauben; insofern die BF Diskriminierungen gegen sich geltend machten, sei auf die unter Punkt 3.1.3. zitierte höchstgerichtliche Judikaturlinie zur erforderlichen Eingriffsintensität hingewiesen; Hinweise darauf, dass diese Erheblichkeitsschwelle fallgegenständlich erreicht worden wäre, liegen dem erkennenden Gericht nicht vor.
Die schwierige allgemeine Lage einer ethnischen Minderheit oder der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft im Heimatland eines Asylwerbers ist - für sich allein - nicht geeignet, die für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorauszusetzende Bescheinigung einer konkret gegen den Asylwerber gerichteten drohenden Verfolgungshandlung darzutun (VwGH 31.1.2002, 2000/20/0358).
3.1.6. Zur Auslegung des Begriffs der „sozialen Gruppe“ hat sich der Verwaltungsgerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung auf Art. 10 Abs. 1 lit d Status-RL und die dazu ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) bezogen. Damit das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ im Sinn dieser Bestimmung festgestellt werden kann, müssen nach der Rechtsprechung des EuGH folgende Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. erneut VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, mwN). Bei der sozialen Gruppe handelt es sich um einen Auffangtatbestand. Eine soziale Gruppe kann aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (vgl. den hg. Beschluss vom 29. Juni 2015, Ra 2015/01/0067, und das hg. Erkenntnis vom 26. Juni 2007, 2007/01/0479, mwN). Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen und zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350). Dabei ist zu beachten, dass nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als „Verfolgung“ im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen ist, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 Status-RL). Ob dies der Fall ist, ist im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (VwGH 14.08.2020, Ro 2020/14/0002 mwN).
Die BF beschränken sich darauf, eine Verfolgung wegen „ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe ihrer Familie“ anzudeuten. Ausführungen zu den Voraussetzungen für die Annahme einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur - angeblichen - sozialen Gruppe fehlen gänzlich (die Beschwerden beschränken ihre [rechtlichen] Ausführungen explizit nur auf den Verfolgungsgrund der [kurdischen] Volksgruppenzugehörigkeit [vgl. AS 254 [BF1]; AS 300 [BF2]]). Auch im Übrigen - insbesondere unter Bedachtnahme auf die Länderinformationen - ergab sich nicht, dass etwa Männer, die - unter Zugrundelegung des gegenständlichen Vorbringens - womöglich von individuellen Rachebestrebungen eines (ehemaligen) Exekutivbeamten betroffen sein könnten, von der sie umgebenden türkischen Gesellschaft überhaupt als solche erkannt und als andersartig betrachtet werden würden. Auf die weiteren Voraussetzungen näher einzugehen, erübrigt sich somit. Da in der Türkei eine solche soziale Gruppe nicht existiert, ist eine Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (unbeschadet obiger Ausführungen zur misslungenen Glaubhaftmachung des Fluchtgrundes) jedenfalls ausgeschlossen.
3.1.7. Den Anträgen auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Flüchtlingsstellung war sohin kein Erfolg zu bescheiden und waren die Beschwerden diesbezüglich abzuweisen.
3.2. Nichtzuerkennung der Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.):
3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen, ob im Falle der Rückführung der BF in die Türkei Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde.
Bei der Beurteilung, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht, bedarf es einer Auseinandersetzung mit der allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat (VwGH 27.04.2020, Ra 2019/19/0455 mwN). Die dabei anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen.
Nach der ständigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verwaltungsgerichtshofs obliegt es grundsätzlich dem BF, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos glaubhaft zu machen, dass ihm im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (EGMR U 05.09.2013, I. gegen Schweden, Nr. 61204/09; VwGH 18.03.2015, Ra 2015/01/0255). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86).
3.2.2. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 sind in Ansehung der BF nicht gegeben:
Für die Gewährung des Abschiebungsschutzes ist die maßgebliche Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Verletzung der Menschenrechte gefordert.
Unter realer Gefahr ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (VwGH 19.2.2004, 99/20/0573, mwH auf die Judikatur des EGMR). Es müssen sachliche, stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre und es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der betroffenen Person eine derartige Gefahr drohen würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus.
Nach der Judikatur des EGMR obliegt es der betroffenen Person, die eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Abschiebung behauptet, so weit als möglich Informationen vorzulegen, die den innerstaatlichen Behörden und dem Gerichtshof eine Bewertung der mit einer Abschiebung verbundenen Gefahr erlauben (EGMR 5.7.2005, Said gg. die Niederlande).
Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH zu § 51 FPG hat der Fremde das Bestehen einer aktuellen – also im Fall der Abschiebung dort gegebenen – durch staatliche Stellen zumindest gebilligten Bedrohung im Sinn des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist. Dabei ist die konkrete Einzelsituation in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung in das Herkunftsland zu beurteilen. Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung genügt allerdings nicht, um die Abschiebung unter dem Gesichtspunkt des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG als unzulässig erscheinen zu lassen (VwGH, 13.04.2010, 2008/18/0333).
Gemäß Art. 15 StatusRL gilt als ernsthafter Schaden iS einer Voraussetzung für die Gewährung von subsidiärem Schutz:
a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder
b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder
c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Eine in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK fallende Maßnahme stellt dann eine unmenschliche Behandlung oder Strafe dar, wenn sie eine gewisse Schwelle erreicht. Die Bestimmung der Frage, ob eine konkrete Maßnahme dieses Mindestmaß erreicht, ist relativ und hängt von den genannten Umständen des Falles ab, einschließlich der Dauer der Maßnahme sowie ihrer physischen und mentalen Auswirkungen (EGMR, 28.11.1996, Nsona v. Niederlande Nr. 23366/94).
Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (EGMR GK 07.07.1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88). Dass die BF in ihrem Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden, eine dahingehende reale Gefahr ist somit nicht gegeben.
3.2.3. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des BF so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH U 17.02.2009, Meki Elgafaji und Noor Elgafaji gegen Staatssecretaris van Justitie, C-465/07). Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen: ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind, ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind, ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden und schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07). Der EuGH nennt als weitere maßgebliche Kriterien die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts, das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, den tatsächlichen Zielort des Asylwerbers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und schließlich ob die die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen eventuell mit Absicht erfolgt (EuGH U 10.06.2021, CF und DN gegen Bundesrepublik Deutschland, C-901/19).
Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt jedoch nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09).
Verkannt wird zwar nicht, dass die Türkei sich fallweise mit dem Eintreten sicherheitsrelevanter Vorfälle (insbesondere Terroranschlägen und bewaffneten Konfrontationen zwischen Sicherheitskräften und Kämpfern der PKK) konfrontiert sieht, dies ist jedoch weder die Regel noch stellt dies eine landesweite Problematik dar, vielmehr ist selbst in den Konfliktgebieten im Südosten des Landes üblicherweise ein von Kämpfen unbeeinflusstes Leben möglich und ist die Wahrscheinlichkeit, unschuldig zwischen die Fronten zu geraten und Schaden zu erleiden, bloß als theoretisch gegeben anzusehen. Dauerhaft bürgerkriegsähnliche Situationen oder Vergleichbares gibt es in keinem Landesteil der Türkei.
3.2.4. Die BF sind gesunde, arbeitsfähige und -willige Männer mit im Herkunftsstaat erworbener Bildung und (sowohl in der Türkei als auch in Österreich erlangter) Berufserfahrung. Sie sind mit der Sprache, den lokalen Umständen sowie den Gebräuchen in der Türkei vertraut und werden folglich im Rückkehrfall in der Lage sein, ihr Auskommen als Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft zu bestreiten. Ferner ist davon auszugehen, dass die BF bei ihren in XXXX lebenden Angehörigen sozialen Anschluss und Unterstützung im Wege der zumindest anfänglichen Zurverfügungstellung von Grundnahrungsmitteln vorfinden werden. Das Wohnbedürfnis der BF ist befriedigt, da ihnen ihr Elternhaus - wie schon vor ihrer Ausreise - zur Verfügung stehen wird.
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet auch nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (VwGH 17.09.2019, Ra 2019/14/0160).
3.2.5. Ziel des Refoulementschutzes ist es jedoch nicht, Menschen vor unangenehmen Lebenssituationen, wie es beispielsweise der Neuaufbau einer Lebensgrundlage im Herkunftsland sein wird, zu beschützen, sondern einzig und allein Schutz vor Lebenssituationen, die ua Art. 3 EMRK widersprechen würden, zu gewähren (AsylGH 12.1.2009, D11 227593-0/20008/8E). Laut Länderinformationsblatt der Staatendokumentation droht den BF durch die Rückkehr in den Herkunftsstaat ansich keinerlei Gefährdung ihrer Personen. Dass sie in der Lage sein werden, sich erneut eine Existenz aufzubauen, wurde ebenso unter Hinweis auf ihr Alter, ihre (Aus)Bildung und ihre Erwerbsfähigkeit sowie ihre familiäre und soziale Vernetzung bewiesen.
Auch betont der Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung die erforderliche Exzeptionalität der Umstände und die hohe Schwelle die auch in Fällen schlechter wirtschaftlicher Existenzgrundlage vorliegen muss, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK darzustellen (VwGH 23.09.2009, Zl. 2007/01/0515; VwGH 06.11.2009, Zl. 2008/19/0174).
3.2.6. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die BF somit nicht in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden, sodass der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten jeweils zu Recht abgewiesen wurde.
3.3. Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz (Spruchpunkt III.):
3.3.1. Wird ein Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, ist gemäß § 58 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung ist gemäß § 58 Abs. 3 AsylG 2005 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
3.3.2. Der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet war ausweislich der Feststellungen nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden schließlich nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
3.3.3. Den BF ist daher kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen. Der gegen Spruchpunkt III. der angefochtenen Bescheide erhobenen Beschwerde kommt keine Berichtigung zu.
3.4. Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK und Erlassung einer Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.):
3.4.1. Die Einreise der BF in das Gebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich ist nicht rechtmäßig erfolgt. Sie waren bislang als Asylweber gemäß § 13 AsylG 2005 für die Dauer der nunmehr abgeschlossenen Verfahren zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Ein auf eine andere Rechtsgrundlage gestütztes Aufenthaltsrecht ist nicht gegeben. Ihre Asylanträge wurden als unbegründet abgewiesen. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung somit mit einer Rückkehrentscheidung nach dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts der BF auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.
Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16928/2003). Der Begriff des Familienlebens ist nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein. Maßgebend sind etwa das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR U 13.06.1979, Marckx gegen Belgien, Nr. 6833/74; GK 22.04.1997, X, Y u. Z gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/93).
Das Vorliegen eines „Familienlebens“ iSd Art. 8 EMRK laut ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ipso iure wird nur bis zum Erreichen der Volljährigkeit letzterer angenommen. Danach wird die Beziehung des Kindes zu den Eltern nur dann als „Familienleben“ iSd Art. 8 EMRK zu qualifizieren sein, wenn eine „hinreichend stark ausgeprägte“ Nahebeziehung besteht, wofür nach Ansicht der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung ist (VfSlg 17.340/2004; VwGH 8.6.2006, 2003/01/0600; VwGH 26.1.2006, 2002/20/0423; jeweils unter Berufung auf die Rsp des EGMR).
Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt - auch nach der Rechtsprechung des EGMR - nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. dazu VfGH 9.6.2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch VwGH 26.1.2006, 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse VwGH 26.1.2006, 2002/20/0235; VwGH 8.6.2006, 2003/01/0600; VwGH 22.8.2006, 2004/01/0220; VwGH 29.3.2007, 2005/20/0040 und VwGH 25.4.2008, 2007/20/0720).
Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entfernter verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. Als Kriterien hiefür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.6.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 7.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.7.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.2.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 5.7.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). (vgl AsylGH 3.5.2010, D13 264047-0/2008/19E).
IdS hat der VfGH etwa im Fall einer 21-jährigen Türkin ein Familienleben bejaht, die zu ihren Eltern nach Österreich gezogen war und in deren Haushalt lebte (VfSlg 17.457/2005). Zum gleichen Ergebnis gelangt der VwGH bei einem gleichaltrigen Türken, der ebenfalls mit seinen Eltern im gemeinsamen Haushalt zusammenlebte, von ihnen finanziell unterstützt wurde und das bereits in der Heimat geführte Familienleben fortsetzte (VwGH 26.1.2006, 2002/20/0423). Folgt man dieser Rechtsprechungslinie der GH öffentlichen Rechts, so ergibt sich daraus, dass bei erwachsenen Kindern ein Familienleben dann anzunehmen ist, wenn diese auch nach Eintritt der Volljährigkeit im Haushalt der Eltern weiterleben, ohne dass sich ihr Naheverhältnis zu den Eltern wesentlich ändert (vgl. hierzu Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 EMRK, ÖJZ 2007/74, S. 852 ff; AsylGH 22.7.2008, S5 400561-1/2008).
3.4.2. Der Abwägung der öffentlichen Interessen gegenüber den Interessen eines Fremden an einem Verbleib in Österreich in dem Sinne, ob dieser Eingriff im Sinn des Art 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig ist, ist voranzustellen, dass die Rückkehrentscheidung der innerstaatlichen Rechtslage nach einen gesetzlich zulässigen Eingriff darstellt.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist eine Maßnahme dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig ist. Das bedeutet, dass die Interessen des Staates, insbesondere unter Berücksichtigung der Souveränität hinsichtlich der Einwanderungs- und Niederlassungspolitik, gegen jene des BF abzuwägen sind (EGMR U 18.02.1991, Moustaquim gegen Belgien, Nr. 12313/86). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht ferner davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Die Konventionsstaaten sind nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt, Einreise, Ausweisung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (EGRM U 30.10.1991, Vilvarajah u.a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13163/87).
Die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt werden, ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung nach Art 8 Abs. 2 EMRK daher ein hoher Stellenwert zu (VfSlg. 18.223/2007).
3.4.3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei der Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegensteht (zur Maßgeblichkeit dieser Kriterien vgl. VfSlg. 18.223/2007).
Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine fixen zeitlichen Vorgaben knüpft (EGMR U 31.1.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99; U 16.9.2004, M. C. G. gegen Deutschland, Nr. 11.103/03), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR GK 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9214/80, 9473/81, 9474/81; U 20.6.2002, Al-Nashif gegen Bulgarien, Nr. 50.963/99) und dessen Intensität (EGMR U 02.08.2001, Boultif gegen Schweiz, Nr. 54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR U 04.10.2001, Adam gegen Deutschland, Nr. 43.359/98; GK 09.10.2003, Slivenko gegen Lettland, Nr. 48321/99), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR U 11.04.2006, Useinov gegen Niederlande Nr. 61292/00) für maßgeblich erachtet.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 MRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (statt aller VwGH 17.03.2021, Ra 2021/14/0052 mwN). Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat. Ferner sind nach der eingangs zitieren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie dies Verfassungsgerichtshofs die strafgerichtliche Unbescholtenheit aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht sowie Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und schließlich die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen.
Den Fremden musste bei der Antragstellung klar sein, dass der Aufenthalt in Österreich im Falle einer Abweisung des Asylantrages nur ein vorübergehender ist. Ebenso indiziert die Einreise unter Umgehung der Grenzkontrolle den Umstand, dass den Fremden die Unmöglichkeit der legalen Einreise und dauerhaften Niederlassung bewusst war. Dazu kommt, dass die Fremden gerade in diesem Stadium des ungewissen Aufenthaltes Anknüpfungspunkte gem. Art. 8 (1) EMRK begründete, weshalb sie nicht schützenswert erscheinen. Eine Prüfung der sonstigen genannten Kriterien brachte keine weiteren gewichtigen Argumente für den Verbleib im Bundesgebiet. Würde sich ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen. Könnte sich ein Fremder nunmehr in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen, würde dies darüber hinaus dazu führen, dass Fremde, welche die unbegründete bzw. rechtsmissbräuchliche Asylantragstellung allenfalls in Verbindung mit einer illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet in Kenntnis der Unbegründetheit bzw. Rechtsmissbräuchlichkeit des Antrag unterlassen, letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, welche genau zu diesen Mitteln greifen um sich ohne jeden sonstigen Rechtsgrund den Aufenthalt in Österreich legalisieren, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (vgl. hierzu auch das Estoppel-Prinzip) (AsylGH 4.8.2008, E10 313376-1/2008).
3.4.4. In Abwägung der gemäß Art. 8 EMRK maßgeblichen Umstände in Ansehung der BF ergibt sich für den gegenständlichen Fall Folgendes:
3.4.4.1. Zur zeitlichen Komponente ist anzuführen, dass die BF spätestens am 23.10.2022 nach Österreich einreisten und an diesem Tag Anträge auf internationalen Schutz stellten, sie halten sich sohin rund zwei Jahre und drei Monate in Österreich auf. Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, weil eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist. Das Gewicht ihres Aufenthaltes ist darüber hinaus noch dadurch abgeschwächt, dass sie ihren Aufenthalt durch unberechtigte Anträge auf internationalen Schutz zu legalisieren versuchten. Alleine durch die Stellung ihrer Anträge konnten sie nämlich nicht begründeter Weise von der zukünftigen dauerhaften Legalisierung ihres Aufenthalts ausgehen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann bei einem Inlandsaufenthalt von eineinhalb Jahren von einer ins Gewicht fallenden Aufenthaltsdauer keine Rede sein. Daher kann ein mit der Erlassung der Rückkehrentscheidung verbundener Eingriff in das Privatleben nur unter außergewöhnlichen Umständen die Unzulässigkeit dieser Maßnahme bewirken (VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0191 mwN). Diese Judikatur ist naheliegenderweise auch auf geringfügig längere Aufenthaltszeiten zur Anwendung zu bringen.
Solche außergewöhnlichen Umstände liegen nicht vor. Die BF gehen bzw. gingen zwar seit 05.08.2023 (BF1) bzw. von 05.08.2023 bis 31.05.2024 (BF2), von 03.06.2024 bis 10.06.2024 (BF2) und nunmehr laufend seit 23.01.2025 (BF2) legalen Erwerbstätigkeiten als Arbeiter nach, jedoch haben sie in Österreich darüberhinaus keine Anknüpfungspunkte in Form maßgeblicher familiärer, sozialer und wirtschaftlicher Interessen erlangt. Nennenswerte Deutschkenntnisse weisen die BF ebenso wenig auf. Die Behauptung des BF1, er führe eine Liebesbeziehung mit einer ungarischen Staatsbürgerin, sieht das BVwG - wie hinreichend im Rahmen der Beweiswürdigung begründet - als nicht relevant an, um die hier vorliegende Interessenabwägung zu seinen Gunsten maßgeblich zu beeinflussen.
Zwar konnten die BF folglich nachweisen, dass sie sich erfolgreich um ihre Selbsterhaltungsfähigkeit bemühten, dieses Engagement vermag jedoch nicht die kurze Aufenthaltsdauer und die fehlenden erheblichen Anknüpfungspunkte privater und familiärer Natur im Inland zu kompensieren.
Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit der BF stellt weder eine Stärkung der persönlichen Interessen, noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, Zl. 98/18/0420).
Eine den Schutz des Privatlebens auslösende Verbindung kann insbesondere für solche Ausländer in Betracht kommen, deren Bindung an Österreich aufgrund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse mit gleichzeitiger Entfremdung vom Heimatland quasi Österreichern gleichzustellen ist. Ihre Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass Österreich faktisch das Land ist, zu dem sie gehören, während sie mit ihrem Heimatland nur noch das formale Band der Staatsbürgerschaft verbindet (EGMR 26.3.1993 im Fall Beldjondi und vom 26.9.1997 im Fall Mehemi). Voraussetzung dafür wird sein, dass das Privat- und Familienleben in Österreich fest verankert ist. Der Besuch eines Deutschkurses oder eine Berufsausbildung allein wird somit noch kein schützenswertes Privatleben begründen (AsylGH 23.12.2009, D10 257656-0/2008).
Daraus resultiert gegenständlich, dass die BF mangels familiärer Anknüpfungspunkte ein iSd Art 8 EMRK relevantes Familienleben keinesfalls geltend machen konnten und auch ihre privaten Anknüpfungspunkte keinesfalls so gewichtig sind, dass ein schützenswertes Privat- und Familienleben geltend gemacht werden könnte.
Gegen die - ohnehin nur schwach ausgeprägten - Integrationsaspekte sind die illegale Einreisen, die lediglich durch die Stellung unberechtigter und auf falschen Tatsachen gestützter Asylanträge legalisierten Aufenthalte, die fehlende Schutzbedürftigkeit, die kurze Dauer der Aufenthalte sowie die unbeschadeten Bande zum Herkunftsstaat abzuwägen und ist das besondere öffentliche Interesse am geordneten Zuzug von Fremden zu berücksichtigen. Allfällige private Anknüpfungspunkte schlossen die BF im Übrigen im (beiderseitigen) Wissen um ihren unsicheren Aufenthaltsstatus und ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof mehrfach ausgesprochen hat, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt werden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.02.2019, Ro 2019/01/0003, mwN).
3.4.4.2. In den gegenständlichen Verfahren ist keine unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer festzustellen, sondern wurden die erstinstanzlichen Asylverfahren zwar nicht, jedoch die Beschwerdeverfahren innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist und insgesamt ohne unbillige Verzögerung geführt.
3.4.5. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der Erlassung von Rückkehrentscheidungen gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 keine gesetzlich normierten Hindernisse entgegenstehen.
3.5. Zulässigkeit der Abschiebung und Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise:
3.5.1. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 von Amts wegen gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG 2005 (VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Fremde das Bestehen einer aktuellen und durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwendbaren Bedrohung im Sinn des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG 2005 - diese Bestimmungen stellen auf dieselben Gründe ab, wie sie in den §§ 3 und 8 AsylG 2005 enthalten sind - glaubhaft zu machen. Es ist die konkrete Einzelsituation des Fremden in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Fremden in diesen Staat zu beurteilen (VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).
Der Prüfungsmaßstab im Hinblick auf den subsidiären Schutz entspricht somit jenem des Refoulementverbots im FPG 2005. Erkennbar eben deshalb ist nach den Vorstellungen des Gesetzgebers aber auch ein gesonderter Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Grunde des § 50 FPG 2005 nicht möglich; einem Fremden ist es verwehrt, eine derartige Feststellung zu begehren, weil über das Thema dieser Feststellung ohnehin im Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz abzusprechen ist. Ein inhaltliches Auseinanderfallen der genannten Entscheidungen (insbesondere nach § 8 AsylG 2005) einerseits und der Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG 2005 andererseits ist ausgeschlossen (VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119).
3.5.2. Bezüglich § 50 Abs. 1 FPG 2005 bleibt festzuhalten, dass im Rahmen des Ermittlungsverfahrens betreffend die von den BF gestellten Anträge auf internationalen Schutz nicht festgestellt werden konnte, dass die BF im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnten. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die BF somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung, noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage in der Türkei ebenfalls nicht vor.
Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
Ebenso sind keine von Amts wegen aufzugreifenden stichhaltige Gründe für die Annahme erkennbar, dass im Herkunftsstaat der BF deren Leben oder deren Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten im Sinn des § 50 Abs. 2 FPG 2005 bedroht wäre und wird insoweit auf die Erwägungen in der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung betreffend die von den BF gestellten Anträge auf internationalen Schutz verwiesen.
3.5.3. Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 3 FPG 2005 schließlich unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine solche Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme besteht hinsichtlich des Staates Türkei nicht.
3.5.4. Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich zwingend aus § 55 Abs. 2 erster Satz FPG 2005. Dass besondere Umstände, die die drittstaatsangehörigen BF bei der Regelung ihrer persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätten, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Die eingeräumte Frist ist angemessen.
3.5.5. Der Flughafen Istanbul ist geöffnet und von Wien aus (im Wege von Direktflügen) im Luftweg erreichbar, ebenso kann der Flughafen Çukurova von Wien aus über Umsteigemöglichkeiten in Istanbul angeflogen und der Herkunftsort XXXX anschließend über das öffentliche Straßennetz im (Auto-)Mobilverkehr nach knapp XXXX Fahrt erreicht werden, sodass auch keine Hindernisse erkannt werden können, das Bundesgebiet innerhalb der eingeräumten First in den Herkunftsstaat zu verlassen.
4. Die angefochtenen Bescheide erweisen sich ob der vorstehenden Ausführungen als rechtsrichtig, sodass die dagegen erhobenen Beschwerden der BF als unbegründet abzuweisen sind.
Zu B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das zur Entscheidung berufene Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe, zum Flüchtlingsbegriff, zum Refoulementschutz und zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben abgeht. In Bezug auf die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides liegt das Schwergewicht zudem in Fragen der Beweiswürdigung.
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