BVwG L512 2164300-4

BVwGL512 2164300-414.2.2024

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:L512.2164300.4.00

 

Spruch:

 

L512 2164299-4/21E

L512 2164300-4/32E

L512 2166157-4/21E

L512 2166154-4/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

1.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marlene JUNGWIRT als Einzelrichterin über die Beschwerden von XXXX (BF1), geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Herbert POCHIESER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

 

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

 

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

2.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marlene JUNGWIRT als Einzelrichterin über die Beschwerden von XXXX (BF2), geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Herbert POCHIESER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

 

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

 

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

3.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marlene JUNGWIRT als Einzelrichterin über die Beschwerden von XXXX (BF3), geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Herbert POCHIESER, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

 

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

 

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

4.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marlene JUNGWIRT als Einzelrichterin über die Beschwerden von XXXX (BF4), geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Herbert POCHIESER, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

 

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

 

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die Beschwerdeführer 1 bis 2 (in weiterer Folge entsprechend der Reihenfolge im Spruch kurz als „BF1 und BF2“ bezeichnet), Staatsangehörige der Türkei, stellten am 30.07.2015 für sich bzw. der Beschwerdeführer 1 als gesetzlicher Vertreter für die Beschwerdeführer 3 und 4 (in weiterer Folge entsprechend der Reihenfolge im Spruch als „BF3 und BF4“ bezeichnet), Anträge auf internationalen Schutz.

 

Als Ausreisegrund wurde seitens des BF1 in der Erstbefragung und vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge kurz als „BFA“ bezeichnet) zusammengefasst angegeben, dass der BF1 vor der Ausreise wegen einer ihm unterstellten Mitgliedschaft bei der Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) und/oder wegen politischer oder schriftstellerischer Aktivitäten strafrechtlich verfolgt worden sei. Insbesondere brachte der BF1 vor, in der Türkei wegen seiner journalistischen bzw. literarischen Tätigkeit als vermeintliches Mitglied einer terroristischen Organisation strafgerichtlich verurteilt worden zu sein und im Rückkehrfall eine Freiheitsstrafe von XXXX verbüßen zu müssen.

 

Die BF2-4 brachten keine eigenen Fluchtgründe vor.

 

Mit Bescheiden des BFA vom XXXX , Zlen. XXXX , wurden die Anträge der BF1-4 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten jeweils gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei jeweils gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wider die BF jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung der BF in den Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 betrage die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

 

Gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zlen. XXXX wurde fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben.

 

Am XXXX führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch.

 

Im Anschluss an die mündliche Verhandlung am XXXX wurde die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes samt den wesentlichen Entscheidungsgründen mündlich verkündet. Dem Verhandlungsprotokoll zufolge beinhaltete die Verkündung den Spruch der Erkenntnisse samt den wesentlichen Entscheidungsgründen sowie der Rechtsmittelbelehrung. Demnach wurden die Beschwerden als unbegründet abgewiesen. Des Weiteren wurde die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig erklärt.

 

Die BF1-4 beantragten mit Eingabe vom 09.07.2019 die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung der Erkenntnisse.

 

Die in der Folge ergangene und auf den XXXX datierte schriftliche Ausfertigung der Erkenntnisse umfasst neben dem wortgleichen Spruch zur verkündeten Fassung eine umfangreiche Darlegung der Entscheidungsgründe und kam das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass der BF1 vor der Ausreise nicht wegen einer ihm unterstellten Mitgliedschaft bei der Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) und/oder wegen politischer oder schriftstellerischer Aktivitäten strafrechtlich verfolgt wurde. Insbesondere wurde festgestellt, dass der BF1 in der Türkei nicht wegen der Mitgliedschaft bei einer terroristischen Organisation zu einer Freiheitsstrafe von XXXX , die er im Fall einer Rückkehr in die Türkei zu verbüßen hätte, verurteilt wurde.

 

Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom XXXX wurde die Behandlung der Beschwerden gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX , Zlen. XXXX , abgelehnt. Ferner wurden die Anträge auf Bewilligung der Verfahrenshilfe abgewiesen.

 

Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom XXXX wurden die Beschwerden der BF1-4 gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX , Zlen. XXXX , über nachträglichen Antrag im Sinne des § 87 Abs. 3 VfGG gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom XXXX wurde die jeweilige Revision gegen das am XXXX mündlich verkündete und am XXXX schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, Zlen. XXXX , zurückgewiesen.

 

Folglich erwuchs das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes am XXXX in Rechtskraft.

 

I.2. Mit auf den 02.10.2020 datieren und am 05.10.2020 beim Bundesverwaltungsgericht eingebrachtem Schriftsatz stellten die BF1-4 einen ersten Antrag auf Wiederaufnahme der mit am XXXX mündlich verkündeten und am XXXX schriftlich ausgefertigten Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes abgeschlossenen Verfahren.

 

Dem auf den 02.10.2020 datierten und am 05.10.2020 beim Bundesverwaltungsgericht eingebrachten ersten Antrag der Wiederaufnahmewerber wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX , XXXX , nicht stattgegeben.

 

Die BF1-4 erhoben dagegen Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof sowie Revision an den Verwaltungsgerichtshof. Die an den Verwaltungsgerichtshof gerichteten Revisionen wurden von diesem mit Beschluss vom XXXX , Zlen: XXXX , zurückgewiesen. Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung der an ihn gerichteten Beschwerden gemäß Art. 144 B-VG mit Beschluss vom XXXX , Zl. XXXX , ab.

 

I.3. Mit am 23.12.2020 beim Bundesverwaltungsgericht eingebrachtem Schriftsatz stellten die BF1-4 einen zweiten Antrag auf Wiederaufnahme der mit am XXXX mündlich verkündeten und am XXXX schriftlich ausgefertigten Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes abgeschlossenen Verfahren.

 

Dem am 23.12.2020 beim Bundesverwaltungsgericht eingebrachten zweiten Antrag der BF1-4 wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX , XXXX , nicht stattgegeben.

 

I.4. Am 02.03.2022 stellten die BF1-4 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz.

 

Noch am selben Tag erfolgte eine Erstbefragung des BF1 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes. Befragt zu den Gründen seiner neuerlichen Antragstellung brachte der BF1 im Wesentlichen vor, dass in der Türkei am XXXX ein Festnahmeauftrag gegen ihn erlassen worden sei. Dieser betreffe das Verfahren, bei dem er wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt worden sei. Das zweite Verfahren gegen ihn sei noch anhängig. Bei dem werde er wegen Mitgliedschaft bei der terroristischen Organisation PKK u. a. angeklagt. Die Gerichtsunterlagen lege er in Kopie vor. In der Türkei sei sein Leben in Gefahr. Die Gerichtsverfahren würden in der Türkei insbesondere bei den Kurden unrechtmäßig durchgeführt werden. Sie würden immer diskriminiert werden.

 

Mit Schriftsätzen vom 29.03.2022 und 04.04.2022 erstatteten die BF1-4 Stellungnahmen zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz vom 02.03.2022 mit näheren Ausführungen zu den Antragsgründen.

 

Am 05.04.2022 wurde der BF1 vor einem Organwalter der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen und legte Beweismittel vor.

 

Am 31.05.2022 wurde der BF1 erneut vor einem Organwalter der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen.

 

Mit Schriftsatz vom 23.06.2022 erstatteten die BF1-4 eine Stellungnahme mit näher dargelegten Ausführungen zu den Antragsgründen.

 

Die Anträge der BF1-4 auf internationalen Schutz wurde folglich mit im Spruch genannten Bescheiden des BFA gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF1-4 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

 

Im Rahmen der Beweiswürdigung erachtete die belangte Behörde das Vorbringen als nicht glaubwürdig. Eine Verurteilung des BF1 wegen einer unterstellten Mitgliedschaft bei der PKK habe durch die Vorlage eines Strafregisterauszuges als falsch erwiesen und ergebe sich aus den vorgelegten Unterlagen auch keine dahingehende Anklage. Aus dem eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung des Präsidenten mangle es an Eingriffsintensität, weshalb auch diesbezüglich kein asylrelevanter Sachverhalt vorliege. Zudem handle es sich um eine legitime Strafrechtsverfolgung der türkischen Behörden. Es liege auch keine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung vor. Als unglaubwürdig wurden auch die vom BF1 dargelegten Folterungen in der Türkei gewertet, zumal er diese vor dem zweiten Asylverfahren nie erwähnt habe.

 

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei traf die belangte Behörde ausführliche, aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben.

 

Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorkam. Es hätten sich weiters keine Hinweise auf einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben. Zudem sei die Abschiebung zulässig, da kein Sachverhalt im Sinne des § 50 Abs 1, 2 und 3 FPG vorliege. Eine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe in Höhe von 14 Tagen, da keine Gründe im Sinne des § 55 Abs 1a FPG vorliegen würden.

 

Gegen diesen Bescheid wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

 

Für den XXXX (BF1-4) und XXXX (BF2 und 3) lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Verhandlung. Zuletzt wurden den BF1-4 mit Länderfeststellung zur Türkei übermittelt und ihnen die Möglichkeit, innerhalb von vierzehn Tagen eine Stellungnahme abzugeben, eingeräumt. Die BF3 ist zur mündlichen Verhandlung am XXXX unentschuldigt nicht erschienen. Die Vertretung der BF2 legte in der mündlichen Verhandlung am XXXX einen fachärztlichen Befundbericht von XXXX vor und führte aus, dass die BF2 an einer bipolaren Affektstörung leide und daher nur bedingt einvernahmefähig sei. Die erkennende Richterin erklärte nach Einsicht in den Befundbericht, dass daraus eine bedingte Einvernahmefähigkeit grundsätzlich nicht abzuleiten sei, woraufhin die Vertretung der BF2 ausführte, dass sie mit der BF2 ein gemeinsames Beratungsgespräch gehabt habe. Die BF2 sei zwar in der Lage zu dem Verfahren Angaben zu machen, jedoch nur eine bestimmte Zeit lang. Die erkennende Richterin teilte daraufhin mit, dass ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben werde, um die Einvernahmefähigkeit der BF2 zu prüfen.

 

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am XXXX (BF1, 2 und 4) und XXXX (BF2) wurde den Verfahrensparteien die Möglichkeit eingeräumt, zum Fluchtvorbringen und der Situation bezüglich ihrer Person in Österreich Stellung zu nehmen.

 

Hinsichtlich des Verfahrensherganges im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

 

II.1.1. Die Beschwerdeführer 1-4:

Die Identität der BF1-4 steht fest. Sie sind türkische Staatsangehörige und Angehörige der kurdischen Volksgruppe. Die BF1-4 gehören keiner Konfession an und sprechen unter anderem die Türkische Sprache.

 

Die BF1, BF2 und BF4 wohnen in Österreich an einem gemeinsamen Wohnsitz. Die BF3 ist seit XXXX nicht mehr aufrecht in Österreich gemeldet und nach XXXX verzogen.

 

Zum BF1:

Der BF1 wurde in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX geboren, besuchte in der Türkei die Grundschule, die Hauptschule und anschließend in der Stadt XXXX das Lyzeum. Im Anschluss an den Schulbesuch studierte der BF1 in XXXX türkische Literatur und arbeitete von XXXX bis XXXX als XXXX in XXXX (AS 208). In weiterer Folge war der BF1 in der Türkei als XXXX tätig. Im Jahr 2010 arbeitete er in XXXX für das Medienunternehmen „ XXXX “. Der BF1 war in der Türkei auch in mehreren alevitischen Kulturvereinen tätig, war aber nie Angehöriger der alevitischen Glaubensgemeinschaft (AS 209).

 

Der BF1 war in der Türkei verheiratet und entstammen dieser Ehe drei gemeinsame Kinder. Die Ehe des BF1 mit der türkischen Staatsangehörigen XXXX wurde mit Urteil vom XXXX geschieden und dem BF1 die Obsorge für die Kinder übertragen. Die Ex-Ehegattin des BF1 lebt nach wie vor in der Türkei.

 

Seit XXXX ist der BF1 konfessionell mit der BF2 verheiratet. Vor der Ausreise wohnte der BF1 mit der BF2 und seinen Kindern aus erster Ehe zunächst in XXXX und später in XXXX in Mietwohnungen. In XXXX betrieb der BF1 eine XXXX . Ferner verfügt der BF1 über das von seinem Vater ererbte Elternhaus in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX und hielt sich eigenen Angaben zufolge auch regelmäßig in XXXX auf.

 

Am XXXX verließ der BF1 die Türkei von XXXX ausgehend gemeinsam mit der BF2 und seinen Kindern illegal auf dem Landweg und gelangte in der Folge schlepperunterstützt zunächst nach XXXX , wo er am XXXX erkennungsdienstlich behandelt wurde. Da Österreich das Zielland des BF1 war, begab er sich in der Folge nach XXXX , wo er am 30.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

 

In der Türkei leben nach wie vor die Mutter und ein Bruder des BF1. Der Vater des BF1 ist bereits verstorben. Die Mutter des BF1 wohnt im Elternhaus in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX . Sie lebt von der Pension des Vaters des BF1 und besitzt Tiere und einen Garten. Der Bruder des BF1 wohnt in einem Haus in der Stadt XXXX in Zentralanatolien und ist als XXXX tätig.

Ein weiterer Bruder des BF1 hält sich in XXXX auf. Der Erstbeschwerdeführer steht mit seiner Mutter in regelmäßigem Kontakt.

 

Der BF1 ist der leibliche Vater der BF3-4.

 

Der BF1 ist kein Mitglied in einem kurdischen oder alevitischen Verein, steht aber der Ideologie der Vereine „ XXXX und „ XXXX nahe (AS 227). Er besucht die Vereine und spielt dort zB türkische Gitarre (AS 725).

 

Der BF1 betreibt XXXX -Konten.

 

Auf XXXX veröffentlicht der BF1 Videos vorwiegend über XXXX (AS 715).

 

Das XXXX Konto ist öffentlichen und wird unter dem Profilnamen „ XXXX “ angezeigt. Die Freundesliste ist aktuell auf „privat“ gestellt (Abfrage XXXX ). Bei einer Abfrage im Oktober 2023 wurde unter dem Profilnamen „ XXXX “ mit der Information „vier Follower“ angezeigt. Die Anzahl der Follower kann derzeit nicht mehr überprüft werden.

 

Das XXXX Konto lautet auf dem Profilnamen „ XXXX “, ist öffentlich und weist 1.301 Follower und 210 Beiträge auf. (Abfrage XXXX ).

 

Auf XXXX scheinen zwei Konten auf.

Ein XXXX des BF1 ist öffentlich und lautet auf den Profilnamen „ XXXX “ und verfügte über 16 Follower. Das in den vom BF1 vorgelegten Auszügen zu Beiträgen auf XXXX angeführte Konto XXXX ist in der Form nicht mehr auffindbar.

Ein weiteres XXXX des BF1 ist öffentlich, lautet aktuell auf den Profilnamen XXXX . Es ist öffentlich, hat 170 Follower. Der Beitritt erfolgte im XXXX und enthält kein Profilbild des BF.

 

Sowohl auf dem XXXX -Konto, als auf dem XXXX -Konto, veröffentlichte der BF1 mehrmals XXXX .

 

Entsprechend der vorgelegten Auszüge des BF1 von seinem XXXX -Konto von XXXX bis XXXX veröffentlichte der BF1 mehrere Beiträge (AS 689ff), in denen er sich negativ zum XXXX sowie XXXX äußerte. Der BF1 veröffentlichte u. a. auch XXXX .

 

Beispielhaft sind folgende Beiträge vom BF1 veröffentlich worden:

XXXX (AS 735ff)

 

Der BF1 ist in Österreich nicht berufstätig und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber. Den Lebensunterhalt für sich und seine Familie bestreitet der BF1 zudem durch den Verkauf seiner Bücher in der Türkei (AS 723). Die Bücher werden mittels Online-Handel in der Türkei verkauft und erhält der BF1 vom Buchverlag seinen vertraglich geregelten Anteil der Einnahmen ausbezahlt. Über seinen XXXX -Kanal generiert der BF2 monatlich ca. XXXX (AS 723).

 

Der BF1 ist gesund und in Österreich strafrechtlich unbescholten. Er hat in Österreich keine Deutschprüfung auf einem bestimmten Niveau abgelegt und verfügt über keine nennenswerten Deutschkenntnisse.

 

Zu den gegen den BF1 in der Türkei geführten Ermittlungs- und Strafverfahren:

 

Am XXXX wurde gegen den BF1 anonym über das Internet eine Anzeige eingebracht, wonach er im Internet die Wortfolge „ XXXX “ gepostet habe (Anzeige der Direktion für Cyberkriminalität vom XXXX ).

 

Die Staatsanwaltschaft XXXX forderte daraufhin die Sicherheitsdirektion XXXX auf, einen Bericht zu erstellen, welcher mit Schreiben der Sicherheitsdirektion XXXX vom XXXX an die Staatsanwaltschaft XXXX übermittelt wurde (AS 395). Dem Schreiben vom XXXX waren ein Protokoll der XXXX nach dem Usernamen „ XXXX “ vom XXXX , ein Protokoll der XXXX über die Ausreise des BF1 im Jahr XXXX und seine UYAP-Registrierungen sowie ein Protokoll vom XXXX (Anweisung Staatsanwaltschaft XXXX an die Sicherheitsdirektion XXXX zur Weiterleitung der Unterlagen an den Staatsanwalt XXXX ) beigefügt (AS 401).

 

Mit Schreiben vom XXXX teilte die Direktion des Einwohner- und Meldeamtes der Generalstaatsanwaltschaft XXXX mit, dass eine Inlandsadresse des BF1 nicht gefunden worden sei (AS 233).

 

Mit Schreiben der TR. Staatsanwaltschaft XXXX , XXXX , vom XXXX an die Staatsanwaltschaft XXXX wurde ein Schreiben der Staatsanwaltschaft XXXX vom XXXX (Zahl XXXX ) und ein Schreiben des Justizministeriums – Generaldirektion für Strafangelegenheiten vom XXXX (Zahl XXXX ) weitergeleitet. Der Betreff des Schreibens lautet: XXXX (AS 301).

 

Mit Protokoll der XXXX vom XXXX wurden die Ergebnisse der Untersuchung von sozialen Medien nach dem Namen XXXX aufgelistet. Die Untersuchung erfolgte auf Anweisung der Staatsanwaltschaft XXXX vom XXXX zur Zahl XXXX . Mit Schreiben der TR. Landratsamt XXXX , Sicherheitsabteilung, vom XXXX , Zahl XXXX , wurde das Protokoll der XXXX vom XXXX an die Staatsanwaltschaft XXXX (Büro für Vorbereitung) übermittelt.

 

Nach einem Zuständigkeitskonflikt der Staatsanwaltschaften XXXX und XXXX wurde am XXXX gegen den BF1 mit gerichtlicher Bewilligung vom XXXX (Urteil des XXXX betreffend einen Haftbefehl gegen den BF1) ein Haftbefehl zum Zweck der Einvernahme des BF1 durch die Staatsanwaltschaft erlassen (Haftbefehl des XXXX vom XXXX ). Im Haftbefehl ist die Freilassung des BF1 nach dessen Einvernahme angeordnet. Die Einvernahme ist innerhalb von 24 Stunden persönlich oder im Wege der Videokonferenz durchzuführen.

 

Am XXXX wurde von der XXXX ein Auskunfts- und Informationsformular erstellt (AS 835). Daraus geht hervor, dass zur Person des BF1 eine Auskunftsforschung für die Aufdeckung von XXXX stattgefunden habe. Festgestellt wurde nach Recherchen im XXXX dass der BF1 Verurteilungen wegen XXXX , wegen XXXX , wegen XXXX (Urteil Amtsgericht XXXX Nr. XXXX ), wegen XXXX aufweist. Darüber hinaus wurden „Informationen bestätigt“, wonach der BF1 XXXX (AS 835).

 

Mit Klageschrift der Staatsanwaltschaft XXXX vom XXXX ( XXXX ) wurde gegen den BF1 Anklage wegen XXXX (AS 263).

 

Mit prozessleitender Verfügung des Strafgerichtes XXXX (AZ: XXXX ) vom XXXX wurde festgehalten, dass die mit Anklageschrift des Vorbereitungsbüros XXXX vom XXXX eingereichte Klage (Nr. XXXX ) durch die Zuteilung an das Gericht geprüft und beschlossen wurde, dass eine Weisung an das Amtsgericht des Ortes ergeht, an dem sich der BF1 aufgehalten hat. Für den XXXX wurde eine Verhandlung anberaumt (AS 235).

 

Zu der Verhandlung am XXXX ist der BF1 nicht erschienen und wurden für den XXXX Ersatztermine anberaumt, zu denen der BF1 ebenfalls nicht erschienen ist. Den jeweiligen Anhörungsprotokollen ist Folgendes zu entnehmen:

 

Aus dem Anhörungsprotokoll der Strafkammer XXXX vom XXXX (AS 25) geht hervor, dass XXXX .

 

Einer Registerabfrage zum Zwecke der Löschung von Strafeinträgen der Oberstaatsanwaltschaft XXXX vom XXXX sind XXXX Verurteilungen des BF1 zu XXXX .

Zu den ersichtlichen Verurteilungen konnte aufgrund der vorliegen Gerichtsunterlagen, welche teilweise schwer lesbar sind, lediglich festgestellt werden, dass der BF1 mit Urteil des XXXX vom XXXX zu einer Geldstrafe in der Höhe von XXXX verurteilt XXXX . Der BF1 entrichtete die Geldstrafe am XXXX zur Gänze.

 

Weiters wurde der BF1 mit Urteil des XXXX vom XXXX zu einer Geldstrafe in der Höhe von XXXX verurteilt und XXXX . Der BF1 entrichtete davon am XXXX zur XXXX .

 

Dem BF1 wurden schließlich ein Urteil des XXXX in XXXX , eine Ladung der XXXX , ein Urteil des XXXX in XXXX , ein Urteil des XXXX in XXXX und ein Urteil des XXXX in XXXX zugestellt. Der Inhalt dieser Urteile bzw. der Ladung kann nicht festgestellt werden.

 

Mit Anordnung der XXXX in XXXX vom XXXX wurde die XXXX bewilligt. XXXX

 

Zur BF2:

Die BF2 wurde in der Stadt XXXX in der gleichnamigen Provinz geboren und besuchte die Grundschule im Ausmaß der Schulpflicht.

 

Die erste Ehe der BF mit dem türkischen Staatsangehörigen XXXX wurde mit Urteil vom XXXX geschieden. Die BF2 hat aus erste Ehe einen Sohn, der bis XXXX bei einer Schwester der BF2 in XXXX lebte und dort als XXXX erwerbstätig war. Von XXXX bis XXXX war der Sohn der BF2 in Österreich aufhältig. Die BF2 ist nicht die leibliche Mutter der BF3-4.

 

Der Sohn der BF2 stellte in Österreich ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX , GZ: XXXX , rechtskräftig abgewiesen wurde. Der BF wurde am XXXX in die Türkei abgeschoben.

 

Während ihrer ersten Ehe lebte die BF2 in XXXX und arbeitete in einem XXXX . Nach der Scheidung kehrte sie im Jahr XXXX nach XXXX zurück, wo sie den BF1 kennenlernte, am XXXX konfessionell heiratete und ein XXXX eröffnete, welches sie bis zur Ausreise betrieb. Die BF2 bewohnte bis zur Ausreise gemeinsam mit dem BF1 und dessen Kinder eine Mietwohnung in XXXX .

 

Am XXXX verließ die BF2 die Türkei von XXXX ausgehend gemeinsam mit dem BF1 und dessen Kindern illegal auf dem Landweg und gelangte in der Folge schlepperunterstützt zunächst nach XXXX , wo sie am XXXX erkennungsdienstlich behandelt wurde. Da Österreich das Zielland des BF1 war, begab sich die BF2 in der Folge mit dem BF1 nach XXXX , wo sie am 30.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

 

Die Mutter der BF2 lebt in XXXX und bestreitet ihr Auskommen von der Witwenpension. Die BF2 verfügt ferner über vier Schwestern und einen Bruder. Die Geschwister der BF2 leben alle in XXXX . Die Häuser von zwei Schwestern und dem Bruder der BF2 waren vom Erdbeben im Jahr 2023 betroffen. Diese Geschwister leben nunmehr in anderen Häusern. Eine Schwester wird von den Geschwistern unterstützt. Die Männer von zwei Schwestern gehen einer beruflichen Tätigkeit nach.

 

Die BF2 steht mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in Kontakt, mit ihrem Bruder besteht kein Kontakt. Der Vater der BF2 ist bereits verstorben.

 

Die BF2 ist in physischer Hinsicht gesund und steht seit XXXX – mit Unterbrechungen - in medizinischer Behandlung wegen physischer Erkrankungen.

 

Im vom BVwG in Auftrag gegebenen neurologisch-psychiatrischen Gutachten des XXXX , vom XXXX wurden bei der BF2 eine

- rezidivierende depressive Störung – gegenwärtig mittelgradige Episode (F33.1) sowie eine

- vordiagnostizierte Panikstörung

diagnostiziert. Als Behandlung wurden grundsätzlich alle gängigen Psychopharmaka unter Beachtung der Nebenwirkungen vorgeschlagen. Die Weiterführung der medikamentösen Therapie der BF2 mit Seroquel (Quetiapin) und Sertralin sowie eine Bedarfsmedikation mit Antrax und eine Therapie mit Abilify (Aripiprazol) wurde empfohlen.

 

Das Krankheitsbild wurde als nicht dauerhaft behandlungsbedürftig eingestuft. Für den Fall der Überstellung der BF2 in die Türkei wurde eine kurz- bis mittelfristige Verschlechterung des Krankheitsbildes für möglich befunden. Die Gefahr, dass die BF2 im Falle einer Überstellung aufgrund der psychischen Störung in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten oder die Krankheit sich in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern könnte, wurde als nicht real eingestuft. Hinweise, dass die BF2 zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am XXXX aus neurologisch-psychiatrischer Sicht nicht in der Lage gewesen wäre, Angaben zum Asylverfahren zu tätigen, lagen zum Untersuchungszeitpunkt nicht vor und wurde eine Befragung der BF2 vor dem Bundesverwaltungsgericht für ein bis zwei Stunden zu ihren Fluchtgründen, zu den Rückkehrbedingungen und zu ihrer Integration in Österreich für möglich eingestuft.

 

Am XXXX wurden bei der BF2 durch ihren behandelnden Arzt, einem Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, eine

- chronifizierte komplexe posttraumatische Belastungsstörung (F50.3),

- eine bipolare affektive Störung (gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (F31.4) – Zustand nach dreimaligem Suizidversucht,

- eine Agoraphobie mit Panikstörung (F40.01) und eine

- Binge Eating Störung (F50.3)

diagnostiziert.

Als Therapievorschlag wurden Sertralin 100 mg Tabletten, Abilify 10 mg Tabletten, Seroquel 25 mg Tabletten, Atarax 25 mg Tabletten, Truxal 50 mg Tabletten (bis zu dreimal täglich bei Spannungszuständen) sowie regelmäßige EKG-Kontrollen, Laborkontrollen und internistische Kontrollen aufgelistet. Die Fortsetzung der Psychotherapie wurde dringend angeraten.

 

Die Belastbarkeit und Ausdauerfähigkeit der BF2 wurde als stark eingeschränkt befunden und festgehalten, dass eine Befragung der BF2 über dreißig Minuten nicht zumutbar ist. Eine dauerhafte (lebenslange) Behandlungsnotwendigkeit wurde als höchstwahrscheinlich angesehen und angenommen, dass es bei einer Unterbrechung der Behandlung bei einer Überstellung in die Türkei eine akut signifikante Verschlechterung des fraglichen Zustandsbildes (wahrscheinlich mit suizidaler Einengung) kommt.

 

Die BF2 hat vom XXXX bis XXXX eine Psychotherapie in Anspruch genommen, wird aktuell medikamentös behandelt und nimmt an einer Gesprächstherapie teil.

 

Das von der B2 umfassend ermittelte Krankheitsbild ist in der Türkei behandelbar und die erforderlichen Medikamente und Therapien erhältlich (AA 28.7.2022, S. 21). Der Zugang zum türkischen Gesundheitssystem ist für die BF2 gewährleistet und könnte sie dieses in Anspruch nehmen.

 

Eine akute Suizidalität liegt bei der BF2 nicht vor und wird sie bei einer Rückkehr in die Türkei in keinen lebensbedrohlichen Zustand geraten.

 

Die BF2 hat vom XXXX bis XXXX an einem Basisbildungskurs (Deutsch, Mathematik, Englisch, IKT und soziales Lernen) teilgenommen. XXXX

Vom XXXX bis XXXX hat die BF2 einen Basisbildungskurs im XXXX des XXXX (Kompetenzen in der deutschen Sprache, Mathematische Kompetenzen, digitale Kompetenzen, Lernkompetenzen) besucht. XXXX

 

Die BF2 veröffentlich in den sozialen Medien kritische Beiträge zum Umgang der türkischen Regierung mit den schweren Erdbeben in der Türkei. Dabei verwendet sie nicht ihren Klarnamen (VS 10).

 

Die BF2 war in Österreich nie erwerbstätig, bezieht Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber und ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Die BF2 ist in Österreich strafrechtlich unbescholten, hat keine Deutschprüfung auf einem bestimmten Niveau abgelegt und verfügt über keine nennenswerten Deutschkenntnisse.

 

Zur BF3:

Die BF3 wurde in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX geboren. Das religiöse Bekenntnis der BF3 ist nicht feststellbar, sie erachtet sich selbst als religionslos.

 

Die BF3 ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

 

Sie besuchte in der Türkei bis zur Ausreise die Grundschule, zunächst in der Stadt XXXX und dann in der Stadt XXXX , wo sie gemeinsam mit dem BF1-2 und ihren Geschwistern in einer Mietwohnung lebte.

 

Am XXXX verließ die BF3 die Türkei von XXXX ausgehend gemeinsam mit den BF1-2 illegal auf dem Landweg und gelangte in der Folge schlepperunterstützt zunächst nach XXXX , wo sie am XXXX erkennungsdienstlich behandelt wurde. Da Österreich das Zielland des BF1 war, begab sich die BF3 in der Folge mit dem BF1 nach XXXX , wo der BF1 als ihr gesetzlicher Vertreter am 30.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Die BF3 hat vom XXXX bis XXXX an einem Basisbildungskurs (Deutsch, Mathematik, Englisch, IKT und soziales Lernen) teilgenommen. XXXX

 

Eine Deutschprüfung auf einem bestimmten Niveau hat die BF3 nicht abgelegt und verfügt sie über keine nennenswerten Deutschkenntnisse. Die BF3 war in Österreich nie erwerbstätig und ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

 

Die BF3 ist seit XXXX nicht mehr aufrecht in Österreich gemeldet und nach XXXX verzogen. Zur mündlichen Verhandlung am XXXX ist sie trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt nicht erschienen.

 

Zum BF4:

Der BF4 wurde in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX geboren. Das religiöse Bekenntnis des BF4 ist nicht feststellbar, er erachtet sich selbst als religionslos.

 

Er besuchte in der Türkei in der Stadt XXXX bis zur Ausreise die Grundschule und lebte dort gemeinsam mit den BF1-2 und seinen Geschwistern in einer Mietwohnung.

 

Der BF4 ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

 

Am XXXX verließ der BF4 die Türkei von XXXX ausgehend gemeinsam mit dem den BF1-2 illegal auf dem Landweg und gelangte in der Folge schlepperunterstützt zunächst nach XXXX , wo er am XXXX erkennungsdienstlich behandelt wurde. Da Österreich das Zielland des BF1 war, begab sich der BF4 in der Folge mit dem BF1 nach XXXX , wo der BF1 als sein gesetzlicher Vertreter am 30.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

 

Der BF4 hat in Österreich die Mittelschule besucht und im Schuljahr XXXX die Polytechnische Schule mit einem „Nicht genügend“ in den Unterrichtsfächern „Lebende Fremdsprache Englisch“ und „Deutsch“ abgeschlossen. (Jahreszeugnis Polytechnische Schule XXXX )

 

Der BF4 hat vom XXXX bis XXXX an einem Pflichtschulabschlusskurs teilgenommen (Akt BF1 AS 243) XXXX .

 

Der BF4 hat die Externisten-Pflichtschulabschlussprüfung bestanden. XXXX .

 

Der BF4 hat in Österreich die Deutschqualifizierungsmaßnahme „Basisbildung niedriges A1“ besucht (AS 245) und die Deutschprüfung auf dem Niveau BF1 am XXXX nicht bestanden XXXX .

 

In Österreich war der BF4 nie berufstätig und verfügt über Deutschkenntnisse auf gutem Niveau. Der BF3 ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

 

Der BF4 unterliegt als männlicher türkischer Staatsangehöriger der allgemeinen Wehrpflicht in der Türkei. Er wird im Fall einer Rückkehr in der Türkei seinen Wehrdienst ableisten müssen, sollte er für tauglich befunden werden. Der BF4 wurde bislang weder der Musterung unterzogen, noch erhielt er einen Einberufungsbefehl. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF4 die Ableistung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen verweigert.

 

Es kann darüber hinaus nicht festgestellt werden, dass der BF im Fall einer Einberufung zu den türkischen Streitkräften im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei Kampfhandlungen eingesetzt würde oder er sich im Rahmen seines Wehrdienstes an völkerrechtswidrigen Militäraktionen beteiligen müsste. Ferner kann nicht festgestellt werden, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder gar eine Generalmobilmachung stattfinden. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass Rekruten der türkischen Armee - insbesondere Rekruten kurdischer Abstammung - systematischen Misshandlungen durch Vorgesetzte bzw. Offiziere unterliegen bzw. der BF im Zuge der Verrichtung seines Militärdienstes solche mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass dem BF - sollte er sich weigern, seinen Militärdienst abzuleisten - eine unverhältnismäßig hohe Strafe droht bzw. dass die Verbüßung einer Haftstrafe in der Türkei an sich schon eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt.

 

II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Türkei

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

COVID-19-Pandemie

Letzte Änderung: 20.06.2023

 

Zur aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Websites der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports . Für historische Daten bis zum 10.3.2023 s. die Datenbank der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 .

Während der Covid-19-Pandemie wurde das staatliche Gesundheitssystem extrem belastet, konnte aber seine Aufgaben bisher weitgehend erfüllen. Es häuften sich Berichte über personelle Erschöpfung und beschränkte Behandlungsmöglichkeiten (AA 28.7.2022, S. 21).

Mit Stand Ende Dezember 2022 verzeichnete die Türkei offiziell rund 101.200 Menschen, die an den Folgen von COVID-19 verstarben, wobei für die letzten vier Wochen des Jahres 2022 kein einziger Todesfall verzeichnet wurde (JHU 29.12.2022). Bereits Mitte April 2022 sah die türkische Ärztekammer (TTB) die Zahl der COVID-19-Toten nach zwei Jahren Pandemie, im Widerspruch zu den zu jenem Zeitpunkt offiziell vermeldeten rund 98.000 Verstorbenen (bei insgesamt circa 14,78 Millionen Fällen), bei geschätzten 274.000. Die Berechnungen der Ärztekammer erfolgten anhand der Übersterblichkeitsrate (Ahval 14.4.2022). Angesichts der erneuten Sommerwelle im Juli 2022, zurückzuführen auf das Ende fast aller Maßnahmen, erneuerte die Ärztekammer den Vorwurf falscher COVID-19-Infektionszahlen. Die tatsächliche Infektionszahl wäre mit 235.000 demnach doppelt so hoch wie die vom Gesundheitsministerium angegebene (Ahval 16.7.2022).

Beginnend mit 1.6.2022 wurde das Tragen von Masken sowohl im Freien als auch in geschlossenen Räumen sowie im öffentlichen Verkehr aufgehoben. In Gesundheitseinrichtungen wird das Tragen von Masken aber weiterhin empfohlen. Seit 1.6.2022 wird für die Einreise aus Österreich in die Türkei kein Nachweis über eine Impfung oder Genesung bzw. kein negativer PCR-Test oder negativer Antigen-Schnelltest mehr verlangt (WKO 15.2.2023).

 

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 23.8.2022

 Ahval (16.7.2022): Turkey's real COVID-19 figures twice the official numbers - top medical association, https://ahvalnews.com/pandemic/turkeys-real-covid-19-figures-twice-official-numbers-top-medical-association , Zugriff 12.8.2022

 Ahval (14.4.2022): More than a quarter of a million Turks killed by COVID-19, medical group saysTurkey, https://ahvalnews.com/turkey-covid-19/more-quarter-million-turks-killed-covid-19-medical-group-says , Zugriff 15.4.2022

 JHU - Johns Hopkins University & Medicine (29.12.2022): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html , Zugriff 29.12.2022

 WKO – Wirtschaftskammer Österreich (15.2.2023): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben , Zugriff 17.2.2023

 

Politische Lage

Letzte Änderung: 20.06.2023

Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu, insbesondere als Folge der Teuerung und des damit verbundenen Kaufkraftverlustes und der einhergehenden, zunehmenden Verarmung von Teilen der Bevölkerung. Die Opposition versucht, die Regierung in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen, und fördert eine migrantenfeindliche Stimmung. Die einst gegenüber Flüchtlingen mehrheitlich freundlich eingestellte Bevölkerung ist mittlerweile nicht mehr bereit, weitere Menschen aufzunehmen (ÖB 30.11.2022, S. 4). Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert (WZ 7.5.2023; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 4, EC 12.10.2022, S. 11) zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022, S. 43). Das hat u. a. mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagierten ein "stolzes Türkentum", islamischen Wertvorstellungen wurde zusehends mehr Gewicht verliehen, Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpften um ihr Dasein (WZ 7.5.2023).

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 10.3.2023). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 12.10.2022, S. 3, 11; vgl. WZ 7.5.2023).

Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 10.2022, S. 6; vgl. DE 31.12.2023, Günay 2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 10.2022, S. 6; vgl. Esen/Gumuscu 19.2.2016).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 12.10.2022, S. 11f.). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 12.10.2022, S. 6).

Das Präsidialsystem

Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 28.7.2022, S. 5; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 14).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und sind die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S. 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 23.2.2022, S. 36). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2022, S. 5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, S. 20/ Pt. 55; vgl. EC 12.10.2022, S. 4, 13). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt. Das Verbotsverfahren gegen die zweitgrößte Oppositionspartei der Türkei, der HDP, ist noch nicht abgeschlossen [Anm.: Stand Mai 2023], und es werden immer mehr parlamentarische Immunitäten der Mandatare der Opposition aufgehoben (EC 12.10.2022, S. 4, 13).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art. 8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, S. 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S. 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck. So wurden zwei stellvertretende Gouverneure und ein Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der Zentralbank entlassen (EC 12.10.2022, S. 9, 14).

Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 12.10.2022, S. 13; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 5). Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2022, S. 5) und zwar nur durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S. 9). Das Parlament verfügt nicht über die erforderlichen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle. Das Parlament hat 2021 nur 87 von 732 vorgeschlagenen Gesetzen verabschiedet. Dem gegenüber standen im April 2022 bereits wieder 98 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 12.10.2022, S. 13). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).

Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57).

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit (seit der Verfassungsänderung 2017) einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S.7). - Am 10.3.2023 rief der Präsident im Einklang mit der Verfassung und im Einvernehmen mit allen politischen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für den 14.5.2023 aus (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S.4; vgl. PRT 10.3.2023).

Da keiner der vier Präsidentschaftskandidaten am 14.5.2023 die gesetzlich vorgeschriebene absolute Mehrheit für die Wahl erreichte, wurde für den 28.5.2023 eine zweite Runde zwischen den beiden Spitzenkandidaten, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und dem von der Opposition unterstützten Kemal Kılıçdaroğlu, angesetzt (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). In der ersten Runde verfehlte Amtsinhaber Erdoğan mit 49,5 % knapp die notwendige absolute Stimmenmehrheit, gefolgt von Kılıçdaroğlu mit 44,9 % und dem Ultranationalist Sinan Oğan mit 5,2 %, der kurz vor der Stichwahl eine Wahlempfehlung für Erdoğan abgab (ZO 22.5.2023). Drei Tage vor der Präsidentschaftswahl in der Türkei hatte Muharrem İnce, Vorsitzender der Partei Memleket (Vaterland) seine Kandidatur zurückgezogen (ZO 11.5.2023; vgl. ARD 11.5.2023, Standard 19.5.2023), erhielt dennoch 0,43 % der Stimmen (Standard 19.5.2023).

Die am 28.5.2023 abgehaltene Stichwahl bot laut der internationalen Wahlbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Beteiligung von Wahlbeobachtern der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) den Wählern und Wählerinnen die Möglichkeit, zwischen echten politischen Alternativen zu wählen. Die Wahlbeteiligung war wie im ersten Wahlgang hoch, doch wie schon in der ersten Runde verschafften eine einseitige Medienberichterstattung und das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen dem Amtsinhaber einen ungerechtfertigten Vorteil. Die Wahlverwaltung hat die Wahl technisch effizient durchgeführt, aber es mangelte ihr weitgehend an Transparenz und Kommunikation. In dem gedämpften, aber dennoch kompetitiven Wahlkampf konnten die Kandidaten ihren Wahlkampf frei gestalten. Die härtere Rhetorik, hetzerische und diskriminierende Äußerungen beider Kandidaten sowie die anhaltende Einschüchterung und Schikanierung von Anhängern einiger Oppositionsparteien untergruben jedoch den Prozess (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Diesbezüglicher "Höhepunkt" war, dass Erdoğan während einer Wahl-Kundgebung eine Videomontage zeigte, in der es so aussah, als würden PKK-Führungskräfte das Wahlkampflied der größten Oppositionspartei CHP singen (Duvar 7.5.2023; DW 23.5.2023), und Kılıçdaroğlu an den PKK-Kommandanten, Murat Karayilan, appellieren: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen" (ARD 28.5.2023; vgl. DW 23.5.2023). In Folge wurde die Manipulation von Erdoğan zugegeben (ARD 28.5.2023; vgl. DS 24.5.2023), obgleich er in einem Fernsehinterview sagte, dass es ihm gewissermaßen egal sei, ob das Video manipuliert wurde oder nicht (DW 23.5.2023). Dies hielt Erdoğan nicht davon ab, unmittelbar vor der Präsidenten-Stichwahl abermals "offenkundige Absprachen" zwischen Kılıçdaroğlu und PKK-Terroristen in den Kandil-Bergen zu behaupten (DS 24.5.2023).

In einem Umfeld, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, haben sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Medien bei ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf keine redaktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleistet, was die Fähigkeit der Wähler, eine fundierte Wahl zu treffen, beeinträchtigt hat (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Amtsinhaber Erdoğan gewann die Stichwahl mit rund 52 %, während sein Herausforderer, Kılıçdaroğlu, knapp 48 % gewann. Während Kılıçdaroğlu in den großen Städten, wie Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Adana, im Südosten (mit seiner mehrheitlich kurdischen Bevölkerung) und den Mittelmeer-Provinzen gewann, dominierte Erdoğan den Rest des Landes, vor allem Zentralanatolien, die Schwarzmeerküste, aber auch vom Erdbeben betroffene Provinzen wie Hatay, Gaziantep, Adıyaman oder Şanlıurfa (Anadolu 29.5.2023; vgl. Politico 29.5.2023, taz 28.5.2023).

 

Das Parlament

Der Rechtsrahmen bietet nicht in vollem Umfang eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen. Die noch unter dem Kriegsrecht verabschiedete Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht in ausreichendem Maße, da sie sich auf Verbote zum Schutz des Staates konzentriert und Rechtsvorschriften zulässt, die weitere unzulässige Einschränkungen mit sich bringen. Die Mitglieder des 600 Sitze zählenden Parlaments werden für eine fünfjährige Amtszeit [zuvor vier Jahre] nach einem Verhältniswahlsystem in 87 Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Vor der Wahl sind Koalitionen erlaubt, aber die Parteien, die in einer Koalition kandidieren, müssen individuelle Listen einreichen. Im Einklang mit einer langjährigen Empfehlung der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats wurde mit den Gesetzesänderungen von 2022 die Hürde für Parteien und Koalitionen, um in das Parlament einzuziehen, von 10 % auf 7 % gesenkt (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S., 6f.).

Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattgefundenen Parlamentswahlen erhielt die "Volksalliance" unter Führung der AKP mit 49 % der Stimmen eine absolute Mehrheit der 600 Parlamentsitze. - Die AKP gewann hierbei 268 (35,6 %), die ultranationalistische MHP 50 (10,1 %) und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei - Yeniden Refah Partisi (YRP) fünf Sitze (2,8 %). Das Oppositionsbündnis "Allianz der Nation" unter der Führung der säkularen, sozialdemokratisch ausgerichteten CHP erlangte 35 %, wobei die CHP 169 (25,3 %) und die nationalistische IYI-Partei 43 Sitze (9,7 %) errang. Aus dem Bündnis mehrerer Linksparteien unter dem Namen "Arbeit und Freiheitsallianz" schafften die Links-Grüne Partei - Yeşil Sol Parti (YSP) mit künftig 61 (8,8 %) und die "Arbeiterpartei der Türkei" -Türkiye İşçi Partisi (TİP) mit vier Abgeordneten den Sprung ins Parlament (TRT 2023; vgl. BBC 22.5.2023). Einen Monat vor der Wahl zog die HDP ihre Kandidatur als Partei aufgrund des seit 2021 Verbotsverfahrens gegen sie zurück und stellte ihre Kandidaten auf die Liste der mit ihr verbündeten Kleinpartei zu den Wahlen (taz 10.4.2023; vgl. AJ 11.5.2023). Am 30.5.2023 bestätigte der Oberste Wahlrat in der Bekanntgabe des finalen Wahlergebnisses diese Mandatsverteilung, sodass die Regierungskoalition über eine Mehrheit von 268 Sitzen verfügt (BAMF 5.6.2023, S. 15).

Die Parlamentswahlen fanden inmitten einer erheblichen Polarisierung und eines intensiven Wettbewerbs zwischen den Regierungs- und den Oppositionsparteien statt, die unterschiedliche politische Programme zur Gestaltung der Zukunft des Landes vertraten. Während des Wahlkampfs wurden die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Allgemeinen respektiert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. Vertreter der YSP sahen sich durchgängig Druck und Einschüchterungen ausgesetzt, die sich gegen ihre Wahlkampfveranstaltungen und Unterstützer richteten und zu systematischen Festnahmen führten. So leitete der Generalstaatsanwalt von Diyarbakır am 10.4.2023 eine Untersuchung aller Reden ein, die auf einer YSP-Kampagnenveranstaltung gehalten wurden, um festzustellen, ob irgendwelche Reden "terroristische Propaganda" enthielten. Darüber hinaus wurden einige weitere Fälle von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung beobachtet, die sich gegen Oppositionsparteien, Kandidaten und Unterstützer richteten (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 1, 13).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75 % der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S. 2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021). Entgegen der nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung von Selahattin Demirtaş, des seit November 2016 inhaftierten Parlamentariers und Ex-Ko-Vorsitzenden der HDP, zu veranlassen, kamen die türkischen Behörden dem Begehr bislang nicht nach [Stand Juni 2023] (CoE-CoM 2.12.2021).

 

Eingriffe in die lokale Demokratie

Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S. 15). Bis April 2022 wurden auf der Basis dieses Dekrets in 65 Gemeinden, die die HDP bei den Kommunalwahlen 2019 gewonnen hatte, 48 gewählte Bürgermeister durch staatlich bestellte Treuhänder ersetzt, und weitere sechs gewählte Bürgermeister durch Bürgermeister der AK-Partei ersetzt. Seit der ersten Ernennung von Treuhändern im Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister inhaftiert und 39 Bürgermeister verhaftet. Derzeit befinden sich acht Ko-Bürgermeister der HDP [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-Bürgermeister bzw Ko-Bürgermeisterin. - Das gilt ebenso für Führungspositionen in der Partei.] in Haft (EC 12.10.2022, S. 12, 19). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, S. 13).

Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister/ Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Art. 45) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).

Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S. 13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, insbesondere gegen jene der HDP, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 5.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern, und dies trotz Urteilen des EGMR zu deren Gunsten (EC 12.10.2022, S. 13).

[siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

 

Quellen:

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 ZO – Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen , Zugriff 10.2.2022

 

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 20.06.2023

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, S. 4) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SDZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 12.2022, S. 33). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage.

Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (NL-MFA 18.3.2021, S. 12). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 2.3.2022, S. 13), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 12.10.2022, S. 5, 17). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK (und der TAK), in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis24, 24.11.2022).

Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 20.3.2023, S. 3, 29). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 12.10.2022, S. 17). Die häufigen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 16.5.2023), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK unter anderem mit Drohnenangriffen in der irakischen Region Kurdistan, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten, von den USA und Großbritannien unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (HRW 12.1.2023). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 20.3.2023, S.29). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 16.5.2023).

Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2021 346 Personen, innerhalb und außerhalb [Anmerkung: Grenzgebiete zu Irak und Syrien] der Türkei bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon mindestens 69 Angehörige der Sicherheitskräfte 275 bewaffnete Militante und acht Zivilisten (İHD 6.11.2022, S. 40). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015 6.561 Tote (4.310 PKK-Kämpfer, 1.414 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [983], aber auch 304 Polizisten und 127 sog. Dorfschützer - 611 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen) im Zeitraum 20.7.2015 bis 3.3.2023. Betroffen waren insbesondere die Provinzen, Şırnak (1.185 Tote), Hakkâri (929 Tote), Diyarbakır (667 Tote), Mardin (444), die zentralanatolische Provinz Tunceli/Dersim (293) [Anm.: kurdisch-alevitisches Kernland] und Van (248 Tote), wobei 1.479 Opfer in diesem Zeitrahmen auf irakischem Territorium vermerkt wurden. Im Jahr 2022 wurden 434 Todesopfer (2021: 392, 2020: 396) registriert, was einem Zuwachs von mehr als 10 % im Vergleich zu den beiden Vorjahren ausmacht (ICG 3.3.2023). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 12.10.2022, S. 18). Hierzu betonte das Europäische Parlament im Juni 2022 "die Dringlichkeit der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses unter Einbindung aller betroffenen Parteien und demokratischen Kräfte mit dem Ziel der friedlichen Lösung der Kurdenfrage" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).

Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 12.5.2023; vgl. EDA 16.5.2023). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis24, 24.11.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 20.3.2023, S. 29).

Die Operationen der türkischen Sicherheitskräfte - einschließlich Drohnenangriffe - wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 im Nordirak, in Nordsyrien sowie in geringerem Umfang im Südosten der Türkei fortgesetzt (im April 2022 die sog. Operation "Claw Lock"). Ziele waren auch PKK-Führungskader (ICG 7.2022; vgl. ICG 5.2022). Pro-kurdische, regierungskritische Medien berichteten im Juni 2022 von mehrtägigen Bombardements in ländlichen Gebirgsregionen der Provinz Tunceli/Dersim [Zentralanatolien] im Zuge des Anti-Terrorkampfes, wobei der Zugang zu einigen Dörfern gesperrt wurde und mehrere Hektar Nutzwald abbrannten (Bianet 14.6.2022). Bei einer bemerkenswerten Eskalation wurden am 20.7.2022 in der Provinz Dohuk [aka Duhok] in der autonomen Region Kurdistan im Irak neun Touristen durch Artilleriebeschuss getötet und mehr als 20 verletzt. Die irakischen und kurdischen Regionalbehörden machten die Türkei für den Angriff verantwortlich und gaben scharfe und kritische Erklärungen ab, während Ankara diese Behauptungen zurückwies und die PKK dafür verantwortlich machte (ICG 7.2022). Im Zuge der Eskalation in Nordsyrien begann das türkische Militär mit Angriffen auf kurdisch geführte Kräfte, die sich zu Angriffen auf Armeeeinrichtungen in türkischen Grenzprovinzen bekannten, bei denen mehrere türkische Soldaten getötet wurden. Das Militär setzte auch seine Operationen gegen die PKK im Irak und im Südosten der Türkei fort. Im Nordirak wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums vom 27.8.2022 neun PKK-Kämpfer getötet (ICG 8.2022). Auch im September und Oktober 2022 stand das irakisch-kurdische Dohuk im Fokus türkischer Militäroperationen. So kamen am 11.9.2022 bei Zusammenstößen mit der PKK vier türkische Soldaten ums Leben und am 1. Oktober ein weiterer (ICG 9.2022, ICG 10.2022). Im Südosten der Türkei startete das Militär am 8.8.2022 eine neue Anti-PKK-Operation in ländlichen Gebieten der Provinz Bitlis. Innenminister Süleyman Soylu erklärte am 19.8.2022, dass sich nur noch 124 PKK-Mitglieder innerhalb der Landesgrenzen aufhielten (ICG 8.2022). Nach einem Bombenanschlag in Istanbul begann das Militär am 20.11.2022 mit der "Operation Klauenschwert", bei der Luftangriffe in Nordsyrien und im Irak gegen zahlreiche mutmaßliche PKK- und YPG-Ziele durchgeführt wurden. Am nächsten Tag kündigte Präsident Erdoğan mögliche Bodenangriffe in beiden Ländern an. Die grenzüberschreitenden Vergeltungsangriffe aus Nordsyrien nahmen zu: Bei einem Raketenangriff am 21.11.2022 wurden in der Provinz Gaziantep drei Zivilisten getötet (ICG 11.2022). Auch im Dezember 2022 hielten die türkischen Militäraktionen gegen die PKK bzw. YPG in Nordsyrien und dem Nordirak an, obgleich mit geringerer Intensität als im Vormonat (ICG 12.2022). Gleiches galt für den Jänner 2023, wobei sich die Militäroperationen in der Türkei gegen die PKK auf die Provinzen Diyarbakır, Bingöl, Muş und Batman konzentrierten, bei gleichzeitigen Luftangriffen auf deren Stellungen im Nordirak und Syrien (ICG 1.2023).

Die Operationen der Sicherheitskräfte gegen Zellen/Akteure des sog. IS (Daesh) wurden intensiviert. Die Polizei nahm zumindest 125 Personen mit angeblichen IS-Verbindungen fest, zumeist Ausländer (ICG 8.2022, ICG 7.2022), gefolgt von weiteren 90 Festnahmen im Oktober (ICG 10.2022) und rund ebenso vielen im November (ICG 11.2022) sowie 85 im Dezember 2022 (ICG 12.2022). Auch 2023 wurden die Verhaftungen vermeintlicher IS-Anhänger bzw. IS-Mitglieder fortgesetzt: - Von Jänner bis April wurde seitens der Behörden die Festnahme von in Summe rund 420 Personen vermeldet (ICG 4.2022). Für weitere Informationen und Daten siehe das Unterkapitel Terroristische Gruppierungen: sog. IS – Islamischer Staat (alias Daesh)

2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SDZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine jüngste Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AM 20.4.2022). Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26. September das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, Arab News 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (Arab News 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AM 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AM 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (Anadolu 18.11.2022).

Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vgl. Duvar 26.10.2021).

Laut türkischem Innenminister hatten mit Ende November 2022 116 Personen infolge von Überzeugungsarbeit der Behörden 2022 freiwillig ihre Waffen niedergelegt (Anadolu 30.11.2022).

Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei in Kraft, vorerst für drei Monate. Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).

Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind." (ANF 9.2.2023; vgl. France24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023).

 

Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023

Im Nachgang an die Erdbeben gilt in folgenden Provinzen der Ausnahmezustand (Stand Ende Mai 2023): Kahramanmaraş, Gaziantep, Malatya, Diyarbakır, Kilis, Sanlıurfa, Adiyaman, Hatay, Osmaniye, Adana (EDA 16.5.2023; vgl. GOV.UK 20.4.2023). Die türkische Regierung hat erklärt, dass nur Fahrzeuge, die Hilfsteams und Hilfsgüter transportieren, in die Städte fahren dürfen, die im Katastrophengebiet liegen (GOV.UK 20.4.2023).

 

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 NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 10.2.2022

 OSCE/ODIHR – Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights [Hrgs.] (15.5.2023): Türkiye, General Elections, 14 May 2023: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/files/f/documents/6/2/543543.pdf , Zugriff 26.5.2023

 SDZ – Süddeutsche Zeitung (20.4.2022): Bombenanschlag in Bursa, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-anschlag-bursa-1.5569449 , Zugriff 12.10.2022

 SDZ – Süddeutsche Zeitung (29.6.2016) [ANM.: Ohne ein Aktualisierungsdatum zu nennen, sind Ereignisse bis Jän. 2017 hinzugefügt]: Chronologie des Terrors in der Türkei, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-der-terror-begann-in-suruc-1.3316595 , Zugriff 10.2.2022

 TM - Turkish Minute (4.11.2022): Top court finds no rights violations of victims of 2015 curfew in Kurdish-majority city, https://www.turkishminute.com/2022/11/04/rights-violations-of-victims-of-2015-curfew-in-kurdish-majority-city/ , Zugriff 9.11.2022

 UNHCR (9.2.2023): UNHCR TÜRKİYE - EMERGENCY RESPONSE TO EARTHQUAKE, https://reliefweb.int/attachments/fe740f86-ba7b-4a23-831e-fc09b4da5508/2023%2002%2009%20UNHCR%20T%C3%9CRK%C4%B0YE%20%20Emergency%20Response%20to%20Earthquake.pdf , Zugriff 14.2.2023

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 22.3.2023

 YR - Yetkin Report (30.9.2022): PKK attack in Mersin tangles as details unveil, https://yetkinreport.com/en/2022/09/30/pkk-attack-in-mersin-tangles-as-details-unveil/ , Zugriff 12.10.2022

 

Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Letzte Änderung: 21.06.2023

Fethullah Gülen, muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor Kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung der Türkei war, wird von seinen Gegnern als Bedrohung der staatlichen Ordnung betrachtet (Dohrn 27.2.2017). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wird, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt (BBC 21.7.2016) und als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wird, beschreiben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regiert und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebt (Dohrn 27.2.2017). Vor dem Putschversuch vom Juli 2016 schätzten internationale Beobachter die Zahl der Gülen-Mitglieder in der Türkei auf mehrere Millionen (DFAT 10.9.2020).

Der gegenwärtige Staatspräsident Erdoğan und Gülen standen sich jahrzehntelang nahe. Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politische Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und welche die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Die Allianz zwischen AKP und Gülen-Bewegung erreichte ihren Höhepunkt während des Verfassungsreferendums vom 12.9.2010, das die Zusammensetzung der Justizorgane veränderte und letztlich die säkularistische Kontrolle über die Justiz brach (Taş 16.5.2017, S. 4). Die beiden, AKP und Gülenisten, kooperierten insbesondere bei den Ergenekon- und Sledgehammer-Prozessen, die Hunderte von aktiven und pensionierten Militärs ins Gefängnis brachten, was die Befehlsgewalt des Militärs neu bestimmte (Taş 16.5.2017, S. 4). Manipulierte Beweisstücke, geheime Zeugen und etliches mehr während der Ermittlungen bildeten nicht selten die Basis jener Schauprozesse, die von der türkischen Polizei und der Staatsanwaltschaft seit 2007 vorbereitet wurden (Qantara 30.9.2013). Insbesondere das Gesetz über anonyme Zeugen aus 2008 wurde vor allem von der Gülen-Bewegung genutzt. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Sondergerichte konnten jeden Fall, den sie wollten, in Zusammenarbeit einleiten und die gewünschte Entscheidung herbeiführen. Die AKP hat diese Situation in jeder Hinsicht unterstützt (Mezopotamya 2.8.2022). Die Ermittlungen wurden von einer kleinen Gruppe von Gülen-Anhängern bei der Polizei und in den unteren Rängen der Justiz durchgeführt, medial unterstützt von den Gülen-nahen Medien (Jenkins 15.4.2014; vgl. Cagaptay 2021, S. 31), welche gleichzeitig Regierungschef Erdoğan als einen Demokraten darstellten, der gegen die Eliten und einen ruchlosen "tiefen Staat" kämpft (Cagaptay 2021, S. 31f). Der Gülen-Bewegung war es somit gelungen, einen Staat im Staate zu etablieren, indem sie die Sicherheitskräfte ebenso unterwanderte wie den Justizapparat und die Verwaltung. Der Einfluss der Bewegung innerhalb der Justiz, gedeckt von der regierenden AKP, stellte sicher, dass die Verfehlungen ihrer Anhänger, z. B. Manipulation von Beweisstücken in Verfahren zwecks Verfolgung politischer Gegner, ungesühnt blieben (Qantara 30.9.2013; vgl. Jenkins 15.4.2014). Laut Türkei-Spezialisten, wie Gareth Jenkins, sind die Beweise - einschließlich Geständnissen - dafür, dass eine Komplottgruppe von Gülen-Anhängern hinter Fällen wie Ergenekon, Sledgehammer und dem Spionagering von Izmir steckte, inzwischen so umfassend, dass sie unwiderlegbar sind (Jenkins 15.4.2014).

Schrittweise Kriminalisierung durch den Staat: von der kriminellen Vereinigung zur Terrororganisation

Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie Erdoğans (damals Ministerpräsident) sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020, S. 4). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Untersuchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung hat ferner, unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung, Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet (AA 24.8.2020, S. 4).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. die Hizmet-Bewegung, wie sie sich selber nennt, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Türkische Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Mitte Juni 2017 definierte das Oberste Berufungsgericht, i.e. das Kassationsgericht (türk. Yargıtay), die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018; vgl. Sabah 17.6.2017).

Es ist wichtig anzumerken, dass man nicht formell Mitglied der Gülen-Bewegung werden kann. Eine Person, die sich dieser Bewegung anschließt, erhält keine Mitgliedskarte. In der Vergangenheit umfasste die Gülen-Bewegung in der Türkei verschiedene Einrichtungen wie Schulen, Studentenhäuser, Krankenhäuser sowie kulturelle und karitative Einrichtungen, welche infolge ihres guten Rufes auch Nicht-Gülenisten anzogen. Folglich ist es durchaus möglich, dass jemand an einer Gülen-Einrichtung studiert, für diese gearbeitet, oder etwa ein Konto bei der Asya Bank (galt als Hausbank der Gülen-Bewegung) gehabt hat, ohne Gülenist im ideologischen Sinne zu sein. Eine solche Person kann dennoch mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden und infolgedessen persönliche Probleme mit den türkischen Behörden bekommen. Umgekehrt konnten in einigen Fällen wohlhabende tatsächliche oder angebliche Gülenisten persönliche Probleme mit den türkischen Behörden vermeiden, indem sie korrupte Beamte bestachen. Diese Praxis ist als FETÖ Borsası (wörtlich "FETÖ-Börse") bekannt. Durch die Zahlung von Bestechungsgeldern oder die Übergabe eines Unternehmens konnte ein (mutmaßlicher) Gülenist erreichen, dass sein erzwungener beruflicher Rücktritt rückgängig gemacht oder er von der Fahndungsliste gestrichen wurde. Zudem gab es Fälle von AKP-Politikern, die Verbindungen zur Gülenbewegung hatten, aber durch ihren politischen Einfluss einer strafrechtlichen Verfolgung entrannen (NL-MFA 2.3.2022, S. 36, 38).

Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als "Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)", "Fetullahistische Terror Organisation", tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Paralel Devlet Yapılanması (PDY)", die "Parallele Staatsstruktur" bedeutet (AA 28.7.2022, S. 4; vgl. UKHO 2.2018). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vgl. Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).

Ausmaß der Verfolgung

Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden - die Zahlen variieren - über 20.300 Armeeangehörige, darunter 150 der 326 Generäle und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte, mehr als 33.000 Polizeibeamte und mehr als 5.000 Akademiker entlassen. Über 540.000 Personen wurden (zeitweise) festgenommen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren geschlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete, inklusive Wissenschaftler, wurden entlassen (MEI 20.10.2022; vgl. SCF 5.10.2020). Nach Angaben des türkischen Innenministers, Süleyman Soylu, vom Februar 2021 wurden seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 gegen 622.646 Personen Ermittlungen durchgeführt (SCF 4.3.2021). Laut der regierungstreuen Zeitung Sabah wurden zwischen dem 15.7.2016 und dem 15.11.2022 339.247 Verdächtige festgenommen. Über 102.000 von ihnen wurden formell verhaftet und befinden sich nun in Haft, wo sie entweder auf das Urteil in ihrem Prozess warten oder verurteilt wurden und ihre Strafe verbüßen. Mit Stand Mitte November 2022 waren 17.787 Personen formell inhaftiert, während nach 23.969 Gülen-Anhänger noch gefahndet wurde (DS 20.11.2022).

Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung im Rahmen des sog. "Kampfes gegen den Terrorismus" dauert an (AA 28.7.2022, S. 7; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 22). Zwar wurde der größte Teil der Gülen-Aktivisten mittlerweile bereits verhaftet und verurteilt, doch kommt es weiterhin zu Festnahmen, insbesondere unter Lehrkräften, Soldaten und Polizisten. Die Verhaftungen erfolgen in Wellen und können sich über das ganze Land erstrecken. Oft genügen zur Einleitung einer Strafverfolgung schon Informationen von Dritten, dass eine angeführte Person der Gülen-Bewegung angehört oder ihr nahesteht. Betroffen sind auch österreichische Staatsbürger sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich (ÖB 30.11.2022, S. 22f.). Allein in Ankara kamen laut Meldung der Polizei über 1.200 vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung in den Genuss einer Amnestie, da aufgrund der Aussagen von Verdächtigen 19.856 weitere Gülen-Mitglieder identifiziert werden konnten. Darüber hinaus identifizierte die Polizei in der Hauptstadt aufgrund der Informationen insgesamt 4.780 bislang unbekannte Gülen-Mitglieder (Anadolu 17.2.2022).

Exemplarisch sind wegen der schieren Anzahl hier nur die umfangreichsten Operationen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder seit Anfang 2022 angeführt [Anm.: Weiter zurückliegende Beispiele finden sich in älteren Länderinformationen zur Türkei]: Am 4.1.2022 wurden bei Razzien in zahlreichen Provinzen zunächst 80 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet, die meisten unter dem Verdacht, ein Netzwerk innerhalb der Gendarmerie aufgebaut zu haben (BAMF 10.1.2022, S. 15; vgl. DS 4.1.2022). Eine Woche später, am 11.1.2022, wurde die Verhaftung von 113 von insgesamt 185 gesuchten Gülen-Mitgliedern, insbesondere in den Reihen des Militärs, bei Razzien in über 40 Provinzen vermeldet (Anadolu 11.1.2022), gefolgt von über 50 Festnahmen am 14.1.2022 (BAMF 24.1.2022, S. 14). In der zweiten Februarhälfte wurden in Ankara und Balıkesir 123 (Ahval 22.2.2022) und am 1.3.2022 weitere 96 Verdächtigte bei landesweiten Operationen festgenommen, wobei die Generalstaatsanwaltschaft 19 Personen einem mutmaßlichen Netzwerk der Gruppe unter dem Kommando der Luftstreitkräfte zuordnete (BAMF 7.3.2022, S. 9; vgl. DS 1.3.2022). Bereits eine Woche später wurden 105 von 127 gesuchten Verdächtigen in den Streitkräften in rund 50 Städten festgenommen (DS 8.3.2022). Der April 2022 sah mehrere Verhaftungswellen (DS 13.4.2022; DS 26.4.2022). Bei der größten Operation wurden 133 Personen, insbesondere in Izmir, verhaftet, darunter sowohl Beamte als auch ehemalige und aktive Mitglieder der Streitkräfte (DS 19.4.2022). Nachdem am 17.5.2022 35 Personen, darunter Lehr- und Krankenhauspersonal, festgenommen wurden (DS 17.5.2022; vgl. BAMF 23.5.2022, S. 13f.), wurden eine Woche später bei landesweiten Operationen, mit Schwerpunkten in Ankara und Izmir, 92 vermeintliche Gülen-Unterstützer verhaftet (DS 24.5.2022). Außerdem gab der Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) am 17.5.2022 bekannt, dass 15 Richter und Staatsanwälte, die der Gülen-Mitgliedschaft beschuldigt werden, dauerhaft von ihren Posten enthoben wurden (BAMF 23.5.2022, S. 14). Am 14. Juni vermeldeten die Medien die Festnahme von 53 und eine Woche später die Verhaftung von weiteren 44 vermeintlichen Gülen-Mitgliedern, die vornehmlich die Streitkräfte infiltriert hätten (DS 14.6.2022; DS 21.6.2022). Da Gülen-Mitglieder einer privaten Bildungseinrichtung versucht haben sollen sich neu zu organisieren, erließ die Staatsanwaltschaft Anfang Oktober 2022 Haftbefehle gegen 40 Verdächtige. 35 Personen wurden infolge im Istanbuler Bezirk Üsküdar festgenommen (HDN 5.10.2022). Am 18.10.2022 wurden mindestens 660 vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung verhaftet (DS 18.10.2022). Bei der größten Operation in diesem Rahmen wurden 542 Personen in 59 der 81 Provinzen festgenommen, unter Verdacht Geld gesammelt oder weiterverteilt zu haben, das von Gülen-Anhängern aus dem Ausland geschickt worden war (Ahval 18.10.2022; vgl. DS 18.10.2022).

Auch 2023 setzten sich die Verhaftungen von vermeintlichen Mitgliedern oder Anhängern der Gülenbewegung fort. - Am 30.1.2023 verhaftete die Polizei zehn Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung (BAMF 6.2.2023, S. 11). Tags darauf wurden im Rahmen einer von der Generalstaatsanwaltschaft Ankara eingeleiteten Untersuchung Haftbefehle gegen 35 Akademiker erlassen, die vormals an Gülen-Universitäten tätig waren. Bei Polizeioperationen in 32 Provinzen wurden 27 Personen festgenommen (BAMF 6.2.2023, S. 11; vgl. HDN 1.2.2023). Mitte März 2023 wurden 58 Personen, darunter Lehrer, Geschäftsleute, aktive und entlassene Militäroffiziere und ehemalige Kadetten wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen (SCF 17.3.2023). Nur wenige Tage später wurden 47 Personen bei einer Operation in İzmir, die auch in den Provinzen İstanbul, Ankara, Samsun und Muğla durchgeführt wurde, festgenommen, weil sie den Familien von Personen geholfen hatten, die wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert waren. Im Rahmen einer von der Generalstaatsanwaltschaft in İzmir eingeleiteten Untersuchung führte die Polizei Hausdurchsuchungen bei 57 Verdächtigen durch, nahm 47 von ihnen fest und beschlagnahmte ihre Ersparnisse, Schmuck, Mobiltelefone und Computer (SCF 20.3.2023; vgl. Anadolu 19.3.2023). Ende April bis Anfang Mai 2023 wurden über 30 Personen, darunter Lehrer, Studenten und Geschäftsleute, aufgrund von Haftbefehlen der Staatsanwaltschaften von Istanbul, Ankara und Bursa wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen (SCF 5.5.2023).

Anwälte von angeblichen Gülen-Mitgliedern laufen Gefahr, selbst in den Verdacht zu geraten, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (NL-MFA 18.3.2021, S. 40f.). Im September 2020 wurden 47 Rechtsanwälte festgenommen, weil diese angeblich durch ihre Rechtsberatung Gülen-Mitglieder unterstützt hätten (AM 16.9.2020; vgl. ICJ 14.9.2020) [hierzu siehe auch Kapitel: Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen].

Gerichtsurteile

Der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge haben türkische Gerichte bis Juli 2022 4.891 Angeklagte in 289 Fällen im Zusammenhang mit dem gescheiterten Putschversuch von 2016 verurteilt (TM 8.12.2022). Über 200 Klagen wurden gegen vermeintliche Putschisten eingereicht, und seit den ersten Prozessen im Jahr 2017 wurden über 8.725 Personen strafrechtlich verfolgt, während 1.634 Angeklagte zu schweren lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden (DS 8.12.2022). Rund 1.400 weitere müssen eine gewöhnliche lebenslange Haft verbüßen und mehr als 1.800 wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt (TM 10.4.2021). Am 26.11.2020 endete einer der bislang größten Prozesse gegen 475 vermeintliche Gülen-Mitglieder, denen eine direkte Teilnahme am Putschversuch vorgeworfen wurde. 337 Angeklagte wurden unter anderem wegen "Umsturzversuchs", "Attentats auf den Präsidenten" und "vorsätzlicher Tötung" zu lebenslangen Haftstrafen, in der Mehrheit zu verschärften Bedingungen, verurteilt. Ein kleinerer Teil erhielt kürzere Haftstrafen. 75 Personen wurden freigesprochen (FAZ 26.11.2020; DS 26.11.2020). Am 30.12.2020 erfolgten die Urteile im letzten Massenprozess gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder des Jahres 2020. Von 132 Angeklagten wurden 92 zu lebenslangen Haftstrafen, darunter zwölf unter verschärften Bedingungen, wegen ihrer Aktivitäten als Mitglieder der Armee im Zuge des Putschversuches verurteilt. 22 Menschen erhielten wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zwischen 12,5 und 19 Jahren Gefängnis. Weitere Urteile ergingen wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und wegen versuchten Mordes. Neun Soldaten sind freigesprochen worden (Anadolu 30.12.2020; vgl. ZO 30.12.2020). Am 7.4.2021 wurden nach knapp 250 Verhandlungstagen die Urteile gegen 497 Angeklagte verkündet. In 38 Fällen verhängte das Gericht in Ankara lebenslange Haftstrafen, davon sechs unter erschwerten Bedingungen. Hierzu zählten vor allem jene Offiziere, die in der Putschnacht den Staatssender TRT besetzten und die Verlesung einer Erklärung erzwangen. 106 weitere Personen müssen bis zu 16 Jahre ins Gefängnis. 121 wurden freigesprochen und gegen 231 verhängte das Gericht keine Strafen (DW 7.4.2021; vgl. AP 7.4.2021). Im Prozess gegen 138 Militärangehörige in Istanbul am 8.12.2022 wurden gegen 38 der Angeklagten Haftstrafen zwischen 12,5 und 15 Jahren wegen des Versuchs, die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen, verhängt. Zwei der Angeklagten wurden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu Haftstrafen von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt. Zwei weitere Angeklagte erhielten Bewährungsstrafen wegen desselben Vorwurfs. Das Gericht entschied, 73 Angeklagte nicht für die ihnen vorgeworfenen Straftaten zu verurteilen, weil sie auf Anweisung ihrer Vorgesetzten gehandelt hatten, die sie irrtümlich für rechtmäßig hielten. Das Gericht sprach 23 Angeklagte von allen Vorwürfen frei (TM 8.12.2022; vgl. DS 8.12.2022).

Kriterien für die Verfolgung durch die Justiz

Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind (bzw. waren), sondern auch dann, wenn diese beispielsweise lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind (AA 24.8.2020, S. 9). Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöpfende "Liste von sechzehn Kriterien", die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als "Terroristen" bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, "die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden" (JWF 1.2019). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Das Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App "ByLock"; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten "parallelen Struktur"; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen (AA 28.7.2022, S. 7; vgl. NL-MFA 2.3.2022, S. 38, JWF 1.2019), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes "Kimse Yok Mu" (JWF 1.2019); der Besuch der eigenen Kinder von Schulen, die der Gülen-Bewegung zugeordnet werden; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive Beschäftigungsverhältnisse und die Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung (AA 28.7.2022, S. 7; vgl. JWF 1.2019). Weitere Kriterien sind u.a. die Unterstützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.2019). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 28.7.2022, S. 7). Der Kassationsgerichtshof entschied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten (SCF 6.8.2019) noch die Einschreibung seines Kindes in einer Gülen-Schule für eine Verurteilung ausreicht (AA 28.7.2022, S. 7; vgl. SCF 6.8.2019).

Laut Eigenangaben differenzieren die türkischen Behörden unterschiedliche Schweregrade der Beteiligung an der Gülen-Bewegung. Im März 2020 erklärte die 16. Strafkammer des Verfassungsgerichts, zuständig für Berufungen in allen Gülen-Fällen, dass es sieben Stufen der Beteiligung gäbe: Die erste Ebene besteht aus den Menschen, die die Gülen-Bewegung aus guter Absicht (finanziell) unterstützten. Die zweite Schicht besteht aus einer loyalen Gruppe von Menschen, die in Gülen-Organisationen arbeiteten und mit der Ideologie der Gülen-Bewegung vertraut war. Die dritte Gruppe besteht aus Ideologen, die sich die Gülen-Ideologie zu eigen machten und in ihrem Umfeld verbreiteten. Die vierte Gruppe waren Inspektoren, die die verschiedenen Formen von Dienstleistungen der Gülen-Bewegung überwachten. Die fünfte Gruppe setzte sich aus Beamten zusammen, die für die Erstellung und Umsetzung der Politik der Gülen-Bewegung verantwortlich war. Die sechste Gruppe bildet den elitären Kreis, der den Kontakt zwischen den verschiedenen Segmenten der Organisation aufrecht erhielt bzw. dies immer noch tut, aber auch Personen aus ihren Positionen entlassen konnte. Die siebte Gruppe besteht aus siebzehn Personen, die direkt von Fethullah Gülen ausgewählt wurden und an der Spitze der Gülen-Bewegung stehen (NL-MFA 18.3.2021, S. 38f.). Während praktisch jeder mit einem Gülen-Hintergrund strafrechtlich belangt werden kann, stehen mutmaßliche Gülenisten im Sicherheitsapparat, wie Militärs und Gendarme, besonders im Visier. Auch Personen, die Führungspositionen in Gülen-Institutionen wie den Gülen-Schulen, der Fatih-Universität in Istanbul und der Tageszeitung Zaman innehatten, fallen den Behörden eher negativ auf (NL-MFA 2.3.2022, S. 38).

Die Entscheidung der türkischen Behörden, vermeintliche Gülen-Mitglieder strafrechtlich zu verfolgen, oder nicht, scheint sehr willkürlich zu sein (NL-MFA 2.3.2022, S. 39). Moderate Richter tendieren zwischen "passiven" und "aktiven" Gülen-Mitgliedern zu unterschieden, während Hardliner keine Unterscheidung hinsichtlich der Kriterien einer vermeintlichen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung machen. Infolgedessen ist der Ausgang der Strafverfahren, insbesondere hinsichtlich des Strafausmaßes, willkürlich (NL-MFA 18.3.2021, S. 41). Zu dieser Unberechenbarkeit trägt u.a. der Umstand bei, dass die Behörden weder objektive Kriterien verwenden, noch sie diese konsequent anwenden. Darüber hinaus besteht ein praktisches Hindernis bei der Verfolgung von Gülen-Anhängern in ihrer schieren Anzahl in der Vergangenheit. So schätzen Quellen, dass im Jahr 2010 zwischen acht und zehn Millionen Menschen in der Türkei in irgendeiner Weise mit der Gülen-Bewegung verbunden waren (NL-MFA 2.3.2022, S. 39).

Die Verwandten von hochrangigen Gülenisten sind besonders gefährdet, die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen. Es gab jedoch auch mehrere Fälle von Familien, die einen Gülen-Unterstützer in ihren Reihen hatten, ohne dass die Angehörigen Probleme mit den türkischen Behörden hatten (NL-MFA 2.3.2022, S. 41).

Die Strafverfolgungsbehörden wenden zur Identifizierung vermeintlicher Gülen-Mitglieder eine Überwachungs-Software an, die anhand von 78 Haupt- und 253 Sekundärkriterien Verdächtigte ausfindig macht, der sog. "FETÖ-Meter". Dazu gehören etwa Daten über den Bildungswerdegang, die Verwandtschaft und den Vermögensstand. Verdächtige Merkmale sind beispielsweise der Dienst in einer NATO-Vertretung im Ausland oder ein Doktorat. Bei Militärangehörigen gilt die eigene Hochzeit außerhalb von Gebäuden im Besitz des Militärs als Verdachtsmoment, weil unterstellt wird, dass dies der Verschleierung der Identitäten der Hochzeitsgäste diente (TM 5.3.2021). Das FETÖ-Meter sammelte zu Beginn insbesondere nachrichtendienstliche Daten aus allen Bereichen der Armee sowie aus Ministerien und Behörden, um mögliche, aus der Sicht der Behörden, Infiltratoren aufzuspüren. Die Ermittler untersuchten mit dem Tool auch etwa 1 Million Handynummern, die auf ehemalige und noch dienende Marineoffiziere registriert waren und fanden angeblich heraus, dass 1.500 von ihnen Nutzer der verschlüsselten Messenger-App "ByLock" waren. Ebenso wurden die Kontoinformationen von Offizieren bei der inzwischen aufgelösten Bank Asya zur Identifizierung verwendet (DS 12.9.2018). Der FETÖ-Meter inspirierte auch andere staatliche Stellen zu einer ähnlichen Politik, wie die Sozialversicherungsanstalt (SGK), die seit vier Jahren mutmaßliche Gülen-Sympathisanten in ihrer Datenbank mit dem "Code 36" kennzeichnet. Die Kennzeichnung ist automatisch für jeden potenziellen Arbeitgeber sichtbar, was zu Befürchtungen bei denjenigen führt, die erwägen, eine dieser Personen einzustellen (TM 5.3.2021).

Es ist ein soziales Stigma, ein Gülen-Mitglied zu sein, weshalb sich viele Bürger von ihnen distanzieren. Diese Haltung beruht nicht immer auf Hass und Abneigung, sondern ist eine Form des Selbstschutzes, aus Angst strafrechtlich verfolgt zu werden, wenn sie mit Personen der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden. Infolgedessen haben vermeintliche oder tatsächliche Gülen-Mitglieder auch ihren Arbeitsplatz verloren oder fanden keine (neue) Anstellung (NL-MFA 2.3.2022, S. 41). Es gibt Berichte, wonach arbeitslose Gülen-Mitglieder zur Schattenwirtschaft auf der Straße oder zu einem Leben als Selbstversorger im Dorf ihrer Vorfahren verdammt sind (NL-MFA 18.3.2021, S. 43).

Urteile des EGMR und des türkischen Kassationsgerichtes

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 23.11.2021 ein Urteil zu 427 türkischen Richtern und Staatsanwälten gefällt, darunter Mitglieder des Kassationsgerichtshofs und des Staatsrates [oberstes Verwaltungsgericht], die wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung aus dem Staatsdienst entlassen und festgenommen worden waren. Gemäß EGMR-Urteil war deren Inhaftierung willkürlich und damit rechtswidrig. Die Türkei wurde deshalb zu Schadensersatzzahlungen von 5.000 EUR pro Person verurteilt. Im Verfahren ging es vor allem um die Frage, ob die besagten Vertreter der Justiz überhaupt in Untersuchungshaft genommen werden durften, da das türkische Recht dies für die Mitglieder der Justiz nicht erlaubt, mit Ausnahme bei unmittelbarer Verübung einer Straftat, worauf sich die türkische Regierung berief. Diese Begründung wies der EGMR als abwegig zurück, da die Mitgliedschaft in einer Organisation keine "in flagranti"-Tat sein könne (BAMF 6.12.2021, S. 14). Anfang September 2022 entschied der EGMR, dass die Untersuchungshaft von 230 Richtern und Staatsanwälten nach dem gescheiterten Putsch 2016 rechtswidrig war und dass die Türkei jedem Antragsteller 5.000 Euro Schadenersatz zahlen muss. Bei 209 Beschwerdeführern habe die Untersuchungshaft nicht in einem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren stattgefunden, während bei den übrigen 21 Klägern die Verdachtsmomente keine Begründung für die Verhängung einer Untersuchungshaft konstituierten (TM 6.9.2022).

Das Kassationsgericht (i.e. Oberstes Appelationsgericht) sprach am 21.6.2022, sechs Jahre nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei, 71 ehemalige Militärschüler frei, die wegen Beteiligung am Umsturzversuch zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren (Spiegel 23.6.2022; vgl. Bianet 22.6.2022).

ByLock und spezielle Münztelefone

ByLock ist eine Handy-Applikation zur verschlüsselten, sicheren Kommunikation. Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis darstellt, um die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung festzustellen. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Allerdings urteilte das Verfassungsgericht im Juni 2020 anlässlich eines Beschwerdeverfahrens, dass die Benutzung von ByLock als ausreichender Beweis für die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung gilt (Ahval 27.6.2020). Obwohl der EGMR am 20.7.2021 im Fall eines ehemaligen Polizeibeamten, der während des gescheiterten Putsches festgenommen und inhaftiert wurde, nur weil er die ByLock-App verwendet hatte, entschied, dass die bloße Nutzung von ByLock kein ausreichender Beweis für die Festnahme und Inhaftierung der betreffenden Person war, blieben das Herunterladen und die Nutzung der ByLock-App für die türkischen Behörden ein Kriterium für die Einstufung und Behandlung von Personen als Gülenisten (NL-MFA 2.3.2022, S. 37).

Laut Innenministerium wurden (Stand November 2021) mehr als 99.300 Nutzer von ByLock wegen Terrorismus angeklagt (SCF 22.11.2021). Mit November 2022 waren laut offiziellen Zahlen 96.856 von 101.198 ByLock-Nutzern identifiziert, während gegen 4.342 weitere Personen noch ermittelt wurde. Bei 1.745 Operationen gegen mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung, die laut Behörden über öffentliche Münztelefone kommunizierten, wurden 24.676 Personen festgenommen. Etwa 8.851 von ihnen wurden verhaftet, während sich weitere 9.163 Personen bereit erklärten, mit den Behörden zusammenzuarbeiten, um eine mildere Strafe zu erhalten (DS 20.11.2022).

Auch 2021 und 2022 ist es zu Verhaftungen auf der Grundlage der Verwendung von ByLock gekommen. Beispielsweise ordnete die Staatsanwaltschaft von Konya im Jänner 2021 die Festnahme von 17 Verdächtigen in einem Untersuchungsverfahren wegen der Verwendung von ByLock an. 13 bereits Festgenommene sollen via ByLock Anordnungen von höher gestellten Mitgliedern der Gülen-Bewegung an niedere Ränge weitergeleitet haben (DS 26.1.2021). Im März erließ die Staatsanwaltschaft Ankara Haftbefehle gegen 15 Verdächtige (Anadolu 10.3.2021) und im Mai 2021 wurden neun vermeintliche Benutzer von ByLock festgenommen (Anadolu 25.5.2021). Am 10.2.2022 sind mindestens 21 Personen wegen der Nutzung der App ByLock als Beweis einer Verbindung zur Gülen-Bewegung festgenommen worden (BAMF 14.2.2022, S. 18).

Die Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zur willkürlichen Inhaftierung gab im Oktober 2019 eine Stellungnahme ab, wonach die Nutzung von ByLock unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fällt. Solange die türkischen Behörden nicht offen erklären würden, wie die Verwendung von ByLock einer kriminellen Aktivität gleichkommt, wären Verhaftungen aufgrund der Benutzung von ByLock willkürlich (TM 15.10.2019; vgl. UN-HRC 18.9.2019). Die Arbeitsgruppe bedauerte zudem, dass ihre Ansichten in vormaligen Stellungnahmen zu Fällen, die nach dem gleichen Muster abgelaufen waren, seitens der türkischen Behörden keine Berücksichtigung gefunden hatten (UN-HRC 18.9.2019).

Am 20.7.2021 entschied der EGMR, dass sich der betroffene ehemalige Polizist, Tekin Akgün, zu Unrecht seit 2016 wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung in Untersuchungshaft befindet, und zwar, weil die Festnahme lediglich auf der Benutzung von ByLock fußt. Laut Urteil des EGMR verfügte das türkische Gericht nicht über ausreichende Informationen zu ByLock, um zu dem Schluss zu kommen, dass diese Messenger-Anwendung ausschließlich von Mitgliedern der Gülen-Bewegung zu Zwecken der internen Kommunikation verwendet wurde. In Ermangelung anderer Beweise oder Informationen könne das fragliche Dokument, in dem lediglich festgestellt werde, dass der Kläger ein Nutzer von ByLock sei, für sich genommen nicht darauf hindeuten, dass ein begründeter Verdacht bestehe, dass er ByLock tatsächlich in einer Weise nutzte, die den vorgeworfenen Straftaten gleichkommen könne. Der EGMR stellte dahingehend eine Verletzung von Artikel 5 § 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), von Artikel 5 § 3 (Recht auf ein Gerichtsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Freilassung bis zur Gerichtsverfahren) und eine Verletzung von Artikel 5 § 4 (Recht auf eine zügige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) der Europäischen Menschenrechtskonvention fest. Das Gericht entschied, dass die Türkei dem Kläger 12.000 Euro für den immateriellen Schaden und 1.000 Euro für Kosten und Auslagen zu ersetzen hat (ECHR 20.7.2021, S. 1, 6).

Asya Bank

Die von Gülen-Anhängern betriebene und getragene "Bank Asya" kam nach dem gescheiterten Putschversuch zunehmend unter Druck und wurde ab 22.7.2016 gänzlich unter Verwaltung des Staates gestellt. Mit dem Bankengesetz Nr. 5411 wurde der Bank die Betriebserlaubnis vollständig entzogen. Eine Kontoeröffnung ist seither nicht mehr möglich. Bis zum 22.7.2016 hatten neben Gülen nahestehenden Beamten vor allem Geschäftsleute und einige Privatpersonen Konten bei der Asya-Bank. In vielen Fällen reichte es, über ein Konto bei der Asya Bank zu verfügen, um wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung angeklagt zu werden. Viele Angeklagte wurden jedoch nicht verurteilt, wenn keine weiteren Indizien vorlagen. Allerdings konnte die bloße Einzahlung von Geld bei der Asya-Bank nach dem 25.12.2013 zu einer Suspendierung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst führen (ÖB 30.11.2022, S. 22).

Das Kassationsgericht entschied 2018, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt hatten, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018; vgl. TP 16.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden der Bank Asya waren (TM 30.5.2018). Im September 2019 ordneten Staatsanwälte die Festnahme von 35 Personen an, die beschuldigt wurden, die Messenger-App ByLock verwendet und gleichzeitig Geld in der Asya Katılım Bank deponiert zu haben (DS 18.9.2019). [Mehr zu Verurteilungen siehe Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen.]

Gülen-Schulen

Die Gülen-Bewegung betrieb einst Schulen rund um den Globus (BBC 21.7.2016). Die Schließung der Schulen stellt die Gülen-Bewegung vor große Herausforderungen, da sie eine wichtige Rolle bei der Finanzierung und der Anwerbung neuer Anhänger spielten. Um den Zugang des türkischen Staates zu verhindern, erklärten sich viele Schulen nicht mehr als türkische, sondern als lokale Institutionen. Durch eine Mischung aus politischem Druck und wirtschaftlichen Anreizen hat die Türkei versucht, die Gastländer davon zu überzeugen, die Gülen-Schulen, Schülerwohnheime und Universitäten an die Maarif-Stiftung zu übergeben (NZZ 14.2.2020), oder auf der Basis von bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Ländern zu schließen bzw. anderen Eigentümern zu übertragen (SCF 5.2.2019; vgl. DS 31.7.2018). Laut der Stiftungsleitung wurden bis März 2021 216 Gülen-Schulen in 44 Ländern übernommen, zuletzt beispielsweise im Februar 2023 in der Zentralafrikanischen Republik (TM 14.2.2023). Wann immer die Interventionen der türkischen Regierung, die Gülen-Schulen zu schließen, sich nicht als erfolgreich erweisen, strebt sie über die Maarif-Stiftung die Eröffnung eigener Schulen an (NZZ 14.2.2020). Mit Stand Dezember 2022 betrieb gemäß Eigenangaben die Maarif-Stiftung 429 Schulen mit 50.000 Schülern in 49 Ländern (DS 21.12.2022)

Verfolgung im Ausland: Auslieferungsanträge und Entführungen

Über 100 mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung wurden laut türkischem Außenminister vom Geheimdienst (MİT) im Ausland entführt und im Rahmen der globalen Fahndung der Regierung in die Türkei zurückgebracht (SCF 16.7.2018). Laut Justizminister Abdülhamit Gül waren es Ende März 2019 107 (Anadolu 27.3.2019). Der türkische Nachrichtendienst MİT als Hauptakteur organisierte verdeckte Operationen, um hauptsächlich Personen mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu entführen und in die Türkei zu bringen, manchmal in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden des Landes und in einigen anderen Fällen, ohne sich überhaupt die Mühe zu machen, diese zu informieren. Etliche Regierungen unterstützten die türkische Seite, indem sie selbst die Verfolgung bzw. Auslieferung von vermeintlichen Gülen-Mitgliedern in ihren jeweiligen Ländern durchführten (AST 9.2020). Zu Beginn des Jahres 2021 wurden mindestens 17 Staaten gezählt, an deren Spitze Saudi-Arabien, die seit 2016 Personen mit Verbindungen zur Gülen-Bewegung an die Türkei auslieferten (FT 14.1.2021). So lieferte die Ukraine Anfang Jänner 2021 zwei hochrangige Mitglieder der Gülen-Bewegung, die zuvor im Irak tätig waren, an Ankara aus (AM 6.1.2021). Mitte Februar 2021 wurden im Rahmen einer Operation des MİT in Usbekistan zwei angebliche Gülen-Mitglieder in die Türkei verbracht (DS 15.2.2021). Im Mai 2021 entführte der türkische Geheimdienst Selahaddin Gülen, einen Neffen von Fethullah Gülen, in Kenia. Die türkischen Behörden warfen dem Neffen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vor (DW 31.5.2021; vgl. France24 31.5.2021). Im März 2022 wurde Selahaddin Gülen zu drei Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt. Ursprünglich war er zu zwölf Jahren verurteilt worden. Seine Strafe wurde jedoch reduziert, nachdem das Richtergremium zu der Auffassung gelangt war, dass er von der Bestimmung über die wirksame Reue nach dem türkischen Strafgesetzbuch profitieren könnte, die ihm eine Teilamnestie gewährte, nachdem er zum Informanten geworden war (TP 22.3.2022; vgl. TM 22.3.2022) und laut Medienberichten über 200 Namen vermeintlicher Gülen-Mitglieder genannt hatte (TM 22.3.2022). Mitte November 2022 wurde Uğur Demirok, gegen den ein türkischer Haftbefehl wegen "Gründung und Leitung einer bewaffneten terroristischen Vereinigung" vorlag, vom türkischen Geheimdienst MİT bei einer Operation in Aserbaidschan gefasst und in die Türkei gebracht (HDN 14.11.2022). Ebenfalls in Aserbaidschan entführte der türkische Geheimdienst Mitte April 2023 den vermeintlichen Kopf der Gülen-Bewegung in Aserbaidschan bis 2014, Mehmet Cintosun, und verbrachte ihn in die Türkei (Cumhuriyet 18.4.2023; vgl. apa.az 14.4.2023). Das Europäische Parlament verurteilte im Juni 2022 (wie schon zuvor im Mai 2021) die Auslieferung durch Drittstaaten bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31).

Das Amt für Auslands-Türken (YTB) sowie die Türkische Agentur für Kooperation und Koordination (TİKA) sind ebenfalls aktiv an den verdeckten Geheimdienstoperationen in aller Welt beteiligt gewesen. Auch die Direktion für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) wirkt mit, unter Auslands-Türken Regierungskritiker ausfindig zu machen. Nicht zuletzt sammeln staatlich finanzierte private Denkfabriken und Organisationen wie die Union der Europäisch-Türkischen Demokraten (UETD) und die Stiftung für politische, wirtschaftliche und soziale Forschung (SETA) Informationen über Regierungskritiker [Anm.: nicht nur über Gülen-Mitglieder] (AST 9.2020).

2021 behauptete das türkische Justizministerium, es habe 109 Länder um die Auslieferung von insgesamt 1.022 Gülen-Verdächtigen gebeten. 28 Länder hätten infolgedessen insgesamt 118 Gülenisten ausgeliefert (NL-MFA 2.3.2022, S. 40; vgl. TRT 14.7.2021). Die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (INTERPOL) lehnte es laut dem Leiter der INTERPOL-Abteilung des türkischen Innenministeriums in 773 Fällen ab, eine sogenannte Red Notice für Personen mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung auszustellen, nachdem INTERPOL diese Anträge als politisch eingestuft hatte (SCF 4.6.2021; vgl. Ahval 5.6.2021).

Quellen:

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 DS – Daily Sabah (14.6.2022): 53 arrested, more wanted in wave of FETÖ ops in Turkey, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/53-arrested-more-wanted-in-wave-of-feto-ops-in-turkey , Zugriff 27.6.2022

 DS – Daily Sabah (24.5.2022): 92 suspects arrested in operations against FETÖ in Turkey, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/92-suspects-arrested-in-operations-against-feto-in-turkey , Zugriff 24.5.2022

 DS – Daily Sabah (17.5.2022): 35 nabbed in operations against FETÖ across Turkey, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/35-nabbed-in-operations-against-feto-across-turkey , Zugriff 24.5.2022

 DS – Daily Sabah (26.4.2022): 26 arrested in operations against FETÖ across Turkey, https://www.dailysabah.com/turkey/26-arrested-in-operations-against-feto-across-turkey/news , 2.5.2022

 DS – Daily Sabah (19.4.2022): 133 suspects arrested in operations against FETÖ in Turkey, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/133-suspects-arrested-in-operations-against-feto-in-turkey , 2.5.2022

 DS – Daily Sabah (13.4.2022): Soldiers among 21 nabbed over FETÖ links in Turkey, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/soldiers-among-21-nabbed-over-feto-links-in-turkey , 2.5.2022

 DS – Daily Sabah (8.3.2022): 105 arrested in operations against FETÖ across Turkey, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/105-arrested-in-operations-against-feto-across-turkey , Zugriff 22.3.2022

 DS – Daily Sabah (1.3.2022): 96 arrested in new round of nationwide ops against FETÖ in Turkey, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/96-arrested-in-new-round-of-nationwide-ops-against-feto-in-turkey , Zugriff 22.3.2022

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 TM –Turkish Minute (15.10.2019): UN working group on arbitrary detention says use of ByLock is freedom of expression, https://www.turkishminute.com/2019/10/15/un-working-group-on-arbitrary-detention-says-use-of-bylock-is-freedom-of-expression/ , Zugriff 11.2.2022

 TM – Turkish Minute (30.5.2018): Detention warrants issued for 59 Bank Asya customers over alleged Gülen links, https://www.turkishminute.com/2018/05/30/detention-warrants-issued-for-59-bank-asya-customers-over-alleged-gulen-links/ , Zugriff 11.2.2022

 TM – Turkish Minute (2.6.2016): United States: We do not consider Gülen movement 'terrorist organization', https://www.turkishminute.com/2016/06/02/united-states-not-consider-gulen-movement-terrorist-organization/ , Zugriff 11.2.2022

 TP – Turkey Purge (22.3.2022): Gulen-linked teacher gets 3 years in prison on "terror" charges: report,http://web.archive.org/web/20220325194423/https://turkeypurge.com/gulen-linked-teacher-gets-3-years-in-prison-on-terror-charges-report , Zugriff 7.6.2023 [Original-Link nicht mehr vorhanden - Ersatz-Link von Web Archive]

 TP – Turkey Purge (16.2.2018): Turkey's top appeal court says Bank Asya depositors 'terrorist', http://web.archive.org/web/20220414164016/https://turkeypurge.com/turkeys-top-appeal-court-says-bank-asya-depositors-terrorist , Zugriff 7.6.2023 [Original-Link nicht mehr vorhanden - Ersatz-Link von Web Archive]

 TRT (14.7.2021): Firari FETÖ'cüler için 109 ülkeyle iade trafiği yürütüldü [Auslieferungsverkehr an 109 Länder für flüchtige FETÖ-Mitglieder durchgeführt], https://www.trthaber.com/haber/gundem/firari-fetoculer-icin-109-ulkeyle-iade-trafigi-yurutuldu-595700.html , Zugriff 27.9.2022

 UKHO – United Kingdom Home Office [Großbritannien] (2.2018): Country Policy and Information Note Turkey: Gülenist Movement, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/682868/Turkey_-_Gulenists_-_CPIN_-_v2.0.pdf , Zugriff 11.2.2022

 UN-HRC – United Nations Human Rights Council Working Group on Arbitrary Detention (18.9.2019): Opinions adopted by the Working Group on Arbitrary Detention at its eighty-fifth session, 12–16 August 2019, Opinion No. 53/2019 concerning Melike Göksan and Mehmet Fatih Göksan (Turkey), https://arrestedlawyers.files.wordpress.com/2018/12/a_hrc_wgad_2019_53.pdf , Zugriff 11.2.2022

 ZO – Zeit Online (30.12.2020): Über 100 Soldaten nach Putschversuch verurteilt, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-12/tuerkei-putschversuch-soldaten-verurteilung-umsturz-lebenslange-haft-tayyib-erdogan , Zugriff 11.2.2022

Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Letzte Änderung: 21.06.2023

Die marxistisch orientierte Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê - PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB 30.11.2022, S. 21). Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIH 7.6.2022, S. 259; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 21). Daneben konzentrieren sich die politischen Forderungen der PKK auf die Freilassung ihres seit 1999 inhaftierten Gründers Abdullah Öcalan respektive auf die Verbesserung seiner Haftbedingungen (BMIH 7.6.2022, S. 259; vgl. PKK 7.10.2021).

Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 30.11.2022, S. 21). Zu weiteren aktuellen Zahlen und Details siehe das Kapitel Sicherheitslage.

2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess", bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (i.e. Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 30.11.2022, S. 21). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Aktionen der Exekutive gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde von Staatspräsident Erdoğan für gescheitert erklärt. Ab August 2015 trug die PKK den bewaffneten Kampf in die Städte des Südostens: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu versperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 30.11.2022, S. 21).

Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 3.3.2023 4.310 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 "neutralisierten" PKK-Kämpfern, d. h., diese wurden getötet oder festgenommen (ICG 3.3.2023).

Seit Anfang Januar 2022 konzentrierte sich die Eskalation zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften weiterhin auf den Nordirak, während es im Südosten der Türkei, insbesondere in den ländlichen Gebieten von Şanlıurfa, Bingöl und Muş, und an der türkisch-syrischen Grenze weiterhin zu gelegentlicher Gewalt kam. Das türkische Militär setzte in dieser Zeit seine Taktik fort, durch den Einsatz von bewaffneten Drohnen auf höherrangige PKK-Mitglieder zu zielen (ICG 3.2.2022). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen "Adlerklaue" und "Tigerkralle" gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 15.6.2021, S. 261).

Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vgl. Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021).

Zu Verhaftungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern und PKK-Unterstützern kommt es weiterhin. So wurden Mitte Februar 2022, am Vorabend des 23. Jahrestages der Festnahme Abdullah Öcalans Dutzende Personen festgenommen: 27 in Diyarbakır, neun in Siirt, darunter die ehemalige Ko-Vorsitzende der örtlichen HDP, 43 in Mersin, 24 in Van, darunter vier Mitglieder der lokalen HDP-Jugendorganisation, sowie eine weitere unbekannte Anzahl von Personen in Istanbul, Izmir, Batman, Diyadin, Ağrı und Turgutlu (MedyaNews 14.2.2022; vgl. NaT 14.2.2022). Im April 2022 nahmen die türkischen Behörden 46 Personen - von insgesamt 91 Verdächtigen - fest, darunter ehemalige lokale Funktionäre der HDP. Der Generalstaatsanwalt wirft ihnen vor, finanzielle Mittel im Namen PKK bereitgestellt zu haben und Teil der wirtschaftlichen Struktur der PKK zu sein, Geldwäsche zu betreiben und Anweisungen des PKK-Kommandeurs Murat Karayilan entgegengenommen zu haben (AP 12.4.2022). Ende November 2022 haben Sicherheitskräfte bei Razzien in 14 Provinzen im Rahmen von Ermittlungen gegen die PKK 19 Frauen festgenommen. Den Verdächtigten wird vorgeworfen seit 2014 in Syrien, Irak, Iran und in der Türkei Aktivitäten für die Fraueneinheiten der PKK durchgeführt zu haben. Die Aktivitäten sollen die Finanzierung von Terrorismus, die Verbreitung terroristischer Propaganda und Treffen mit mutmaßlichen Terroristen umfassen. Insgesamt wurde nach 50 Verdächtigen gefahndet. Unter ihnen befinden sich auch der HDP-Bürgermeister des Diyadin-Distrikts in der Provinz Ağrı und weitere HDP-Mitglieder (BAMF 6.12.2022, S. 9; vgl. DS 29.11.2022). Laut Jahresbilanz des Innenministeriums sollen 2022 gegen die PKK und syrische Schwesterorganisation YPG [der militärische Arm der PYD] 134.713 Operationen durchgeführt und dabei 8.410 Personen verhaftet worden sein. Bereits im Jänner 2023 folgten gemäß Innenministerium weitere 378 Festnahmen (BAMF 6.2.2023, S. 11; vgl. YŞ 31.1.2023). Drei Wochen vor den Parlaments- und Präsidentenwahl (14.5.2023) startete die türkische Polizei einen sogenannten Anti-Terror-Einsatz. In 21 Provinzen wurden 110 Personen gefasst, die der verbotenen Kurden-Organisation PKK nahestehen sollen (DW 25.4.2023; vgl. Standard 25.4.2023).

Am 9.2.2023 verkündete die PKK angesichts des Erdbebens in der Türkei einen einseitigen temporären Waffenstillstand (ANF 9.2.2023; vgl. France24 10.2.2023).

In einem Interview mit dem türkischen Internetportal T24 am 18.7.2022 sagte Selahattin Demirtaş, ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP und seit November 2016 inhaftiert, dass die PKK ihre Waffen niederlegen sollte. Demirtaş dementierte zudem, dass die HDP ein verlängerter Arm, Sprecherin oder Unterstützerin der PKK sei. Allerdings sah Demirtaş auch zwei Hindernisse, die einen Friedensprozess blockieren: einerseits das Beharren der türkischen Regierung auf Waffengewalt statt Verhandlungen, und andererseits die Isolationshaft des PKK-Chefs und -Gründers Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali (BZ 18.7.2022; vgl. T24 18.7.2022).

In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit "gefällt mir" markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 30.11.2022, S. 22).

 

Die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK)

Anfang der 2000er-Jahre versuchte die PKK sich neue Organisationsformen zu geben, begleitet von zahlreichen Umbenennungen, an deren Ende die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK), stand. 2005 gab sich die PKK im Rahmen des sogenannten KCK-Abkommens diese neue Organisationsform. Die Kontinuität PKK - KCK wurde im Abkommen festgeschrieben, wodurch jeder, der im Rahmen des KCK-Systems tätig ist, auch die ideologischen und moralischen Maßstäbe der PKK anwenden muss. So gesehen ist die KCK die ideologische und organisatorische Ummantelung der PKK (Posch 2016, S. 140f.). Bei der KCK handelt es sich um einen kurdischen Dachverband, dem neben der PKK auch ihre Schwesterparteien im Irak, im Iran und in Syrien sowie verschiedene gesellschaftliche Gruppen angehören (BMIBH 15.6.2021, S. 261, FN 92). Die Türkei hat in den letzten Jahren zahlreiche kurdische Politiker, Aktivisten und Journalisten wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur KCK inhaftiert und verurteilt (Rudaw 3.10.2021). Dieser Trend setzte sich fort. So wurden beispielsweise im Oktober 2021 im sog. KCK-Yüksekova-Fall von einem Gericht in Hakkâri 30 Personen wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu Haftstrafen zwischen acht Jahren und neun Monaten und 17,5 Jahren verurteilt (Bianet 4.10.2021, vgl. WKI 5.10.2021). Zu 17,5 Jahren wurde Remziye Yaşar, die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Yüksekova aus den Reihen der HDP, verurteilt (Rudaw 3.10.2021, vgl. TM 2.10.2021). Am 25.1.2022 wurde der Ko-Vorsitzende der HDP des Bezirks Iskenderun, Abdurrahim Şahin, wegen "Propaganda für eine illegale Organisation" zu zwei Jahren und einem Monat verurteilt (TİHV 26.1.2022).

 

Quellen:

 ANF - ANF News (9.2.2023): Cemil Bayık: We won't carry out military actions unless the Turkish state attacks us, https://anfenglishmobile.com/kurdistan/cemil-bayik-we-have-decided-not-to-take-action-unless-the-turkish-state-attacks-us-65431 , Zugriff 13.2.2023

 AP - Associated Press (12.4.2022): Turkey detains former Kurdish party officials for PKK links, https://apnews.com/article/europe-turkey-middle-east-58b177a97999db040e4691829cb40ef8 , Zugriff 20.4.2022

 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (6.2.2023): Briefing Notes, KW 6, Verhaftungen wegen Terrorismusverdachts, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw06-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 8.2.2023

 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (6.12.2022): Briefing Notes, KW 49, Verhaftung von Personen mit mutmaßlichen Verbindungen zur PKK, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw49-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=5 , Zugriff 14.12.2022

 Bianet (4.10.2021): All defendants sentenced to prison in the KCK Yüksekova case, https://bianet.org/english/print/251224-all-defendants-sentenced-to-prison-in-the-kck-yuksekova-case , Zugriff 14.2.2022

 BMIH - Bundesministerium des Innern und für Heimat [Deutschland] (7.6.2022): Verfassungsschutzbericht 2021, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2021-gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 9.6.2022

 BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (15.6.2021): Verfassungsschutzbericht 2020, https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2021-06-verfassungsschutzbericht-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=8 , Zugriff 9.6.2022

 BMI-D – Bundesministerium des Innern/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2015.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 14.2.2022

 BZ – Berliner Zeitung (18.7.2022): Ehemaliger HDP-Chef Demirtas fordert PKK zu Waffenniederlegung auf, https://prod.berliner-zeitung.de/news/tuerkei-ehemaliger-hdp-chef-selahattin-demirtas-fordert-kurdische-arbeiterpartei-pkk-zu-waffenniederlegung-auf-li.247820 , Zugriff 16.8.2022

 DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 14.2.2022

 DS – Daily Sabah (29.11.2022): Türkiye nabs 19 out of 50 suspects linked to terrorist PKK's women's branch, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/turkiye-nabs-19-out-of-50-suspects-linked-to-terrorist-pkks-womens-branch , Zugriff 14.12.2022

 Duvar (15.2.2021): Turkey announces sweeping roundup of 718 people, including HDP officials, after Iraq killings, https://www.duvarenglish.com/turkey-announces-sweeping-roundup-of-718-people-including-hdp-officials-after-iraq-killings-news-56261 , Zugriff 14.2.2022

 DW – Deutsche Welle (25.4.2023): 110 Festnahmen wegen angeblicher PKK-Kontakte in der Türkei, https://www.dw.com/de/110-festnahmen-wegen-angeblicher-pkk-kontakte-in-der-t%C3%BCrkei/a-65425573 , Zugriff 26.4.2023

 DW – Deutsche Welle (15.2.2021): Türkei nimmt Hunderte wegen angeblicher PKK-Kontakte fest, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-nimmt-hunderte-wegen-angeblicher-pkk-kontakte-fest/a-56575099 , Zugriff 14.2.2022

 France24 (10.2.2023): Kurdish militants suspend 'operations' after Turkey quake, https://www.france24.com/en/live-news/20230210-kurdish-militants-suspend-operations-after-turkey-quake , Zugriff 13.2.2023

 ICG – International Crisis Group (3.3.2023): Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 31.5.2023

 ICG – International Crisis Group (3.2.2022): Turkey's PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 14.2.2022

 MedyaNews (14.2.2022): Mass arrests in Turkey before anniversary of PKK leader’s imprisonment, https://medyanews.net/mass-arrests-in-turkey-before-anniversary-of-pkk-leaders-imprisonment/ , Zugriff 15.2.2022

 NaT - News about Turkey (14.2.2022): Mass arrests in Turkey before anniversary of PKK leader’s imprisonment, https://newsaboutturkey.com/2022/02/14/mass-arrests-in-turkey-before-anniversary-of-pkk-leaders-imprisonment/ , Zugriff 15.2.2022

 NM – Nordic Monitor (11.4.2020): Over 12,000 killed or wounded during Turkey’s security operations in Kurdish areas in 2015-2016, https://www.nordicmonitor.com/2020/04/more-than-twelve-thousand-people-were-killed-or-wounded-during-turkeys-security-operations-in-2015-2016/ , Zugriff 14.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 21.4.2023

 PKK - Partiya Karkerên Kurdistanê (7.10.2021): TO THE PATRIOTIC PEOPLE OF KURDISTAN AND THE DEMOKRATIC PUBLIC - Freedom for Öcalan, https://pkk-online.com/en/index.php/boeluemler/ac-klamalar/157-to-the-patriotic-people-of-kurdistan-and-the-demokratic-public-2 , Zugriff 21.4.2023

 Posch, Walter (2016): Die neue PKK - Zwischen Extremismus, politischer Gewalt und strategischen Herausforderungen (Teil 1) in: Österreichische Militärische Zeitschrift (ÖMZ), 2016/2, https://www.oemz-online.at/download/attachments/43614606/C_P_16_2(1)_Posch.pdf , Zugriff 14.2.2022

 Rudaw (3.10.2021): Turkey sentences deceased Kurdish politician to eight years in prison, https://www.rudaw.net/english/middleeast/turkey/03102021 , Zugriff 14.2.2022

 Standard – Der Standard (25.4.2023): Mehr als 100 Festnahmen drei Wochen vor Wahlen in Türkei, https://www.derstandard.at/story/2000145834219/mehr-als-100-festnahmen-drei-wochen-vor-wahlen-in-tuerkei , Zugriff 31.5.2023

 Standard – Der Standard (15.2.2021): Türkei ließ in prokurdischen Kreisen über 700 Menschen festnehmen, https://www.derstandard.at/story/2000124178508/tuerkische-menschenrechtsanwaeltin-eren-keskin-zu-langer-haft-verurteilt , Zugriff 14.2.2022

 T24 (18.7.2022): Demirtaş: PKK’nin Türkiye’ye karşı silahlarını tümden susturmasını, bırakmasını isterim [Demirtaş: Ich möchte, dass die PKK vollständig schweigt und ihre Waffen gegen die Türkei niederlegt], https://t24.com.tr/yazarlar/murat-sabuncu/demirtas-pkk-nin-turkiye-ye-karsi-silahlarini-tumden-susturmasini-birakmasini-isterim ,35996, Zugriff 16.8.2022

 TİHV - Türkiye İnsan Hakları Vakfı/ HRFT - Human Rights Foundation Turkey (26.1.2022): 26 January 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/26-january-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 3.2.2022

 TM – Turkish Minute (2.10.2021): Former HDP mayor sentenced to 17 years in prison on terrorism charges, https://www.turkishminute.com/2021/10/02/rmer-hdp-mayor-sentenced-to-17-years-in-prison-on-terrorism-charges/ , Zugriff 14.2.2022

 WKI - Washington Kurdish Institute (5.10.2021): Kurdistan’s Weekly Brief October 5, 2021, https://dckurd.org/2021/10/05/kurdistans-weekly-brief-october-5-2021/ , Zugriff 14.2.2022

 YŞ - Yeni Şafak (31.1.2023): Türkiye takes precautions, continues operations against terrorist groups: Ministry, https://www.yenisafak.com/en/news/turkiye-takes-precautions-continues-operations-against-terrorist-groups-ministry-3659844 , Zugriff 8.2.2023

 

Terroristische Gruppierungen: TAK – Teyrêbazên Azadiya Kurdistan (Freiheitsfalken Kurdistans)

Letzte Änderung: 21.06.2023

Während ihre Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) undurchsichtig bleiben und Gegenstand von Debatten unter Analysten sind, sind die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) am besten als halb-autonome Stellvertreter der PKK zu verstehen, die auf Distanz operieren (CTC 7.2016). Die TAK wurden Berichten zufolge 1999 von PKK-Führern gegründet, nachdem der PKK-Gründer Abdullah Öcalan verhaftet worden war (CEP 3.6.2021; vgl. SWP 16.12.2016). Für Rayk Hähnlein von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sind die TAK eine urbane Jugendorganisation, die vor allem benachteiligte und ideologisch leicht beeinflussbare kurdische Jugendliche in den Städten des Südostens anspricht, deren Idol Abdullah Öcalan ist. Das Durchschnittsalter liegt bei rund 25 Jahren. Keiner ihrer Selbstmordattentäter war älter als 30 Jahre. Der militärische Arm der PKK hatte damit einen radikalen und eigenständigen Stadtableger geschaffen, um das bis dahin vor allem auf den ländlichen Raum konzentrierte Netzwerk zu erweitern und für junge Städter attraktiv zu machen (SWP 16.12.2016).

Im Jahr 2004 beschuldigten die TAK die PKK jedoch des Pazifismus und spalteten sich öffentlich von der PKK ab (CEP 3.6.2021; vgl. SWP 16.12.2016). Zwischen 2010 und 2015 setzten die TAK ihre Anschläge aus, um die Annäherung und den Friedensprozess zwischen AKP-Regierung und PKK nicht zu gefährden. Erst nach dessen Scheitern im Sommer 2015 und den sich anschließenden militärischen Großoffensiven gegen die PKK in Cizre, Silopi und anderen Städten begaben sich die TAK wieder auf den Pfad der Gewalt (SWP 16.12.2016). Seit 2004 haben die TAK mehr als ein Dutzend tödlicher Angriffe im ganzen Land verübt, darunter der Beschuss eines türkischen Militärkonvois im Februar 2016 in Ankara und die Bombenanschläge vom Dezember 2016 vor einem Sportstadion in Istanbul. Die türkische Regierung bestreitet die Trennung von TAK und PKK und behauptet, die TAK seien ein terroristischer Stellvertreter ihrer Mutterorganisation, der PKK. Sicherheitsanalysen zufolge sind die TAK mit der PKK durch die ideologische Doktrin, militärische Ausbildung, Rekrutierung und die Lieferung von Waffen verbunden, allerdings koordinieren und führen sie selbstständig Angriffe durch. Die TAK wurden von den USA, der Türkei (CEP 3.6.2021) und der EU als terroristische Organisation eingestuft (EU 24.2.2023; vgl. CEP 3.6.2021). Während die PKK behauptet, nur Polizei und Militär anzugreifen, wird weithin angenommen, dass sie die TAK als Fassade benutzt, um Angriffe in Städten durchzuführen, in denen ein hohes Risiko für zivile Opfer besteht, um eine weitere internationale Verurteilung zu vermeiden (AM 20.4.2022). Im Juli 2020 wurden drei Mitglieder wegen des Anschlages in Istanbul vom 7.6.2016, bei dem zwölf Menschen ums Leben kamen, zu mehrfachen lebenslangen Haftstrafen unter erschwerten Bedingungen verurteilt (DS 13.7.2020).

Die TAK gelten als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl unbekannt ist. Laut Personen, die der PKK nahestehen, operieren die TAK in isolierten Zwei- bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AM 29.2.2016).

 

Quellen:

 AM – Al Monitor (20.4.2022): Bus bombing brings trauma of past terror back to Turkish cities, https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/bus-bombing-brings-trauma-past-terror-back-turkish-cities , Zugriff 19.8.2022

 AM – Al Monitor (29.2.2016): Who is TAK and why did it attack Ankara? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/02/turkey-outlawed-tak-will-not-deviate-line-of-ocalan.html , Zugriff 14.2.2022

 CEP – Counter Extremism Project (3.6.2021): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/node/13523/printable/pdf , Zugriff 14.2.2022

 CTC – Combating Terrorism Center [Gurcan, Metin] (CTC 7.2016): The Kurdistan Freedom Falcons: A Profile of the Arm's-Length Proxy of the Kurdistan Workers' Party, https://ctc.usma.edu/the-kurdistan-freedom-falcons-a-profile-of-the-arms-length-proxy-of-the-kurdistan-workers-party/ , Zugriff 14.2.2022

 DS – Daily Sabah (13.7.2020): 3 PKK terrorists sentenced to life over 2016 Istanbul bombing, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/3-pkk-terrorists-sentenced-to-life-over-2016-istanbul-bombing , Zugriff 14.2.2022

 EU - Europäische Union (24.2.2023): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 24. Februar 2023, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2022/1241, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32023D0422&qid=1680857637258&from=DE , Zugriff 7.4.2023

 SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik [Hähnlein, Rayk] (16.12.2016): Kurden: Terrorakte der »Freiheitsfalken« schaden der PKK, https://www.swp-berlin.org/publikation/kurden-terrorakte-der-freiheitsfalken-schaden-der-pkk , Zugriff 19.8.2022

 

Terroristische Gruppierungen: MLKP – Marksist Leninist Komünist Parti (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei)

Letzte Änderung: 21.06.2023

Die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP), gegründet 1994, bekennt sich ideologisch zum revolutionären Marxismus-Leninismus. Sie strebt in der Türkei die gewaltsame Zerschlagung der staatlichen Ordnung und die Errichtung eines kommunistischen Gesellschaftssystems an. Nach eigenen Angaben versteht sich die MLKP als politische Vorhut des Proletariats der türkischen und kurdischen Nation sowie der nationalen Minderheiten. Zur Erreichung ihrer Ziele bedient sich die MLKP in der Türkei auch terroristischer Mittel. (BMIH 7.6.2022, S. 265). "Die kommunistische Bewegung kämpft", laut MLKP, "für die Freiheit und Vereinigung der vier Teile Kurdistans." Denn die "Revolution des in Vier geteilten Kurdistans ist auch die Revolution der Türkei." Und auch die "Frauenrevolution ist eine Notwendigkeit zur Garantierung des endgültigen Sieges des revolutionären Proletariats" (MLKP 3.2019).

Die MLKP verfügt über einen bewaffneten Arm, die "Bewaffneten Kräfte der Armen und Unterdrückten" (FESK), die unter dem Kommando der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien von Kobanê bis Deir ez-Zour gemeinsam mit US-Truppen in Syrien gegen den sog. Islamischen Staat kämpften (TNA 17.5.2019), was bei der türkischen Regierung zu Irritationen führte (Anadolu 20.8.2019). Die MLKP bekämpft die türkischen Sicherheitskräfte auch im Irak (ANF 12.10.2021; vgl. HDN 20.7.2019, TNA 17.5.2019) und in Syrien (ANF 27.6.2021; vgl. TNA 17.5.2019, ANF 23.1.2018). In der Türkei selbst kämpfen die Mitglieder der MLKP zumal in den Reihen des bewaffneten Arms der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der Volksverteidigungskräfte (HPG) (TNA 17.5.2019), wovon Berichte der MLKP über ihre Gefallenen zeugen (MLKP 20.7.2019; vgl. MLKP 1.9.2018). Die MLKP/FESK reklamierte im September 2019 u. a. ein Bombenattentat auf eine Polizeistation in Adana für sich (MLKP 27.9.2019).

Die türkischen Behörden nehmen weiterhin vereinzelt vermeintliche Mitglieder der MLKP fest. - Jüngste Beispiele: Mitte März 2023 wurden bei Polizei-Razzien in Istanbul, Bursa und Izmir elf Verdächtige (DS 13.3.2023), und Ende April 2023 in acht Städten mit Schwerpunkt in Eskişehir zehn Personen wegen Mitgliedschaft in der MLKP festgenommen (Hürriyet 30.4.2023).

Die türkischen Behörden gehen auch jenseits der Grenzen gegen die MLKP vor. So hat der türkische Geheimdienst laut eigenen Angaben ein hochrangiges Mitglied der Gruppe Anfang Jänner 2023 in Nordsyrien "neutralisiert". Zeki Gurbuz, Codename Ahmet Sores, soll hinter dem Raketenangriff auf die türkischen Sicherheitskräfte an der Grenze zu Syrien im Jahr 2022 und dem Angriff auf das Fahrzeug mit den Gefängniswärtern in der nordwestlichen Provinz Bursa im Jahr 2022 gesteckt haben (Anadolu 6.1.2023).

In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur MLKP in Untersuchungshaft genommen bzw. vor Gericht gestellt. Bei den MLKP-Fällen handelt es sich um Fälle mit mehreren Angeklagten, bei denen Anwälte, Vertreter politischer Parteien, Gewerkschaftsmitglieder, Studenten und Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur MLKP gemeinsam vor Gericht stehen. Aussagen von Geheimzeugen werden in diesen Fällen häufig als Beweismittel gegen Journalisten verwendet. Betroffen waren beispielsweise Reporter und Redakteure der Nachrichtenagentur Etkin (ETHA), wobei die Anklageschriften ETHA von vornherein als Nachrichtenagentur, die im Namen der MLKP arbeitet, definierten (IPI/MLSA 3.2020).

Zu Thema "Geheimzeugen" siehe Kapitel Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen im Abschnitt "Geheime bzw. anonyme Zeugen"

Nach einem Terroranschlag auf einen Gefangenentransport in Bursa am 20.4.2022, bei dem ein Gefängniswärter umkam, und einem Anschlag am Folgetag auf das Büro der [als AKP-nahe geltenden] Türkischen Jugendstiftung (TÜGVA) in Istanbul (ohne Personenschaden) machte Innenminister Soylu die MLKP und die Partei der Revolutionären Kommunarden (DKP) für die Anschläge verantwortlich. Hierbei betonte der Innenminister die Verbindung von MLKP (und DKP) mit der PKK (HDN 22.4.2022; vgl. Rudaw 22.4.2022).

 

Quellen:

 Anadolu – Anadolu Agency (6.1.2023): Turkish intelligence 'neutralizes' senior terrorist in northern Syria, https://www.aa.com.tr/en/turkiye/turkish-intelligence-neutralizes-senior-terrorist-in-northern-syria/2781155 , Zugriff 20.1.2023

 Anadolu – Anadolu Agency (8.9.2020): Turkey: Police arrest 14 suspected leftist terrorists, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-police-arrest-14-suspected-leftist-terrorists/1966410 , Zugriff 14.2.2022

 Anadolu – Anadolu Agency (20.8.2019): US meets with far-left terror group in Syria: minister, https://www.aa.com.tr/en/turkey/us-meets-with-far-left-terror-group-in-syria-minister/1560965 , Zugriff 14.2.2022

 ANF - ANF News (12.10.2021): MLKP guerrilla: We will never allow Turkish occupation, https://anfenglish.com/kurdistan/mlkp-guerrilla-we-will-never-allow-turkish-occupation-55503 , Zugriff 14.2.2022

 ANF - ANF News (27.6.2021): MLKP pays tribute to martyr Zilan Destan, https://anfenglish.com/rojava-syria/mlkp-pays-tribute-to-martyr-zilan-destan-53069 , Zugriff 9.2.2022

 ANF - ANF News (23.1.2018): MLKP Rojava: Wir nehmen am Widerstand von Efrîn teil, https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/mlkp-rojava-wir-nehmen-am-widerstand-von-efrin-teil-1809 , Zugriff 9.2.2022

 BMIH - Bundesministerium des Innern und für Heimat [Deutschland] (7.6.2022): Verfassungsschutzbericht 2021, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2021-gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 9.6.2022

 DS -Daily Sabah (13.3.2023): 11 suspects nabbed in ops against MLKP terrorists in Türkiye, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/11-suspects-nabbed-in-ops-against-mlkp-terrorists-in-turkiye , Zugriff 5.6.2023

 HDN - Hürriyet Daily News (22.4.2022): PKK affiliated group carried out attacks in Istanbul, Bursa: Soylu, https://www.hurriyetdailynews.com/pkk-affiliated-group-carried-out-attacks-in-istanbul-bursa-soylu-173207?utm_source=Facebook&utm_medium=post&utm_term=post , Zugriff 24.8.2022

 HDN - Hürriyet Daily News (20.7.2019): Turkish army ‘neutralizes’ 3 PKK terrorists in N Iraq, https://www.hurriyetdailynews.com/turkish-army-neutralizes-3-pkk-terrorists-in-n-iraq-145104 , Zugriff 14.2.2022

 Hürriyet (30.4.2023): Eskişehir merkezli 8 ilde MLKP operasyonu: 10 gözaltı [MLKP-Einsatz in 8 Städten mit Schwerpunkt in Eskişehir: 10 Festnahmen], https://www.hurriyet.com.tr/video/eskisehir-merkezli-8-ilde-mlkp-operasyonu-10-gozalti-42259344 , Zugriff 31.5.2023 [Übersetzung mittels technischer Hilfsmittel]

 IPI/MLSA – International Press Institute / Media and Law Studies Association (3.2020): TURKEY FREE EXPRESSION TRIAL MONITORING REPORT - FINAL REPORT, https://www.mlsaturkey.com/wp content/uploads/2020/06/ENG_TMReport_0623.pdf, Zugriff 14.2.2022

 MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (27.9.2019): Bomb Attack By FESK in Adana, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=11372&Bomb_Attack_By_FESK_in_Adana , Zugriff 14.2.2022

 MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (20.7.2019): MLKP/FESK Guerrillas Martyred In Turkish Airstrike In Dersim, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=11277&MLKP/FESK_Guerrillas_Martyred_In_Turkish_Airstrike_In_Dersim _, Zugriff 14.2.2022

 MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (3.2019): Programm der MLKP, http://www.mlkp-info.org/index.php?icerik_id=11254&Programm_der_MLKP , Zugriff 24.8.2022

 MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (1.9.2018): MLKP/FESK Rural Guerilla Units Fighter İrfan Çelik fell martyr, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=10678&MLKP/FESK_Rural_Guerilla_Units_Fighter_%C4%B0rfan_%C3%87elik_fell_martyr , Zugriff 14.2.2022

 Rudaw (22.4.2022): PKK-affiliated groups behind recent attacks in Turkey: minister, https://www.rudaw.net/english/middleeast/turkey/220420221 , Zugriff 24.8.2022

 TNA – The New Arab (17.5.2019): 'Communist militants' among US partners in Syria, https://www.alaraby.co.uk/english/indepth/2019/5/17/communist-militants-among-us-partners-in-syria , Zugriff 14.2.2022

 

Terroristische Gruppierungen: DHKP-C – Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)

Letzte Änderung: 21.06.2023

Die marxistisch-leninistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C), hervorgegangen aus der politisch-militärischen Organisation "Devrimci Sol" (kurz: "Dev-Sol", Revolutionäre Linke), strebt die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Türkei an, und zwar durch die gewaltsame Beseitigung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung. Dies ist laut Parteiprogramm ausschließlich durch den "bewaffneten Volkskampf" unter der Führung der DHKP-C möglich. Zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele hält die DHKP-C an der Durchführung von Terroranschlägen in der Türkei fest. Einrichtungen des türkischen Staates bleiben dabei vorrangige Angriffsziele. Organisatorisch untergliedert sich die DHKP-C in einen politischen Arm, die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP) sowie in einen ihr nachgeordneten militärisch-propagandistischen Arm, die "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC). Hauptfeinde sind die als "faschistisch" und "oligarchisch" bezeichnete Türkei und der "US-Imperialismus". Es gelingt der DHKP-C derzeit nicht mehr, an die Vielzahl der terroristischen Anschläge in den Jahren 2012 bis 2016 anzuknüpfen. Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIH 7.6.2022, S. 245, 295; vgl. CEP 21.4.2020; S. 7). Die seit dem gescheiterten Militärputsch von 2016 verschärfte Sicherheitslage und die damit verbundenen umfangreichen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden schränken die Handlungsfähigkeit der DHKP-C erheblich ein (BMIBH 15.6.2021, S. 274).

Die Festnahmen von vermeintlichen DHKP-C-Mitgliedern setzten sich fort. Im Februar 2021, beispielsweise, wurde Caferi Sadık Eroğlu, laut Behörden ein hochrangiges Mitglied der Gruppe, in Istanbul festgenommen (DS 12.2.2021). Am 29.3.2021 wurden zwei weitere operative Kader-Mitglieder in Istanbul verhaftet (HDN 30.3.2021). Mitte Oktober kam es zur Verhaftung von 54 Personen, welche laut Medienberichten Terroranschläge geplant hatten (BAMF 18.10.2021, S. 14; vgl. Anadolu 15.10.2021). Anfang Dezember 2021 wurden mindestens 25 Verdächtige in sieben Provinzen wegen angeblichen Verbindungen zur DHKP-C festgenommen (Anadolu 3.12.2021). Mitte Juni 2022 wurden bei gleichzeitigen Operationen in sieben Provinzen 22 Verdächtige verhaftet, denen eine Mitgliedschaft in der DHKP-C unterstellt wurde (TPE 15.6.2022; vgl. Sabah 15.6.2022). Und Ende November 2022 wurde Gulten Matur, ein Führungsmitglied der Organisation, in Istanbul verhaftet (Anadolu 28.11.2022).

Die türkische Regierung verdächtigt auch die Musikgruppe "Grup Yorum", die für ihre Kritik an der Regierung von Präsident Erdoğan bekannt ist, Verbindungen zur DHKP/C zu haben. Im Jahr 2020 starben drei Bandmitglieder an den Folgen eines Hungerstreiks aus Protest gegen die Inhaftierung mehrerer Bandmitglieder, wiederholte Razzien im Kulturzentrum von Grup Yorum und gegen das Verbot von Konzerten der Band (NL-MFA 18.3.2021). Der deutsche Verfassungsschutz sieht eine eindeutige Verbindung zwischen DHKP-C und Grup Yorum. Die Konzertveranstaltungen der Grup Yorum dienen neben der Finanzierung der DHKP-C vor allem der Verbreitung ihrer Ideologie (BMIH 7.6.2022, S. 247f.).

 

Quellen:

 Anadolu - Anadolu Agency (28.11.2022): Turkish forces arrest wanted DHKP-C terrorist in Istanbul, https://www.aa.com.tr/en/politics/turkish-forces-arrest-wanted-dhkp-c-terrorist-in-istanbul/2749972 , Zugriff 20.1.2023

 Anadolu -Anadolu Agency (3.12.2021): 25 suspects linked to far-left terror group DHKP-C nabbed in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/25-suspects-linked-to-far-left-terror-group-dhkp-c-nabbed-in-turkey/2437601 , Zugriff 15.2.2022

 Anadolu – Anadolu Agency (15.10.2021): Over 50 far-left terror suspects arrested in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/over-50-far-left-terror-suspects-arrested-in-turkey/2392752 , Zugriff 15.2.2022

 BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (18.10.2021): Briefing Notes KW 42/2021, Verhaftung von mutmaßlichen DHKP-C-Mitgliedern, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw42-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 15.2.2022

 BMIH - Bundesministerium des Innern und für Heimat [Deutschland] (7.6.2022): Verfassungsschutzbericht 2021, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2021-gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 9.6.2022

 BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat [Deutschland] (15.6.2021): Verfassungsschutzbericht 2020, https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2021-06-verfassungsschutzbericht-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=8 , Zugriff 9.6.2022

 CEP – Counter Extremism Project (3.6.2021): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/node/13523/printable/pdf , Zugriff 15.2.2022

 DS – Daily Sabah (12.2.2021) Turkish police nab wanted DHKP-C terrorist in Istanbul, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/turkish-police-nab-wanted-dhkp-c-terrorist-in-istanbul , Zugriff 15.2.2022

 HDN – Hürriyet Daily News (30.3.2021): Turkey nabs senior far-left terror members, https://www.hurriyetdailynews.com/turkey-nabs-senior-far-left-terror-members-163536 , Zugriff 15.2.2022

 NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information ReportTurkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 15.2.2022

 Sabah (15.6.2022): Balıkesir merkezli DHKP/C operasyonunda 22 şüpheli ele geçirildi [22 Verdächtige bei einer Operation der DHKP/C in Balıkesir festgenommen], https://www.sabah.com.tr/gundem/2022/06/15/balikesir-merkezli-dhkpc-operasyonunda-22-supheli-ele-gecirildi , Zugriff 20.6.2022

 TPE - Turkey Posts English (15.6.2022): 22 suspects captured in Balikesir-based DHKP/C operation, https://turkey.postsen.com/news/27764/22-suspects-captured-in-Balikesir-based-DHKPC-operation.html , Zugriff 20.6.2022

 

Terroristische Gruppierungen: sog. IS – Islamischer Staat (alias Daesh)

Letzte Änderung: 21.06.2023

Die Türkei ist ein Herkunfts- und Transitland für ausländische (terroristische) Kämpfer, sogenannte "Foreign Terrorist Fighters" (FTF), die sich dem sogenannten Islamischen Staat (IS, ISIS, Daesh) und anderen terroristischen Gruppen anschließen wollen und in Syrien und im Irak kämpfen, bzw. auch solche, welche die beiden Länder zu verlassen trachten (USDOS 16.12.2021). Die Türkei hat den IS im Jahr 2013 als terroristische Organisation eingestuft, doch wird sie seit Langem beschuldigt, als "Dschihad-Highway" zu dienen, da die türkischen Sicherheitskräfte wegschauen bzw. wegschauten, als Tausende von ausländischen Kämpfern und türkischen Staatsbürgern illegal über die 911 Kilometer lange, durchlässige Grenze nach Syrien strömten (AM 25.8.2020). Seit 2013 war die Türkei eine führende Quelle von Rekrutierungen für den IS und eine Drehscheibe für den Schmuggel von Waffen, anderen Lieferungen und Menschen über die türkisch-syrische Grenze (ICG 29.6.2020, S. 1). Der IS nutzt weiterhin die Türkei als logistische Drehscheibe, um Gelder in den und aus dem Irak und Syrien zu verschieben. So sammelt und schickt der IS häufig Gelder an Mittelsmänner in der Türkei, die das Geld nach Syrien schmuggeln (USDOT-OIG 4.1.2021, S. 3).

Aus einem geleakten Bericht des MASAK (eng.: Financial Crimes Investigation Board), einer dem türkischen Finanzministerium unterstellten Behörde, vom 8.3.2021 geht hervor, dass IS-Mitglieder mit Hilfe von in der Türkei ansässigen Unternehmen Ausrüstung und Teile zur Herstellung von Drohnen und improvisierten Sprengsätzen erworben und Wechselstuben, Juweliergeschäfte, Postämter und Banken für Geldtransfers genutzt haben. Darüber hinaus hätten einige der untersuchten IS-nahen Personen die türkische Staatsbürgerschaft angenommen. Türkische Mitglieder der Gruppe waren laut Bericht aktiv an den Bemühungen des IS beteiligt, Geld zu beschaffen, um die Flucht von Mitkämpfern und ihren Angehörigen aus dem Lager al-Hol in Nordsyrien zu unterstützen (AM 15.2.2022).

Die Türkei leistet einen aktiven Beitrag in internationalen Foren zur Terrorismusbekämpfung. Nach Angaben des türkischen Innenministeriums hat die Türkei von 2015 bis Dezember 2020 8.143 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zum Terrorismus abgeschoben, wobei die türkische "Einreiseverbotsliste" Berichten zufolge rund 100.000 Namen enthält. Öffentlichen Angaben zufolge hatten die türkischen Behörden bis Ende 2020 2.343 mutmaßliche IS-Anhänger zwecks Verhörs festgenommen und gegen 333 von ihnen Anklage erhoben (USDOS 16.12.2021). Bis April 2017 haben nach offiziellen Zählungen der Regierung etwa 2.100 Türken das Land verlassen, um mit extremistischen Gruppen zu kämpfen, meist beim IS (CEP 3.6.2021, S. 7). Andere, regierungsunabhängige Schätzungen gehen von einer weit höheren Zahl von 5.000 bis 9.000 aus (ICG 29.6.2020, S. 1, FN 2). Es wird angenommen, dass inzwischen mehr als 600 Personen in die Türkei zurückgekehrt sind (CEP 3.6.2021, S. 7). Laut den Prozessakten von Kasım Güler, der angeblich der Türkei-Beauftragte des IS war, hätte IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi vor seiner Ermordung angeordnet, dass die Türkei als Rückzugsgebiet zum Wiederaufbau des IS dienen sollte. Gülers Aussagen zufolge hätte der IS Waffen und Munition vergraben, und zwar in den Provinzen: Istanbul, Izmir, Mersin, Denizli, Van und Adana, um später Anschläge in Europa zu verüben. Zudem hätten sich IS-Gruppen in zwölf Provinzen (Adana, Hatay, Osmaniye, Gaziantep, Şanlıurfa, Elazığ, Antalya, Kayseri, Adıyaman, Ankara, Konya und Istanbul) organisiert (DW 2.2.2022; vgl. Bianet 23.8.2022). Das regierungskritische Internet-Portal Bianet nennt unter Berufung auf Prozessakte und öffentlich zugängliche Quellen zusätzlich die Provinzen Antakya, Batman, Bursa, Diyarbakır, Kırşehir, Yalova und Yozgat, an denen infolgedessen Antiterrormaßnahmen gegen den IS durchgeführt wurden (Bianet 23.8.2022).

Das Verständnis der türkischen Behörden für die IS-Gefahr hat sich weiterentwickelt. Zunächst unterschätzten sie die Bedrohung, die von Rückkehrern ausgehen könnte, und blieben 2014-2015 weitgehend zwiespältig gegenüber der Rekrutierung durch den IS. Diese Wahrnehmung begann sich im Laufe des Jahres 2016 zu verlagern, insbesondere nach dem ersten IS-Angriff im Mai 2016 auf eine staatliche Institution, auf die Polizeizentrale in Gaziantep (ICG 29.6.2020, S. 2). Laut offiziellen Angaben gab es in der Türkei bislang mindestens zehn Selbstmordattentate, sieben Bombenanschläge und vier bewaffnete Angriffe, bei denen 315 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt wurden (TurkishPress 2.11.2020). Die türkischen Behörden machen den IS seit Mitte 2015 für mehrere große Terroranschläge innerhalb des Landes verantwortlich. Im Juli 2015 starben bei einem Selbstmordattentat in Suruç 32 Menschen, und im Oktober desselben Jahres kamen ebenfalls durch ein Selbstmordattentat bei einer Friedenskundgebung in Ankara 102 Menschen ums Leben. Die türkischen Behörden brachten den IS auch in Verbindung mit einem Selbstmordanschlag vom August 2016 auf eine Hochzeit in Gaziantep, bei dem 57 Menschen ums Leben kamen. Der IS bekannte sich zum Angriff auf den Istanbuler Nachtclub Reina am Morgen des 1.1.2017, der 39 Tote und Dutzende weitere Verletzte zur Folge hatte (CEP 3.6.2021, S. 4). Seitdem haben die Sicherheitsbehörden den IS in Schach gehalten, indem sie Anschläge durch Überwachung, Verhaftung und strengere Grenzsicherung vereitelt haben. Aber die Bedrohung ist nicht völlig verschwunden, wie türkische Beamte selbst zugeben (ICG 29.6.2020; vgl. CGRS-CEDOCA 5.10.2020).

 

Rezente Beispiele für das behördliche Vorgehen gegen den Islamischen Staat

Ende Juni 2021 wurden 26 Personen mit vermeintlichen IS-Verbindungen festgenommen, der überwiegende Teil Iraker. Dies bestätigt die Befürchtungen, dass der sog. IS weiterhin die Fähigkeit besitzt, innerhalb und nahe dem türkischen Territorium zu operieren (AM 28.6.2021). Kurz vor Jahresende 2021 nahm die Polizei 16 Personen fest, nachdem Demonstranten mit Stöcken und Steinen gegen Sicherheitskräfte vorgegangen waren, die versuchten, einen nicht lizenzierten religiösen Buchladen in Bingöl (Stadt im Südosten) zu schließen, welcher laut Gouverneursamt Aktivitäten des IS in der Türkei unterstützte (Reuters 28.12.2021). Nach Angaben des Innenministeriums haben Sicherheitskräfte am 2.12.2022 in neun Provinzen bei simultanen Operationen neun Personen festgenommen, denen die finanzielle Unterstützung von IS-Mitgliedern vorgeworfen wird, indem sie mutmaßlich über Netzwerke in sozialen Medien Geld für die Unterstützung von Familien von IS-Mitgliedern gesammelt hatten (BAMF 6.12.2022, S. 9). Laut türkischem Innenministerium wurden im Jahr 2022 insgesamt 1.042 Operationen gegen den sog. IS durchgeführt und dabei 1.981 Personen verhaftet (BAMF 6.2.2023, S. 11; vgl. YŞ 31.1.2023). Bei gleichzeitigen Razzien in 23 türkischen Provinzen wurden am 5.5.2023 74 Verdächtige festgenommen, die vermeintlich mit dem IS in Verbindung stehen. Die Generalstaatsanwaltschaft in Diyarbakır hatte zuvor Haftbefehle gegen 92 Verdächtige erlassen (DS 5.5.2023).

"IS-Rückkehrer"

Was IS-Rückkehrer, z. B. aus Syrien, anbelangt, so werden diese, wenn überhaupt wegen ihrer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung für drei oder vier Jahre ins Gefängnis gesteckt. Weniger als 10 % oder etwa 450 türkischen Staatsbürger der geschätzten Tausenden Rückkehrer sind inhaftiert. - Hunderte werden demnächst entlassen. Gleichzeitig haben die staatlichen Institutionen der Türkei erst vor Kurzem damit begonnen, über sogenannte Deradikalisierungsmaßnahmen nachzudenken (ICG 29.6.2020).

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) berichtete, dass nach der Gefängnisrevolte in Ghuwayran bei Hassakah in Syrien und den anschließenden Kämpfen (Jänner 2022) einige IS-Mitglieder in die Türkei und in Gebiete unter türkischer Kontrolle im Osten und Nordosten von Aleppo geflohen seien (SOHR 6.2.2022).

 

Quellen:

 AM – Al Monitor (15.2.2022): Islamic State collaborators received Turkish citizenship, official report shows, https://www.al-monitor.com/originals/2022/02/islamic-state-collaborators-received-turkish-citizenship-official-report-shows , Zugriff 24.2.2022

 AM – Al Monitor (28.6.2021): Turkey arrests 26 in raids against Islamic State, https://www.al-monitor.com/originals/2021/06/turkey-arrests-26-raids-against-islamic-state , Zugriff 15.2.2022

 AM – Al Monitor (25.8.2020): Islamic State operative planning 'sensational' attack nabbed in Istanbul, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/08/turkey-islamic-state-attack-istanbul-syria-gaziantep.html , Zugriff 15.2.2022

 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (6.2.2023): Briefing Notes, KW 6, Verhaftungen wegen Terrorismusverdachts, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw06-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 8.2.2023

 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (6.12.2022): Briefing Notes, KW 49, Verhaftungen von Personen mit mutmaßlichen Verbindungen zum IS, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw49-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=5 , Zugriff 14.12.2022

 Bianet (23.8.2022): ISIS members continue to shelter in Türkiye, some with Êzidî captives, https://m.bianet.org/english/toplum/266193-isis-members-continue-to-shelter-in-turkiye-some-with-ezidi-captives?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter+2022-08-26, Zugriff 30.8.2022

 CGRS-CEDOCA – Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons [Belgien], COI unit (5.10.2020): Turquie; Situation sécuritaire, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038786/coi_focus_turquie._situation_securitaire_20201005.pdf , Zugriff 15.2.2022

 CEP – Counter Extremism Project (3.6.2021): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/node/13523/printable/pdf , Zugriff 15.2.2022

 DS - Daily Sabah (5.5.2023): Türkiye cracks down on Daesh network in nationwide operations, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/turkiye-cracks-down-on-daesh-network-in-nationwide-operations , Zugriff 8.5.2023

 DW – Deutsche Welle (2.2.2022): "IŞİD Türkiye'de altı kente silah gömdü" ["Der IS hat in sechs türkischen Städten Waffen vergraben"], https://www.dw.com/tr/i%CC%87tiraf%C3%A7%C4%B1-kas%C4%B1m-g%C3%Bcler-i%C5%9Fi%CC%87d-t%C3%Bcrkiyede-alt%C4%B1-kente-silah-g%C3%B6md%C3%BC/a-60633354?maca=tr-Twitter-sharing , Zugriff 30.8.2022

 ICG – International Crisis Group (29.6.2020): Calibrating the Response: Turkey's ISIS Returnees, https://www.ecoi.net/en/file/local/2032488/258-calibrating-the-response.pdf , Zugriff 31.5.2023

 Reuters (28.12.2021): Turkey detains 16 accused of links to Islamic State after bookshop clash, https://www.reuters.com/world/middle-east/turkey-detains-16-accused-links-islamic-state-after-bookshop-clash-2021-12-28/ , Zugriff 15.2.2022

 SOHR - Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (6.2.2022): ISIS escapees | Hundreds of ISIS prisoners fled from Ghuwayran prison to Turkey and faction-held areas, others hide in SDF-held areas, https://www.syriahr.com/en/238255/ , Zugriff 15.2.2022

 TurkishPress (2.11.2020): Turkey dealt major blow to Daesh/ISIS terror in October, https://turkishpress.com/turkey-dealt-major-blow-to-daesh-isis-terror-in-october/ , Zugriff 15.2.2022

 USDOS – United States Department of State [USA] (16.12.2021): Country Report on Terrorism 2020 – Chapter 1 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2065362.html , Zugriff 15.2.2022

 USDOT-OIG - US Department of Treasury - Office of the Inspector General [USA] (4.1.2021): MEMORANDUM FOR DEPARTMENT OF DEFENSE LEAD INSPECTOR GENERAL [OIG-CA-21-021], Operation Inherent Resolve - Summary of Work Performed by the Department of the Treasury Related to Terrorist Financing, ISIS, and Anti-Money Laundering for Second Quarter Fiscal Year 2021, https://oig.treasury.gov/sites/oig/files/2021-01/OIG-CA-21-012.pdf , Zugriff 15.2.2022

 YŞ - Yeni Şafak (31.1.2023): Türkiye takes precautions, continues operations against terrorist groups: Ministry, https://www.yenisafak.com/en/news/turkiye-takes-precautions-continues-operations-against-terrorist-groups-ministry-3659844 , Zugriff 8.2.2023

 

Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen

Letzte Änderung: 21.06.2023

2022 zeigte sich das Europäische Parlament in einer Entschließung "weiterhin besorgt über die fortgesetzte Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, die mit der abschreckenden Wirkung der von der Regierung in den vergangenen Jahren vorgenommenen Massenentlassungen sowie öffentlichen Stellungnahmen von Personen in führender Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren verbunden sind, wodurch die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die allgemeine Fähigkeit der Justiz, bei Menschenrechtsverletzungen wirksam Abhilfe zu schaffen, geschwächt werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; BS 23.2.2022, S. 3) und "stellt mit Bedauern fest, dass diese grundlegenden Mängel bei den Justizreformen nicht in Angriff genommen werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. AI 29.3.2022), trotz des neuen Aktionsplans für Menschenrechte und zweier vom Justizministerium ausgearbeiteten Justizreformpaketen (AI 29.3.2022). Nicht nur, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz verschlechtert hat, mangelt es ebenso an Verbesserungen des Funktionierens der Justiz im Ganzen (EC 12.10.2022, S. 23f.; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 2, 16).

Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz, nebst jener der Demokratie sowie der Menschen- und Grundrechte, wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam sogar zu Rückschritten (EC 12.10.2022, S. 23; vgl. CoEU 14.12.2021, S. 16, Pt. 34). Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts KONDA vom Juni 2021 ergab, dass 64 % der Befragten kein Vertrauen in das Justizsystem haben. Unter den Befragten mit kurdischem Hintergrund lag der Wert sogar bei 85 % (USDOS 12.4.2022, S. 15).

 

 

Faires Verfahren

Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2021 betrafen von den 73 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 16 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 1.2023). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB 30.11.2022, S. 7)

Bereits im Juni 2020 wies der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan, darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 16).

Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 28.7.2022, S. 12; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 8, AI 26.10.2020, HRW 10.4.2019). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB 30.11.2022, S. 8).

Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019).

Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 20.3.2023, S. 11, 19). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (USDOS 20.3.2022, S. 11; vgl. Turkish Tribunal 2.2021, S. 41, HRW 13.1.2021). Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, S.12, Pt.15). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben (AI 26.10.2020).

 

Geheime bzw. anonyme Zeugen

Das Thema der geheimen Zeugenaussagen kam mit dem 2008 verabschiedeten Zeugenschutzgesetz auf der Tagesordnung. Trotz Dutzender Skandale fällen die Gerichte nach wie vor Urteile auf der Grundlage der Aussagen anonymer bzw. geheimer Zeugen, bzw. sehen diese kritisch als ein politisches Instrument. So soll die Gülen-Bewegung, als sie gemeinsam mit der regierenden AKP die Macht teilte, anonyme Zeugen gegen ihre Gegner verwendet haben. Nach dem Putschversuch 2016 waren es dann vor allem vermeintliche Gülen-Mitglieder, gegen welche sich das Instrument der geheimen Zeugen richtete. Ein Zeuge mit dem Codenamen "Garson" (Kellner) ist wahrscheinlich der bekannteste, da er Zeuge in einem Fall war, an dem rund 4.000 Polizisten, vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung, beteiligt waren. Problematisch sind insbesondere Fälle, bei denen sich herausstellt, dass die anonymen Zeugen gar nicht existieren. Etwa wurden die Aussagen des anonymen Zeugen "Mercek" zur Begründung für die Verurteilung vieler Politiker herangezogen, u. a. auch gegen den seit 2016 inhaftierten, ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş. Später stellte sich jedoch heraus, dass es diese Person nicht gibt (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020). Mitunter geben die Behörden zu, dass es keine anonymen Zeugen gibt. So musste die Polizeibehörde von Diyarbakır 2019 eingestehen, dass eine anonyme Zeugin mit dem Codenamen "Venus", deren Aussage zur Festnahme und Inhaftierung zahlreicher Personen führte, in Wirklichkeit nicht existierte (NaT 19.2.2019). Im seit 2022 laufenden Verbotsverfahren gegen die HDP wurde zumindest ein anonymer Zeuge gehört, der laut HDP Parlamentarierin, Meral Danış-Beştaş, der Generalstaatsanwaltschaft Auskunft über die Parteifinanzen erteilte, was vermeintlich zur Sperrung der Parteienförderung für die HDP führte (Bianet 30.1.2023).

Im Februar 2022 stellte das türkische Verfassungsgericht fest, dass die Aussagen geheimer Zeugen, die konkrete Tatsachen enthalten, als "starke Indizien für eine Straftat" akzeptiert werden können, ohne dass sie durch andere Beweise gestützt werden, und dass die auf diese Weise vorgenommenen Verhaftungen im Einklang mit dem Gesetz stehen würden (DW[T] 17.2.2022; vgl. Duvar 18.2.2022). Allerdings liegt die Betonung auf "konkrete Tatsachen", denn das Urteil war die Folge einer laut Verfassungsgericht rechtswidrigen Verhaftung eines Gemeinderates in Diyarbakır Eğil im Jahr 2020 und basierte auf einer geheimen Zeugenaussage, mit welcher der Gemeinderat der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" beschuldigt wurde. Diese Aussage war rechtswidrig weil "abstrakt" und eben nicht "konkret". Kritiker der Hinzuziehung geheimer bzw. anonymer Zeugen betrachten diese Praxis als Instrument, Zeugenaussagen zu fälschen und abweichende Meinungen und Widerstand zum Schweigen zu bringen (Duvar 18.2.2022).

Im Gegensatz zum Verfassungsgericht hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits Mitte Oktober 2020 entschieden, dass geheime Zeugenaussagen, welche die türkischen Gerichte insbesondere in Prozessen gegen politische Dissidenten als Beweismittel akzeptiert haben, nicht als ausreichendes Beweismaterial für eine Verurteilung angesehen werden können. Wenn die Verteidigung die Identität des Zeugen nicht kennt, wird ihr nach Ansicht des EGMR in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit genommen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage zu stellen oder in Zweifel zu ziehen. Infolgedessen können geheime Zeugenaussagen allein keine rechtmäßige Verurteilung begründen, es sei denn, eine Verurteilung stützt sich auf andere solide Beweise (SCF 26.11.2020; vgl. TM 26.11.2022).

 

Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung

Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (CoEU 14.12.2021, S. 16, Pt. 34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes. Opposition, Zivilgesellschaft und namhafte Juristen kritisieren die Einschränkungen als eine Perpetuierung des Ausnahmezustands. (ÖB 30.11.2022, S. 6). Das Europäische Parlament (EP) "betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden" (EP 7.6.2022, S.18, Pt.29) "unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S.9, Pt.14).

Auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S. 44). [Siehe auch die Kapitel: Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

 

Beleidigung des Präsidenten als Strafbestand

"[E]ntsetzt über den grob missbräuchlichen Rückgriff auf Artikel 299 des Strafgesetzbuchs der Türkei über Beleidigungen des Präsidenten, die eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren nach sich ziehen können", forderte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 7.6.2021, "das Gesetz über die Beleidigung des Staatspräsidenten gemäß den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ändern" (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021). Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (DW 9.2.2022) und 9.773 strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021). Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt (DW 9.2.2022; vgl. Article19 8.4.2022). 106 der Schuldsprüche betrafen Kinder unter 18 Jahren, von denen zehn zu Haftstrafen verurteilt wurden (Article19 8.4.2022). Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022). Beispielsweise wurde im Mai 2022 ein marokkanischer Tourist von der Polizei verhaftet, nachdem dieser die Türkei als "Terroristenstaat" bezeichnete und Präsident Erdoğan beleidigte. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu warnte bereits im März 2019, dass der Staat alle Touristen, die im Verdacht stehen, gegen das Regime von Präsident Erdogan zu opponieren, festnehme, sobald sie türkischen Boden betreten, berichteten die britische "Times" (MWN 9.5.2022) und deutsche Medien. Das türkische Außenministerium entgegnete, dass die Aussagen von Soylu aus dem Zusammenhang gerissen und verzerrt wurden, betonend, dass Touristen in der Türkei nach wie vor willkommen seien (DW 6.3.2019).

Siehe, insbesondere für konkrete Beispiele, auch die (Unter-)Kapitel "Opposition" und "Meinungs- und Pressefreiheit / Internet"

 

Politisierung der Justiz

Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB 30.11.2022, S. 6). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.) (ÖB 10.2019, S. 17).

Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S. 10, Pt. 19).

Im vom "World Justice Project" jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2022 auf Rang 116 von 140 Ländern (2021: Platz 117 von 139 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator stagnierte auf 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,30 (Rang 134 von 140) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 135 von 140) sowie bei der Strafjustiz mit 0,34 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,73, der annähernd dem globalen Durchschnitt entsprach (WJP 26.10.2022).

 

Infragestellung der Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte

Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme, wie Druck auf Richter und Staatsanwälte, unterlaufen (ÖB 30.11.2022, S. 7). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S. 5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019). Infolgedessen sind Staatsanwälte und Richter häufig auf der Linie der Regierung. Richter, die gegen den Willen der Regierung entscheiden, wurden abgesetzt und ersetzt, während diejenigen, die Erdoğans Kritiker verurteilen, befördert wurden (FH 10.3.2023, F1).

Laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission waren es 3.985 Richter und Staatsanwälte, die seit dem Putschversuch 2016, wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung, entlassen wurden. Nur 515 wurden bislang wieder in ihre Ämter eingesetzt. Das Fehlen objektiver, leistungsbezogener, standardisierter und vorab festgelegter Kriterien für die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge (EC 12.10.2022, S. 6, 26).

Die in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 festgehaltenen Mängel in Bezug auf die Mindeststandards für die Entlassung von Richtern sowie die rechtlichen Garantien für die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten wurden nicht behoben. Einsprüche gegen solche Versetzungen sind möglich, aber in der Regel erfolglos (EC 12.10.2022, S. 26). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt (ÖB 30.11.2022, S. 8). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weitverbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020, S. 6, 21). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignorierten (EC 19.10.2021, S. 23).

Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze im HSK gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB 30.11.2022, S. 8; vgl. SCF 3.2021, S. 46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S. 46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB 30.11.2022, S. 8).

Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 30.11.2021, S. 7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP 10.6.2021, S. 3). Das Verfassungsgericht hat seit 2019 zwar eine gewisse Unabhängigkeit gezeigt, doch ist es nicht frei von politischer Einflussnahme und fällt oft Urteile im Sinne der Interessen der regierenden AKP (FH 10.3.2023, F1). Siehe hierzu Beispiele in diversen Kapiteln!

Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 30.11.2022, S. 8).

Aufbau des Justizsystems

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung das Verfassungsgericht (Verfassungsgerichtshof bzw. Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) als oberste Instanz in Verwaltungsangelegenheiten, der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 30.11.2022, S. 6).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Da die Friedensrichter als von der Regierung selektiert und ihr loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Venedig-Kommission des Europarates forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sonder wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurde, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden (ÖB 30.11.2022, S. 6f.). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten ist für einen bestimmten Katalog von Straftaten bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S. 24).

 

Rolle des Verfassungsgerichts

Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht (AA 28.7.2022, S. 6), eingeführt u. a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5 % seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022).

Infolge der teilweise sehr lang andauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge Mahkemeleri) eingerichtet worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten (ÖB 30.11.2022, S. 7).

Untergeordnete Gerichte ignorieren oder verzögern die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts mitunter erheblich, wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 20.3.2023, S. 18). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).

Zur neuesten Rechtssprechung des Verfassungsgerichts hinsichtlich der Meinungs- und Pressefreiheit siehe auch das Kapitel Meinungs- und Pressefreiheit / Internet.

Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war. [Siehe auch Kapitel: Politische Lage] Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen gewisse Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).

 

Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft

Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 30.11.2022, S. 9). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 12.10.2022, S. 43).

Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 30.11.2022, S. 9).

 

Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen (OHAL)

Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB 30.11.2022, S. 15).

Die mittels Präsidentendekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission [türkische Abk.: OHAL] begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB 30.11.2022, S. 15). Bis Jänner 2023 waren laut Kommission die Klassifizierung, Registrierung und Archivierung von insgesamt fast einer halben Million Akten, darunter Personalakten, die von ihren Institutionen übernommen wurden, Gerichtsakten und frühere Bewerbungen, abgeschlossen. Bis zum 12.1.2023 waren 127.292 Anträge gestellt worden. Davon hat die Untersuchungskommission seit ihrer Errichtung im Dezember 2017 alle Anträge bearbeitet, wobei lediglich 17.960 positiv gelöst wurden. 72 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen, Schulen, Zeitungen und Fernsehstationen (ICSEM 12.1.2023). Die Bearbeitungsrate der Anträge gab laut Europäischer Kommission Anlass zur Sorge, ob jeder Fall einzeln geprüft wurde (EC 12.10.2022; S. 23).

Die Beschwerdekommission steht in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder werden von der Regierung ernannt (ÖB 30.11.2022, S. 15). Betroffene haben keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrecht erhalten wird, stützt sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zieht an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB 30.11.2022, S. 15; vgl. EC 12.10.2022, S. 23). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen - einige warten nach über einem Jahr immer noch auf eine Entscheidung - kritisiert (ÖB 30.11.2022, S. 15).

 

Die Fälle Kavala und Demirtaş als prominente Beispiele der Missachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S. 20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Kultur-Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung gefordert (AA 28.7.2022, S. 16). Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S. 16f). Im Falle Kavalas lehnte ein Gericht in Istanbul auch 2022 trotz Aufforderung des Europarats die Enthaftung ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Frage zu befassen (CoE 3.12.2021), verwies das Ministerkomitee nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE 3.2.2022). Trotzalledem wurde Kavala am 25.4.2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen "Umsturzversuches" zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Neben Kavala wurden sieben weitere Angeklagte wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt (FR 25.4.2022; vgl. DW 25.4.2022). Weil die Türkei das Urteil des EGMR aus dem Jahr 2019 zur sofortigen Freilassung Kavalas jedoch missachtet hatte, verurteilte der EGMR Mitte Juli 2022 die Türkei zu einer Geldstrafe von 7.500 Euro, zu zahlen an Kavala, und das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft weiter (DW 11.7.2022). Ende Dezember 2022 bestätigte trotz alledem ein Berufungsgericht in Istanbul die lebenslängliche Strafe gegen Kavala sowie die Verurteilung von sieben weiteren Angeklagten zu 18 Jahren Haft als rechtens (ZO 28.12.2022).

 

Quellen:

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 TM – Turkish Minute (26.11.2020): ECtHR judgment could spell the end of anonymous witnesses in Turkey, https://www.turkishminute.com/2020/11/26/ecthr-judgment-could-spell-the-end-of-anonymous-witnesses-in-turkey/ , Zugriff 24.11.2022

 Turkish Tribunal [Perilli, Luca] (2.2021): Judicial Independence & Access to Justice, https://turkeytribunal.org/wp-content/uploads/2021/11/Report_Luca_Perilli_-Independence_Access_to_Justice_f.pdf , Zugriff 2.8.2022

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 22.3.2023

 USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 20.4.2022

 WJP – World Justice Project (26.10.2022): Rule of Law Index – Turkey, https://worldjusticeproject.org/rule-of-law-index/factors/2022/Turkey , Zugriff 27.10.2022

 ZO – Zeit Online (28.12.2022): Lebenslange Haftstrafe für Osman Kavala bestätigt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-12/tuerkei-osman-kavala-lebenslange-haft-bestaetigung , Zugriff 10.2.2023

 

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 21.06.2023

Das Präsidialsystem verleiht der Exekutive weitreichende Befugnisse über die Sicherheitskräfte. Die zivile Aufsicht über die Sicherheitskräfte ist jedoch nicht konsolidiert worden. Die Rechenschaftspflicht des Militärs, der Polizei und der Nachrichtendienste bleibt sehr begrenzt. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsinstitutionen muss laut Europäischer Kommission gestärkt werden. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin weit verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung nach wie vor weitreichenden gerichtlichen und administrativen Schutz. Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Militärangehörigen und der obersten Kommandoebene werden weiterhin rechtliche Privilegien gewährt. Die Untersuchung mutmaßlicher militärischer Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, erfordert die vorherige Genehmigung entweder durch militärische oder zivile Vorgesetzte (EC 12.10.2022, S. 17). Allerdings wurde der historisch starke politische Einfluss des Militärs seit 2003 und verstärkt seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 eingeschränkt. So hat der Generalstab einige seiner Kompetenzen an das Verteidigungsministerium abgegeben, und die drei Teilstreitkräfte sind nun dem Verteidigungsministerium direkt unterstellt. Zudem wird der Hohe Militärrat, die Kontrolle der Militärgerichtsbarkeit, das Sanitätswesen der Streitkräfte und das militärische Ausbildungswesen zunehmend zivil besetzt (BICC 12/2022, S. 18f.)

Die Polizei und die "Jandarma" (Gendarmerie), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten respektive in ländlichen und Grenzgebieten zuständig (USDOS 20.3.2023, S. 1, ÖB 30.11.2022, S. 16). Das Militär trägt die Gesamtverantwortung für die Bewachung der Grenzen (USDOS 20.3.2023, S. 1). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei (BICC 12.2022, S. 2). Die Jandarma mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.100 und 192.978 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 30.11.2022, S. 16; vgl. BICC 12.2022, S. 18). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 12.2022, S. 18, 26). Die Verantwortung für die Jandarma wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 12.2022, S. 19). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende schossen, die versuchten die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sogenannten "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen "Dorfschützer", eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten des Landes sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019).

Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Jandarma, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 12.2022, S. 19). Polizei, Jandarma und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen (AA 28.7.2022, S. 6).

Die 2008 abgeschaffte "Nachbarschaftswache" alias "Nachtwache" (türk.: Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BI 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (NL-MFA 2.3.2022; S. 19). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum ausgebildet sein (AA 28.7.2022, S. 6; vgl. NL-MFA 2.3.2022; S. 19, BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums handeln die Bekçi in der Regel nach ihren eigenen nationalistischen und konservativen Normen und Werten. So griffen sie beispielsweise ein, wenn jemand auf Kurdisch öffentlich sang, einen kurzen Rock trug oder einen "extravaganten" Haarschnitt hatte. Wenn die angehaltene Person nicht kooperierte, wurden ihr Handschellen angelegt und sie wurde der Polizei übergeben (NL-MFA 2.3.2022; S. 19). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Hinweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Ístanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020). Im August 2021 wurden drei Journalisten von Mitgliedern der Nachtwache attackiert, weil sie über das nächtliche Verschwinden eines, später tot aufgefundenen, Kleinkindes im Istanbuler Ortsteil Beylikdüzü berichteten (SCF 19.8.2021). Im Mai 2022 wurde angeblich eine 16-Jährige durch Angehörige der Nachtwache in Istanbul verhaftet und sexuell belästigt (SCF 11.5.2022). Und Mitte Juli 2022 wurden drei Transfrauen in der westtürkischen Provinz Izmir von Mitgliedern der Nachtwache im Rahmen einer Ausweiskontrolle mit Tränengas besprüht, geschlagen und in Handschellen auf die Polizeistation gebracht (Duvar 18.7.2022).

Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 30.11.2022, S. 17).

Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).

Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S. 15, Pt. 38).

 

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 24.8.2022

 Ahval (7.1.2021): Turkish police and intelligence allowed to use military weapons domestically, https://ahvalnews.com/police-violence/turkish-police-and-intelligence-allowed-use-military-weapons-domestically , Zugriff 15.2.2022

 Anadolu – Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-parliament-approves-domestic-security-package/63105 , Zugriff 11.5.2023

 BI – Balkan Insight (10.6.2020): Turkey Opposition Condemns Move to Arm Night Watchmen, https://balkaninsight.com/2020/06/10/turkey-opposition-condemns-move-to-arm-night-watchmen/ , Zugriff 15.2.2022

 BICC - Bonn International Centre for Conflict Studies (12.2022): Länderinformation - Türkei, https://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/tuerkei/2022_Tuerkei.pdf , Zugriff 15.2.2023

 Duvar (18.7.2022): Turkish watchmen batter trans women in western İzmir, https://www.duvarenglish.com/turkish-watchmen-batter-trans-women-in-western-izmir-news-61038 , Zugriff 11.8.2022

 EC – European Commission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 24.10.2022

 EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 15.2.2022

 FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html , Zugriff 15.2.2022

 Guardian – The Guardian (8.6.2020): Alarm at Turkish plan to expand powers of nightwatchmen, https://www.theguardian.com/world/2020/jun/08/alarm-at-turkish-plan-to-expand-powers-of-nightwatchmen , Zugriff 15.2.2022

 HDN – Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338 , Zugriff 15.2.2022

 HRW – Human Rights Watch (29.7.2020): Turkey: Police, Watchmen Involved in Torture, Ill-Treatment, https://www.hrw.org/news/2020/07/29/turkey-police-watchmen-involved-torture-ill-treatment , Zugriff 15.2.2022

 NL-MFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 27.9.2022

 NZZ – Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712 , Zugriff 15.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 8.5.2023

 SCF – Stockholm Center for Freedom (11.5.2022): Neighborhood watchmen allegedly harass 16-year-old girl in Istanbul, https://stockholmcf.org/neighborhood-watchmen-allegedly-harass-16-year-old-girl-in-istanbul/ , Zugriff 20.5.2022

 SCF – Stockholm Center for Freedom (19.8.2021): Watchmen attack journalists reporting on missing toddler in İstanbul, https://stockholmcf.org/watchmen-attack-journalists-reporting-on-missing-toddler-in-istanbul/ , Zugriff 20.5.2022

 SCF – Stockholm Center for Freedom (8.1.2021): Turkish police and intelligence agency authorized to use military weaponry in event of civil unrest, https://stockholmcf.org/turkish-police-and-intelligence-agency-authorized-to-use-military-weaponry-in-event-of-civil-unrest/ , Zugriff 15.2.2022

 Spiegel (9.6.2020): Erdogans Parallel-Polizei, https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-nachbarschaftswache-recep-tayyip-erdogans-parallel-polizei-a-ece122d1-5df6-4fb9-bd24-fa44b687e5fd , Zugriff 15.2.2022

 TM – Turkish Minute (28.11.2020): Erdoğan's army, https://www.turkishminute.com/2020/11/28/erdogans-army/ , Zugriff 30.11.2020

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 8.5.2023

 USDOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 15.2.2022

 USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 15.2.2022

 

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 21.06.2023

Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 28.7.2022, S. 16). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 30.11.2022, S. 32).

Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin (ÖB 30.11.2022, S. 32). Immer noch kommen Folter und Misshandlung in Haftzentren (der Polizei, Gendarmerie, des Militärs) sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, auf der Straße und insbesondere bei Demonstrationen vor (NL-MFA 2.3.2022, S. 32; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 32, EC 12.10.2022, S. 18, 33, İHD 6.11.2022, S. 11, İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Außerdem wird regelmäßig von Misshandlungen, einschließlich schwerer Schläge und grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, sowie von Überbelegung in Abschiebezentren berichtet, in denen ausländische Staatsangehörige, darunter auch Asylbewerber und Migranten, bis zum Abschluss des Abschiebungsverfahrens in Verwaltungshaft genommen werden (HRW 12.1.2023). Hierzu äußerten sich im September 2022 die Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem zweiten Besuch im Land. Demnach muss die Türkei weitere Maßnahmen ergreifen, um Häftlinge vor Folter und Misshandlung zu schützen, insbesondere in den ersten Stunden der Haft, und um Migranten in Abschiebezentren zu schützen (OHCHR 21.9.2022).

Menschenrechtsgruppen behaupten, dass Personen, denen eine Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit misshandelt, missbraucht oder möglicherweise gefoltert werden. Zudem sind derartige Übergriffe seitens der Polizei im Süd-Osten des Landes häufiger (USDOS 20.3.2023, S. 5). Menschenrechtsvereinigungen wie Human Rights Watch, lokale Anwaltsvereinigungen sowie Menschenrechtsaktivisten aus den Reihen der oppositionellen HDP berichteten über einen Anstieg von Übergriffen der Polizei, der Gendarmerie und Spezialeinheiten in den vom Erdbeben im 2023 betroffenen Gebieten des Südens und Südostens, wobei es auch Vorwürfe von Folter mit Todesfolge gibt. Besonders vulnerabel sind hier wiederum die syrischen Flüchtlinge. Die Sicherheitskräfte argumentierten meist, dass es sich um Plünderer handelte, gegen die vorgegangen wurde (AM 21.2.2023; vgl. DW 16.2.2023).

Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann dennoch nicht die Rede sein (ÖB 30.11.2022, S. 32). Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß von Folter entsprechen (İHD 6.11.2022, S. 11; vgl. TİHV 6.2021, S. 13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 13.1.2021, vgl. İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). In einer Entschließung vom 7.6.2022 wiederholte das Europäische Parlament (EP) "seine Besorgnis darüber, dass sich die Türkei weigert, die Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe umzusetzen" und "fordert die Türkei auf, bei Folter eine Null-Toleranz-Politik walten zu lassen und anhaltenden und glaubwürdigen Berichten über Folter, Misshandlung und unmenschliche oder entwürdigende Behandlung in Gewahrsam, bei Verhören oder in Haft umfassend nachzugehen, um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 32). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte. Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 13.1.2022). Laut der "Menschenrechtsstiftung der Türkei" (TİHV) sollen zwischen 2018 und 2021 in der Türkei mindestens 13.965 Menschen unter Folter und Misshandlung festgenommen worden sein. Von diesen gewaltsamen Verhaftungen erfolgten 3.997 im Jahr 2018, 4.253 im Jahr 2019, 2.014 im Jahr 2020 und 3.701 im Jahr 2021 (Duvar 22.3.2022).

 

Reaktionen des Verfassungsgerichts und der Behörden auf Foltervorwürfe

Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten von Klägern, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).

Opfer von Misshandlungen und Folter haben formal die Möglichkeit, sich bei verschiedenen Stellen zu beschweren, darunter bei der Ombudsstelle und der Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu - TİHEK, eng.: HREI). Beide Behörden stehen jedoch unter der Kontrolle der Regierung und sind nicht dafür bekannt, dass sie effizient gegen Missbräuche durch Regierungsmitarbeiter vorgehen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen. Es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (NL-MFA 18.3.2021, S. 34; vgl. NL-MFA 2.3.2022, S. 32f.). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S. 30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vgl. EC 29.5.2019).

Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).

Nach Angaben der İHD wurden im Jahr 2021 531 Personen, darunter zwölf Kinder, in offiziellen und 704 Personen (inklusive 25 Kinder) informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 1.414 weitere in den Gefängnissen. 2.835 Demonstranten wurden während 409 Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 6.11.2022, S. 11). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S. 26).

 

Beispiele:

Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).

Anfang Dezember 2021 starb Garibe Gezer in Einzelhaft in Kandıra, einem Hochsicherheitsgefängnis des Typs F außerhalb Istanbuls. Gezer, eine kurdische Politikerin der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), der lokalen Schwesterpartei der HDP, war 2016 zu lebenslanger Haft wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK verurteilt worden. Nachdem Gezer enthüllt hatte, dass sie von Gefängniswärtern gefoltert und sexuell missbraucht worden war, forderten Ende Oktober 2021 sowohl die HDP als auch die Menschenrechtsvereinigung (İHD) von den Behörden Gezers Beschwerden zu untersuchen. Eine Untersuchung unterblieb, und als Gezer Anfang Dezember 2021 im Gefängnis starb, sprachen HDP und İHD von einem "Tod unter verdächtigen Umständen". Die Gefängnisbehörden erklärten jedoch, Gezer habe Selbstmord begangen (NL-MFA 2.3.2022, S. 33; vgl. TM 29.1.2022, Bianet 15.12.2021).

Augenzeugenberichten zufolge schlugen im April 2022 zahlreiche Wärter im Istanbuler Marmara-Gefängnis (ehemals Silivri-Gefängnis) auf Insassen ein und versuchten sie in den Selbstmord zu treiben. Der Häftling Ferhan Yılmaz starb im April 2022 im Krankenhaus, nachdem er mutmaßlich von Gefängniswärtern gefoltert und misshandelt worden war. Zehn weitere Gefangene sollen in verschiedene Gefängnisse im ganzen Land verlegt worden sein, nachdem auch sie angegeben hatten, dass Gefängniswärter sie geschlagen hätten (AI 28.3.2023).

Nach dem massiven Erdbeben im Februar 2023 gab es Vorwürfe von eskalierender Polizeigewalt in den betroffenen Gebieten, die in manchen Fällen auch Gegenreaktionen auslöste. So gab die HDP bekannt, dass sie Strafanzeige gegen den Gouverneur von Hatay und den Polizeichef von Iskenderun wegen "schwerer Folter" von zehn Bürgern erstattete, die bei den Erdbeben ihre Angehörigen und ihr Zuhause verloren hatten. Unter den Opfern war auch ein HDP-Funktionär. Laut HDP seien die Betroffenen geschlagen worden, sodass sie schwere Verletzungen im Gesicht und am Körper aufwiesen. Sie seien überdies beleidigt und erniedrigend behandelt worden (AM 21.2.2023). In den Tagen nach dem Erdbeben wurden viele Menschen gelyncht, weil sie angeblich geplündert hatten, was nach den schweren Erdbeben vom 6. Februar zu einem großen Problem wurde. Eine dieser Personen war Muhammet Gündüz, der in der südlichen, vom Erdbeben betroffenen Provinz Hatay von der Polizei verprügelt wurde. Er gab an, dass er und sein Freund sofort, ohne vorhergehende Leibesvisitation, zusammengeschlagen wurden. Nachdem sich herausstellte, dass Gündüz im Gegenteil an Rettungsaktionen teilnahm, erstattete dieser auf der Polizeiwache einer entfernteren Provinz Anzeige gegen die Beamten, die ihn geschlagen hatten (Duvar 18.2.2023).

 

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 24.8.2022

 AM – Al Monitor (21.2.2023): Turkish youth dies in police custody as impunity soars in wake of Turkey's killer quakes, https://www.al-monitor.com/originals/2023/02/turkish-youth-dies-police-custody-impunity-soars-wake-turkeys-killer-quakes , Zugriff 22.2.2023

 AM – Al Monitor (8.7.2020): Complaints of torture on rise in Turkey's Kurdish southeast, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/07/turkey-torture-complaints-in-kurdish-southeast-are-on-rise.html , Zugriff 21.2.2022

 AI – Amnesty International (28.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089660.html , Zugriff 17.5.2023

 Bianet (15.12.2021): Suspicious death of Garibe Gezer in prison: Confidentiality order on both files, https://bianet.org/biamag/women/254863-suspicious-death-of-garibe-gezer-in-prison-confidentiality-order-on-both-files , Zugriff 28.9.2022

 CoE-CPT – Council of Europe – European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (5.8.2020): Report to the Turkish Government on the visit to Turkey carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 6 to 17 May 2019 [CPT/Inf (2020) 24], https://rm.coe.int/16809f20a1 , Zugriff 21.2.2022

 CİSST – Ceza İnfaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği – Civil Society in the Penal System Association (26.3.2021): Annual Report 2019, http://cisst.org.tr/en/wp-content/uploads/2020/11/cisst_2019_annual_report_rev08-1.pdf , 21.2.2022

 Duvar (18.2.2023): Young Turkish man beaten by police in quake-hit province after looting accusations, https://www.duvarenglish.com/young-turkish-man-beaten-by-police-in-quake-hit-province-after-looting-accusations-news-61869 , Zugriff 22.2.2023

 Duvar (22.3.2022): Over 13,000 people detained under torture in last four years in Turkey, https://www.duvarenglish.com/over-13000-people-detained-under-torture-in-last-four-years-in-turkey-news-60696 , Zugriff 8.8.2022

 DW - Deutsche Welle (16.2.2023): Turkey: Violence against alleged looters in earthquake zone, https://www.dw.com/en/turkey-violence-against-alleged-looters-in-earthquake-zone/a-64715204 , Zugriff 22.2.2023

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 EC – European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 21.2.2022

 EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 8.8.2022

 HRW – Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085506.html , Zugriff 19.1.2023

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066478.html , Zugriff 17.1.2022

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043511.html , Zugriff 21.2.20221

 HRW – Human Rights Watch (29.7.2020): Turkey: Police, Watchmen Involved in Torture, Ill-Treatment, https://www.hrw.org/news/2020/07/29/turkey-police-watchmen-involved-torture-ill-treatment , Zugriff 21.2.2022

 İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association/ OMCT – World Organisation Against Torture/ CİSST – CezaİnfazSistemindeSivilToplumDerneği - Civil Society in the Penal System/ HRFT - Human Rights Foundation of Turkey; et al. (9.12.2021): Turkey: Five Years into visit by United Nations Special Rapporteur, torture remains widespread, https://www.omct.org/en/resources/statements/turkey-five-years-into-visit-by-united-nations-special-rapporteur-torture-remains-widespread , Zugriff 19.1.2022

 İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (6.11.2022): Human Rights Association 2021 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2022/11/SR2022_2021-Turkey-Violations-Report.pdf , Zugriff 21.11.2022

 NL-MFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 28.9.2022

 NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information ReportTurkey, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 21.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 17.5.2023

 OHCHR – Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (21.9.2022): Türkiye needs to strengthen effective torture prevention measures, UN experts find, https://www.ohchr.org/en/press-releases/2022/09/turkiye-needs-strengthen-effective-torture-prevention-measures-un-experts , Zugriff 19.1.2023

 OHCHR – Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (27.2.2018): Turkey: UN expert says deeply concerned by rise in torture allegations, https://www.ohchr.org/en/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=22718&LangID=E , Zugriff 21.2.2022

 SCF – Stockholm Center for Freedom (6.1.2022): Torture and Inhuman Treatment in Turkey: 2021 in Review, https://stockholmcf.org/torture-and-inhuman-treatment-in-turkey-2021-in-review/ , Zugriff 17.1.2022

 SCF - Stockholm Center for Freedom (17.11.2021): Turkey’s top court fines gov’t for torture in 5 cases, demands investigation into perpetrators, https://stockholmcf.org/turkeys-top-court-fines-govt-for-torture-in-5-cases-demands-investigation-into-perpetrators/ , Zugriff 17.1.2022

 SCF - Stockholm Center for Freedom (22.9.2021): Top Turkish court rules former teacher was tortured in police custody, https://stockholmcf.org/top-turkish-court-rules-former-teacher-was-tortured-in-police-custody/ , Zugriff 17.1.2022

 SCF - Stockholm Center for Freedom (15.9.2021): Turkey’s top court fines gov’t for torture in Afyon province, demands investigation into perpetrators, https://stockholmcf.org/turkeys-top-court-fines-govt-for-torture-in-afyon-province-demands-investigation-into-perpetrators/ , Zugriff 17.1.2022

 TİHV - Türkiye İnsan Hakları Vakfı/ HRFT - Human Rights Foundation Turkey (6.2021): Treatment and Rehabilitation Centres Report 2020, https://en.tihv.org.tr/wp-content/uploads/2021/10/00_Tedavi-Raporu-2020-I%CC%87NGI%CC%87LI%CC%87ZCE_TU%CC%88M_BASKI.pdf , Zugriff 19.1.2022

 TM – Turkish Minute (29.1.2022): Garibe Gezer, found dead in her cell, was beaten and sexually harassed by prison guards: jailed brother, https://www.turkishminute.com/2022/01/29/aribe-gezer-found-dead-in-her-cell-was-beaten-and-sexually-harassed-by-prison-guards-jailed-brother/ , Zugriff 28.9.2022

 TM – Turkish Minute (16.1.2021): 3,362 people killed, 3,534 mistreated or tortured in Turkey in 2020, opposition MP says, https://www.turkishminute.com/2021/01/16/3362-people-killed-3534-mistreated-or-tortured-in-turkey-in-2020-opposition-mp-says/ , Zugriff 21.2.2022

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 17.5.2023

 

Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland

Letzte Änderung: 21.06.2023

Zu unterscheiden ist zwischen den Entführungen innerhalb Türkei und jenen türkischer Staatsbürger im Ausland, um sie in die Türkei zurückzubringen. In Bezug auf Erstere bestreitet die Türkei konsequent jede Beteiligung, in Bezug auf Letztere gibt sie offen zu, diese Entführungen durchgeführt zu haben. In beiden Fällen ist der Ablauf der Ereignisse identisch: (Vermeintliche) Gegner der Regierung werden entführt und verschwinden in der Folge von der Bildfläche, einige sind bis heute vermisst (Turkey Tribunal 7.2021, S. 2). Die meisten von ihnen tauchen jedoch nach ein paar Monaten, z. B. in bestimmten Polizeistationen wieder auf (Turkey Tribunal 7.2021, S. 2; vgl. FR 15.2.2021, TM 10.9.2021). Im September 2021 wurde beispielsweise bekannt, dass Hüseyin Galip Küçüközyiğit, der neun Monate lang vermisst worden war, sich im Gefängnis von Ankara befand. Wo er sich all die Zeit befand, ist bislang unbekannt. Die Behörden hatten bestritten, dass sich der ehemalige Rechtsberater des Ministerpräsidenten, dem Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wurden, in Gewahrsam befand (AI 29.3.2022; vgl. Duvar 14.9.2021). - Offenkundig eingeschüchtert, schweigen die meisten Betroffenen nach ihrem Wiederauftauchen (TM 10.9.2021). Entführungen und gewaltsames Verschwindenlassen von Personen werden jedenfalls weiterhin vermeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht (HRW 13.1.2022).

Gemeinsame Recherchen des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) und acht internationaler Medien, koordiniert vom gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben, dass ein Entführungsprogramm existiert, bei dem der Nationale Nachrichtendienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) nach politischen Gegnern, meist Gülen-Anhängern, sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und gefoltert werden, um etwa belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vgl. Correctiv 11.12.2018, Ha'aretz 11.12.2018). Laut Menschenrechtsorganisationen und Oppositionspolitikern gab es seit 2016 Dutzende mutmaßliche Fälle von Entführungen und des "gewaltsamen Verschwindenlassens" (EC 12.10.2022, S. 33; vgl. FR 15.2.2021, AM 17.9.2021) durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen, ohne dass angemessene Ermittlungen durchgeführt wurden (EC 12.10.2022, S. 33; vgl. AM 17.9.2021, NL-MFA 2.3.2022, S. 34), untermauert durch Aussagen von Augenzeugen, Familienmitglieder, wieder aufgetauchten Entführten sowie vereinzelt durch Videoaufnahmen (Turkey Tribunal 7.2021, S. 3; vgl. HRW 29.4.2020).

Es gibt immer noch kein umfassendes, kohärentes Konzept in Bezug auf vermisste Personen, die Exhumierung von Massengräbern oder die unabhängige Untersuchung aller mutmaßlichen Fälle von außergerichtlicher Tötung durch Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamte. Die meisten Ermittlungen in Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen aus den 1990er-Jahren sind nach 20 Jahren verjährt. In den mehr als 1.400 Fällen vermisster Personen wurden nur 16 Gerichtsverfahren eingeleitet. 14 hiervon endeten mit einem Freispruch (EC 12.10.2022, S. 19). Laut der "UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen" (UN Working Group against Enforced and Involuntary Disappearances - UN-WGEID) galten mit Stand 2022 von fast 240 Fällen noch immer fast 85 als ungelöst (OHCHR 12.8.2022, S. 28). Ömer Faruk Gergerlioğlu, Menschenrechtsaktivist und Abgeordneter der pro-kurdischen HDP, geht davon aus, dass seit 2016 mindestens 30 Menschen in der Türkei "verschwunden" sind. In vielen Fällen handle es sich um ehemalige Staatsbedienstete (FR 15.2.2021; vgl. TM 10.9.2021) oder um Anhänger der Gülen-Bewegung und Kurden (AM 17.9.2021; vgl. Turkey Tribunal 7.2021, S. 50, TM 10.9.2021). Einige der Entführten werden Berichten zufolge immer noch vermisst. In jüngster Zeit wurden nach Angaben der türkischen Menschenrechtsstiftung (TİHV) neben HDP-Mitgliedern auch mehrere Aktivisten marxistischer Gruppen auf ähnliche Weise verschleppt. Dies bekräftigten auch die vermeintlich entführten Mitglieder der HDP und linker Organisationen selbst (AM 17.9.2021). Fast alle Entführten gaben an, dass sie unter Druck gesetzt wurden, ihre Organisationen zu verraten. Einige gaben an, sie seien schwer gefoltert worden (AM 17.9.2021; vgl. Turkey Tribunal 7.2021, S. 2). Die Entführten werden auch unter Druck gesetzt, sich nicht umfassend zu verteidigen, und gezwungen, Beschwerden über Folter und Misshandlung zurückzuziehen. Außerdem ist es ihnen untersagt, unabhängige Ärzte zu konsultieren, um ihre Verletzungen zu bescheinigen (Turkey Tribunal 7.2021, S. 2). Vielfach wurden die Betroffenen wegen Spionage angeklagt (FR 15.2.2021). Trotz mehrerer Anfragen von Abgeordneten der Opposition und Journalisten hat sich bisher kein Regierungsvertreter öffentlich zu den Entführungsvorwürfen geäußert (FR 15.2.2021; vgl. AM 17.9.2021). Laut Gülseren Yoleri vom türkischen Menschenrechtsverband İHD habe diese in allen Entführungsfällen Strafanzeige erstattet, doch all diese Fälle seien eingestellt worden. Ein Gesetz, das die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes (MİT) vor Strafverfolgung schützt, sei ein wichtiger Faktor hierbei. Wenn die Entführung eine MİT-Aktivität ist, könne die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln, so Yoleri (AM 17.9.2021). Die türkischen Behörden haben laut Human Rights Watch noch keinen einzigen Fall wirksam untersucht, sodass mehrere Familien sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt haben (HRW 29.4.2020).

 

Entführungen und Verschwindenlassen im Ausland

Was die Entführungen türkischer Staatsbürger aus dem Ausland betrifft, so zeigte sich die UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen zutiefst besorgt darüber, dass eine Reihe von Staaten, namentlich auch die Türkei, weiterhin extra-territoriale Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit rechtfertigt. Die Situation in der Türkei sei besonders besorgniserregend, da mindestens 100 türkische Staatsangehörige aus zahlreichen Staaten in die Türkei zwangsrückgeführt worden sein sollen, weil sie im Verdacht stehen, Mitglieder einer angeblichen terroristischen Organisation zu sein oder mit dieser zu sympathisieren (OHCHR 7.8.2020, S. 16). 40 von den 100 entführten Personen verschwanden unter Gewaltanwendung, meist von der Straße, oder sie wurden aus ihren Häusern und Wohnungen in der ganzen Welt entführt, in mehreren Fällen zusammen mit ihren Kindern (OHCHR 5.5.2020, S. 2). In seiner Entschließung vom Juni 2022 verurteilt das Europäischen Parlament "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31).

Wenn es den türkischen Behörden nicht gelingt, die Auslieferung auf legalem Wege zu erwirken, greifen sie in Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden von Drittländern, einschließlich Geheimdiensten und Polizei, auf verdeckte Operationen zurück. Dazu gehören in erster Linie rasche illegale Aktionen, um gefährdete Personen dem Schutz des Gesetzes zu entziehen und sie anschließend zu überstellen (OHCHR 5.5.2020, S. 3; vgl. FH 2.2021, S. 10). In einigen Fällen haben diese Handlungen direkt gegen gerichtliche Anordnungen gegen illegale Abschiebungen verstoßen. Angesichts des zunehmenden Drucks seitens der Türkei führen die Aufnahmestaaten eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch, gefolgt von Hausdurchsuchungen und willkürlichen Verhaftungen in verdeckten Operationen. Die Namen der Personen werden mit vorbereiteten Listen abgeglichen, bevor sie gewaltsam zu nicht gekennzeichneten Fahrzeugen gebracht werden. Sie bleiben bis zu mehreren Wochen in geheimer oder Isolationshaft verschwunden, bevor sie in die Türkei abgeschoben werden. Während dieser Zeit sind sie häufig Zwang, Folter und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, um ihre Zustimmung zu einer freiwilligen Rückkehr zu erlangen und Geständnisse zu erpressen, die bei der Ankunft in der Türkei zur Strafverfolgung dienen sollen. In dieser Phase wird den Betroffenen der Zugang zu medizinischer Versorgung und Rechtsbeistand verwehrt, und sie können die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung nicht vor einem zuständigen Gericht anfechten, sodass sie de facto außerhalb des Schutzes des Gesetzes stehen. Ihre Familienangehörigen sind über ihr Schicksal und ihren Verbleib nicht informiert. Den Zeugenaussagen zufolge haben die Opfer dieser Operationen von unverminderten Misshandlungen durch Geheimdienstmitarbeiter berichtet, die vor allem darauf abzielen, ein Geständnis zu erzwingen. Zu den gängigsten Formen der Folter gehören Nahrungs- und Schlafentzug, Schläge, Waterboarding und Elektroschocks (OHCHR 5.5.2020, S. 3).

Was die Entführungen außerhalb des Hoheitsgebiets betrifft, so hat die Türkei durch mehrere ihrer höchsten Vertreter, inklusive Staatspräsident Erdoğan, die Verantwortung dafür übernommen (Turkey Tribunal 7.2021, S. 50; vgl. FH 2.2021, S. 39f) und hierbei insbesondere die Rolle des Geheimdienstes MİT hervorgestrichen, beispielsweise anlässlich der Entführung von sechs Lehrern aus dem Kosovo (FH 2.2021, S. 39f). Die Entführungen werden in der Türkei öffentlich verkündet und von den Regierungsmedien gefeiert; die Opfer werden beispielsweise in Handschellen öffentlich präsentiert, bevor sie im Kerker verschwinden (DF 22.6.2021). Beispielsweise verschwand Anfang September 2022 Ugur Demirok in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku auf den Weg in sein Büro. Zwei Monate später verbreitete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu ein Polizeifoto Demiroks in Handschellen zwischen zwei großen türkischen Fahnen. Laut einer regierungsnahen Tageszeitung hatte der Geheimdienst MİT Demirok "gefangen". Auf ihn warte nun eine Anklage wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation (RND 10.12.2022).

Die UN-Arbeitsgruppe wiederholte [nach 2021] 2022 ihre Besorgnis über die fortgesetzte Rechtfertigung von extra-territorialen Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit. In diesem Zusammenhang fordert die Arbeitsgruppe das Verschwindenlassen von Personen nicht mehr mit dem Schutz der nationalen Sicherheit, der Bekämpfung des Terrorismus und des Extremismus zu rechtfertigen; unabhängige und wirksame Untersuchungen möglicher Verstöße durchzuführen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und den Opfern und ihren Familien das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu gewähren; und alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um ähnliche Fälle in Zukunft zu verhindern (OHCHR 12.8.2022, S. 20).

Vergleiche hierzu auch das Kapitel zu: Gülen- oder Hizmet-Bewegung

 

Quellen:

 AI – Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070315.html , Zugriff 30.3.2022

 AM – Al Monitor (17.9.2021): Turkish civic groups protest abductions, forced disappearances, https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkish-civic-groups-protest-abductions-forced-disappearances , Zugriff 21.2.2022

 Corrective – Recherchen für die Gesellschaft (11.12.2018): BlackSitesTurkey, https://correctiv.org/top-stories/2018/12/06/black-sites/ , Zugriff 21.2.2022

 DF – Deutschlandfunk (22.6.2021): Türkei entführt systematisch Oppositionelle aus dem Ausland, https://www.deutschlandfunk.de/der-lange-arm-ankaras-tuerkei-entfuehrt-systematisch.795.de.html?dram:article_id=499152 , Zugriff 21.2.2022

 Duvar (14.9.2021): Turkish man missing since December 2020 turns up in Ankara prison, https://www.duvarenglish.com/turkish-man-missing-since-december-2020-turns-up-in-ankara-prison-news-58810 , Zugriff 30.3.2022

 EC – European Commission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 31.10.2022

 EP – Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 26.8.2022

 FH – Freedom House (2.2021): Out of Sight, not out of Reach: the Global Scale and Scope of Transnational Repression, https://freedomhouse.org/sites/default/files/2021-02/Complete_FH_TransnationalRepressionReport2021_rev020221.pdf , Zugriff 21.2.2022

 FR – Frankfurter Rundschau (15.2.2021): Mysteriöse Vermisstenfälle in der Türkei: Was hat Erdoğans Regierung damit zu tun?, https://www.fr.de/politik/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-vermisste-gewaltsames-verschwindenlassen-putsch-90204396.html , Zugriff 21.2.2022

 Ha'aretz (11.12.2018): Kidnapped, Escaped, and Survived to Tell the Tale: How Erdogan's Regime Tried to Make Us Disappear, https://www.haaretz.com/middle-east-news/turkey/.premium.MAGAZINE-how-erdogan-s-loyalists-try-to-make-us-disappear-1.6729331 , Zugriff 21.2.2022

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066478.html , Zugriff 21.1.2022

 HRW – Human Rights Watch (29.4.2020): Turkey: Enforced Disappearances, Torture, https://www.hrw.org/news/2020/04/29/turkey-enforced-disappearances-torture , 21.2.2022

 NL-MFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 28.9.2022

 OHCHR - Office of the High Commissioner for Human Rights (12.8.2022): Human Rights Council - Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances [A/HRC/51/31], https://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?OpenAgent&DS=A/HRC/51/31&Lang=E , Zugriff 9.5.2023

 OHCHR - Office of the High Commissioner for Human Rights (7.8.2020): Human Rights Council - Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances [A/HRC/45/13], https://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?OpenAgent&DS=A/HRC/45/13&Lang=E , Zugriff 9.5.2023

 OHCHR - Office of the High Commissioner for Human Rights (5.5.2020): Mandates of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances; the Special Rapporteur on the human rights of migrants; the Special Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism; and the Special Rapporteur on torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment [letter to the Turkish Government], (AL TUR 5/2020), https://spcommreports.ohchr.org/TMResultsBase/DownLoadPublicCommunicationFile?gId=25209 , Zugriff 9.5.2023

 RND - Redaktionsnetzwerk Deutschland (10.12.2022): Erdogans Jagd auf die Gegner: Wie der Geheimdienst „Staatsfeinde“ entführt, https://www.rnd.de/politik/erdogans-jagd-auf-die-gegner-wie-der-geheimdienst-staatsfeinde-entfuehrt-INK7GWTTGBBOJG5BWWY7ORA5PA.html , Zugriff 15.2.2023

 TM – Turkish Minute (10.9.2021): Turkish couple in exile protests enforced disappearances in front of European rights court, https://www.turkishminute.com/2021/09/10/kishcouple-in-exile-protests-enforced-disappearances-in-front-of-european-rights-court/ , Zugriff 21.2.2022

 Turkish Tribunal [Heymans Johan] (7.2021): Abductions in Turkey Today, https://turkeytribunal.org/wp-content/uploads/2021/11/AbductionsinTurkey_Turkey-Tribunal-Report_FINAL.pdf , Zugriff 21.2.2022

 ZDF – Zweiten Deutsches Fernsehen (11.12.2018): Kidnapping im Auftrag Erdogans, https://www.zdf.de/politik/frontal-21/die-verschleppten-100.html , Zugriff 21.2.2022

 

Korruption

Letzte Änderung: 21.06.2023

Die Türkei ist ein Vertragsstaat der UN-Konvention gegen Korruption, der OECD-Konvention gegen Bestechung, des Strafrechtsübereinkommens und des Zivilrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption. Der Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung ist in mehreren nationalen Gesetzen enthalten (DFAT 10.9.2020). Das türkische Strafgesetzbuch kriminalisiert verschiedene Formen korrupter Aktivitäten, darunter aktive und passive Bestechung, Korruptionsversuche, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch (BACP 6.2020; vgl. DFAT 10.9.2020, FH 3.3.2021). Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen. Unternehmen müssen mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen (USDOS 13.3.2019).

Nichtsdestotrotz ist Korruption im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 43; vgl. BACP 6.2020, DFAT 10.9.2020), auch auf den höchsten Ebenen der Regierung (FH 10.3.2023, C2). Öffentliche Aufträge und Bauprojekte sind besonders anfällig für Korruption. Häufig werden Bestechungsgelder verlangt (BACP 6.2020; vgl. DFAT 10.9.2020, FH 3.3.2021).

Laut Europäischer Kommission macht die Korruptionsbekämpfung weiterhin keine Fortschritte (EC 12.10.2022, S. 6, 28). Es bestehen keine Anzeichen für Fortschritte bei der Beseitigung der zahlreichen Lücken im türkischen Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 43). Ein grundlegendes Problem ist das Fehlen einer unabhängigen und präventiven Korruptionsbekämpfungsstelle sowie einer interinstitutionellen Koordinierung der Korruptionsbekämpfung (BS 23.2.2022, S. 35; vgl. EC 12.10.2022, S. 6, 28). Die Durchsetzung der Anti-Korruptionsgesetze ist inkonsistent. Die vorhandenen türkischen Anti-Korruptionsbehörden sind im Allgemeinen ineffektiv und tragen zu einer Kultur der Straflosigkeit bei (FH 10.3.2023, C2; vgl. BACP 6.2020). Offizielle Aufsichtsorgane wie der Rechnungshof und die Ombudsperson veröffentlichen Berichte oft verspätet und decken nur selten Korruptionsvorwürfe ab (DFAT 10.9.2020). So stellte auch die OECD-Arbeitsgruppe für Bestechung Ende Juni 2021 fest, dass die Türkei keine ausreichenden Schritte unternommen hätte, um die Bedenken hinsichtlich der Umsetzung des OECD-Übereinkommens zur Bekämpfung der Bestechung durchzusetzen. Außerdem wäre die sehr geringe Durchsetzung des Straftatbestandes der Auslandsbestechung auszuräumen. Die Arbeitsgruppe hat die Türkei seit 2014 nachdrücklich aufgefordert, dafür zu sorgen, dass Auslandsbestechung wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt wird, unter anderem durch den Schutz der Unabhängigkeit der Strafverfolgung, die Stärkung der Rechtsvorschriften über die Haftung juristischer Personen für Auslandsbestechung und die Einführung eines angemessenen Schutzes für Informanten, die einen Verdacht auf Auslandsbestechung melden (OECD 29.6.2021).

Die Mängel des gesetzlichen Rahmens und der institutionellen Architektur ermöglichten eine ungebührliche politische Einflussnahme in der Ermittlungs- und Verfolgungsphase von Korruptionsfällen. Rechenschaftspflicht und Transparenz der öffentlichen Institutionen müssen, so die Kommission, verbessert werden. Das Fehlen einer Antikorruptionsstrategie und eines Aktionsplans deute auf den mangelnden politischen Willen hin, Korruption entschieden zu bekämpfen. Insgesamt ist Korruption weit verbreitet. Die meisten Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) des Europarates wurden noch nicht umgesetzt (EC 12.10.2022, S. 6, 28). GRECO bemängelte insbesondere, dass innert zehn Jahren nur eine von neun Empfehlungen in Bezug auf die Transparenz der politischen Finanzierung, auch im Zusammenhang mit Wahlen, umgesetzt wurde (CoE-GRECO 18.3.2021).

Sorge besteht auch hinsichtlich der Unparteilichkeit der Justiz in der Handhabe von Korruptionsfällen (USDOS 20.3.2023, S. 75; vgl. BACP 6.2020). Zudem gibt es ein hohes Korruptionsrisiko im Umgang mit der Justiz selbst (BACP 6.2020). So haben beispielsweise die neuen CHP-Bürgermeister von Istanbul und Ankara Korruptionsermittlungen gegen die früheren lokalen AKP-Regierungen eingeleitet und eine Reihe von Änderungen vorgenommen, um die Transparenz in der kommunalen Verwaltung zu fördern. Das eigentliche Hindernis für die Versuche der Oppositionsbürgermeister, Korruptionsermittlungen einzuleiten, bleibt jedoch die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz (BS 23.2.2022, S. 13).

Bestechungsgelder und Zahlungen als Gegenleistung für günstige Gerichtsurteile werden von den durch das Business Anti-Corruption Portal (BACP) befragten Unternehmen als recht häufig eingeschätzt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung empfindet Richter und Gerichtsvollzieher als korrupt. Politische Einflussnahme, langsame Verfahren und ein überlastetes Gerichtssystem stellen ein hohes Risiko für Korruption in der türkischen Justiz dar. Korruption in der türkischen Polizei ist ein mittelgradiges Risiko (BACP 6.2020).

Eine Handvoll Holding-Gesellschaften erhält einen großen Teil der öffentlichen Ausschreibungen, und dieselben Unternehmen kontrollieren ebenso die meisten türkischen Mediennetzwerke. Darüber hinaus hat die Regierung seit 2016 Hunderte von Unternehmen und NGOs beschlagnahmt und Treuhänder für die Verwaltung von Vermögenswerten in Milliardenhöhe ernannt (FH 10.3.2023, C2).

Die Schattenwirtschaft bleibt eine zentrale Herausforderung für die Türkei (EC 12.10.2022, S. 97). Die Schattenwirtschaft soll in den letzten Jahren enorm expandiert sein. Der Anstieg der illegalen Einnahmen stammt nicht nur aus dem Untergrundsektor wie Prostitution, Drogenhandel und Kraftstoffschmuggel, sondern auch aus der Einflussnahme durch Bestechung bei öffentlichen Ausschreibungen und Schmiergeldzahlungen ausländischer Unternehmen, die in der Türkei Geschäfte machen wollen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 ist der Fluss illegaler Gelder um einen weiteren Aspekt erweitert worden. Im Rahmen der politischen Säuberungsaktionen wurden Unternehmen, die sich im Besitz von Gülenisten befanden, beschlagnahmt und dann verkauft, meist an Freunde der regierenden AKP. Wie sich später herausstellte, zahlten viele Geschäftsleute, denen Verbindungen zu den Gülenisten nachgesagt wurden, hohe Bestechungsgelder, um einer Untersuchung oder einem Prozess zu entgehen (AM 21.5.2021).

Die Regierung bestraft Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Fälle gegen Regierungsbeamte eingeleitet haben, und behauptet, dass Erstere dies auf Veranlassung der Gülen-Bewegung taten (USDOS 12.4.2022, S. 63f.). Während Oppositionspolitiker die Regierungspartei häufig der Korruption beschuldigen, gibt es nur vereinzelte journalistische oder offizielle Untersuchungen der Korruption in der Regierung. Journalisten und zivilgesellschaftliche Organisationen berichten, dass sie Vergeltungsmaßnahmen für ihre Berichterstattung über Korruption befürchten. Gerichte und der Oberste Radio- und Fernsehrat (RTÜK) blockierten regelmäßig den Zugang zu Presseberichten über Korruptionsvorwürfe (USDOS 20.3.2023, S. 75).

Transparency International reihte die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 2021 mit einem Punktewert von 36 (2021: 38) von 100 (bester Wert) auf Platz 101 (2021: 96) von 180 untersuchten Ländern und Territorien ein, was somit einer Verschlechterung, verglichen zum Vorjahr, um fünf Ränge bzw. zwei Basispunkte entsprach. Den besten Wert in der vergangenen Dekade erreichte das Land 2013 mit 50 von 100 Punkten (TI 31.1.2023). Auch kritische Berichte über Korruptionsfälle in der Regierung ziehen im negativen Sinne die Aufmerksamkeit der türkischen Behörden auf sich (NL-MFA 2.3.2022, S. 25).

 

Quellen:

 AM - Al Monitor (21.5.2021): Erdogan in hot spot as Turks question 'mafiazation' of politics, https://www.al-monitor.com/originals/2021/05/erdogan-hot-spot-turks-question-mafiazation-politics , Zugriff 21.2.2022

 BACP – GAN-Business Anti-Corruption Portal (6.2020): Turkey Country Profile, Business Corruption in Turkey, https://www.ganintegrity.com/portal/country-profiles/turkey/ , Zugriff 5.11.2020

 BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf , Zugriff 21.3.2022

 CoE-GRECO – Council of Europe – Group of States Against Corruption (18.3.2021): Third Evaluation Round, Second Addendum to the Second Compliance Report on Turkey - "Incriminations (ETS 173 and 191, GPC 2)", "Transparency of Party Funding" [GrecoRC3 (2020)5], https://rm.coe.int/third-evaluation-round-second-addendum-to-the-second-compliance-report/1680a1cac1 , Zugriff 21.2.2022

 DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 21.2.2022

 EC – European Commission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 31.10.2022

 EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 21.2.2022

 FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2023 , Zugriff 28.4.2023

 FH – Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046544.html , Zugriff 21.2.2022

 NL-MFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 28.9.2022

 OECD - Organisation for Economic Co-operation and Development (29.6.2021): Turkey should urgently implement key reforms to boost fight against foreign bribery, including to preserve independence of investigations and prosecutions, https://www.oecd.org/turkiye/turkey-should-urgently-implement-key-reforms-to-boost-fight-against-foreign-bribery-including-to-preserve-independence-of-investigations-and-prosecutions.htm , Zugriff 28.9.2022

 TI – Transparency International (31.1.2023): Corruption Perceptions Index 2022, https://www.transparency.org/en/cpi/2022/index/tur , Zugriff 31.1.2023

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 28.4.2023

 USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 20.4.2022

 USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 21.2.2022

 

Nichtregierungsorganisationen (NGOs)

Letzte Änderung: 21.06.2023

Zivilgesellschaftliche Organisationen spielen eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von Dienstleistungen in der Türkei. Nach den letzten verfügbaren Daten vom April 2023 gibt es 101.823 registrierte zivilgesellschaftliche Organisationen und 6.074 Stiftungen, die neben vielen informellen Organisationen, wie Plattformen, Initiativen und Gruppen, tätig sind. Ihre Arbeitsbereiche konzentrieren sich hauptsächlich auf gesellschaftliche Solidarität, soziale Dienstleistungen, Bildung, Gesundheit und verschiedene rechtsbezogene Themen (ICNL 23.4.2023).

Die Beteiligung der Zivilgesellschaft am politischen Prozess ist weiter zurückgegangen, und die die Zivilgesellschaft betreffenden Rechtsvorschriften wurden in den letzten Jahren immer restriktiver. Während die Ressourcen, die Aktivitäten und die Sichtbarkeit regierungsfreundlicher zivilgesellschaftlicher Organisationen weiter zugenommen haben, sind regierungskritische NGOs, insbesondere Menschenrechtsorganisationen und demokratiefördernde NGOs, systematischen Einschüchterungen ausgesetzt. Sie wurden mitunter zur Schließung gezwungen und ihre Mitglieder verhaftet. Sowohl nationale als auch internationale NGOs leiden unter restriktiven Einschränkungen. Im Allgemeinen sind kritische NGOs von einer echten Konsultation zur Gesetzgebung ausgeschlossen. Insgesamt ist die zivilgesellschaftliche Kultur in der Türkei nach wie vor schwach, und die Abhängigkeit vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen von ausländischer Finanzierung macht sie zur Zielscheibe für von der Regierung geförderte Verschwörungstheorien (BS 23.2.2022, S. 16, 37).

Menschenrechtsverteidiger, etwa der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" (İHD) sowie zivilgesellschaftliche Akteure werden in der Türkei seit Langem von Regierungsvertretern und regierungsnahen Medien als Verfechter ausländischer Interessen porträtiert, welche eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen und/oder die Ziele "terroristischer Organisationen" fördern (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, S. 11). Seit 2016 hat die Regierung mehr als 1.500 Stiftungen und Vereine geschlossen. Die Leiter der verbleibenden NGOs werden schikaniert, verhaftet und strafrechtlich verfolgt. Ein Gesetz aus dem Jahr 2020 unterwirft die NGOs jährlichen Prüfungen und gibt dem Innenministerium die Befugnis, Treuhänder für die Vorstände von NGOs zu ernennen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird. 2021 fror die Regierung das Vermögen von 770 NGOs mit der Begründung der Terrorismusfinanzierung ein (FH 10.3.2023, E2). Im kurdisch geprägten Südosten des Landes sind die Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen durch vermehrt ausgeübten Druck staatlicher Stellen noch wesentlich stärker eingeschränkt als im Rest des Landes (AA 28.7.2022, S. 6).

Menschenrechtsorganisationen, beispielsweise solche, die sich für Frauen- und Kinderrechte einsetzen, werden gegenüber regierungsnahen Organisationen benachteiligt. Zahlreiche NGOs mit Schwerpunkt auf Menschenrechten berichten, dass sie nicht in den Genuss öffentlicher Förderungen kommen. Sie sehen sich auch bürokratischen Hürden bei der Spendensammlung und der Finanzierung durch EU-Gelder ausgesetzt. Weitere Probleme ergeben sich auch aus der nebulösen Rechtslage betreffend die Errichtung und Tätigkeit von NGOs. (ÖB 30.11.2022, S. 31). Laut offiziellen Zahlen waren mit Stand Mai 2022 von allen eingetragenen Vereinigungen nur 1,5 % (1.529 Vereinigungen) in den Bereichen Menschenrechte und Anwaltschaft aktiv (ICNL 23.4.2023).

Obwohl die verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Türkei mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) übereinstimmen, weist der Rechtsrahmen noch zahlreiche Unvereinbarkeiten mit internationalen Standards auf. Darüber hinaus bestehen trotz der verbesserten Gesetzgebung zu Vereinen und Stiftungen in den Jahren 2004 bzw. 2008 weiterhin Herausforderungen und Zwänge, insbesondere im Hinblick auf die Sekundärgesetzgebung und deren Umsetzung. Tatsächlich wurden seit 2008 keine weitreichenden Reformen durchgeführt (ICNL 23.4.2023). Eine Gesetzesänderung vom März 2020 verlangt die Registrierung aller Mitglieder einer Vereinigung unter Angabe personenbezogener Daten sowie auch die Verständigung über einen Ausschluss oder Ausscheiden der Person binnen 30 Tagen (ICNL 20.11.2021). Trotz des potenziell förderlichen Jahresprogramms 2022 ist das rechtlich-politische Umfeld für die Zivilgesellschaft in der Türkei insgesamt nicht förderlich. Die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung sind nach wie vor eingeschränkt. Es fehlt ein übergreifender rechtlicher und politischer Rahmen zur Regelung der Beziehungen zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und öffentlichen Einrichtungen. Organisationen der Zivilgesellschaft können aufgrund ihrer politischen Zugehörigkeit, ihres Eintretens für rechtsbezogene Themen, ihrer Nähe zur Regierung oder zur Opposition und aufgrund persönlicher Beschwerden kontrolliert werden. Daher sind zivilgesellschaftliche Organisationen weiterhin anfällig für die willkürliche Umsetzung und Auslegung der Gesetze durch den Staat (ICNL 23.4.2023).

Menschenrechtsorganisationen können gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch wie alle Vereine nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet. Einige Menschenrechtsorganisationen und ihre Mitglieder sind (Ermittlungs-)Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt (AA 28.7.2022; S. 6). Allgemein fehlen transparente und objektive Kriterien und Verfahren in Bezug auf die öffentliche Finanzierung, die Konsultation von und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie für deren Inspektion und Überprüfung (CoE-CommDH 19.2.2020).

Am 27.12.2020 wurde ein Gesetz verabschiedet, das angeblich der Bekämpfung der Terrorfinanzierung dienen soll (AP 27.12.2020, vgl. DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Das Gesetz Nr. 7262 war offiziell geschaffen worden, um konkreten Empfehlungen der Financial Action Task Force (FATF) nachzukommen, einer internationalen Organisation zum Monitoring von Geldwäsche und Terrorfinanzierung, deren Mitglied die Türkei ist (FNS 17.5.2022). Dieses erlaubt dem Innenministerium, NGOs ohne Gerichtsbeschluss jährlich zu inspizieren und Mitglieder von Vereinen zu ersetzen, wenn gegen sie wegen Terrorismus ermittelt wird. Per Gerichtsbeschluss können Aktivitäten eines Vereins suspendiert und der Zugang zu Online-Spendenaktionen, so keine Genehmigung vorliegt, gesperrt werden (AP 27.12.2020, vgl. DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Nach Ansicht der Venedig-Kommission des Europarates sind diese Maßnahmen zusammen mit den verschärften Prüfungen von NGOs (Art. 19 des Vereinsgesetzes) und der abschreckenden Wirkung erhöhter Haftstrafen und hoher Verwaltungsstrafen für die Verletzung von Prüfungspflichten sowie der Aussicht auf die Absetzung von NGO-Direktoren und Vorstandsmitgliedern unverhältnismäßig und beeinträchtigen unmittelbar Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (CoE-VC 6.7.2021, S. 19f.).

Das Gesetz über die Sammlung von Spendengeldern stellt weiterhin hohe Anforderungen an die Genehmigungen, was die Fundraising-Aktivitäten von NGOs entmutigt. Dazu gehören die vorherige Anmeldung für jede Fundraising-Aktivität und langwierige Genehmigungsverfahren (EC 12.10.2022, S. 17). Das Innenministerium und die Provinz-Gouverneure sind außerdem befugt, die Spendensammlungen der NGOs zu überwachen, und Strafen für nicht genehmigte Kampagnen zu verhängen (EC 19.10.2021, S. 36). Dem Innenminister und den Provinzgouverneuren werden weitreichende Kompetenzen bei der Kontrolle von NGOs eingeräumt. Der Innenminister kann durch Verwaltungsentscheidung ohne vorhergehende Gerichtsverfahren die Tätigkeiten von NGOs suspendieren sowie Vereinsorgane ihrer Funktion entheben und durch Treuhänder ersetzen, wenn der Verdacht bestimmter Verbrechen vorliegt. Weitere Kompetenzen kommen dem Innenminister und den Gouverneuren bei der Überwachung der Finanzmittelbeschaffung sowie der Verhängung von Strafen für unerlaubte Spendenaktionen zu (ÖB 30.11.2022, S. 31). Darüber hinaus werden alle Vereinigungen und Stiftungen verpflichtet, das Ministerium über Spenden aus dem Ausland zu informieren. Nach der Verabschiedung des Gesetzes sahen sich viele NGOs mit Prüfungen durch das Ministerium konfrontiert, insbesondere diejenigen, die ausländische Mittel erhalten (EC 19.10.2021, S. 36; vlg. ÖB 30.11.2022, S. 31). Das Strafausmaß gegen Gesetzesverstöße wurde drastisch von einst maximal 700 auf bis zu 200.000 Lira [laut Wechselkurs 5.2023 rund 9.350 €] erhöht (Independent 27.12.2020). Die Einschätzung, dass es sich beim Gesetz Nr. 7262 in erster Linie um eine Maßnahme zur Einschränkung der Zivilgesellschaft handelt, teilt auch die FATF. Sie setzte die Türkei 2021 auf eine "graue Liste" und ermahnte sie, legitim arbeitende zivilgesellschaftliche Organisationen nicht unter dem Vorwand der Bekämpfung von Terrorfinanzierung unverhältnismäßig zu beschränken (FNS 17.5.2022).

Inzwischen wurde das Gesetz Nr. 7262 um einen Artikel zur Risikoanalyse in Organisationen erweitert. Seit März 2022 erhielten etliche NGOs Briefe vom "Generaldirektorat für die Beziehungen mit der Zivilgesellschaft", die sie zu zusätzlichen Maßnahmen der Selbstkontrolle aufforderten. Die Schreiben gingen an Organisationen, vor allem an jene im Menschenrechtsbereich, denen nach unbekannten Kriterien ein "mittleres" oder "hohes Risiko" zugeschrieben wird. Die NGOs werden gedrängt, innerhalb einer vorgegebenen Frist "notwendige" Untersuchungen zu ihren Finanzierungsquellen, ihren Mitarbeitern und ihren institutionellen Partnern durchzuführen, um ihren sog. Risikostatus festzustellen (FNS 17.5.2022).

 

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 24.8.2022

 AP – Associated Press (27.12.2020):Turkish lawmakers pass bill monitoring civil society groups, https://apnews.com/article/turkey-recep-tayyip-erdogan-terrorism-bills-europe-d4e48ebdbba76911dc6fb2a94b201ffd , Zugriff 2.2.2021

 BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf , Zugriff 21.3.2022

 CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 21.2.2022

 CoE-VC - Council of Europe - Venice Commission (6.7.2021): CDL-AD(2021)023cor-e, Turkey - Opinion on the compatibility with international human rights standards of Law no. 7262 on the Prevention of Financing of the Proliferation of Weapons of Mass Destruction recently passed by Turkey’s National Assembly, amending, inter alia, the Law on Associations (No. 2860) , adopted by the Venice Commission at its 127th Plenary Session (hybrid, 2-3 July 2021) [Opinion No.1028/2021], https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdf=CDL-AD(2021)023cor-e&lang=DE , Zugriff 28.9.2022

 DW – Deutsche Welle (27.12.2020): Umstrittenes NGO-Gesetz in der Türkei beschlossen, https://www.dw.com/de/umstrittenes-ngo-gesetz-in-der-t%C3%BCrkei-beschlossen/a-56068756 , Zugriff 21.2.2022

 EC – European Commission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 31.10.2022

 EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 31.10.2022

 FIDH/ OMCT/ İHD - International Federation for Human Rights/ World Organisation Against Torture/ İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (5.2021): TURKEY PART II - Turkey’s Civil Society on the Line: A Shrinking Space for Freedom of Association, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2021/05/OBS-%C4%B0HD-TURKEY.pdf , Zugriff 7.2.2022

 FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2023 , Zugriff 27.4.2023

 FNS - Friedrich Naumann Stiftung (17.5.2022): Zivilgesellschaft unter Druck, https://www.freiheit.org/de/tuerkei/zivilgesellschaft-unter-druck , Zugriff 30.5.2022

 ICNL – The International Center for Not-for-Profit-Law (23.4.2023): Civic Freedom Monitor: Türkiye, https://www.icnl.org/resources/civic-freedom-monitor/turkiye , Zugriff 11.5.2023

 ICNL – The International Center for Not-for-Profit-Law (20.11.2021): Civic Freedom Monitor: Turkey, https://www.icnl.org/resources/civic-freedom-monitor/turkey#resources , Zugriff 4.2.2022

 Independent (27.12.2020): Turkish human rights groups face being shut down as Erdogan passes law stifling NGOs, https://www.independent.co.uk/news/world/europe/turkey-oversight-law-ngos-b1779231.html , Zugriff 21.2.2022

 NZZ – Neue Zürcher Zeitung (30.12.2020): Neues Gesetz alarmiert türkische Zivilgesellschaft, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-neues-gesetz-alarmiert-die-zivilgesellschaft-ld.1594276 , Zugriff 21.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 28.4.2023

 

Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung

Letzte Änderung: 21.06.2023

Seit 2012 verfügt die Türkei über das Amt einer Ombudsperson (Kamu Denetçiliği Kurumu/ Ombudsmanlık) mit 200 MitarbeiterInnen (AA 28.7.2022, S. 6), das lediglich Beschwerden in Bezug auf die öffentliche Verwaltung annimmt und organisatorisch beim türkischen Parlament verortet ist (USDOS 20.3.2023, S. 78). Die Ombudspersonen werden durch das Parlament gewählt. Gemäß Eigendefinition besteht die Hauptaufgabe des Amtes der Ombudsperson darin, sich für Einzelpersonen gegenüber der Verwaltung einzusetzen sowie die Menschenrechte zu schützen und zu fördern. Infolge der Einführung des Präsidialsystems wurde auch das Gesetz (Nr. 6328) über die Ombudsperson in dem Sinne ergänzt, dass dieses auch die Akte des Präsidenten umfasst. Explizit außerhalb der Zuständigkeit des Organs sind Handlungen, die die Ausübung der gesetzgebenden und justiziellen Gewalt betreffen, sowie die Handlungen der türkischen Streitkräfte, die rein militärischer Natur sind (OI 2021).

Trotz des Anstiegs der Fallzahlen blieb die Institution bei politisch heiklen Fragen, die die Grundrechte betreffen, stumm. Die Ombudsperson ist immer noch nicht befugt, von Amts wegen Untersuchungen einzuleiten und in Fällen mit Rechtsbehelfen zu intervenieren (EC 12.10.2022, S. 14). Die Ombudsperson behandelt lediglich Beschwerden hinsichtlich des Vorgehens der öffentlichen Verwaltung (EC 12.10.2022, S. 32), insbesondere bei Menschenrechtsproblemen und Personalfragen. Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten fallen allerdings nicht in ihren Zuständigkeitsbereich (USDOS 20.3.2023, S. 78).

Die 2012 gegründete Menschenrechtsinstitution der Türkei (Insan Hakları Kurumu) wurde 2016 durch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (Human Rights and Equality Institution of Turkey - HREI; Insan Hakları ve Eşitlik Kurumu - TİHEK) ersetzt. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Ihr kommt die Rolle des "Nationalen Präventionsmechanismus" (NPM) gemäß OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor (AA 28.7.2022, S. 6). Die HREI/TİHEK ergriff beispielsweise keine wirksamen Maßnahmen gegen Misshandlungen und Folter, die von Regierungsmitarbeitern begangen wurden, trotz ihres Auftrages, vorbeugende Maßnahmen gegen Misshandlung und Folter zu ergreifen. Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums erhielten Gefängnisinsassen auf Beschwerden bei der HREI/TİHEK lediglich eine Empfangsbestätigung, ohne dass eine Folgemeldung darauf hinwies, dass der Inhalt der Beschwerde bearbeitet wurde (NL-MFA 2.3.2022, S. 33). Anlässlich des Besuchs der Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) forderten diese die türkische Regierung auf, die Unabhängigkeit und die Ressourcen des NPM erheblich zu stärken, damit dieser Mechanismus sein Mandat gemäß dem OPCAT angesichts der übergroßen Zahl von Haftanstalten im Lande wirksam erfüllen kann (OHCHR 21.9.2022).

Weder die Ombudsperson noch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung sind operativ, strukturell oder finanziell unabhängig. Ihre Mitglieder sind nicht nach den Pariser Prinzipien akkreditiert. Die HREI/TİHEK hat die Akkreditierung bei der globalen Allianz für nationale Menschenrechtsinstitutionen beantragt, obwohl keine Fortschritte hinsichtlich der Pariser Prinzipien gemacht wurden. Beide Institutionen zeigten sich hinsichtlich ihrer Effektivität als begrenzt (EC 12.10.2022, S. 32). Einige HREI-Mitglieder zeigten sogar eine negative Haltung gegenüber den grundlegenden Menschenrechten, einschließlich der Gleichstellung der Geschlechter, der Rechte der Frauen und der Rechte von sexuellen Minderheiten. Zudem sprachen sie sich für den Austritt aus der Istanbul-Konvention aus. All dies widerspricht den erklärten Zielen dieser Institution (EC 19.10.2021, S. 29). Zumindest der neue Vorsitzende des HREI hat der Institution eine gewisse Dynamik bei der Behandlung von Menschenrechtsfragen und der Aufnahme eines konstruktiven Dialogs mit der Zivilgesellschaft verliehen. Aufgrund gesetzlicher und struktureller Beschränkungen kann die HREI ihr Mandat jedoch nicht wirksam ausüben, da sie u. a. keine Anträge von Organisationen der Zivilgesellschaft annimmt und Fälle von Folter und Misshandlung nur zurückhaltend behandelt EC 12.10.2022, S. 32).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 24.8.2022

 EC – European Commission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 31.10.2022

 EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 31.10.2022

 NL-MFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 28.9.2022

 OHCHR – Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (21.9.2022): Türkiye needs to strengthen effective torture prevention measures, UN experts find, https://www.ohchr.org/en/press-releases/2022/09/turkiye-needs-strengthen-effective-torture-prevention-measures-un-experts , Zugriff 19.1.2023

 OI - Ombudsman Institution of the Republic of Turkey (2021): About The Institution, https://english.ombudsman.gov.tr/about-the-institution ,Zugriff 11.5.2023

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugirff 28.3.2023

 

Wehrdienst

Letzte Änderung: 21.06.2023

In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden (NL-MFA 11.7.2019). Eine Entbindung von der Wehrpflicht aus Gewissensgründen besteht nicht (PMRT-OSCE 13.6.2022, S. 19).

Mit dem Gesetz Nr. 7179 vom Juni 2019 wurde der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt (ÖB 30.11.2022, S. 18). Dem Staatspräsidenten obliegt es, die Dauer festzulegen. Allerdings dürfen die sechs Monate nicht unterschritten werden (HDN 25.6.2019).

Selbiges Gesetz sieht nun die Möglichkeit des Freikaufs vom Wehrdienst für alle Wehrpflichtigen vor. Nach dem Freikauf aus dem Wehrdienst muss lediglich eine Grundausbildung von 21 Tagen abgeleistet werden (ÖB 30.11.2022, S. 18). Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlenden Summe wird jedes Jahr im Jänner und Juli entsprechend dem monatlichen Koeffizienten für Beamte neu festgelegt (RN 14.1.2023). Betrug die Summe im Sommer 2022 noch 80.064,72 Lira (ca. 4.400 Euro) (ÖB 30.11.2022, S. 18), wurde diese im Jänner 2023 gemäß dem Rundschreiben des Finanzministeriums für den Zeitraum Jänner bis Juli auf 104.000,84 Lira festgelegt (4.876 Euro - laut Wechselkurs vom 24.4.2023) (RN 14.1.2023).

Die Ableistung eines Grundwehrdienstes oder Wehrersatzdienstes außerhalb der Türkei wird nicht anerkannt. Im Ausland lebende türkische/doppelte Staatsangehörige sind bis zum Ende des 35. Lebensjahres verpflichtet, den Wehrdienst abzuleisten oder diesen mittels Antrag beim zuständigen türkischen Konsulat bis zum Ende des 35. Lebensjahres aufschieben zu lassen (Artikel 38). Die Aufschiebung wird bei denjenigen annulliert, von denen angenommen wird, dass sie die Bedingungen nicht erfüllen, z. B. mehr als die Hälfte eines Kalenderjahres in der Türkei verbracht haben und eine Begründung für eine Aufschiebung nicht mehr besteht, sowie denjenigen, die auf ihr Freikaufrecht verzichten. Sie haben wie die in der Türkei Wohnhaften die Möglichkeit, sich gegen Bezahlung von der Wehrpflicht freizukaufen. Sie müssen dann lediglich eine Fernausbildung absolvieren. Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger gilt als Voraussetzung, dass sie seit mindestens drei Jahren im Ausland arbeiten, exklusive der Zeit, die sie im Inland verbracht haben. Dies gilt auch für Doppelstaatsbürger - für sie gilt ebenfalls die türkische Wehrpflicht - jedoch auch ohne Arbeitsverhältnis als Bedingung (ÖB 30.11.2022, S. 18f.). Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun (NL-MFA 11.7.2019). Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke bzw. für Personen, welche geistig oder körperlich nicht in der Lage sind, den Militärdienst zu absolvieren, sowie für Wehrpflichtige, deren Bruder, während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor (PMRT-OSCE 13.6.2022, S. 18; vgl. NL-MFA 11.7.2019). Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes Nr.1111/Art. 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (NL-MFA 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt (ÖB 30.11.2022, S. 18). Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (NL-MFA 11.7.2019).

Nebst Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren (DFAT 10.9.2020) sind u. a. auch jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufsoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrages erhalten haben (ÖB 30.11.2022, S. 19).

Einige Wehrpflichtige sind Berichten zufolge schweren Schikanen, körperlichen Misshandlungen und Folter ausgesetzt, die mitunter zum Tod oder Selbstmord führen. Menschenrechtsgruppen berichten über verdächtige Todesfälle beim Militär, insbesondere unter Wehrpflichtigen, die der alevitischen und kurdischen Minderheit angehören. Die Regierung hat solche Vorfälle nicht systematisch untersucht und gibt auch keine Daten darüber heraus (USDOS 20.3.2023, S. 8). Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) vermeldete für das Jahr 2021 mindestens 22 Todesfälle während der Dienstausübung (İHD 6.11.2022, S. 9)

 

Angehörige sexueller Minderheiten als Wehrpflichtige

Gemäß Bestimmungen der Disziplinarordnung sowie der Gesundheitsrichtlinie des türkischen Militärs fällt Homosexualität immer noch unter "fortgeschrittene psychosexuelle Störungen". Angehörige sexueller Minderheiten gelten als untauglich bzw. werden bei Bekanntwerden ihrer Orientierung aus der Armee entfernt. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass "abnormale bzw. perverse" Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (ÖB 30.11.2022, S. 38; vgl. EC 6.10.2020, S. 40). Will allerdings ein Homosexueller (oder Mitglied einer anderen sexuellen Minderheit) infolge des problemhaften Verhältnisses zwischen Homosexualität und türkischer Armee von sich aus den Wehrdienst nicht ableisten, muss er die Initiative ergreifen und bei einem medizinischen Komitee eine Ausnahmegenehmigung beantragen (NL-MFA 2.3.2022, S. 65). Die Homosexualität oder Transsexualität muss dabei durch psychologische Tests und Behandlungen sowie manchmal durch visuelle "Beweismittel" nachgewiesen werden (ÖB 30.11.2022, S. 38; vgl. AA 28.7.2022, S. 13). Außerdem kann von der Person erwartet werden, dass sie nachweist, dass sie Mitglied einer LGBTI-Organisation ist, oder dass sie anhand eines Fotos zeigt, dass sie an einem "pride event" teilgenommen hat. Eine andere Vorgangsweise besteht darin, dass der homosexuelle Wehrpflichtige ein Familienmitglied oder einen Freund mitbringt, der bezeugt, dass er homosexuell ist (NL-MFA 2.3.2022, S. 65).

Wenn ein Homosexueller aus dem Militärdienst entlassen wird, erhält er eine Freistellungsmeldung. Darin wird lediglich festgestellt, dass die betreffende Person als nicht wehrdiensttauglich gilt. Diese Meldung mindert die Chancen des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt, da potenzielle Arbeitgeber bei der Einstellung einen Nachweis über den Wehrdienst verlangen können. Wird festgestellt, dass die betreffende Person vom Wehrdienst befreit wurde, kann der Arbeitgeber nach dem Grund für die Befreiung fragen oder annehmen, dass die betreffende Person homosexuell, bisexuell oder transsexuell ist (NL-MFA 2.3.2022, S. 65).

 

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 24.8.2022

 DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 22.2.2022

 EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 22.2.2022

 HDN – Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475 , Zugriff 22.2.2022

 İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (6.11.2022): Human Rights Association 2021 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2022/11/SR2022_2021-Turkey-Violations-Report.pdf , Zugriff 22.11.2022

 NL-MFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 30.9.2022

 NL-MFA – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf , Zugriff 22.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 24.4.2023

 PMRT-OSCE - The Permanent Mission of the Republic of Türkiye to the OSCE (13.6.2022): Türkiye’s Response to the Questionnaire on the „Code of Conduct on Politico-Military Aspects of Security“ for 2022, https://www.osce.org/files/f/documents/5/a/523093.pdf , Zugriff 27.1.2023

 RN - Railly News (14.1.2023): Military Service Fee Announced! How Much 2023? Is The Paid Military Service Fee? How Much Is It, https://raillynews.com/2023/01/2023-military-service-fee-has-been-determined-how-much-is-the-military-service-fee/ , Zugriff 24.4.2023

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 24.4.2023

 

Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee

Letzte Änderung: 23.06.2023

Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (NL-MFA 11.7.2019). Die Wehrpflichtigen haben keine Wahl, wo sie stationiert werden. Wehrpflichtige Kurden können daher im Südosten der Türkei stationiert werden, wo sich die türkischen Streitkräfte im Konflikt mit der PKK befinden. Da die türkischen Behörden keine Angaben zu den Wehrpflichtigen nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit machen, kann nicht festgestellt werden, wie viele kurdische Wehrpflichtige in der Südosttürkei stationiert sind und ob sie am Kampf gegen die PKK beteiligt sind. Es liegen laut niederländischem Außenamt keine Informationen darüber vor, ob kurdische Wehrpflichtige den Einsatz in der Südosttürkei verweigern dürfen und wenn nicht, welche Strafe dafür vorgesehen ist. Zurzeit jedenfalls werden Wehrpflichtige grundsätzlich nicht zu Kampfeinsätzen herangezogen (NL-MFA 2.3.2022, S. 64f.).

Nach vorliegenden Informationen besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten, wie der kurdischen, im Militär. Es gibt aber Einzelfälle. Zudem ist ein Aufstieg im System für Angehörige von Minderheiten schwierig (ÖB 30.11.2022, S. 21). Während der Direktor der türkischen Menschenrechtsorganisation Hafiza Merkez in einem Interview mit dem UK Home Office meinte, dass der Militärdienst im Allgemeinen schon nicht schön, aber für Kurden noch schwieriger sei, sah ein Menschenrechtsanwalt den Militärdienst als Erniedrigung für Kurden, da der kurdische Alltag von vielen Zwischenfällen mit der Armee und der Polizei geprägt sei. Im Unterschied zu den Türken ist der Militärdienst für die Kurden nicht mit Stolz verbunden (UKHO 10.2019). Auch laut Kontaktpersonen der NGO Schweizerische Flüchtlingshilfe sei es schwierig, zu sagen, ob Minderheiten im Militärdienst systematisch misshandelt würden, jedoch gebe es zahlreiche Beispiele für Misshandlungen von Angehörigen von Minderheiten in der Armee. Der Militärdienst sei jedenfalls ein gefährliches Umfeld für Angehörige von Minderheiten (SFH 16.9.2020). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz Van im Mai 2018 schwer misshandelt, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. Bei einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto von Selahattin Demirtaş auf seinem Smartphone hatte, dem inhaftierten ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) (NL-MFA 11.7.2019). Mitte August 2020 wurde ein kurdisch-stämmiger Rekrut von seinen türkischen Kameraden zusammengeschlagen und als Terrorist beschimpft, nachdem dieser zuerst Kurdisch sprach und hernach die Verwendung des Kurdischen im Bildungssystem propagierte (Mezopotamya 14.9.2020). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (NL-MFA 11.7.2019; vgl. K24 10.5.2018).

 

Quellen:

 K24 – Kurdistan 24 (10.5.2018): Middle East Conscript in Turkish army 'lynched' for singing in Kurdish, MPs say, https://web.archive.org/web/20190203005959/http://www.kurdistan24.net:80/en/culture/e9b13521-081d-402b-9ea4-20f41eea9bb5 , Zugriff 22.2.2022 [Der Originallink ist nicht mehr verfügbar.]

 Mezopotamya (14.9.2020): Kurdish soldier attacked at military post: I have no life safety, http://mezopotamyaajansi35.com/en/search/content/view/109378?page=1&key=3b84e1dcd1d3fd2e3c8d8d7731ad0653 , Zugriff 22.2.2022

 NL-MFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 28.9.2022

 NL-MFA – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf , Zugriff 22.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 21.4.2023

 SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe (16.9.2020): Türkei: Situation von kurdischen Personen im Militärdienst, https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Herkunftslaenderberichte/Europa/Tuerkei/200915_TUR_Kurden_im_Militaerdienst.pdf , Zugriff 22.2.2022

 UKHO – United Kingdom Home Office [Großbritannien] (10.2019): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17 June to 21 June 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPORT_2019.odt , Zugriff am 22.2.2022

 

Wehrersatzdienst / Wehrdienstverweigerung / Desertion

Letzte Änderung: 23.06.2023

Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor (AA 28.7.2022, S. 13, vgl. NL-MFA 11.7.2019, DFAT 10.9.2020), trotz deutlicher Mahnungen des Ministerkomitees des Europarats (AA 28.7.2022, S. 13). Eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht möglich und wird mit einer Haftstrafe geahndet. Danach muss der Wehrdienst nachgeholt werden (ÖB 30.11.2022, S. 18). Strafen werden solange ausgesprochen, solange sich der Wehrpflichtige der Ableistung des Militärdienstes entzieht. Die Strafe steigt, je länger man sich dem Dienst entzieht (DFAT 10.9.2020). Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçağı) (VB 11.10.2022), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar) (NL-MFA 11.7.2019). In der Türkei werden Wehrdienstverweigerung und Desertion als zwei verschiedene Arten von Straftaten angesehen und als solche bestraft. Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis drei Jahren geahndet (NL-MFA 2.3.2022, S. 62). Seit Änderung von Art. 63 des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich (AA 28.7.2022, S. 13; vgl. DFAT 10.9.2020). Wer seinen Wehrdienst trotz Vorladung nicht ableistet, gilt als Deserteur. Soldaten und Appellflüchtige werden mit Ordnungsgeldern bestraft. Soldaten die sich selbst stellen, werden mit fünf, und diejenigen, die aufgegriffen mit zehn Lira pro Tag bestraft. - Werden die Deserteure zur Erfüllung ihres Wehrdienstes aufgegriffen, werden sie unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von 24 Stunden, zur nächsten Militärdienststelle gebracht. Aber selbst wenn Deserteure ausfindig gemacht werden, können sie nicht zum Militärdienst gezwungen werden. In der Praxis sieht es so aus, dass Deserteure einen Bericht unterschreiben und freigelassen werden (VB 1.3.2023).

Die türkischen Behörden gehen aktiv gegen Wehrdienstverweigerer und Deserteure vor (NL-MFA 2.3.2022, S. 63). Das Verteidigungsministerium leitet nach Art. 26 die Daten der Wehrdienstverweigerer an das Innenministerium weiter, damit sie verhaftet und zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet werden können (NL-MFA 2.3.2022, S. 63; vgl. AA 28.7.2022, S. 13). Sie werden dann als Wehrdienstverweigerer bzw. Deserteure in der Datenbank des Genel Bilgi Toplama Sistemi (Allgemeines Informationssammlungssystem, GBT) registriert, zu der die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, Zugang haben. Die Registrierung im GBT schränkt die Bewegungsfreiheit von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren stark ein. So laufen sie beispielsweise Gefahr, bei einer Passkontrolle, einer routinemäßigen Identitätskontrolle auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln oder sogar durch das Einchecken in einem Hotel (Personalien von Hotelgästen werden obligatorisch an die örtliche Polizei weitergeleitet) festgenommen zu werden. Wehrdienstverweigerern und Deserteuren werden manchmal auch folgende Rechte und Leistungen verweigert: Beantragung eines Reisepasses und eines Führerscheins, Heiraten, Erhalt einer Bankkontonummer und einer Mehrwertsteuernummer und Anzeige einer Straftat bei den Behörden (NL-MFA 2.3.2022, S. 63).

Die Nichtzahlung von Geldstrafen kann theoretisch zur Beschlagnahme von Vermögenswerten und zur Einbehaltung von Gehältern und Renten führen. In der Praxis gibt es sehr viele Wehrpflichtige, welche der Wehrpflicht entfliehen, und der Staat ist in den meisten Fällen nicht in der Lage, diese weiterzuverfolgen (DFAT 10.9.2020). Die Verjährungsfrist beträgt bis zu acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtige werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen (AA 28.7.2022, S. 13).

Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Nichtanerkennung von Gewissensgründen für Wehrdienstverweigerung verurteilt (ÖB 30.11.2022, S. 18). Der Europarat, insbesondere dessen Ministerkomitee kritisiert die wiederholten Verurteilungen und Inhaftierungen von Kriegsdienstverweigerern wegen Verweigerung des Wehrdienstes; das Fehlen eines wirksamen und zugänglichen Verfahrens zur Feststellung des Status als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen und das Fehlen einer Alternative zum obligatorischen Militärdienst in der Türkei (CoE 27.9.2021, S. 3).

 

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 24.8.2022

 CoE - Council of Europe (Department For The Execution Of Judgments Of The European Court Of Human Rights) (27.9.2021): Turkey - main issues before the Committee of Ministers - ongoing supervision, https://rm.coe.int/mi-turkey-eng/1680a23cae#page=1&zoom=auto ,-275,848, Zugriff 22.2.2022

 DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 22.2.2022

 NL-MFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 29.9.2022

 NL-MFA - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf , Zugriff 22.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 21.4.2023

 VB – Verbindungsbeamter des BMI für die Türkei [Österreich] (1.3.2023): Auskunft des Büros des ÖB Militärattachés, Antwort per E-Mail

 VB – Verbindungsbeamter des BMI für die Türkei [Österreich] (11.10.2022): Auskunft des VB, per Mail

 

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 23.06.2023

Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB 30.11.2022, S. 30; vgl. EC 12.10.2022, S. 6, 30). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB 30.11.2022, S. 30). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023, S. 1, 21; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 30).

Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 12.10.2022, S. 6, 30). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).

Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden für die Grundrechte und die damit zusammenhängenden erlassenen Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Viele der während des Ausnahmezustands eingeführten Maßnahmen bleiben in Kraft und haben weiterhin tiefgreifende und verheerende Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (EC 12.10.2022).

 

Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören: willkürliche Tötungen; verdächtige Todesfälle von Personen im Gewahrsam der Behörden; erzwungenes Verschwinden; Folter; willkürliche Verhaftung und fortgesetzte Inhaftierung von Zehntausenden von Personen, einschließlich Oppositionspolitikern und ehemaligen Parlamentariern, Rechtsanwälten, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten wegen angeblicher Verbindungen zu "terroristischen" Gruppen oder aufgrund legitimer Meinungsäußerung; politische Gefangene, einschließlich gewählter Amtsträger; grenzüberschreitende Repressalien gegen Personen außerhalb des Landes, einschließlich Entführungen und Überstellungen mutmaßlicher Mitglieder der Gülen-Bewegung ohne angemessene Garantien für ein faires Verfahren; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, einschließlich Gewalt und Gewaltandrohung gegen Journalisten, Schließung von Medien und Verhaftung oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und anderen Personen wegen Kritik an der Regierungspolitik oder an Amtsträgern; Zensur; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; gravierende Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze bezüglich der staatlichen Aufsicht über nicht-staatliche Organisationen (NGOs); Restriktionen der Bewegungsfreiheit; Zurückweisung von Flüchtlingen; schwerwiegende Schikanen der Regierung gegenüber inländischen Menschenrechtsorganisationen; fehlende Ermittlungen und Rechenschaftspflicht bei geschlechtsspezifischer Gewalt; Gewaltverbrechen gegen Mitglieder ethnischer, religiöser und sexueller [LGBTQI+] Minderheiten (USDOS 20.3.2023, S. 1f., 96; vgl. AI 28.3.2023, EU 30.3.2022, S. 16f.). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 20.3.2023, S. 1f., 96; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 30).

Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (EU-Rat 14.12.2021, S. 16, Pt. 34). Zuletzt zeigte sich Anfang Mai 2022 das Europäische Parlament "zutiefst besorgt über die anhaltende Verschlechterung der Grundrechte und Grundfreiheiten sowie der Lage der Rechtsstaatlichkeit" und "fordert[e] die Staatsorgane der Türkei auf, der gerichtlichen Schikanierung von Menschenrechtsverteidigern, Wissenschaftlern, Journalisten, geistlichen Führern und Rechtsanwälten ein Ende zu setzen" (EP 5.5.2022, Pt. 4).

Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlaments vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach "die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen" (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 45).

Mit Stand 30.11.2022 waren 20.300 Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 26,8 % aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 12.2022), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Denn mit Jahresende 2021 stammten 15.250 Verfahren aus der Türkei, das waren damals 21,7 % aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 21.1.2022). Im Jahr 2022 stellte der EGMR in 73 Fällen (von 80) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 27, betrafen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, gefolgt vom Recht auf Eigentum (20) und dem Recht auf ein faires Verfahren (16) (ECHR 1.2023).

 

Das Recht auf Leben

Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD 6.11.2022, S. 9).

Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt. Zu einigen der in den Medien berichteten Todesfälle gibt es noch immer keine glaubwürdigen Untersuchungen. Die gemeldeten Tötungen durch die Sicherheitsbehörden im Südosten, insbesondere im Zusammenhang mit den Ereignissen im Jahr 2015, werden nach wie vor nicht effektiv untersucht, beziehungsweise sanktioniert (EC 12.10.2022, S. 33).

Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022).

Siehe hierzu insbesondere die Kapitel bzw. Subkapitel: Sicherheitslage, Folter und unmenschliche Behandlung sowie Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 25.8.2022

 AI – Amnesty International (28.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089660.html , Zugriff 4.5.2023

 CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 28.2.2022

 Duvar (8.7.2022): Top Turkish court finds no rights violation in death of Cizre curfew victims, https://www.duvarenglish.com/top-turkish-court-finds-no-rights-violation-in-death-of-cizre-curfew-victims-news-61010 , Zugriff 11.8.2022

 EC – European Commission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 2.11.2022

 EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 28.2.2022

 ECHR – European Court of Human Rights (1.2023): Violations by Article and by State, https://echr.coe.int/Documents/Stats_violation_2022_ENG.pdf , Zugriff 4.5.2023

 ECHR – European Court of Human Rights (12.2022): PENDING APPLICATIONS ALLOCATED TO A JUDICIAL FORMATION -REQUÊTES PENDANTES DEVANT UNE FORMATION JUDICIAIRE 30/11/2022, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2022_BIL.PDF , Zugriff 19.1.2023

 ECHR – European Court of Human Rights (21.1.2022): EUROPEAN COURT OF HUMAN RIGHTS - APPLICATIONS PENDING BEFORE A JUDICIAL FORMATION 31/12/2021, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2020_BIL.PDF , Zugriff 2.11.2022

 EP - Europäisches Parlament (5.5.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 5. Mai 2022 zu dem Fall von Osman Kavala in der Türkei (2022/2656(RSP)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0199_DE.pdf , Zugriff 6.5.2022

 EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 28.2.2022

 EP - European Parliament (21.1.2021): Human rights situation in Turkey, in particular the case of Selahattin Demirtaş and other prisoners of conscience [(2021/2506(RSP)], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0028_EN.pdf , Zugriff 28.2.2022

 EU - European Union (30.3.2022): EU ANNUAL REPORT ON HUMAN RIGHTS AND DEMOCRACY IN THE WORLD2021 COUNTRY UPDATES - Turkey, https://www.eeas.europa.eu/sites/default/files/documents/220323%202021%20EU%20Annual%20Human%20Rights%20and%20Democracy%20Country%20Reports.docx.pdf , Zugriff 22.8.2022

 EU-Rat - Rat der Europäischen Union (14.12.2021): Schlussfolgerungen des Rates zur Erweiterung sowie zum Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess [15033/21], https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-15033-2021-INIT/de/pdf , Zugriff 21.1.2022

 İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (6.11.2022): Human Rights Association 2021 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2022/11/SR2022_2021-Turkey-Violations-Report.pdf , Zugriff 4.5.2023

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 4.5.2023

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 4.5.2023

 

Meinungs- und Pressefreiheit / Internet

Letzte Änderung: 23.06.2023

Medien- und Pressefreiheit

Die türkischen Mainstream-Medien, die einst für einen lebhafteren Ideenkonflikt sorgten, sind zum Glied einer straffen Befehlskette mit von der Regierung genehmigten Schlagzeilen, Titelseiten und Themen für Fernsehdebatten geworden. Die größten Medienmarken werden von Unternehmen und Personen kontrolliert, die Staatspräsident Erdoğan und seiner AK-Partei (AKP) nahestehen, nachdem sie seit 2008 eine Reihe von Übernahmen getätigt haben. Diese beeinflussen wesentlich die Berichterstattung. Der Trend verstärkte sich im Zuge des gescheiterten Putschversuches 2016, als danach 150 vermeintlich der Gülen-Bewegung nahestehende Media-Outlets liquidiert wurden. Die letzte große Übernahme war 2018 jene der Tageszeitung Hürriyet sowie anderer Medien des regierungskritischen Verlegers und Milliardärs Aydin Doğan durch die regierungsnahe Demirören Gruppe (Reuters 31.8.2022). Somit gelten gegenwärtig 90 % der türkischen Medien (Print, Rundfunk, Fernsehen) personell und/oder finanziell mit der Regierungspartei AKP verbunden. Die restlichen 10 % werden finanziell ausgehungert, indem ihnen staatliche Werbeanzeigen entzogen werden (AA 28.7.2022, S. 9; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 37, FH 10.3.2023, D1). Wirtschaftseliten mit engen Verbindungen zu Erdoğan werden beschuldigt, Journalisten zu bestechen und eine negative Presse gegen die Opposition zu inszenieren (FH 10.3.2023, D1). In diesem Sinne wird auch durch die staatliche Presse-Anzeigenagentur [auch: Pressewerberat] (Basın İlan Kurumu - BİK) Druck ausgeübt. Diese ist für die Vergabe staatlicher Anzeigen nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel an die Printmedien und seit 18.10.2022 auch an digitale Medien zuständig, eine wichtige Einnahmequelle für die Medien. 2020 waren zwei große Printmedien nach kritischer Berichterstattung gegen Regierungsmitglieder von einer Anzeigensperre betroffen (ÖB 30.11.2023, S. 34),

Auch 2022 setzte sich der umfassende Angriff auf die Pressefreiheit als systematische Unterdrückung unabhängiger Medien fort und eskalierte in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022. Die Türkei ist nach wie vor einer der größten inhaftierenden Staat von Journalisten in der Welt (EFJ/ IPI/ ECPMF 9.2022, S.20). Mit Stand 3.5.2023 waren laut Media and Law Studies Association (MLSA) 66 Journalisten und Medienmitarbeiter inhaftiert (MLSA 3.5.2023).

Da 90 % der nationalen Medien inzwischen von der Regierung kontrolliert werden, hat sich die Öffentlichkeit in den letzten fünf Jahren an den Rest der kritischen oder unabhängigen Medien verschiedener politischer Couleur gewandt, um sich über die Auswirkungen der wirtschaftlichen und politischen Krise auf das Land zu informieren. Dazu gehören lokale Fernsehsender wie Fox TV, Halk TV, Tele1 und Sözcü sowie internationale Nachrichten-Websites wie BBC Turkish, VOA Turkish und Deutsche Welle Turkish (RSF 3.5.2023).

Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Webseiten weiterhin tätig sind, stehen sie unter enormen politischen Druck, werden routinemäßig strafrechtlich verfolgt (FH 10.3.2023, D1; vgl. BS 23.2.2022, S. 10) oder deren Inhalte werden entfernt (HRW 12.1.2023). Dies gilt insbesondere bei Nachrichten, die sich kritisch über hochrangige Regierungsmitglieder und Mitglieder der Familie von Präsident Erdoğan äußern, oder die nach dem äußerst restriktiven Anti-Terror-Gesetz als strafbar gelten (HRW 13.1.2022).

Der Druck auf Journalisten dauert an. Ihre Arbeitssituation ist schwierig, die Arbeitslosigkeit in dieser Berufsgruppe sowie im Medienbereich allgemein hoch. Zukunftsängste und mangelnde Jobsicherheit begünstigen ebenso die Selbstzensur (ÖB 30.11.2022, S. 34) wie die Furcht vor Repressionen durch rechtliche und wirtschaftliche Schritte im Falle von Kritik an der Regierung (USDOS 20.3.2023, S. 33; vgl. BS 23.2.2022, S.10). Journalisten sehen sich Einschüchterungen, Festnahmen, Anklagen und Entlassungen ausgesetzt. Auch werden immer wieder gewaltsame Übergriffe gegen Journalisten verzeichnet, welche oftmals nicht geahndet werden (ÖB 30.11.2022, S.35; vgl. BS 23.2.2022; S. 10, USDOS 20.3.2023, S. 33). Tätlich angegriffen werden vor allem diejenigen, die über Politik, Korruption oder Verbrechen berichten (FH 10.3.2023, D1). Körperliche Übergriffe auf Journalisten erfolgen sowohl durch die Polizei als auch durch Privatpersonen, in seltenen Fällen auch mit tödlichen Folgen. - Im Februar 2022 wurde Güngör Arslan, Eigentümer und Chefredakteur einer Lokalzeitung, vor seinem Büro in Ízmit erschossen. Er prangerte die örtliche Korruption und die Mafia an (SDZ 21.2.2022) und verfasste dahingehend Artikel gegen den dortigen Provinzpräsidenten und Anwalt der Grauen Wölfe (EFJ/ IPI/ ECPMF 9.2022, S. 20).

Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu - RTÜK), die Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk, wurde zu einem Überwachungs- und Kontrollinstrument umfunktioniert. Lizenzen und Genehmigungen, die von Medien beantragt werden, müssen vom RTÜK abgesegnet werden (DW 4.5.2021). Die Mitglieder des RTÜK werden vom AKP-kontrollierten Parlament ernannt (FH 10.3.2023, D1). Das Europäische Parlament zeigte sich 2021 "zutiefst besorgt über die mangelnde Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von öffentlichen Einrichtungen wie dem Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) und die staatlichen Pressewerberat (BİK), der als Instrument benutzt werden, um als regierungskritisch geltende Medien willkürlich auszusetzen, zu verbieten, mit Geldstrafen zu belegen oder durch die Auferlegung finanzieller Bürden in ihrer Arbeit zu behindern, was ihr eine fast vollständige Kontrolle der Massenmedien ermöglicht" (EP 19.5.2021, S. 12, Pt. 27; vgl. RSF 3.5.2023). So verhängte der RTÜK auch im Jahr 2022 54 Bußgelder gegen fünf unabhängige oder der Opposition nahestehende Fernsehsender, die sich kritisch über die Regierung äußerten (FH 10.3.2023, D1).

Anweisungen an die Nachrichtenredaktionen kommen, auch via Telefon oder Whatsapp, oft von Beamten aus der Direktion für Kommunikation (İletişim Başkanlığı), die für die Beziehungen zu den Medien zuständig ist. Die Direktion unter der Leitung von Fahrettin Altun ist eine Schöpfung Erdoğans und beschäftigt rund 1.500 Mitarbeiter. 48 Auslandsbüros in 43 Ländern beobachten überdies, wie im Ausland über die Türkei berichtet wird. Bei wichtigen Nachrichten, die Erdoğan oder seine Regierung in Bedrängnis bringen könnten - insbesondere bei Ereignissen, die die Wirtschaft oder das Militär betreffen - setzt sich Altun laut Reuters-Quelle regelmäßig mit Redakteuren und leitenden Korrespondenten in Verbindung, um einen Plan für die Berichterstattung aufzustellen (Reuters 31.8.2022).

Im Juni 2022 forderte das EP den Vorsitzenden des RTÜK auf, "die übermäßige Verhängung von Geldbußen und Sendeverboten, mit denen die legitime Meinungsfreiheit von Journalisten und Rundfunksender aus der Türkei eingeschränkt wird, einzustellen" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 14). Beispielsweise belegte der RTÜK Ende Mai 2022 vier Fernsehsender (Tele1, KRT, Flash und Halk TV) mit einer Geldstrafe im Ausmaß von 3 % ihrer Jahreseinnahmen, weil sie die Rede des Vorsitzenden der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, ausgestrahlt hatten, in der er behauptete, Präsident Erdoğan bereite sich darauf vor, im Falle einer Wahlniederlage mit seinen Familienangehörigen aus der Türkei zu fliehen (Duvar 30.5.2022). Am 19.10.2022 sperrte RTÜK den Fernsehsender TELE 1 für drei Tage zur Strafe, weil im Programm ein Oppositionspolitiker behauptet hatte, die Religionsbehörde Diyanet sei ein politisches Instrument (BI 20.10.2022).

Die BİK, die staatliche Werbeaufträge vergibt, und die Direktion für Kommunikation, die Presseausweise ausstellt, wenden eindeutig diskriminierende Praktiken an, um die Medienkritiker des Regimes zu marginalisieren und zu kriminalisieren (RSF 4.2021). - Wenn die BİK feststellt, dass ein Medien-Artikel gegen seinen Ethikkodex verstößt, bestraft sie die betreffende Zeitung mit der Aussetzung der staatlichen Werbung, d. h. der Werbung der Regierung und der ihr nahestehenden Einrichtungen, wie z. B. der staatlichen Banken. So wurden 2020 fast alle Suspendierungen gegen die fünf bekanntesten unabhängigen Zeitungen verhängt. Zusammen wurden den fünf rund vier Millionen Lira an staatlichen Werbegeldern für das Jahr 2020 entzogen (Reuters 31.8.2022). Seit Dezember 2018 wurden 1.371 Pressekarten türkischer Journalisten nicht verlängert und 1.238 Pressekarten türkischer Journalisten annulliert. Ausländische Journalisten, die jährlich eine neue Pressekarte beantragen müssen, warten zum Teil mehrere Monate auf deren Ausstellung (ÖB 30.11.2022, S. 35).

Das Verfassungsgericht, allerdings, das mehrere Klagen der Zeitungen Sözcü, Cumhuriyet, BirGün und Evrensel bewertete, entschied in seinem Piloturteil vom August 2022, dass die von der staatlichen BİK verhängten Strafen gegen die Meinungs- und Pressefreiheit verstoßen. Den betroffenen Zeitungen müssen jeweils 10.000 Lira [ca. 550 Euro] Entschädigung gezahlt werden. Das Verfassungsgericht stellte zudem fest, dass die Verhängung von Geldstrafen für Werbung durch erstinstanzliche Gerichte ein systematisches Problem darstelle, und forderte infolgedessen das Parlament auf, sich mit dem entsprechenden Gesetzesartikel zu befassen, um dieses grundlegende Problem zu lösen (EI 13.8.2022; vgl. Reuters 31.8.2022). Als Folge gab die BİK bekannt, dass sie die Verhängung von Strafen für Verstöße gegen die Berufsethik ausgesetzt habe. Die Regierung schwieg zum Urteil des Verfassungsgerichts (Reuters 31.8.2022).

Beim Recht auf freie Meinungsäußerung setzte sich der in den letzten Jahren beobachtete gravierende Rückschritt fort. Die Umsetzung von Strafgesetzen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung verstößt weiterhin gegen die EMRK und andere internationale Standards und weicht von der Rechtsprechung des EGMR ab. Restriktive Maßnahmen staatlicher Institutionen und zunehmender Druck mit gerichtlichen und administrativen Mitteln untergraben weiterhin die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Es kommt weiterhin zu Strafverfahren und Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Schriftstellern, Oppositionspolitikern, Studenten, Künstlern und Nutzern sozialer Medien (EC 12.10.2022, S. 6f., 35). Die Staatsanwälte klagen Journalisten am häufigsten wegen terroristischer Verbindungen oder Aktivitäten an (EFJ/ IPI/ ECPMF 9.2022, S. 21 , S. 20; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 33, TM 10.11.2022).

Laut einer Umfrage von MetroPOLL im Juli 2020 betrachteten 62 % die Medien des Landes als "nicht frei" (USDOS 30.3.2021, S. 28f). Die Türkei verschlechterte sich im World Press Freedom Index 2023 im Vergleich zum Vorjahr [1. Rang = bester Rang] merklich innerhalb der Rangordnung der angeführten 180 Länder, nämlich um 16 Plätze, von Rang 149 auf Platz 165. Verschlechtert hat sich auch der absolute Wert von 41,25 auf 33,97 [100 ist der beste, statistisch zu erreichende Wert] (RSF 3.5.2023).

Strafverfahren gegen Journalisten werden oft mit der Beleidigung des Staatspräsidenten und der türkischen Nation, mit Terrorpropaganda oder "provokativen Inhalten" begründet. Darüber hinaus gibt es Druck insbesondere auf Journalistinnen und Journalisten, die etwa negativ über nationalistische Gruppieren recherchieren oder (AA 28.7.2022, S. 9) über Korruption berichten (Reuters 31.8.2022; vgl. AA 28.7.2022, S. 9, FH 10.3.2023, D1). Journalisten wurden auch wegen der Berichterstattung über Proteste strafrechtlich verfolgt (FH 28.2.2022, D1). Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen, da deren journalistische Tätigkeiten als terrorismusbezogene Vergehen gewertet wurden (HRW 12.1.2023; vgl. IPI 30.11.2020). Hinzu kommt meist ein Reiseverbot (IPI 30.11.2020).

 

Kurdische Journalisten und Medien

Journalisten, die für kurdische Medien in der Türkei arbeiten, werden weiterhin unverhältnismäßig stark ins Visier genommen. Eine kritische Berichterstattung aus dem Südosten des Landes ist stark eingeschränkt (HRW 14.1.2020). - Beispielsweise ordnete am 16.6.2022 ein Gericht die Inhaftierung von 16 kurdischen Journalisten in Diyarbakır wegen "terroristischer Delikte" an (Duvar 16.6.2022; vgl. HRW 12.1.2023). - Berichte zum Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat ziehen die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich. Betroffen hiervon ist beispielsweise die kurdische Nachrichtenplattform "Mezopotamya Agency", laut deren Leiter jeder Mitarbeiter zumindest einmal festgenommen wurde (NL-MFA 2.3.2022, S. 23). Beispielsweise wurden Ende Oktober 2022 bei Razzien der Polizei in Ístanbul, Ankara und anderen türkischen Städten elf Journalisten pro-kurdischer Medien wegen angeblicher Verbindungen zu kurdischen Extremisten festgenommen, darunter der Chefredakteur sowie acht weitere Mitarbeiter von Mezopotamya News (AP 25.10.2022). Die Polizei erklärte, die Verdächtigten seien wegen ihrer journalistischen Beiträge festgenommen worden, welche die Öffentlichkeit zu Hass und Feindschaft aufstacheln sollen. In der Erklärung der Polizei von Ankara wurden die Razzien als "Anti-Terror-Operation" bezeichnet. Zudem wurde speziell Mezopotamya beschuldigt, als "Presserat" der PKK zu fungieren (BAMF 31.10.2022, S. 12). (Befristete) Publikationsverbote mit Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" treffen, mitunter wiederholt, vor allem kurdische Zeitungen oder solche des linken politischen Spektrums (AA 28.7.2022, S. 9). Mehr als ein Jahr vor dem Prozess im Gefängnis zu verbringen, ist die neue Norm, und lange Gefängnisstrafen sind üblich, in einigen Fällen bis zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer Begnadigung (RSF 2020). Beweise zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft und terroristischer Anschuldigungen bestehen in erster Linie aus Produkten journalistischer Arbeit, einschließlich veröffentlichter Artikel und Fotos, Kontakten zu Quellen, Social Media-Posts oder TV-Auftritten (SCF 3.1.2022). Auch im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wurden Ende April 2023 kurdische Journalisten verhaftet. So zum Beispiel Sedat Yilmaz, Redakteur bei der Mezopotamia News Agency (MA), und Dicle Muftuoglu, Ko-Vorsitzender der Journalistenvereinigung Dicle Firat. Dies geschah zwei Tage, nachdem ein Gericht in Diyarbakır vier weitere kurdische Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhaften ließ (VOA 1.5.2023).

Journalisten, welche vormalige Aktionen der Regierung, die angeblich der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staates dienten - z. B. Waffenlieferungen nach Syrien - oder Missstände bei den Sicherheitskräften untersuchen, werden systematisch der "Spionage", der "terroristischen Propaganda", der "Diffamierung" des Justizsystems oder der Sicherheitskräfte oder sogar des "Angriffs auf einen Anti-Terror-Agenten" beschuldigt (RSF 15.6.2021). Im Allgemeinen kann öffentliche Kritik an Themen, die für die Regierung sensibel sind, strafrechtlich verfolgt werden. Journalisten, die beispielsweise über die militärischen Aktivitäten der Türkei in Syrien oder Libyen berichteten, wurden einer Reihe von Verbrechen angeklagt, darunter Verstöße gegen das Geheimhaltungsgesetz oder das Schüren von Hass (IPI 30.11.2020).

Auch die Kritik an der Wirtschaftspolitik kann zur Verhaftung führen. Am 12.12.2021 wurden drei Youtube-Journalisten in der türkischen Provinz Antalya verhaftet, nachdem sie Passanten auf der Straße zu deren Meinung zur Wirtschaftskrise in der Türkei interviewt hatten. Bei Razzien in ihren Wohnungen wurden Mobiltelefone und Computer beschlagnahmt. Den festgenommenen Personen wird vorgeworfen, "den Staat und die Regierung zu verunglimpfen". Sie wurden zwischenzeitlich wieder freigelassen, jedoch unter Hausarrest gestellt (BAMF 20.12.2021, S. 12; vgl. Independent 13.12.2021).

Verhaftet wegen Terrorunterstützung werden jedoch nicht nur Journalisten. - So wurde etwa die Vorsitzende des medizinischen Berufsverbands TTB, Şebnem Korur Fıncancı, nach einem TV-Interview der Terrorpropaganda beschuldigt und verhaftet, weil sie Aufklärung zu möglichen Chemiewaffen-Einsätzen der türkischen Armee im Nordirak forderte, nachdem eine Delegation der Organisation "Internationale Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkrieges" Ende September im Nordirak vermeintlich einige indirekte Indizien für mögliche Verletzungen der Chemiewaffenkonvention gefunden hatte. Staatspräsident Erdoğan beschuldigte Fincanci ihr Land beleidigt zu haben und "die Sprache der Terrororganisation" PKK zu sprechen (FR 27.10.2022; vgl. AP 27.10.2022). Am 11.1.2023 verurteilte das Gericht die Medizinerin zu zwei Jahren, acht Monaten und 15 Tagen Gefängnis. Allerdings wurde Fincanci im Anschluss an die Urteilsverkündung umgehend freigelassen. Haftstrafen von weniger als drei Jahren werden in der Türkei selten vollstreckt (Standard 11.1.2023; vgl. DW 11.1.2023).

Am 8.4.2021 hob das türkische Verfassungsgericht einen Artikel eines Regierungsdekrets auf, das nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 erlassen wurde und zur Schließung von Dutzenden von Medienhäusern führte. Die Begründung hierfür und die anschließende Beschlagnahmung des Eigentums war die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" (PACE 22.4.2021, S. 4; vgl. CCRT 8.4.2021, TM 8.4.2021). Unbenommen der rechtlich möglichen Einschränkungen der Grundfreiheiten während des Ausnahmezustandes sah das Verfassungsgericht infolge der Beendigung des Letzteren die verfassungsmäßig garantierten grundlegenden Freiheiten ab diesem Zeitpunkt als verletzt an (CCRT 8.4.2021).

 

Meinungsfreiheit

Das Europäische Parlament (EP) bekräftigte im Mai 2022 seine ernste Besorgnis über die unverhältnismäßigen und willkürlichen Maßnahmen die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko zivil- oder strafrechtlicher Klagen bzw. Ermittlungen in Kauf zu nehmen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Personen ein, die bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten wohlwollend gegenüberstehen. Sich zu heiklen Themen oder in regierungskritischer Weise zu äußern, zieht mitunter Ermittlungen, Geldstrafen, strafrechtliche Anklagen, Arbeitsplatzverlust und Haftstrafen nach sich. Auf regierungskritische Äußerungen reagiert die Regierung häufig mit Strafanzeigen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, Terrorismus oder sonstiger Gefährdung des Staates. Die Regierung hat Hunderte von Personen wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verurteilt und bestraft (USDOS 20.3.2023, S. 33). Im Jahr 2021 betrafen laut Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allein 31 von insgesamt 76 Fällen von Verletzungen der EMRK durch die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung (ECHR 1.2022). Allerdings reduzierte sich der Anteil im Jahr 2022. Nur mehr acht von 73 Fällen, bei denen zumindest ein Verstoß gegen die EMRK festgestellt wurde, betrafen die Meinungsfreiheit (ECHR 1.2023).

Die Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit sind Ausfluss des weit ausgelegten Terrorismusbegriffs in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelner Artikel des türkischen Strafgesetzbuches (z. B. Art. 301 – Verunglimpfung/ Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes). Diese Bestimmungen werden in den letzten Jahren häufiger herangezogen, um gegen kritische Stimmen vorzugehen (ÖB 30.11.2022, S. 33).

Die geltenden Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten und das Strafgesetzbuch behindern die freie Meinungsäußerung und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards, so die Europäische Kommission. Die selektive und willkürliche Anwendung von Rechtsvorschriften gibt überdies weiterhin Anlass zur Sorge, da sie gegen die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und des Rechts auf ein faires Verfahren verstößt (EC 12.10.2022, S. 36). Problematisch ist die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs durch die Gerichte. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9). Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) gab es keine Fortschritte bei der Auslegung der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung. Letztere stimmt nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) überein (PACE 22.4.2021, S. 3). Zwar stellt nunmehr Art. 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes klar, dass Meinungsäußerungen, welche die Grenze der Berichterstattung nicht überschreiten, keine Straftat darstellen, doch dies hat die politische Verfolgung unliebsamer Äußerungen in der Praxis nicht eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 9).

Eines der prominentesten Beispiele war die Verurteilung von vier Menschenrechtsverteidigern, darunter der ehemalige Vorsitzende von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation im Juli 2020 (FH 3.3.2021). Die Behörden hatten Kiliç im Juni 2017 unter dem Vorwurf festgenommen, Verbindungen zu Fethullah Gülen zu unterhalten. Der EGMR entschied Ende Mai 2022 einstimmig (inklusive des türkischen Richters), dass die Türkei bei der Inhaftierung von Kılıç rechtswidrig gehandelt hatte. Das Gericht fand keine Beweise dafür, dass Kiliç eine Straftat begangen hat. Das Gericht entschied außerdem, dass seine spätere Verurteilung wegen anderer Anschuldigungen in direktem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger stehe und sein Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigt wurde (DW 31.5.2022; vgl. AP 31.5.2022). Fünf Jahre nach der ersten Verhaftung erging im November 2022 das Urteil des Kassationsgerichts zu den Verurteilungen von Taner Kılıç (verurteilt zu sechs Jahren und drei Monaten Haft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation) und drei weiteren Menschenrechtsverteidigern (verurteilt zu 25 Monaten wegen Unterstützung einer Terrororganisation) im Fall Büyükada. Der Fall von Taner Kılıç wurde wegen "unvollständiger Ermittlungen" aufgehoben und an das Gericht der ersten Instanz zurückverwiesen (AI 22.11.2022).

Die Behörden klagen Bürger, darunter auch Minderjährige, wegen Beleidigung der Staatsführung und Verunglimpfung des "Türkentums" an. Fürsprecher der Meinungsfreiheit wiesen darauf hin, dass führende Politiker und Abgeordnete von Oppositionsparteien zwar regelmäßig mehrfach wegen solcher Beleidigungen angeklagt wurden, im umgekehrten Falle, nämlich der Beleidigung von Oppositionellen, AKP-Mitglieder und Regierungsbeamte nur selten strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023, S. 42). Jüngstes Beispiel einer Verurteilung einer Journalistin wegen Präsidentenbeleidigung ereignete sich im März 2022. - Ein Ístanbuler Gericht sprach Sedef Kabas wegen Präsidentenbeleidigung schuldig und verurteilte sie zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und vier Monaten. Die Journalistin hatte während einer Fernsehsendung unter anderem das harte Vorgehen der türkischen Regierung gegen Kritiker angeprangert. Dort und später auf Twitter zitierte sie ein Sprichwort: "Wenn ein Ochse in einen Palast geht, wird er kein König, sondern der Palast wird zum Stall." (DW 11.3.2022; vgl. Ahval 11.3.2022). Insbesondere Oppositionspolitiker, darunter gewählte Mandatare sehen sich mit Strafverfolgung und Verurteilung wegen Beleidigung von staatlichen Würdenträgern oder des türkischen Staates bzw. des Türkentums konfrontiert (ZO 23.6.2020, FH 3.3.2021, Duvar 8.12.2022, HRW 14.12.2022, Evrensel 14.12.2022).

Zum Thema Beleidigung des Staatspräsidenten, anderer staatlicher Würdenträger; des türkischen Staates und der türkischen Nation (Türkentum) siehe die Kapitel Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen (Abs. Beleidigung des Präsidenten als Strafbestand) sowie Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit/Opposition

Auch gegen Rechtsanwälte wird vorgegangen. - Im Jänner 2021 erteilte das Justizministerium die Genehmigung zur Einleitung von Ermittlungen gegen zwölf Mitglieder der Anwaltskammer von Ankara. Die Anwälte wurden der "Beleidigung eines Amtsträgers" beschuldigt, weil sie homophobe und diskriminierende Äußerungen des Präsidenten der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, geäußert während eines Freitagsgebets, kritisiert hatten. Im April 2021 akzeptierte das zuständige Gericht in Ankara die Anklage. Im Juli 2021 wurden auch Ermittlungen gegen Mitglieder der Anwaltskammern von Ístanbul und Ízmir wegen "Beleidigung religiöser Werte" genehmigt (AI 29.3.2022).

Ein Beispiel der Beleidigung der türkischen Nation, der Regierung und der Staatsorgane war im November 2022 der Präsident der Istanbuler Bäcker-Gewerkschaft, Cihan Kolivar. Dieser wurde festgenommen, weil er in einer Fernsehsendung den übermäßigen Brotkonsum der Türken und einen möglichen Anstieg der Brotpreise angesprochen hatte. - "Brot ist das Grundnahrungsmittel einer dummen Gesellschaft. Da unser Volk seinen Hunger mit Brot stillt, haben wir seit 20 Jahren [korrupte] Politiker in der Regierung", so Kolivar. Ein Sprecher der regierenden AKP bezeichnete Kolivars Äußerungen als Beispiel für Hassreden und sagte, dieser handele rücksichtslos, indem er mit seinen Äußerungen "unsere Nation und unser Brot beleidigt" (TM 9.11.2022).

 

Soziale Medien und Internet

Die Bedingungen für ein offenes und freies Internet sind laut Europäischer Kommission in der Türkei nicht gegeben (EC 12.10.2022, S. 38). Die Internetfreiheit hat weiter abgenommen. Die türkischen Behörden verfügen über ein ganzes Arsenal an Instrumenten zur Zensur von Online-Inhalten. Das Gesetz über soziale Medien aus dem Jahr 2020 wird genutzt, um Plattformen zu zwingen, Inhalte zu entfernen, vor allem von den Websites unabhängiger und kritischer Medienunternehmen. Tausende von Online-Nutzern, darunter auch Mitglieder der politischen Opposition, wurden wegen ihrer Aktivitäten in den sozialen Medien strafrechtlich belangt. Selbstzensur, die Verbreitung einerseits regierungsnaher Medien und die Sperrung von Websites unabhängiger Medien andererseits haben zu einem weniger vielfältigen Online-Raum geführt. Einsprüche gegen Entscheidungen über inhaltliche Beschränkungen sind selten wirksam. Darüber hinaus organisieren regierungsnahe Troll-Netzwerke Verleumdungskampagnen gegen engagierte Aktivisten, und prominente Journalisten sehen sich als Vergeltung für ihre Online-Berichterstattung körperlicher Gewalt ausgesetzt (FH 18.10.2022).

Kritische und uneinsichtige Nutzer sozialer Nutzer sozialer Medien werden häufig überprüft, strafrechtlich verfolgt und verurteilt (NL-MFA 2.3.2022, S. 25; vgl. EC 12.10.2022, S. 38). Alles, vom banalen Teilen bis hin zum Liken von Inhalten in sozialen Medien, die von anderen, z. B. auf Facebook, geteilt werden, kann zu strafrechtlichen Ermittlungen und/oder einer Strafverfolgung etwa wegen Beleidigung des Präsidenten führen (Article19 8.4.2022). Online-Inhalte, die als kritisch gegenüber der regierenden AKP oder Präsident Erdoğan angesehen werden, werden von Webseiten und Social-Media-Plattformen entfernt. Online-Aktivisten, Journalisten und Social-Media-Nutzer wurden sowohl physisch als auch online wegen ihrer Social-Media-Beiträge schikaniert. Staatlich geförderte Medien und die Manipulation von Inhalten sozialer Medien durch die Regierung haben sich negativ auf die Online-Informationslandschaft ausgewirkt. Insbesondere die Medienberichterstattung über die kurdisch besiedelte südöstliche Region wird stark von der Regierung beeinflusst (FH 21.9.2021, B5). Dem niederländischen Außenministerium zufolge ziehen folgende kritische Berichte in den sozialen Medien eine negative Aufmerksamkeit der türkischen Behörden nach sich: Präsident Erdoğan und seine Familie, die Coronavirus-Politik der Regierung, die militärischen Operationen der Türkei im In- und Ausland, die politischen und kulturellen Rechte der kurdischen Minderheit, der Konflikt zwischen der PKK und der türkischen Regierung, Gülen und seine Bewegung, der Islam und Homosexualität (NL-MFA 2.3.2022, S. 25; vgl. FH 18.10.2022). Websites können wegen "Obszönität" gesperrt werden oder wenn sie als verleumderisch für den Islam angesehen werden, was auch Inhalte einschließt, die den Atheismus fördern. Zusätzlich zu den weitverbreiteten Sperrungen fordern staatliche Behörden proaktiv die Löschung oder Entfernung von Inhalten. Die meisten Sperrungsverfügungen werden von der BTK und nicht von den Gerichten erlassen (FH 18.10.2022).

Die Generaldirektion für Sicherheit teilte mit, dass im Jahr 2021 insgesamt 106.000 Social-Media-Konten in der Türkei aufgrund von Beiträgen untersucht wurden, die von den Behörden als problematisch eingestuft wurden. Die behördlichen Untersuchungen der Accounts richteten sich gegen Beleidigungen des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda oder Aufstachelung zu Feindschaft und Hass unter der Bevölkerung, wobei diesbezüglich 46.646 Nutzer identifiziert wurden (TM 15.3.2022). Anderen Angaben des Innenministeriums zufolge verdoppelten sich 2021 die Zahlen der untersuchten Konten sowie der Verfahren verglichen mit 2020. - 146.167 Konten in sozialen Medien wurden untersucht und rechtliche Schritte gegen 60.051 Personen eingeleitet. In der Folge wurden 1.911 Personen festgenommen und 73 inhaftiert (Article19 8.4.2022).

Das Europäische Parlament brachte im Jänner 2021 seine ernste Besorgnis über die Überwachung von Social-Media-Plattformen zum Ausdruck und verurteilte die Schließung von Social-Media-Konten durch die türkischen Behörden. Es betrachtete dies als eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit und als ein Instrument zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft (EP 21.1.2021). Freedom House sah die Türkei 2021 nur mehr bei 34 von 100 möglichen Punkten hinsichtlich der Freiheit im Internet (FH 21.9.2021).

Staatspräsident Erdogan bezeichnete im Dezember 2021 die sozialen Medien als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie und verkündete, dass die Regierung eine Gesetzgebung plane, um die Verbreitung von Fake News und Desinformationen im Internet zu kriminalisieren. Kritiker jedoch sahen die vorgeschlagenen Änderungen als Verschärfung der Einschränkung der Meinungsfreiheit (AP 11.12.2021; vgl. AM 13.12.2021).

Am 1.10.2020 trat in der Türkei das Gesetz Nr. 7253 über die Beschränkung von sozialen Medien in Kraft. Es zwingt Betreiber von Plattformen mit mehr als einer Million Nutzer täglich, mindestens einen Repräsentanten in der Türkei zu ernennen. Dieser muss türkischer Staatsbürger sein und seine Daten müssen auf der Webseite angegeben sein. Bei Nicht-Einhaltung der Vorgaben drohen Geldstrafen, Bandbreitenreduktion oder auch Verbot von Werbeanzeigen. Bei Anträgen von Einzelnen betreffend die Entfernung von Inhalten oder Zugriffsblockierung wegen Verletzungen der Privatsphäre muss der Provider dem Antragsteller innerhalb von längstens 48 Stunden antworten, andernfalls kann die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie eine Strafe von fünf Mio. Lira verhängen. Wenn ein Gericht oder Richter feststellt, dass ein veröffentlichter Inhalt das Gesetz verletzt, und der Provider innerhalb von 24 Stunden den Inhalt nicht entfernt oder nicht sperrt, haftet er für die entstandenen Schäden. Das Gesetz fordert, dass Unternehmen alle Daten türkischer Kunden in der Türkei speichern müssen (ÖB 30.11.2022, S. 33f.). Als Verstoß gegen das Gesetz zählen zum Beispiel die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, die Förderung des Terrorismus sowie Gewalt, die Störung der öffentlichen Ordnung, Fluchen sowie der Missbrauch von Frauen und Kindern (FNS 25.11.2020). Die betroffenen Online-Plattformen sind gezwungen, Berichte an die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (Bilgi Teknolojileri ve İletişim Kurumu - BTK) über ihre Reaktion auf Anfragen von Verwaltungs- oder Justizbehörden hinsichtlich Zensur oder Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten zu senden. Auf Anordnung eines Richters oder der BTK ist die Union der Zugangsanbieter (ESB) auch verpflichtet, Internet-Hosts oder Suchmaschinen anzuweisen, Entscheidungen über Zugangssperren innerhalb von vier Stunden unter Androhung einer Verwaltungsstrafe zu vollstrecken. Empfindliche Geldstrafen drohen auch, wenn die Internet-Plattformen Benutzerdaten nicht speichern (RSF 1.10.2020). Trotz Bestimmungen zum Schutz persönlicher Rechte ist zu befürchten, dass - vor allem angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz - durch das neue Gesetz die Regierung die Kontrolle über die Medienlandschaft weiter ausbauen und die Möglichkeiten zur Meinungsäußerung reduzieren wird. Kritik in sozialen Medien soll eingeschränkt und die Identität von anonymen Nutzern schnell ausfindig gemacht werden können (ÖB 30.11.2022, S. 34). Bereits einen Monat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen wurden jeweils 10 Millionen Lira (1,17 Mio. US-Dollar) an Bußgeldern gegen Social Media-Giganten wie Facebook, Twitter, Instagram, TikTok und YouTube verhängt, weil sie gegen das Gesetz verstoßen hatten (TM 4.11.2020), gefolgt von einer erneuten Strafe im Ausmaß von 30 Mio. Lira, weil die Firmen immer noch keinen offiziellen Repräsentanten, wie vom Gesetz verlangt, ernannt hatten (BI 11.12.2020).

 

Das sog. "Desinformationsgesetz"

Das türkische Parlament verabschiedete am 13.10.2022 das sogenannte "Desinformationsgesetz". Dieses stellt die Verbreitung "falscher oder irreführender Informationen über die innere und äußere Sicherheit des Landes" unter Strafe. Unter die Regelung fallen auch Nachrichten, "die der öffentlichen Gesundheit schaden, die öffentliche Ordnung stören sowie Angst oder Panik in der Bevölkerung verbreiten könnten". Sowohl akkreditierte Journalisten als auch normale Nutzer von Online-Netzwerken können im Extremfall zu drei Jahre Haft verurteilt werden (DW 14.10.2022; vgl. Guardian 13.10.2022). Das Gesetz richtet sich neben Zeitungen, Radio und Fernsehen vor allem gegen Onlinenetzwerke und Onlinemedien. Sie sind verpflichtet, Nutzer, denen die Verbreitung von Falschnachrichten vorgeworfen wird, an die Behörden zu melden und deren Daten weiterzugeben (ZO 14.10.2022). Das Gesetz verpflichtet auch Messenger-Dienste, wie WhatsApp, dazu, dem Staat Nutzerdaten zur Verfügung zu stellen, wenn die staatliche Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien dies verlangt. Emre Kızılkaya, Leiter des türkischen Zweigs des Internationalen Presseinstituts mit Sitz in Wien, nimmt an, dass dieses Gesetz auch digitale Plattformen wie Google News oder Facebook dazu zwingen wird, der Regierung ihre Algorithmen offenzulegen (Guardian 13.10.2022). Journalistenverbände warnen, der Gesetzentwurf könne zu einem der strengsten Zensur- und Selbstzensurmechanismen in der türkischen Geschichte werden (ZO 14.10.2022). Kritik stammt nicht nur von NGOs, wie Human Rights Watch und Artikel 19, die insbesondere auf die möglichen Auswirkungen auf den Wahlkampf für die anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2023 hinweisen (HRW 14.10.2022; Article 19), sondern bereits im Vorfeld auch von europäischen und internationalen Institutionen. - So zeigte sich die OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, Teresa Ribeiro, besorgt, dass die vagen Definitionen und der breite Anwendungsbereich der (neu vorgeschlagenen) Gesetzgebung zu willkürlichen und politisch motivierten Maßnahmen auf Kosten der Meinungsfreiheit und des Medienpluralismus führen können (OSCE 10.10.2022). Auf dringendes Ersuchen des Monitoring-Ausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) hatte die Venedig-Kommission eine Stellungnahme zu den Änderungsentwürfen des Gesetzes veröffentlicht. Die Venedig-Kommission sah einen Eingriff in das durch Artikel 10 EMRK geschützte Recht auf freie Meinungsäußerung vorliegen und wies darauf hin, dass es alternative, weniger einschneidende Maßnahmen als die strafrechtliche gibt, um das Delikt der Verbreitung von Falschinformationen zu bekämpfen (CoE 10.10.2022).

 

Urteile des Verfassungsgerichts

Klagen gegen Internetzensur vor dem Verfassungsgericht werden meist zugunsten der Kläger entschieden, jedoch fällt das Verfassungsgericht jährlich nur wenige Urteile. Darüber hinaus besteht das Problem darin, dass der vom Verfassungsgericht entwickelte prinzipielle Ansatz im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit von den Friedensrichtern in Strafsachen in deren Rechtssprechung ignoriert wird. Diese verhängen Sperren regelmäßig so, als ob das Verfassungsgericht kein Urteil zu irgendeiner Praxis in dieser Angelegenheit erlassen hätte (IFÖD 10.2021, S.101-104; vgl. LoC 7.1.2022).

Die Generalversammlung des Verfassungsgerichts stellte allerdings am 7.1.2022 fest, dass die Regierung das verfassungsmäßige Recht auf freie Meinungsäußerung und das verfassungsmäßige Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betreffend die Sperrung des Zugangs zu Online-Nachrichten-Webseiten durch untergeordnete Gerichte verletzt hatte. Das Verfassungsgericht konsolidierte neun Fälle, in denen insgesamt 129 URL-Adressen durch Entscheidungen von Friedensrichtern gemäß Artikel 9 des Gesetzes Nr. 5651 gesperrt worden waren. In allen neun Fällen hatten die Richter den Zugang zu den betreffenden Nachrichtenartikeln aufgrund von Beschwerden jener Personen gesperrt, die Gegenstand der Nachrichtenartikel waren und die geltend machten, dass bestimmte Aussagen in den Nachrichtenartikeln ihren Ruf und ihr Ansehen unrechtmäßig schädigten. - Die Problematik des Artikels 9, u. a. von der Venedig Kommission des Europarates beanstandet, liegt darin, dass eine diesbezügliche Sperrung durch den Spruch eines Friedensrichters, zeitlich unbegrenzt und ohne Anhörung, erfolgt, nur auf Einspruch hin von einem anderen Friedensrichter überprüft, jedoch nicht bei höheren Gerichten angefochten werden kann. Der einzige Rechtsbehelf ist eine Individualbeschwerde vor dem Verfassungsgericht (LoC 7.1.2022). In seinem Urteil stellte das Verfassungsgericht nicht nur einen offensichtlichen Eingriff in die durch Artikel 26 und 28 der Verfassung geschützte Meinungs- und Pressefreiheit durch die Sperrung des Zugangs zu den betroffenen Nachrichtenseiten fest, sondern auch die unverhältnismäßige und unbegründete Blockierung der Inhalte auf unbestimmte Zeit sowie die Nicht-Beachtung der verfassungsrechtlichen Grundsätze durch die Vorinstanzen. Außerdem beklagte das Verfassungsgericht den Mangel an Rechtsmitteln. In Anbetracht der Tatsache, so das Verfassungsgericht, dass die Entscheidungen der untergeordneten Gerichte auf das Vorhandensein eines systematischen Problems hinweisen, das unmittelbar durch eine gesetzliche Bestimmung verursacht wurde, ist es offensichtlich, dass das derzeitige System überdacht werden muss, um ähnliche Verstöße zu verhindern. Deshalb wurde seitens des Gerichts ein sogenanntes Pilotverfahren (pilot judgment) beschlossen (CCRT 7.1.2022). - Das Verfahren wird angewandt, wenn das Gericht feststellt, dass die Verletzung eines Grundrechts in einem bestimmten Fall auf ein strukturelles Problem zurückzuführen ist, das bereits zu anderen Anträgen geführt hat und von dem zu erwarten ist, dass es in Zukunft zu weiteren Anträgen führen wird. Wenn das Gericht beschließt, über einen Antrag im Rahmen des Piloturteilsverfahrens zu entscheiden, kann es alle anderen bei ihm anhängigen Verfahren, die dasselbe strukturelle Problem betreffen, aussetzen. Sobald ein Piloturteil ergangen ist, müssen die Verwaltungsbehörden das Urteil in den entsprechenden Anträgen, die bei ihnen eingereicht werden, anwenden, oder bei Fällen, die das Verfassungsgericht erreichen, kann das Gericht die Fälle zusammenfassen und im Einklang mit dem Piloturteil entscheiden (LoC 7.1.2022).

 

Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023

Journalisten, die seit dem schweren Erdbeben vom 6. Februar versuchten, über die Lage vor Ort in der Türkei zu berichten, wurden von den türkischen Behörden wiederholt und auf vielfältige Weise behindert. Zu den beobachteten Verletzungen der Pressefreiheit gehören: physische Gewalt, Verhaftungen, Gerichtsverfahren, verbale Online-Angriffe, etwa durch Internet-Trolle, aber auch Politiker, und Einschränkungen des Zugangs zu Twitter. Journalisten wurden beschuldigt, "die Polizei oder den Staat zu diffamieren". Der Hohe Rundfunkrat (RTÜK) - der von der regierenden AKP und ihrem Koalitionspartner, der MHP, dominiert wird - schlug bereits wenige Stunden nach dem Erdbeben am 6. Februar einen aggressiven Ton an und sprach eine strenge Warnung an kritische Medien aus, welche die zunehmenden Reaktionen und Hilferufe aus den von der Katastrophe betroffenen Regionen in Südostanatolien wiedergaben. Versuche, die Berichterstattung über die Katastrophe und das Verhalten der Behörden zu kontrollieren, wurden laut Reporter ohne Grenzen (RSF) immer deutlicher (RSF 14.2.2023). So wurden laut kritischen Journalisten keine Aufnahmen von bedürftigen Menschen oder frierenden Kindern gezeigt. Etliche Sendungen mit Interviews wurden unterbrochen, als die Befragten Kritik an der Regierung äußerten (FAZ 14.2.2023). Am 22.2.2023 verhängte der RTÜK gegen Fox-TV Bußgelder wegen eines Berichts, wonach die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD verhindert habe, dass Hilfe von Nichtregierungsgruppen die von Erdbeben betroffenen Gebiete erreicht. Zwei weitere unabhängige Sender, Halk TV und TELE1, wurden beide mit einer Geldstrafe belegt und vorübergehend vom Äther genommen (AM 22.2.2023; vgl. Duvar 22.2.2023).

Bereits unmittelbar nach dem Erdbeben verhaftete die türkische Polizei im Zusammenhang mit Beiträgen in sozialen Medien 37 Nutzer. Sie hätten Beiträge geteilt, "mit dem Ziel, Angst und Panik unter der Bevölkerung zu verbreiten", so die Polizei (RND 10.2.2023; vgl. MLSA 9.2.2023). Mitte Februar gab die türkische Generaldirektion für Sicherheit bekannt, 613 Personen identifiziert zu haben, die der Veröffentlichung provokativer Beiträge beschuldigt wurden, und gegen 293 seien rechtliche Schritte eingeleitet worden. Von dieser Gruppe hat der Generalstaatsanwalt die Verhaftung von 78 Personen angeordnet, wobei über 20 von ihnen eine Untersuchungshaft verhängt wurde (Reuters 15.2.2023).

Zwischen dem 6. und 9.2.2023 wurden mindestens vier Journalisten vorübergehend festgenommen, als sie versuchten, vor Ort von den Ereignissen zu berichten, meist unter dem Vorwand keine Dreherlaubnis oder Pressekarte zu besitzen (MLSA 9.2.2023). Zwischenzeitlich war Twitter in der Türkei gesperrt. Oppositionelle warfen der Regierung vor, damit auch Kritik am Krisenmanagement unterdrücken zu wollen (RND 10.2.2023; vgl. MLSA 9.2.2023, NetBlocks 8.2.2023). Überdies wurde am 8.2.2023 der Zugang zu Mediaplattformen im Internet gedrosselt (MLSA 9.2.2023).

 

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Anlässlich der Corona-Krise hat die Regierung versucht, die öffentliche Debatte über das Virus zu kontrollieren. Dies ging so weit, dass Personen wegen kritischer, laut Regierung "grundloser und provokativer" Beiträge in den sozialen Medien verhaftet wurden (AM 24.3.2020) und der RTÜK Bußgelder gegen Medien verhängte, die den Umgang der Regierung mit der Pandemie kritisiert hatten (BS 23.2.2022, S. 11). Zu den Betroffenen gehörten auch Mediziner, die in ihren Beiträgen die Bürger über grundlegende Gesundheitsvorkehrungen informierten, und vor der Unzulänglichkeit staatlich empfohlener Maßnahmen warnten (POMED 17.4.2020). Im Herbst 2020 standen medizinische Vereinigungen, wie die Türkische Ärztekammer (TTB), im Schussfeld der Kritik seitens der Staatsspitze, da sie die Maßnahmen der Regierung zur Bewältigung der Corona-Krise ebenso kritisierten, wie etwa die mangelnde Daten-Transparenz des Gesundheitsministeriums. Mitte Oktober 2020 verlangte Staatspräsident Erdoğan den Einfluss der Ärztekammer und anderer Berufsverbände gesetzlich einzuschränken, da diese seiner Meinung nach in einem unerträglichen Ausmaß gegen die Verfassung handelten. Überdies warf der Staatspräsident der Spitze der Ärztekammer die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor (AM 15.10.2020; vgl. BI 14.10.2020).

 

Quellen:

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 ZO - Zeit Online (14.10.2022): Türkei führt Haftstrafen für Verbreitung von "Falschnachrichten" ein, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-10/tuerkei-parlament-desinformation-gesetz-haftstrafen , Zugriff 19.10.2022

 ZO – Zeit Online (23.6.2020): Türkisches Gericht bestätigt Urteil gegen Oppositionspolitikerin, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/canan-kaftancioglu-tuerkei-oppositionspolitikerin-chp-haststrafe-gericht-bestaetigung-urteil , Zugriff 19.12.2022

 

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Letzte Änderung: 23.06.2023

Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. In der Praxis sind diese Rechte jedoch stark beschränkt. Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung unbewaffnet und gewaltfrei Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind (AA 28.7.2022, S. 8; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 16, 27). Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).

Im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es weitere gravierende Rückschritte angesichts wiederholter Verbote, unverhältnismäßiger Eingriffe und übermäßiger Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Bußgelder und strafrechtlicher Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf terrorismusbezogener Aktivitäten (EC 12.10.2022, S. 7; vgl. EP 7.6.2022, S. 9, Pt. 12). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung stehen nicht im Einklang mit der türkischen Verfassung, den europäischen Standards und den internationalen Konventionen (EC 19.10.2021, S. 5). Infolgedessen haben viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD 7.2020). Beispielsweise wurden, laut einem Bericht der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei - CHP, alleine im April 2022 bei Polizeiinterventionen gegen 45 Demonstrationen 288 Personen festgenommen. Im selben Monat wurden in den kurdisch-dominierten Städten Mardin, Van und Hakkâri, im Südosten des Landes alle Demonstrationen verboten (Duvar 16.5.2022).

 

Polizeiliche Gewalt bei Versammlungen

Auch im Jahr 2022 setzten die Sicherheitskräfte Tränengas und andere gewaltsame Mittel ein, um Demonstranten bei den Aufmärschen zum 1. Mai, den LGBTIQ+-Paraden in Istanbul und Ankara, den Feierlichkeiten zum Frauentag, den Demonstrationen gegen geschlechtsspezifische Gewalt, den Protesten gegen Preiserhöhungen und die steigende Inflation sowie anderen Großveranstaltungen auseinanderzutreiben (FH 10.3.2023, E1; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 35f.). Einige konkrete Beispiele der letzten Monate: Die Polizei setzte in der Provinz Adana im März 2022 Schlagstöcke, Plastikgeschosse und Pfefferspray ein, um die Mitglieder der regierungskritischen, religiösen Furkan-Stiftung von einer friedlichen Demonstration abzuhalten. Hunderte von Mitgliedern der Gruppe hatten sich versammelt, um eine Presseerklärung abzugeben und gegen die fortgesetzte Untersuchungshaft gegen acht Mitglieder zu protestieren (TM 21.3.2022; vgl. Ahval 21.3.2022). Die Türkische Rechtsanwaltskammer (TTB) sah das verfassungsmäßige Versammlungsrecht verletzt und kündigte rechtliche Schritte gegen die beteiligten Polizisten an (Ahval 21.3.2022). Bei Demonstrationen anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz (2022) vermeldeten pro-kurdische Medien, dass die Polizei in Diyarbakır über 650 Personen festgenommen hatte, darunter viele Kinder, wobei es zur Anwendung von Gewalt sowohl bei den Festnahmen als auch in Polizeigewahrsam kam (Medya News 22.3.2022; vgl. Rudaw 22.3.2022). Empfindlich reagieren die Behörden bei Demonstrationen für den sich seit 1999 in Isolation befindlichen Führer der PKK, Abdullah Öcalan. - So wurden Mitte Juni 2022 zahlreiche politische Aktivisten in Istanbul festgenommen, als die Polizei versuchte, einen Marsch zum westtürkischen Hafen Gemlik zu behindern, um gegen die strenge Isolierung Öcalans zu protestieren. Ersten Berichten zufolge wurden etwa 20 Personen festgenommen (Medya News 12.6.2022). Im selben Zusammenhang wurden am 16.6.2022 neun (gemäß einer zweiten Quelle zehn) Personen, darunter Mitglieder und Führungskräfte der HDP, bei Hausdurchsuchungen in Istanbul vorübergehend festgenommen (TİHV 20.6.2022; vgl. TM 16.6.2022). Und in Istanbul gingen Bereitschaftspolizisten mit Pfefferspray gegen Teilnehmerinnen einer Demonstration anlässlich des Internationalen Frauentages 2023 vor (Spiegel 8.3.2023).

 

Versammlungsverbote durch die Gouverneure

Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt, sodass mittlerweile auch friedliche Kundgebungen mit langer Tradition verboten werden. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB 30.11.2022, S. 35; vgl. EC 19.10.2021, S. 16, 37, USDOS 20.3.2023, S. 51). Die Provinzbehörden verbieten regelmäßig Proteste und Versammlungen von regierungskritischen Gruppen (HRW 12.1.2023). Das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz erlaubt es der Verwaltung, Versammlungen und Demonstrationen auf der Grundlage von vagen, ermessensabhängigen und willkürlichen Kriterien zu verbieten (EC 12.10.2022, S. 39).

Auch im Jahr 2022 haben die Gouverneure von Van, Tunceli (Dersim), Mus, Hakkâri und mehreren anderen Provinzen öffentliche Proteste, Demonstrationen, Versammlungen jeglicher Art und selbst die Verteilung von Broschüren verboten. Trotz des Endes des Ausnahmezustandes im Jahr 2018, gilt in den Provinzen Hakkâri, Van, Artvin und Eskişehir weiterhin ein generelles Versammlungsverbot, wobei die Verbote nicht nur öffentliche Versammlungen, Demonstrationen betreffen, sondern auch das Aufstellen von Ständen und die Abgabe von Presseerklärungen. In weiteren 14 Provinzen war die Abhaltung öffentlicher Versammlungen von der Genehmigung des Gouverneurs abhängig. Die Regierung verbietet weiterhin selektiv Demonstrationen, wenn sie regierungskritisch sind oder als politisch heikel gelten (USDOS 20.3.2023, S. 53f.)

In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 28.7.2022, S. 8). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, werden regierungskritische Versammlungen routinemäßig verboten (FH 10.3.2023, E1). Proteste oder Demonstrationen zu Menschenrechten, Umweltrechten sowie politischen und sozio-ökonomischen Rechten wurden in mehreren Provinzen bei den meisten Gelegenheiten verboten, auch Demonstrationen entlassener Beamter. Viele große Versammlungen wurden verboten, darunter die am Friedenstag in Istanbul, am Internationalen Frauentag und am "Tag des Gedenkens an den Völkermord an den Armeniern", der seit 2010 erlaubt war (EC 12.10.2022, S. 39). Nach den vom Justizministerium veröffentlichten offiziellen Zahlen wurden 2020 Ermittlungen gegen 7.704 Personen (2020: 6.770) wegen Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Kundgebungen eingeleitet, während gegen 3.575 (2020: 3.171) dieser Personen Strafanzeige erstattet wurde (İHD 6.11.2022, S. 28; İHD 4.10.2021, S. 28).

Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei, nicht nur gefärbtes Wasser zur späteren Identifikation von Demonstranten anzuwenden, sondern auch Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in "Schutzhaft" zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 20.3.2023, S. 51).

Am 30.4.2021 erließ das Innenministerium ein Verbot der Sprach- und Filmaufnahme von Polizeibeamten während Protesten und Demonstrationen. Verstöße gegen das Verbot sollten künftig strafrechtlich geahndet werden (BAMF 3.5.2021, S. 12; vgl. BI 30.4.2021). Allerdings entschied der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] am 15.12.2021 infolge einer Klage der Media and Law Studies Association (MLSA), dass der Vollzug des Rundschreibens auszusetzen sei, weil dieses die Informations- und Pressefreiheit einschränke. Der Staatsrat wies in seinem Urteil darauf hin, dass Einschränkungen der Grundrechte nur in vom Gesetzgeber vorgesehenen Fällen verhängt werden können. Außerdem verstoße das Rundschreiben gegen Artikel 7 der türkischen Verfassung, nach dem jegliche Handlungen verboten sind, die keine Grundlage in der Verfassung haben, sowie gegen Artikel 13, der die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger schützt (FNS 1.2.2022; vgl. NL-MFA 2.3.2022, S. 18). Im Mai 2022 wies die Verwaltungskammer des Staatsrates letztendlich den Einspruch des Innenministeriums und der Generaldirektion für Sicherheit gegen die Entscheidung des Staatsrates, den Vollzug des Rundschreibens auszusetzen, zurück (MLSA 10.5.2022).

Die extensive Auslegung des unklar formulierten Art. 220 des Strafgesetzbuches hinsichtlich krimineller Vereinigungen durch den Kassationsgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Teilnehmer müssen, auch bei Demonstrationen im Ausland, mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen (AA 28.7.2022).

Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies war das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020, S. 37). In einem weiteren Fall urteile das Verfassungsgericht am 8.9.2021, dass das vom Gouverneursamt verhängte Verbot aller Proteste in der südöstlichen Stadt Kahramanmaraş das verfassungsmäßige Recht der Kläger auf Versammlung und Demonstration verletzt habe. Das Verfassungsgericht ordnete zudem eine Schadensersatzzahlung an jeden der vier Kläger an, welche eine Klage beim Verfassungsgericht einbrachten, nachdem andere Rechtsmittel nicht dazu geführt hatten, dass die Entscheidung des Gouverneursamtes von Kahramanmaraş, alle Proteste in der Stadt für einen Monat zu verbieten und anschließend viermal zu verlängern, aufgehoben wurde (BAMF 13.9.2021, S. 16f; vgl. TM 8.9.2021).

Zum Thema Versammlungsfreiheit siehe auch die Kapitel: Folter und unmenschliche Behandlung, "Frauen" sowie "Sexuelle Minderheiten"

 

Vereinigungsfreiheit

Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte (USDOS 20.3.2023, S. 54).

Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020, S. 15). Diese Gesetzesänderung verpflichtet die Vereine, die lokalen Verwaltungsbehörden innerhalb von 30 Tagen über Änderungen in der Mitgliedschaft zu informieren, sonst drohen Strafen (USDOS 30.3.2021, S. 44).

Gesetze und Verordnungen erlegen Vereinigungen zahlreiche administrative Anforderungen auf. Komplexe Bestimmungen, die unterschiedlich ausgelegt werden können und über verschiedene Rechtsvorschriften verstreut sind, sowie der Mangel an Fachleuten, die sich mit diesem Bereich befassen, führen dazu, dass Vereinigungen in ihrem Bemühen um die Einhaltung der Gesetze in einem Zustand der Unsicherheit verharren. Die Vereinigungen unterliegen der Prüfung durch mehrere Behörden, darunter das Finanzamt, die Nationale Bildungsdirektion, die zuständigen Gouvernements sowie die Direktion für Zivilgesellschaft, zuständig für Vereinigungen im Innenministerium sowie die Generaldirektion für Stiftungen im Kulturministerium (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, S. 26).

Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarates stellte in ihrem 2020 veröffentlichten Bericht zu ihrem Besuch der Türkei 2019 fest, dass die völlige Schließung einer großen Zahl von NGOs sowie die Liquidation ihres Vermögens durch Notverordnungen, und zwar durch eine einfache Entscheidung der Exekutive ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Kontrolle, ein besonderes Vermächtnis des Ausnahmezustands war. Trotz des dringenden Aufrufs bereits des vormaligen Kommissars gleich zu Beginn des Ausnahmezustands, diese Praxis unverzüglich zu beenden, schlossen die Behörden, ohne Erklärung oder Begründung 1.410 Vereine, 109 Stiftungen und 19 Gewerkschaften (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. ICSEM 12.1.2023, S. 9). Laut Abschlussbericht der Berufungskommission zum Ausnahmezustand [türk. OHAL] betrafen mit Jahresende 2022 von 17.960 aller positiven Entscheidungen der Kommission 72 die Wiedereröffnung geschlossener Institutionen, wie Vereinigungen und Stiftungen (ICSEM 12.1.2023, S. 9/ Tab, 26). Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verliefen intransparent und blieben unwirksam (USDOS 20.3.2023, S. 54).

Gewerkschaftsaktivitäten, einschließlich des Streikrechts, sind gesetzlich und in der Praxis eingeschränkt. Gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten der Arbeitgeber sind weit verbreitet, und der gesetzliche Schutz wird nur unzureichend durchgesetzt. Kollektivverhandlungsrechte der Gewerkschaften sind eingeschränkt. Gewerkschaften und Berufsverbände sehen sich mit staatlichen Eingriffen und Vergeltungsmaßnahmen für Aktivitäten konfrontiert, die den Wünschen der Behörden zuwiderlaufen, wie etwa bei der Auflösung eines Streiks im Jahr 2018 ersichtlich, mit dem gegen unsichere Arbeitsbedingungen auf der Baustelle des neuen Istanbuler Flughafens protestiert wurde (FH 10.3.2023, E3). Das Gesetz erlaubt es der Regierung, das Streikrecht in jeder Situation zu untersagen, wenn eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Das Gesetz verlangt von den Gewerkschaften zudem, dass sie ihre Versammlungen oder Kundgebungen, die in offiziell ausgewiesenen Bereichen stattfinden müssen, bei der Regierung anmelden, und erlaubt es Regierungsvertretern, Gewerkschaftsversammlungen beizuwohnen und deren Verlauf aufzuzeichnen (USDOS 20.3.2023, S. 97f.).

Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 20.3.2023, S. 54).

Siehe auch Kapitel: Nichtregierungsorganisationen (NGOs)

 

Quellen:

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 FIDH/ OMCT/ İHD – International Federation for Human Rights/ World Organisation Against Torture/ İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (5.2021): TURKEY PART II - Turkey’s Civil Society on the Line: A Shrinking Space for Freedom of Association, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2021/05/OBS-%C4%B0HD-TURKEY.pdf , Zugriff 3.3.2022

 FNS – Friedrich Naumann Stiftung (1.2.2022): Das türkische Justizsystem: Ein seltener Fall von guten Nachrichten, https://www.freiheit.org/de/tuerkei/das-tuerkische-justizsystem-ein-seltener-fall-von-guten-nachrichten?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter+2021-12-08T17%3A03%3A25%2B01%3A00_Duplikat_Duplikat , Zugriff 23.2.2022

 HDN – Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338 , Zugriff 1.3.2022

 HRW – Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085506.html , Zugriff 19.1.2023ICSEM – The Inquiry Commission on the State of Emergency Measures [Türkei] (31.12.2021b): Activity Report 2021, https://soe.tccb.gov.tr/Docs/SOE_Report_2021.pdf , Zugriff 24.1.2022

 ICSEM – The Inquiry Commission on the State of Emergency Measures [Türkei] (12.1.2023): THE INQUIRY COMMISSION ON THE STATE OF EMERGENCY MEASURES ACTIVITY REPORT (2017 - 2022), https://soe.tccb.gov.tr/Docs/SOE_Report_20172022.pdf , Zugriff 12.5.2023

 İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (6.11.2022): Human Rights Association 2021 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2022/11/SR2022_2021-Turkey-Violations-Report.pdf , Zugriff 22.11.2022

 İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (4.10.2021): Human Rights Association 2020 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2021/10/%C4%B0HD-2020-Violations-Report.pdf , Zugriff 1.3.2022

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 MLSA – Media and Law Studies Association (10.5.2022): The Council of State’s decision to suspend the execution of the circular banning audio-visual recording of protests is finalized, https://www.mlsaturkey.com/en/the-council-of-states-decision-to-suspend-the-execution-of-the-circular-banning-audio-visual-recording-of-protests-is-finalized/ , Zugriff 24.5.2022

 NL-MFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 3.10.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 5.5.2023

 Rudaw (22.3.2022): Hundreds of Kurds arrested in Iran, Turkey during Newroz celebrations, https://www.rudaw.net/english/middleeast/22032022?fbclid=IwAR11yAYHEAYZ1t1EQTpCA0Y4FlJJfwUP93FS0j7znYHnYEUQrPGSdjQ6VYE , Zugriff 29.3.2022

 Spiegel (8.3.2023): Türkische Polizei setzt Pfefferspray gegen Frauentagsdemo ein, https://www.spiegel.de/ausland/tuerkei-polizei-setzt-pfefferspray-gegen-frauentags-demo-ein-a-8915f2b9-df31-478c-a8fd-5b63ee3c54a6 , Zugriff 5.5.2023

 TİHV – Türkiye İnsan Hakları Vakfı/ HRFT - Human Rights Foundation Turkey (20.6.2022): 18 – 20 June 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/18-20-june-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 11.8.2022

 TM – Turkish Minute (16.6.2022): 10 members, executives of pro-Kurdish HDP detained in morning raids in İstanbul, https://www.turkishminute.com/2022/06/16/mbers-executives-of-pro-kurdish-hdp-detained-in-morning-raids-in-istanbul/ , Zugriff 11.8.2022

 TM – Turkish Minute (21.3.2022): Police violence against members of anti-gov’t religious group sparks outrage, https://www.turkishminute.com/2022/03/21/ice-violence-against-members-of-anti-govt-religious-group-sparks-outrage/ , Zugriff 28.3.2022

 TM – Turkish Minute (8.9.2021): Turkey’s top court rules blanket ban violated rights of protestors, https://www.turkishminute.com/2021/09/08/urkeystop-court-rules-blanket-ban-violated-rights-of-protestors/ , Zugriff 1.3.2022

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 5.5.2023

 USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 1.3.2022

 

Opposition

Letzte Änderung: 26.06.2023

Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein. Unter anderem werden die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer und Funktionäre limitiert. Dies geschieht zudem durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt (USDOS 20.3.2023, S. 69). Das Europäische Parlament zeigte sich wie schon im Juli 2021 (EP 8.7.2021; Pt. 1) auch in einer Entschließung vom 7.6.2022 "zutiefst besorgt über die anhaltenden Übergriffe auf die Oppositionsparteien, insbesondere auf die [...] HDP und andere Parteien, einschließlich der [...] CHP, indem etwa Druck auf sie ausgeübt, ihre Auflösung erzwungen und ihre Mitglieder inhaftiert werden, wodurch das ordnungsgemäße Funktionieren des demokratischen Systems untergraben wird" (EP 7.6.2022, S. 16f., Pt. 22).

Während die Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi - HDP) mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind - so werden die Büros der HDP regelmäßig von der Polizei durchsucht und von rechtsextremen Gruppen angegriffen - erleben auch andere Oppositionsführer politisch motivierte Verfolgung und gewalttätige Angriffe (FH 10.3.2023, B1). Die Justiz geht auch weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben (EC 12.10.2022, S. 5; vgl. BI 1.2.2022). Am 4.1.2022 hat das Büro des Parlamentspräsidenten 40 neue Verfahren zur Aufhebung der Immunität von 28 Oppositionsabgeordneten eingeleitet, davon allein 26 HDP-Parlamentarier (einer hiervon aus den Reihen der regionalen Schwesterpartei DBP), inklusive der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan (Duvar 4.1.2022; vgl. HDN 4.1.2022).

 

Vorgehen gegen die CHP und andere Oppositionsparteien (Beispiele)

Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, wurde im September 2019 zu fast zehn Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 3.3.2021), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017 (ZO 23.6.2020; vgl. FH 3.3.2021). Im Dezember 2020 erfolgte eine weitere Anklage wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und wegen des "Lobens einer Straftat und eines Verbrechers" (Duvar 14.12.2020). Am 12.5.2022 bestätigte der Kassationsgerichtshof die Verurteilung in drei Anklagepunkten: "Beleidigung eines Beamten", "Beleidigung des Präsidenten" und "Beleidigung des türkischen Staates". Dies hatte eine Haftstrafe von fast fünf Jahren zur Folge. Die Anklagen wegen Terrorpropaganda und Volksverhetzung wurden fallen gelassen (Ahval 12.5.2022; vgl. BAMF 16.5.2022, S. 12f.). Kaftancıoğlu wurde am 31.5.2022 ins Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul gebracht, jedoch noch am selben Tage wieder freigelassen. Sie wurde jedoch von einer Kandidatur bei den damals anstehenden Wahlen ausgeschlossen (FAZ 1.6.2022; vgl. MEE 31.5.2022). Ende April 2023, schlussendlich, entschied das Strafgericht auf Freispruch, da ihre Äußerungen nicht als "beleidigend" angesehen wurden (Duvar 26.4.2023).

Im November 2022 hat die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara ein Eilverfahren gegen den CHP-Abgeordneten Sezgin Tanrıkulu eingeleitet. Ihm wurde vorgeworfen, "Propaganda für eine terroristische Organisation" gemacht zu haben, weil er sich zu den Vorwürfen geäußert hat, die türkischen Streitkräfte hätten bei ihren Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) chemische Waffen eingesetzt. Laut der Generalstaatsanwaltschaft steht Tanrıkulus Äußerung im Einklang mit den strategischen Zielen der PKK und dem entsprechenden Diskurs und den Aktionen in diesem Zusammenhang (Duvar 7.11.2022).

Mitte Dezember 2022 verurteilte ein Gericht den amtierenden Bürgermeister Istanbuls und CHP-Politiker, Ekrem İmamoğlu, zu zwei Jahren und siebeneinhalb Monaten Gefängnis wegen Beleidigung der Wahlbehörde anlässlich der Lokalwahlen 2019. Die Richter verhängten außerdem ein Politikverbot (HRW 14.12.2022; vgl. Evrensel 14.12.2022). Sowohl die Haftstrafe als auch das Politikverbot müssen vom Kassationsgericht (i.e. oberstes Appellationsgericht) bestätigt werden (Duvar 15.12.2022). Das Berufungsverfahren kann bis zu zwei Jahren dauern (Standard 15.12.2022). Solange das Berufungsverfahren läuft, darf İmamoğlu im Amt bleiben (ZO 15.12.2022; vgl. Standard 15.12.2022). Als Reaktion auf das Urteil demonstrierten Zehntausende in Istanbul vor dem Amtssitz der Stadtregierung (ARD 15.12.2022; vgl. Duvar 15.12.2022). Am 19.1.2022 beantragte die Staatsanwaltschaft vier Jahre Haft für den ehemaligen Abgeordneten der CHP, Eren Erdem, wegen eines Tweets über Präsident Recep Tayyip Erdoğan. In seinem Tweet schrieb Erdem: "Hunger ist gleich RTE" und verwendete die Initialen des Präsidenten (Duvar 20.1.2023).

Das türkische Innenministerium gab am 24.12.2022 bekannt, dass es Strafanzeige gegen die von der CHP-Opposition geführte Stadtverwaltung von Istanbul erstattet hat, nachdem es davon ausgeht, dass 1.668 Mitarbeiter mit Verbindungen zu "terroristischen Organisationen" in der Stadtverwaltung beschäftigt sind. Das Innenministerium hatte bereits seit einem Jahr behauptet, dass Hunderte von Mitarbeitern der Stadtverwaltung im Verdacht stünden, Verbindungen zu "terroristischen Gruppen" zu haben, darunter die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die Revolutionäre Volksbefreiungspartei/Front (DHKP/C) sowie die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) - und sogar Mitglieder der Gülen-Bewegung dort tätig sind (Duvar 25.12.2022; vgl. FH 10.3.2023, B1).

Der Oppositionspolitiker Metin Gürcan, Mitbegründer der oppositionellen Demokratie- und Fortschrittspartei (DEVA), war am 13.5.2022, einen Tag nach seiner Freilassung, wegen Spionagevorwürfen erneut verhaftet worden. Ihm drohten bis zu 35 Jahre Haft. Dem Politiker und Militäranalysten wurde vorgeworfen, mutmaßlich geheime Informationen an ausländische Diplomaten verkauft zu haben (FH 10.3.2023, B1; vgl. BAMF 16.5.2022, S. 12f.).

 

Vorgehen gegen die HDP

Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş, als Terroristen (TM 25.11.2020) und Anfang November 2021 als Marionette der PKK (Ahval 6.11.2021). Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Dazu beigetragen hat, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) geäußert hatten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen, diese systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI 3.2.2020). Auch während des Wahlkampfes 2023 versuchte die Regierung die HDP als politischen Arm der PKK zu inkriminieren (ÖB 30.11.2022, S. 4).

Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 1.10.2019, S. 69). Das Europäische Parlament "fordert[e] die türkischen Staatsorgane auf, davon Abstand zu nehmen, zur Aufwiegelung gegen die HDP weiter anzustacheln" (EP 8.7.2021, Pt. 5).

Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah", stellen nach wie vor, auch unter Berufung auf Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Vertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar. Inzwischen verwendet Daily Sabah durchgehend die Bezeichnung "pro-PKK HDP". - Jüngste Beispiele: So soll laut Daily Sabah Anfang April 2023 ein bei einer Anti-Terror-Operation in der südöstlichen türkischen Provinz Diyarbakır Verhafteter gestanden haben, dass er in der HDP-Zentrale ausgebildet wurde, um sich danach der PKK anzuschließen (DS 3.4.2023). Und anlässlich des Rückzuges der HDP von den Parlamentswahlen 2023 angesichts des laufenden Verbotsverfahrens und Kandidatur ihrer Politiker auf der Liste der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti - YSP) vermeldete Daily Sabah, dass trotz Namensänderung die Ideologie dieselbe geblieben sei, da das Manifest Verbindung zur PKK-Terrorgruppe offenlegen würde. Als Beweis führte die Zeitung die Ankündigung Partei an, wonach im Falle einer Machtübernahme die Anti-Terror-Operationen der Türkei im Irak und in Syrien beendet und der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan auf Bewährung freigelassen zu würde (DS 31.3.2023).

Nicht nur die angebliche Beleidigung des Staatspräsidenten (siehe weiter unten zum Urteil gegen Demirtaş), sondern auch die vermeintliche Herabwürdigung der türkischen Nation führen zur strafrechtlichen Verfolgung von HDP-Führungskadern. So hat die Generalstaatsanwaltschaft Ankara im Dezember 2022 eine Klage gegen elf ehemalige Mitglieder des Zentralen Vorstands der HDP eingereicht, mit der Forderung, dass diese wegen einer Presseerklärung vom 24.4.2021, in der sie den Begriff "Völkermord an den Armeniern" erwähnten, nach Art. 301 des Strafgesetzbuchs - "Beleidigung des Türkentums" - verurteilt werden (Duvar 8.12.2022).

Mehr als 15.000 HDP-Mitglieder wurden seit 2015 inhaftiert und etwa 5.000 befinden sich noch immer in Haft (MedyaNews 3.7.2022; vgl. NL-MFA 2.3.2022, S. 46, AA 28.7.2022, S. 8). Demnach sitzen rund 12 % aller HDP-Mitglieder im Gefängnis, denn laut offiziellen Zahlen des Kassationsgerichtes hatte die HDP mit Stand 4.10.2021 genau 41.022 Mitglieder (NL-MFA 2.3.2022, S. 46f.). Im Dezember 2022 gab die HDP in einem Bericht bekannt, dass in den ersten zehn Monaten des Jahres 2022 mindestens 2.465 Provinz- und Bezirksvorstände und einfache Mitglieder festgenommen wurden, und zwar aufgrund von Pressemitteilungen, Parteiaktivitäten und der Teilnahme an Veranstaltungen zum Frühlingsfest Newroz. Laut Eigenangaben der HDP gingen nicht nur die Verhaftungen, sondern auch die physischen Angriffe weiter. Seit 2015 wurden mindestens 340 physische Angriffe auf Gebäude, Stände, Kundgebungen und Demonstrationen der HDP in den Provinzen und Bezirken sowie auf die für diese Veranstaltungen verantwortlichen Personen verübt (HDP 10.12.2022). Davon abgesehen leben Tausende HDP-Mitglieder im Ausland, darunter Abgeordnete und ehemalige Ko-Bürgermeister, die nach HDP-Angaben vor politisch motivierten Haftbefehlen der AKP-nahen Justiz fliehen mussten (HDP 18.5.2021; vgl. MedyaNews 3.7.2022).

Am Vorabend der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wurden am 25.4.2023, je nach Quelle, bis zu 150 Personen, darunter Dutzende HDP-Mitglieder und hochrangige Funktionäre wie die stellvertretende Co-Vorsitzende Özlem Gündüz, verhaftet. Doch gingen die Behörden auch gegen Anwälte und Zeitungs- sowie Agenturjournalisten vor. Nach HDP-Angaben wurden in 21 Provinzen Razzien im Rahmen einer Untersuchung der Staatsanwaltschaft Diyarbakır durchgeführt. Die Verhafteten wurden verdächtigt, die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu finanzieren, z.B. aus dem Gemeindebudget, oder neue Mitglieder für diese anzuwerben (DW 25.4.2023; vgl. WZ 25.4.2023, HDP 25.4.2023, FAZ 25.4.2023). In einer Aussendung vom 5.5.2023 sprach die HDP davon, dass es am Vorabend zu den Parlamentswahlen innerhalb eines Monats zu mindestens 295 Festnahmen bzw. 61 Verhaftungen von HDP-Mitgliedern kam, darunter auch Funktionäre, wie der stellvertretende HDP-Vorsitzende der Provinz Urfa (Bereits am 4.3.2023) oder der Ko-Vorsitzende des Distrikts Gebze, inklusive vier seiner Parteimitarbeiter (HDP 5.5.2023).

Siehe auch die Kapitel: Haftbedingungen und Kurden; politische Lage

 

Vorgehen gegen einfache HDP-Mitglieder und deren Umfeld

Eine Mitgliedschaft in der HDP allein ist jedoch kein Grund für die Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen. Die Aufnahme von strafrechtlichen Ermittlungen ist immer einzelfallabhängig (AA 28.7.2022, S. 8; vgl. NL-MFA 2.3.2022, S. 47). Die Entscheidung allerdings, welche HDP-Mitglieder verhaftet und inhaftiert werden und welche nicht, wird demzufolge zufällig und willkürlich getroffen. Diese Willkür diene laut Quellen wahrscheinlich dem Zweck, Angst und Unsicherheit zu verbreiten und die Menschen davon abzuhalten, aktiv für die HDP zu arbeiten. Aus vertraulichen Quellen des niederländischen Außenministeriums geht hervor, dass eine Reihe von Umständen und Aktivitäten in der Praxis eine Rolle bei Festnahmen, Inhaftierungen, strafrechtlichen Ermittlungen und Verurteilungen spielen können. Dies bedeutet nicht, dass diese Umstände und Aktivitäten bei allen HDP-Mitgliedern, Mitarbeitern, Aktivisten und/oder Sympathisanten zu persönlichen Problemen mit den türkischen Behörden führen. Faktoren, die zu negativer Aufmerksamkeit seitens der türkischen Behörden führen können (Die Liste ist keineswegs als erschöpfend anzusehen): die HDP-Mitgliedschaft an sich; die Wahlbeobachtungen; die Teilnahme an HDP-Demonstrationen, an HDP-Pressekonferenzen, an HDP-Wahlkampagnen, an HDP-Versammlungen; das Posten und Teilen von Pro-HDP-Posts in sozialen Medien (z. B. das Posten von Bildern des inhaftierten HDP-Vorsitzenden Demirtaş); der Besitz und die Verteilung von HDP-Pamphleten; der Besitz bestimmter Arten von Literatur (z. B. Bücher über "Konföderalismus", d. h., das Streben nach Selbstverwaltung und Autonomie für die Kurden). Zum Vorgehen seitens der türkischen Behörden gehören auch nächtliche, mit unter gewaltsame Razzien am Wohnort (NL-MFA 2.3.2022, S. 47).

Auch Angehörige von HDP-Mitgliedern, die selbst nicht formell der HDP angehören, werden von den türkischen Behörden misstrauisch beäugt, was in Folge zu diversen Problemen führen kann. Zum Beispiel können Angehörigen von HDP-Mitgliedern bestimmte Dienstleistungen verweigert werden, wie zum Beispiel ein Kredit, ein Bankkonto, eine Baugenehmigung oder eine Subvention. Es kann auch vorkommen, dass der Passantrag eines Angehörigen eines HDP-Mitglieds absichtlich verzögert wird, und in einigen Fällen können Angehörige von HDP-Mitgliedern ihren Arbeitsplatz verlieren bzw. keinen bekommen, nur weil ihr Verwandter für die HDP aktiv ist (NL-MFA 2.3.2022, S. 49). Laut dem Direktor einer türkischen Organisation mit Sitz im Vereinigten Königreich sind Angehörige von HDP-Mitgliedern gefährdet, wenn sie sich für das Gerichtsverfahren ihres Verwandten interessieren, sich in den sozialen Medien politisch äußern oder an politischen Kundgebungen teilnehmen. Handelt es sich um ein HDP-Mitglied mit hohem Bekanntheitsgrad, nehmen die Behörden zuerst das schwächste Familienmitglied ins Visier, um dann, wenn nötig, zu einem anderen Familienmitglied überzugehen. Ist das HDP-Mitglied unauffällig, kann versucht werden, einen Verwandten zu zwingen, ein Informant für die Behörden zu werden; weigert er sich, wird er mitunter inhaftiert oder ist physischer Gewalt ausgesetzt. Ein Menschenrechtsanwalt bestätigte das behördliche Vorgehen, wonach Familienmitglieder von Menschen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, ins Visier genommen werden. Und so die Polizei die gesuchte Person nicht findet, nimmt sie ein anderes Familienmitglied mit. Dies war während des Notstands sehr häufig der Fall. Die Familien wurden telefonisch bedroht und ihre Häuser wurden durchsucht (UKHO 1.10.2019, S. 20).

 

Behördliches Vorgehen insbesondere gegen HDP-Parlamentarier

Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Mitglieder der Oppositionsparteien im Parlament, insbesondere der HDP, wegen angeblicher terroristischer Straftaten vor, was den politischen Pluralismus untergräbt. Das parlamentarische Immunitätssystem bietet laut Europäischer Kommission keinen angemessenen Rechtsschutz, der es den oppositionellen Parlamentariern ermöglicht, ihre Position im Rahmen der Meinungsfreiheit zu äußern. Der Antrag des Justizministeriums auf Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 20 oppositionellen Abgeordneten aus sechs verschiedenen Parteien ist anhängig (Stand Oktober 2022). Ein HDP-Politiker erhielt im Juli 2021 seinen Status als Abgeordneter zurück, nachdem das Verfassungsgericht entschieden hatte, dass seine Rechte verletzt worden waren. Die Immunität eines anderen HDP-Parlamentariers wurde jedoch im März 2022 vom Parlament aufgehoben. Vier weiteren Oppositionsabgeordneten wurde die parlamentarische Immunität entzogen und sie wurden während der laufenden Legislaturperiode wegen Terrorismusvorwürfen inhaftiert (EC 12.10.2022, S. 13).

Seit der Verfassungsänderung vom 20.5.2016, welche die vollständige Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Abgeordneten ermöglichte, wurden mehr als 600 Anklagen gegen Parlamentarier der HDP erhoben. Anklagen erfolgen wegen terrorismusbezogener Taten, Verleumdung des Präsidenten, der Regierung oder des Staates. Seit 2018 wurden mehr als 30 Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu Freiheitsstrafen verurteilt. Elf aktuelle und ehemalige HDP-Parlamentarier befanden sich - Stand Mitte Oktober 2022 - im Gefängnis, darunter die ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (IPU 15.10.2022, S. 37). Die Anzahl der inhaftierten hat sich durch die Entlassung von zwei ehemaligen HDP-Abgeordneten verringert. - Mitte Oktober 2022 wurd Gülser Yıldırım entlassen. Sie war am 4.11.2016 verhaftet und wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Gemäß Gesetz (Nr. 7242) hätte sie nach Zwei-Drittel der Strafverbüßung entlassen werden sollen, doch wurde sie erst vier Monaten später enthaftet (TM 18.10.2022; vgl. Bianet 18.10.2022). Anfang April 2023 wurde der ehemalige HDP-Abgeordnete İdris Baluken nach fast sieben Jahren Haft wegen Terrorismus-Unterstützung freigelassen. Baluken war am 4.11.2016 festgenommen und inhaftiert worden (Duvar 5.4.2023; vgl. NTV 5.4.2023). Andererseits verurteilte das Gericht in Diyarbakır im Oktober 2022 die ehemalige Parlamentarierin, Leyla Güven, die bereits 2018 festgenommen und 2020 nach Entzug ihrer parlamentarischen Immunität verurteilt wurde, zu elf Jahren und sieben Monaten Gefängnis wegen terroristischer Propaganda für die PKK in einem halben Dutzend Reden, die sie als Abgeordnete der HDP zwischen 2015 und 2019 gehalten hatte. In Summe büßt die 58-Jährige eine 22-jährige Gefängnisstrafe wegen zweier getrennter Delikte ab (Ahval 17.10.2022).

 

HDP-Parlamentarier sind auch von physischen Übergriffen durch die Polizei nicht ausgenommen. - Am 9.10.2022 demonstrierten die HDP und einige Verbände in verschiedenen Provinzen gegen die Isolation des inhaftierten Führers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan. Die Demonstranten sahen sich mit harter Polizeigewalt konfrontiert, wobei es zu mehreren Festnahmen kam und dem Abgeordneten Habip Eksik hierbei ein Bein gebrochen wurde. Die Polizei verteidigend gab das Büro des Gouverneurs von Hakkari später eine Erklärung ab, wonach Eksik sich auf den Boden geworfen habe, um den Eindruck zu erwecken, dass die Polizei übermäßige Gewalt angewendet hätte (Duvar 10.10.2022; vgl. Ahval 10.10.2022).

Ein Prozessbeobachter der Interparlamentarischen Union (IPU) kam bereits 2018 zu dem Schluss, dass die Aussichten auf faire Gerichtsverfahren für die HDP-Abgeordneten Yüksekdağ und Demirtaş gering seien und dass der politische Charakter beider Verfahren offensichtlich sei. Eine ebenfalls 2018 von der IPU durchgeführte Überprüfung von zwölf Gerichtsurteilen gegen HDP-Mitglieder kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen, unter anderem, dass die Justiz in der Türkei - von den erstinstanzlichen Gerichten bis hin zum Verfassungsgericht - die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und das Grundsatzurteil des türkischen Verfassungsgerichts in Bezug auf die Meinungsfreiheit bei der Bewertung, ob eine Äußerung eine Aufstachelung zur Gewalt oder eine der anderen Straftaten darstellt, derer die Parlamentsabgeordneten angeklagt waren, völlig außer Acht gelassen hätte (IPU 15.10.2022, S. 38).

 

Behördliches Vorgehen gegen gewählte HDP-Mandatare auf lokaler Ebene

Die Regierung suspendierte demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen. Diese wurden durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses Vorgehen richtet sich am häufigsten gegen Politiker und Politikerinnen der HDP und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP). Die Regierung hat 81 % der HDP-Bürgermeister, die bei den Lokalwahlen 2019 gewählt wurden, suspendiert und seit 2016 88 % der gewählten HDP-Amtsinhaber entfernt (USDOS 20.3.2023, S. 73). Laut Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister (zusammengerechnet in den beiden Perioden nach den Lokalwahlen 2014 und 2019), fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020). 48 HDP-Bürgermeister wurden seit den letzten Lokalwahlen 2019 wegen angeblicher terrorismusbezogener Aktivitäten ihres Amtes enthoben (EC 12.10.2022, S. 14; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 21). - Außerdem wurde ein Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung abberufen (EC 12.10.2022, S. 14). - Von 48 suspendierten Bürgermeistern wurden 39 arretiert (USDOS 20.3.2023, S. 21).

Bei den letzten Lokalwahlen Ende März 2019 wurden im ersten Fall HDP-Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl zunächst als gültig erklärt worden war (CoE 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 28.7.2022, S. 7f.). Diesbezüglich wurden keine Maßnahmen ergriffen, trotz der Kritik der Venedig-Kommission des Europarates vom Juni 2020 an der Entscheidung Kandidaten der HDP, die bei den Kommunalwahlen im März 2019 in sechs Gemeinden die meisten Stimmen erhalten hatten, das Bürgermeisteramt zu verweigern und stattdessen die zweitplatzierten AKP-Kandidaten damit zu betrauen (EC 12.10.2022, S. 12). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismus-bedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE 19.6.2020; vgl. AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019). Sechs HDP-Bürgermeister durften demnach ihr Amt nach den Wahlen 2019 nicht antreten (USDOS 20.3.2023, S. 21).

Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vgl. DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt (Bianet 9.3.2020), ehe er Ende September 2021 vom Vorwurf der "Propaganda für eine Terrororganisation" freigesprochen wurde (Bianet 30.9.2021). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer groß angelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in Mardin, Van, Diyarbakır und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakır gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppeln vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AM 21.1.2020). Fälle polizeilicher Gewaltanwendung gegenüber Mitgliedern und Funktionären der HDP kommen weiterhin vor. So griff die Polizei in die von der HDP und dem Demokratischen Volkskongress (HDK) organisierte Presseerklärung am 18.4.2022 im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu zum bevorstehenden 1. Mai ein und nahm 26 Personen, darunter die Ko-Vorsitzende der HDP und die Ko-Sprecher des HDK, unter Anwendung körperlicher Gewalt fest (Die festgenommenen Personen wurden noch am selben Tag wieder freigelassen). Zudem wandte die Polizei körperliche Gewalt gegenüber Journalisten an, um diese zu vertreiben (TİHV 19.4.2022).

In Folge setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDP-Bürgermeistern ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (ZO 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP Mitte Mai 2020 wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt (Duvar 19.5.2020). Im Juli 2020 wurden mehr als 50 Personen in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, wurden Verbindungen zur PKK vorgeworfen (AM 14.7.2020). Am 26.1.2023 fand vor dem Schweren Strafgericht Nr. 2 in Hakkâri die letzte Verhandlung im Fall von Cihan Karaman, dem HDP-Bürgermeister von Hakkâri, der durch einen Treuhänder ersetzt wurde, statt. Das Gericht verurteilte Cihan Karaman wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu einer Haftstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten (TİHV 26.1.2023; vgl. Sabah 26.1.2023).

 

Der Kobanê-Massenprozess

Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobanê einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobanê zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet (FAZ 27.9.2020; vgl. HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellt), im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten von 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vgl. SDZ 7.1.2021). Ende Februar 2022 fand die zehnte Anhörung statt (Bianet 28.2.2022). Am 12.4.2022 ordneten die Behörden die Verhaftung von weiteren 91 Personen im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten an, darunter auch Mitglieder der HDP. Sie wurden beschuldigt an der finanziellen Organisierung der Vorfälle beteiligt gewesen zu sein und den Familien von toten oder verletzten PKK-Mitgliedern finanzielle Unterstützung zukommen gelassen zu haben (BI 12.4.2022; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 22).

 

Aktuelle Beispiele für Verhaftungen und Verurteilungen von HDP-Funktionären und einfachen HDP-Mitgliedern

Mitte Februar 2021 wurden als Reaktion auf die vermeintliche Exekution von 13 PKK-Geiseln während einer Operation der türkischen Armee im Nordirak über 700, darunter führende Vertreter der HDP festgenommen (DW 15.2.2021; vgl. Duvar 15.2.2021). Laut Angaben der HDP wurden mindestens 139 ihrer Funktionäre und Mitglieder in diversen Provinzen verhaftet (HDP 17.2.2021). Vertreter der Regierung stellten hierbei die HDP als Unterstützerin der PKK dar (National 15.2.2021). Im Februar 2021 wurde die 2019 aus ihrem Amt enthobene Ko-Bürgermeisterin von Sur in der Provinz Diyarbakır, Filiz Buluttekin, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt (Ahval 22.2.2021). Die EU zeigte sich in einer Stellungnahme vom 23.2.2021 zutiefst besorgt ob des anhaltenden Drucks gegen die HDP und mehrere ihrer Mitglieder, der sich in letzter Zeit in Form von Verhaftungen, dem Ersetzen gewählter Bürgermeister, offensichtlich politisch motivierten Gerichtsverfahren und dem Versuch der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Großen Nationalversammlung manifestiert hat. Hinzukommt die Weigerung, dem Urteil des EGMR zur Freilassung von Selahattin Demirtaş nachzukommen (EU 23.2.2021). Nichtsdestotrotz verurteilte ein Strafgericht in Van im Oktober 2021 den ehemaligen kurdischen HDP-Bürgermeister des Bezirks Özalp, Yakup Almaç, wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis (WKI 12.10.2021; vgl. KN 12.10.2021). Im Dezember 2021 wurden laut dem HDP-Bürgermeister von Cizre zwölf HDP-Mitglieder bzw. -Anhänger bei einer Polizeiaktion in Cizre und Silopi (Provinz Şırnak) im Südosten des Landes verhaftet (Rudaw 11.12.2021). In diesem Zusammenhang soll es laut Angaben des HDP-Parlamentsabgeordneten, Hüseyin Kaçmaz, zu vermehrten Festnahmen gekommen sein. Laut Berichten pro-kurdischer Medien sollen innerhalb von drei Monaten bis Jänner 2022 in der Provinz Şırnak 160 HDP-Anhänger festgenommenen und hiervon 67 inhaftiert (bzw. 93 wieder freigelassen) worden sein, und zwar meist auf der Basis anonymer Anzeigen meist im Vorfeld von lokalen HDP-Kongressen (Mezopotamya 21.1.2022). Am 19.5.2022 wurden 13 Personen, darunter HDP-Führungskräfte und Mitglieder der HDP-Jugendorganisation, bei Hausdurchsuchungen in Diyarbakır festgenommen. Zehn von ihnen wurden per Gerichtsentscheid inhaftiert, die restlichen bedingt freigelassen (TİHV 23.5.2022). Anfang Juni erließ die Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen 42 Personen im Umfeld der HDP, darunter befanden sich u.a. die HDP-Provinzchefs von Istanbul, Bingöl und Edirne (Duvar 3.6.2022). Mitte desselben Monats wurden im Zuge einer Polizeirazzia zehn Mitglieder der HDP in Istanbul festgenommen (Ahval 16.6.2022). In der zweiten Dezember-Hälfte 2022 führte die Polizei eine Razzia in der Zentrale der DBP [der auf lokaler Ebene agierenden Schwesterpartei der HDP] in Ankara, in deren Informationsbüro in Diyarbakır und in ihren Büros in Ağrı, Antep, Batman, Mardin, Urfa, Şırnak und Van durch (TİHV 23.12.2022; vgl. HDP 28.12.2022). Bei den Razzien wurden laut Angaben der HDP Parteibücher und zahlreiche andere Dokumente beschlagnahmt. Nach den Razzien wurden 15 Parteimitglieder und Führungskräfte, darunter der Ko-Vorsitzende der DBP, Keskin Bayındır, festgenommen. Nach viertägiger Haft wurden der Ko-Vorsitzende Bayindir und der Ko-Vorsitzende des DBP-Büros in Diyarbakir, Hayrettin Altun, ins Gefängnis gebracht (HDP 28.12.2022; vgl. TİHV 23.12.2022).

 

 

Aktuelle Beispiele für Entscheidungen des Europäische Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und des türkischen Verfassungsgerichts

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität vor Strafverfolgung aufgehoben hatte. Der Beschluss zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 40 Abgeordneten der HDP (im Mai 2016), darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, verstößt laut EGMR gegen die türkische Verfassung (BI 1.2.2022; vgl. Evrensel 2.2.2022). Schon zuvor verlangte das Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 die unverzügliche Freilassung von Demirtaş (CoE-CM 2.12.2021). Nach 2021 forderte auch das Europäische Parlament (EP) im Juni 2022 neuerlich auf Basis des EGMR-Urteils das Fallenlassen aller Anklagepunkte und die sofortige Freilassung sowohl von Demirtaş als auch von Yüksekdağ sowie auch anderer HDP-Mitglieder, die sich seit November 2016 in Haft befinden (EP 7.6.2022, S. 16, Pt. 23, EP 19.5.2021, S. 13, Pt. 33). Zudem verurteilte das EP die Entscheidung des 46. Strafgerichtshofs erster Instanz in Istanbul, Selahattin Demirtaş zur maximalen Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren für die angebliche Beleidigung des Präsidenten zu bestrafen (EP 19.5.2021, S. 13, Pt. 33). Dieses Urteil wurde im Februar 2022 durch ein Gericht in Istanbul bekräftigt (Duvar 21.2.2022).

Am 14.9.2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der unrechtmäßigen Amtsenthebung und Inhaftierung des Bürgermeisters von Siirt, Tuncer Bakırhan, zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 10.000 EUR und einer Aufwandsentschädigung von 3.000 EUR. Das Gericht erklärte die Amtsenthebung und Verhaftung im November 2016 sei unverhältnismäßig gewesen und eine Verletzung seiner Freiheit (Art. 5 EMRK) und seines Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK). Bakırhan, ein Mitglied der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), der Vorgängerin der HDP, wurde beschuldigt, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzugehören, und saß zwei Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft. Im Oktober 2019 wurde er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt (ECHR 14.9.2021; vgl. BAMF 20.9.2021, S. 14f.).

Am 22.3.2022 wies das Verfassungsgericht den Antrag der HDP-Abgeordneten Semra Güzel ab, die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität wegen Terrorvorwürfen rückgängig zu machen. Güzel wurde wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in zwei Fällen angeklagt, nachdem Fotos in den Medien erschienen waren, auf denen sie mit einem PKK-Mitglied mutmaßlich in einem Lager der Gruppe posierte (BAMF 28.3.2022, S. 9; vgl. Ahval 24.3.2022). Anfang September 2022 wurde Güzel laut Innenminister Soylu mit einem gefälschten Pass auf dem Weg nach Griechenland gemeinsam mit einem Schlepper verhaftet (Duvar 2.9.2022). Anfang Oktober 2022 forderte die Staatsanwaltschaft 15 Jahre Haft für Güzel (HDN 1.10.2022). Der 75-jährige, ehemalige Abgeordnete der HDP, Halil Aksoy, wurde in einem Fall, in dem er vor 13 Jahren freigesprochen worden war, am 26.4.2022 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Entgegen dem damaligen Freispruch verurteilte dasselbe 11. Hohe Strafgericht Gericht in Istanbul Aksoy wegen Propaganda für eine terroristische Organisation. Das Gericht lehnte auch einen Aufschub seiner Strafe ab (Mezopotamya 27.4.2022). Entlassen hingegen wurde nach fünf Jahren Anfang Jänner 2022 der ehemalige HDP-Abgeordnete Abdullah Zeydan, nachdem das Oberste Berufungsgericht die Haftstrafe von acht Jahren und 45 Tagen wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Verbreitung terroristischer Propaganda aufgehoben hatte (BAMF 10.1.2022, S. 15; vgl. Ahval 6.1.2022).

Der EGMR entschied am 8.11.2022, dass die Türkei die Rechte von 13 ehemaligen Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie 2016, bzw. in einem Fall 2017, wegen Verbindungen zur verbotenen PKK in Untersuchungshaft genommen wurden, um den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Der EGMR entschied, dass die Untersuchungshaft der Antragsteller willkürlich und mit dem innerstaatlichen Recht unvereinbar sei, da die Betroffenen Anspruch auf parlamentarische Immunität hätten. Das Straßburger Gericht entschied auch, dass es keine Beweise gab, die den Verdacht begründeten, dass sie eine Straftat begangen hatten, die ihre Inhaftierung rechtfertigte. Der EGMR ordnete die Freilassung jener zwei noch in Haft Verbliebenen, nämlich von İdris Baluken und Figen Yüksekdağ, der ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, an (SCF 9.11.2022; vgl. Bianet 8.11.2022, ECHR 8.11.2022).

Siehe auch das Kapitel: Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

 

Verbotsverfahren gegen die HDP

Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichts, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex-officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB 18.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). Der amtierende Generalstaatsanwalt wurde erst 2020 von Staatspräsident Erdoğan ernannt (SWP 10.6.2021; S. 3). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u. a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Kandil-Bergen im Nordirak ansässige PKK-Führung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDP-Mitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AM 9.4.2021). Der Generalstaatsanwalt beantragte den Ausschluss von jeglicher staatlicher finanzieller Unterstützung (DS 18.3.2021) und die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus forderte er ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDP-Mitglieder. Darunter befinden sich Abgeordnete und Mitglieder des Vorstands (DW 20.3.2021; vgl. Duvar 18.3.2021).

In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (Reuters 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB 18.3.2021). Die EU erklärte, dass die Schließung der zweitgrößten Oppositionspartei die Rechte von Millionen von Wählern in der Türkei verletzen würde. Zudem verstärke dies die Besorgnis der EU über den Rückschritt bei den Grundrechten in der Türkei und untergrübe die Glaubwürdigkeit des erklärten Engagements der türkischen Behörden für Reformen (EU 18.3.2021).

Nachdem das Verfassungsgericht am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (ZO 31.3.2021; vgl. AM 9.4.2021) verwiesen hatte, erfolgte am 7.6.2021 ein neuer Antrag zwecks Verbot der HDP, der Konfiszierung der Bankkonten der Partei sowie zwecks eines Politikverbots für mehrere Hundert Mitglieder der HDP (FAZ 8.6.2021; vgl. Duvar 7.6.2021). Die 843-seitige Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes forderte, dass nunmehr 451 Personen aus der Politik verbannt werden. Außerdem sind 69 HDP-Mitglieder wegen ihrer vermeintlichen Pro-Terror-Aussagen in der Anklageschrift namentlich aufgeführt (HDN 10.6.2021). Am 21.6.2021 nahm das Verfassungsgericht einstimmig die Anklage an, ohne jedoch dem Begehr der Generalstaatsanwaltschaft nach Schließung der HDP-Parteikonten nachzukommen (Duvar 21.6.2021). Wie bereits im Juli 2021 (EP 8.7.2021, Pt. 2) verurteilte das Europäische Parlament "aufs Schärfste die vom Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts der Türkei eingereichte und vom Verfassungsgericht der Türkei im Juni 2021 einstimmig angenommene Anklageschrift, mit der die Auflösung der Partei HDP und der Ausschluss von 451 Personen vom politischen Leben, darunter die meisten derzeitigen Mitglieder der Führungsebene der HDP, angestrebt werden und durch die die betroffenen Personen daran gehindert werden, in den nächsten fünf Jahren irgendeiner politischen Tätigkeit nachzugehen" (EP 7.6.2022, S. 16, Pt. 23).

Für ein Verbot der HDP ist eine Zweidrittelmehrheit der 15 Richter erforderlich (FAZ 8.6.2021; vgl. 247NewsBulletin 16.2.2022). Das Gericht kann je nach Schwere der Verstöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen. Im zweiten Fall kann es anordnen, die Unterstützung im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung teilweise oder vollständig zu versagen. Funktionären, wie in der Anklageschrift angestrebt, darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich politisch zu betätigen (SWP 10.6.2021, S. 4). Am 5.1.2023 sperrte das türkische Verfassungsgericht die Bankkonten der (HDP) zunächst vorübergehend für 30 Tage (DW 6.1.2023), um am 9.3.2023 die Blockade der Konten wieder aufzuheben (Tagesspiegel 9.3.2023). Der Vorsitzende der ultranationalistische MHP, Devlet Bahçeli, Partner der regierenden AKP, bezeichnete daraufhin das Verfassungsgericht als "Hinterhof der separatistischen Terrororganisation", welcher "nicht das Gericht der türkischen Nation" sei (Duvar 11.3.2023). Laut staatlichem Fernsehen TRT sollte die HDP 27 Millionen Euro an staatlicher Parteienförderung für den Wahlkampf bekommen (DTJ 6.1.2023).

Das Verfassungsgericht verkündete Ende Jänner, dass es den Antrag der HDP auf Verschiebung des Verbotsverfahrens gegen die Partei abgelehnt habe und dass das Verfahren wie geplant fortgesetzt werde (HDN 26.1.2023). In einer für den 11.4.2023 anberaumten Anhörung machte die HDP von ihrem Recht auf eine Stellungnahme vor dem Verfassungsgericht keinen Gebrauch, da sie den Fall als politisch motiviert bezeichnete. Es gibt keine Frist für eine Entscheidung des Gerichts (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S. 4/FN 4).

 

Gewaltakte nicht-staatlicher Akteure gegen die HDP und ihre Vertreter

In Izmir hat ein Angreifer Mitte Juni 2021 ein Büro der Oppositionspartei HDP gestürmt und dabei eine Mitarbeiterin erschossen. Zur Tatzeit hätten sich eigentlich 40 Politiker darin befinden sollen. Der HDP-Ko-Vorsitzende Mithat Sancar sah auch die Regierung in der Verantwortung, weil diese durch ihre Daueranschuldigungen, wonach die HDP ein nationales Sicherheitsrisiko und verlängerter Arm der PKK sei, die Stimmung angeheizt hätte (AM 17.6.2021, vgl. ZO 17.6.2021). Am 14.7.2021 verübte ein später festgenommener Täter in der Stadt Marmaris mit einem Schrotgewehr einen Anschlag auf das HDP-Büro. Der Täter hatte 2018 schon einmal das HDP-Büro angegriffen (Bianet 14.7.2021; vgl. AsiaNews 15.7.2021). In Istanbul hat ein bewaffneter Mann Ende Dezember 2021 ein HDP-Büro angegriffen. Dabei seien laut HDP zwei Mitglieder der Partei verletzt worden. Der Angreifer wurde festgenommen (ZO 28.12.2021; vgl. Bianet 28.12.2021). Nicht identifizierte Personen verübten im Februar 2022 einen Angriff mit einem Molotowcocktail auf das Gebäude der HDP-Bezirksorganisation Yüreğir in Adana (Duvar 17.2.2022; Bianet 17.2.2022). Am 27.3.2022 gab es einen bewaffneten Angriff auf das Büro der HDP im Bezirk Erdemli in Mersin von einer oder mehreren unbekannten Personen, der Sachschaden im Büro verursachte (TİHV 28.3.2022). Am 17.4.2022 wurde von Unbekannten ein Anschlag auf das HDP-Büro im Bezirk Çukurova in Adana verübt, bei dem Sachschaden entstand (TİHV 18.4.2022). Mitunter kommt es zu physischen Attacken auf Vertreter und Vertreterinnen der HDP. So wurde im September 2021 die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları in Ankara angegriffen, als zwei Männer sich als "Zivilpolizisten" ausgaben und versuchten, in ihr Haus einzubrechen. In einer Pressekonferenz sagte Hatimoğulları, die Staatsanwaltschaft habe ihren Fall vor Gericht nicht anerkannt (WKI 28.9.2021).

 

Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023

Angesichts der Folgen des Erdbebens im Februar 2023 wurden von der Opposition entsandte Busse mit Hilfslieferungen gestoppt und erst in die Städte gelassen, nachdem sie mit Plakaten der staatlichen Präfekturen überklebt (FAZ 14.2.2023) oder deren LKWs mit Bannern der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD versehen worden waren (DW 17.2.2023). Die Opposition wurde diffamiert und an der Arbeit gehindert. So wurde etwa die Krisenzentrale der HDP im Epizentrum unter Zwangsverwaltung gestellt (DW 17.2.2023). Der zuständige Bezirksgouverneur von Pazarcık, Mustafa Hamit Kıyıcı, beschlagnahmte zusammen mit der Gendarmerie das HDP-Verteilungszentrum für Hilfsgüter mit dem Argument, wonach die staatliche Autorität gelten müsse (Duvar 16.2.2023), und die Verteilung durch die staatliche AFAD zu erfolgen habe (TM 16.2.2023). Laut der Ko-Vorsitzenden der HDP, Pervin Buldan, wurde Volontären überdies mit der Verhaftung gedroht (Duvar 16.2.2023).

 

Quellen:

 247NewsBulletin (16.2.2022): New development in the HDP closure case: additional delay from AYM, https://247newsbulletin.com/politics/123510.html , Zugriff 18.2.2022

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 26.8.2022

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 2.3.2022

 Ahval (17.10.2022): Jailed Kurdish politician sentenced to 11 more years on terror charges, https://ahvalnews.com/leyla-guven/jailed-kurdish-politician-sentenced-11-more-years-terror-charges , Zugriff 8.11.2022

 Ahval (10.10.2022): Turkish governor's office says Kurdish MP injured by police staged attack, https://ahvalnews.com/hdp/turkish-governors-office-says-kurdish-mp-injured-police-staged-attack , Zugriff 8.11.2022

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 HDP - People's Democratic Party (18.5.2021): Systematic Oppression as the Basis for Erdogan’s ‘New Turkey’, https://hdpeurope.eu/2021/05/systematic-oppression-as-the-basis-for-erdogans-new-turkey/ , Zugriff 2.3.2022

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 Tagesspiegel (9.3.2023): Pro-kurdische Oppositionspartei erhält doch Geld: Türkisches Verfassungsgericht hebt Blockade von HDP-Parteikonten auf,

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 TM – Turkish Minute (15.10.2022): Former HDP MP released from prison 4 months after completion of sentence, https://www.turkishminute.com/2022/10/18/from-prison-4-months-after-completion-of-sentence/ , Zugriff 28.10.2022

 TM – Turkish Minute (25.11.2020): Erdoğan calls Demirtaş a 'terrorist', denies existence of a Kurdish problem in Turkey, https://www.turkishminute.com/2020/11/25/erdogan-calls-demirtas-a-terrorist-denies-existence-of-a-kurdish-problem-in-turkey/ , Zugriff 2.3.2022

 TM – Turkish Minute (26.11.2020): Turkey has removed 151 mayors on 'terror charges' since 2014: Interior Ministry, https://www.turkishminute.com/2020/11/26/turkey-has-removed-151-mayors-on-terror-charges-since-2014-interior-ministry/ , Zugriff 2.3.2022

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 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 24.5.2023

 WZ - Wiener Zeitung (25.4.2023): Neue Verhaftungswelle in der Türkei, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2186365-Neue-Verhaftungswelle-in-der-Tuerkei.html , Zugriff 25.5.2023

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 WKI – Washington Kurdish Institute (28.9.2021): Kurdistan’s Weekly Brief September 28, 2021 – Turkey, https://dckurd.org/2021/09/28/kurdistans-weekly-brief-september-28-2021/ , Zugriff 25.3.2022

 ZO – Zeit Online (15.12.2022): Erdoğans schärfster Gegner, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-12/ekrem-imamoglu-buergermeister-istanbul-recep-tayyip-erdogan , Zugriff 16.12.2022

 ZO – Zeit Online (17.6.2021): Eine Tote bei Angriff auf Büro der pro-kurdischen HDP, https://www.zeit.de/politik/2021-06/tuerkei-hdp-kurdisch-oppositionspartei-angriff-tote , Zugriff 25.3.2022

 ZO – Zeit Online (31.3.2021): Türkei: Verfassungsgericht gibt HDP-Verbotsklage zurück, https://www.zeit.de/news/2021-03/31/tuerkei-verfassungsgericht-gibt-hdp-verbotsklage-zurueck , Zugriff 2.3.2022

 ZO - Zeit Online (28.12.2021): Zwei Verletzte bei Angriff auf Büro der HDP in Istanbul, https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-12/tuerkei-istanbul-hdp-buero-angriff , Zugriff 25.3.2022

 ZO – Zeit Online (23.6.2020): Türkisches Gericht bestätigt Urteil gegen Oppositionspolitikerin, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/canan-kaftancioglu-tuerkei-oppositionspolitikerin-chp-haststrafe-gericht-bestaetigung-urteil , Zugriff 2.3.2022

 ZO – Zeit Online (24.3.2020): Acht Bürgermeister der prokurdischen HDP abgesetzt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/tuerkei-buergermeister-hdp-pro-kurdisch-terrorvorwuerfe-razzien , Zugriff 2.3.2022

 ZO – Zeit Online (19.8.2019): Recep Tayyip Erdoğan setzt drei prokurdische Bürgermeister ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/tuerkei-buergermeister-hdp-amtsenthebung-kurden-opposition , Zugriff 2.3.2022

 

Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland

Letzte Änderung: 26.06.2023

Der UN-Menschenrechtsrat veröffentlichte Mitte September 2020 einen Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien, wonach letztere Informationen erhielt, die darauf hindeuten, dass syrische Staatsangehörige, darunter auch Frauen, die von der (pro-türkischen) Syrischen Nationalarmee (SNA) in der Region Ra's al-'Ayn festgenommen wurden, anschließend von türkischen Streitkräften in die Türkei überstellt, und dort nach türkischem Strafrecht wegen vermeintlicher Verbrechen in der syrischen Region Ra's al-'Ayn angeklagt wurden, unter anderem wegen Mordes oder der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Kommission stellte ferner fest, dass die Überstellung von Syrern, die von der SNA inhaftiert wurden, auf türkisches Hoheitsgebiet dem Kriegsverbrechen der unrechtmäßigen Deportation geschützter Personen gleichkommen kann (UN-HRC 14.8.2020). Sowohl Araber als auch Kurden wurden zwischen Oktober und Dezember 2019 im Nordosten Syriens festgenommen, nachdem die Türkei nach ihrem Einmarsch in Nordsyrien die effektive Kontrolle über das Gebiet übernommen hatte (HRW 3.2.2021). Die Verhaftungen erfolgten hauptsächlich in den Vororten von Tell Abiad und Ra's al-'Ayn. Bei den Betroffenen handelte es sich auch um Personen, die für die Institutionen der Autonomieverwaltung arbeiteten, und andere, die keinerlei militärische oder politische Verbindungen zu dieser hatten. Unter den in die Türkei Überstellten befanden sich auch Kämpfer der Volksschutzeinheiten (YPG) und der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (SfDJ 10.7.2020; vgl AM 14.5.2020). Die Gefangenen wurden in das Hochsicherheitsgefängnis in Hilvan in der türkischen Provinz Şanlıurfa transferiert (AM 14.5.2020; vgl. HRW 3.2.2021). Bereits Ende April 2020, anlässlich der Überstellung von 90 festgenommenen Syrern in die Türkei, richteten 41 Organisationen einen Appell an den UN-Generalsekretär und an die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, u. a. willkürliche Gerichtsverfahren zu verhindern und die Freilassung bzw. Rückkehr der Gefangenen zu erwirken (SfDJ 10.7.2020). Human Rights Watch geht davon aus, dass (Stand Jahresbeginn 2021) bis zu 200 Syrer in Syrien festgenommen und in die Türkei verbracht wurden. Im Oktober 2020 wurden 63 Syrer vom Schwurgericht in Şanlıurfa verurteilt, fünf von ihnen zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit auf Begnadigung (HRW 3.2.2021). Ähnliche Urteile folgten 2021. So wurde am 23.3.2021 ein weibliches Mitglied der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Dozgin Temmo, bekannt als Cicek Kobani, von einem türkischen Gericht zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt (NPA 24.3.2021). Im Juni 2021 wurden drei Mitglieder des sog. Militärrats der Suryoye (MFS), einer christlichen, assyrischen-aramäischen Miliz der SDF, die 2019 von pro-türkischen Kämpfern in Nordsyrien festgenommen worden waren, von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt (Rudaw 30.6.2021). Laut Aussagen des Vorsitzenden der Menschenrechtsvereinigung (İHD) in Urfa kommt es weiterhin zu Misshandlungen und Folter von syrischen Kurden, welche illegal in die Türkei verbracht und verurteilt wurden. Es gibt keine offiziellen Zahlen, aber nach Angaben von İHD und Anwälten befinden sich insgesamt 128 Gefangene in den Gefängnissen von Urfa und Hatay. Neben dem Besuchsrecht haben Häftlinge normalerweise das Recht, zehn Minuten pro Tag zu telefonieren. Die Gefangenen aus Nordostsyrien können jedoch keines dieser Rechte in Anspruch nehmen (MedyaNews 24.3.2022). In diesem Sinne berichtete die von den Vereinten Nationen eingesetzte "Unabhängige Internationale Untersuchungskommission" im September 2022, dass auch Familienangehörige von in die Türkei überstellten Gefangenen keine Informationen über deren Verbleib erhalten haben (UN-HRC 14.9.2022, S. 12, Pt. 70).

Das Europäische Parlament verurteilt in einer Entschließung vom März 2021, "dass die Türkei kurdische Syrer aus dem besetzten Nordsyrien zum Zwecke der Inhaftierung und Strafverfolgung rechtswidrig in die Türkei überführt und dadurch gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes im Rahmen der Genfer Konventionen verstößt; fordert nachdrücklich, dass alle syrischen Häftlinge, die in die Türkei verbracht wurden, unverzüglich in die besetzten Gebiete in Syrien zurückgeführt werden" (EP 11.3.2021, Pt. 7). Im Juni 2022 verurteilte das EP, "dass die Türkei syrische Staatsangehörige weiterhin illegal in die Türkei verbringt, um sie dort wegen Terrorismus anzuklagen, was eine lebenslange Haftstrafe zur Folge haben kann" (EP 7.6.2022, S. 27, Pt. 46).

 

Quellen:

 AM – Al Monitor (14.5.2020): Syrians held in Turkish prison 'in breach of international law,' advocates say, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/05/syria-turkey-detainees-prison-breach-international-law.html , Zugriff 28.2.2022

 EP – Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 29.8.2022

 EP – Europäisches Parlament (11.3.2021): Der Konflikt in Syrien: 10 Jahre nach dem Aufstand - Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. März 2021 zu dem Konflikt in Syrien zehn Jahre nach dem Aufstand (2021/2576(RSP)) [P9_TA(2021)0088], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0088_DE.pdf , Zugriff 3.3.2022

 HRW – Human Rights Watch (3.2.2021): Illegal Transfers of Syrians to Turkey, https://www.hrw.org/news/2021/02/03/illegal-transfers-syrians-turkey , Zugriff 28.2.2022

 MedyaNews (24.3.2022): What happened to Afrin Kurds Imprisoned in Turkey? https://medyanews.net/what-happened-to-afrin-kurds-imprisoned-in-turkey/ , Zugriff 30.5.2022

 NPA – North Press Agency (24.3.2021): Turkey sentences Syrian Kurdish SDF member to life imprisonment, https://npasyria.com/en/56509/ , Zugriff 28.2.2022

 Rudaw (30.6.2021): Three Syriac fighters from Rojava sentenced to life terms in Turkey, https://www.rudaw.net/english/middleeast/30062021 , Zugriff 28.2.2022

 SfTJ – Syrians for Truth and Justice (10.7.2020): https://stj-sy.org/en/illegal-transfer-of-dozens-of-syrian-detainees-into-turkey-following-operation-peace-spring/#_ftnref11 , Zugriff 28.2.2022

 UN-HRC – United Nations Human Rights Council (14.9.2022): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [A/HRC/51/45], https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G22/463/09/PDF/G2246309.pdf?OpenElement , Zugriff 6.4.2023

 UN-HRC – United Nations Human Rights Council (14.8.2020): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [A/HRC/45/31], https://www.ecoi.net/en/file/local/2037646/A_HRC_45_31_E.pdf , Zugriff 28.2.2022

 

Haftbedingungen

Letzte Änderung: 26.06.2023

Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB 30.11.2022, S. 11). Die Haftbedingungen sind, abhängig vom Alter, Typ und Größe usw. unterschiedlich. In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Bei Überbelegung einzelner Haftanstalten kann es zu Einschränkungen in der gesundheitlichen Versorgung sowie der Infrastruktur der Haftanstalt kommen (AA 28.7.2022, S. 18; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 11). Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund gravierender Menschenrechtsverletzungen, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u. a. die Einrichtungen in Ankara Sincan (Strafvollzugsanstalt für Frauen), Amasya, Aksaray, Kayseri, Malatya, Mersin Tarsus (geschlossene Strafvollzugsanstalt für Frauen) und Van (Hochsicherheitsgefängnis). Die Strafvollzugsanstalten in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa sind wiederum chronisch überbelegt (ÖB 30.11.2022, S. 11).

Die Gefängnisse erfüllten im Allgemeinen die Standards für die baulichen Bedingungen, d. h. Infrastruktur und Grundausstattung, aber erhebliche Probleme mit der Überbelegung führten in vielen Gefängnissen zu Bedingungen, die nach Ansicht des Europäisches Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, kurz: Anti-Folter-Komitee (Committee for the Prevention of Torture - CPT) des Europarats als unmenschlich und erniedrigend angesehen werden können (USDOS 20.3.2023, S. 9). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem CPT des Europarats besucht (ÖB 30.11.2022, S. 11), allerdings wurde der CTP-Bericht von 2021 nicht veröffentlicht (USDOS 20.3.2023). Im September 2022, beispielsweise, zeigten sich Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem Besuch besorgt über die Lebensbedingungen in Hafteinrichtungen, einschließlich der Überbelegung, sowie über die Situation von Migranten in Abschiebezentren (OHCHR 21.9.2022).

Die Regierung gestattet es unabhängigen NGOs nicht, Gefängnisse zu inspizieren (USDOS 20.3.2023, S. 11; vgl. OMCT 2022). NGOs wie die World Organisation Against Torture (OMCT) orten ein Fehlen einer unabhängigen Überwachung der türkischen Gefängnisse, wodurch die Situation in diesen Gefängnissen verschleiert wird. Hinzu kommt, dass die verfügbaren nationalen Mechanismen wie die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (HREI bzw. TİHEK), die die Türkei als nationalen Präventionsmechanismus im Rahmen des OPCAT eingerichtet hatte, und die 2011 eingerichteten Gefängnisüberwachungsausschüsse, aufgrund der Mängel bei den Nominierungsverfahren der Mitglieder und des Mangels an politischer Unabhängigkeit sowie einer soliden Methodik, unwirksam sind (OMCT 2022). Auch die Europäische Kommission charakterisierte die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen als weitgehend wirkungslos und speziell die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung als nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt (EC 6.10.2020, S. 32). Im Allgemeinen sieht diese davon ab, die Gefängnisse zu besuchen, in denen die meisten Folter- und Misshandlungsvorwürfe erhoben werden (EC 12.10.2022, S. 32).

In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, S. 38). Zum 5.5.2023 gab es insgesamt 400 Strafvollzugsanstalten, darunter 279 geschlossene und 90 offene Strafvollzugsanstalten, vier Kindererziehungszentren, zehn geschlossene und acht offene Frauenvollzugsanstalten, und neun geschlossene Jugendvollzugsanstalten. Die Kapazität dieser Anstalten betrug 291.592 Plätze (ABC-TGM 5.5.2023). Die tatsächliche Zahl der Insassen betrug laut Justizministerium im Dezember 2022 336.315, davon waren 12,3 % Untersuchungshäftlinge (ICPR 12.2022). In der Gesamtzahl der Gefängnisinsassen für März 2022 sind die 426.647 Bewährungshäftlinge nicht enthalten. Das bedeutet, dass insgesamt 741.149 Menschen in Haft oder auf Bewährung waren (OMCT 2022). Die türkische Regierung hat 8,7 Mrd. Lira für den Bau von 36 neuen Gefängnissen in den nächsten vier Jahren bereitgestellt (SCF 15.3.2022). Nach Angaben des Justizministeriums befinden sich 13 % der gesamten Gefängnispopulation wegen Terror-Vorwürfen in Haft, darunter viele Journalisten, politische Aktivisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger (EC 6.10.2020, S. 31f). Unter den Mitgliedern des Europarates führt die Türkei die Gefängnisstatistik sowohl hinsichtlich der Inhaftierungsrate als auch bezüglich der Belegungsdichte an (CoE 30.3.2021 S. 4f; S. 32 Tab.). Mit Dezember 2022 wurden 396 Inhaftierte pro 100.000 Einwohner gezählt [zum Vergleich: Österreich: 97; Deutschland: 67] (ICPR 12.2022). Die Belegung war (Februar 2022) mit 108,3 % ebenfalls überproportional. Innert zehn Jahren nahm die Zahl der Häftlinge in der Türkei um 89 % zu (UNILCRIM/CoE 6.4.2022).

Das Europäische Parlament zeigte sich im Juni 2022 "zutiefst besorgt über die Lage in den überfüllten Gefängnissen der Türkei, wodurch sich die ernste Bedrohung, die die COVID-19-Pandemie für das Leben der Gefangenen darstellt, weiter verschärft". Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EP 7.6.2022, S. 19f., Pt. 32; vgl. EC 12.10.2022, S. 34, DFAT 10.9.2020). Praktiken wie das Verprügeln von Gefangenen aus verschiedenen Gründen, wie z.B. wegen Verweigerung der Leibesvisitation, ärztlicher Untersuchung in Handschellen, erzwungener Anwesenheit bei ständigen Appellen oder die Titulierung von Personen, die wegen politischer Vergehen inhaftiert wurden, als "Terroristen" und das Verprügeln aus diesem Grund haben der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" İHD zufolge ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht (İHD 6.11.2022, S. 14). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt (DIS 31.3.2021, S. 1; İHD 6.11.2022, S. 14). NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBT-Personen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, S. 1). Die Hungerstreiks in einigen Gefängnissen wurden fortgesetzt, um ein Ende der Verletzungen der Rechte der Häftlinge zu erwirken (EC 12.10.2022, S. 34; vgl. İHD 6.11.2022, S. 15).

Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung sowie über den Umstand beschwert, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, S. 1). Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der "Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens" darstellt (EC 6.10.2020, S. 32). Eines der prominentesten Beispiele ist der ehemalige Ko-Vorsitzende der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker - HDP, der seit 2016 im Gefängnis von Edirne in der Westtürkei sitzt, dass sich über 1.700 von seiner Heimatstadt Diyarbakır befindet. Seine Frau Başak Demirtaş muss jede Woche 3.500 Kilometer für einen einstündigen Besuch zurücklegen (3Sat 6.5.2023; vgl. DTJ 4.12.2020).

Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 20.3.2023, S. 9; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z. B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, S. 29). Außerdem weisen zwei Quellen des niederländischen Außenministeriums darauf hin, dass einige Ärzte sich weigerten, tatsächliche oder angebliche Gülenisten und PKK-Mitglieder zu behandeln, aus Angst, mit der PKK oder der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht zu werden (NL-MFA 2.3.2022, S. 30; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 10). Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 20.3.2023, S. 10).

Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter Übergriffen, darunter lange Einzelhaft, unnötige Entkleidungen und Leibesvisitationen, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Gefängnis-Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung. Berichten zufolge waren auch Besucher von Häftlingen mit Terrorismusbezug Übergriffen, wie Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter ausgesetzt. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 20.3.2023, S. 23). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, S. 19), zuletzt z. B. auch Anfang April 2021 (SCF 5.4.2021).

Ein Problem bei der strafrechtlichen Prüfung von Verdachtsfällen bleibt die Nachweisbarkeit von Folter und Misshandlungen. Menschenrechtsorganisationen zufolge wird Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert, sodass eine unabhängige Überprüfung nur schwer möglich ist (AA 28.7.2022, S. 17).

Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft (CoE-CPT 5.8.2020), denn seit Januar 2004 gilt die Regelung, dass außer auf Verlangen des Arztes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Personen in Gewahrsam bzw. Haft anwesend sein dürfen (AA 28.7.2022, S. 17). Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei Weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden zu sein (CoE-CPT 5.8.2020).

Laut der Menschenrechtsvereinigung (İHD) ist eines der größten Probleme in den türkischen Gefängnissen die Verletzung der Rechte kranker Gefangener. Die İHD konnte mit Stand Ende April 2022 1.517 kranke Gefangene dokumentieren. 651 von ihnen sollen sich in einem schlechten Zustand befunden haben. Und 2021 starben mindestens 52 Personen in Haft (İHD 6.2022, S. 10, 13).

 

Kurdische Häftlinge

Mit Beginn des Ausnahmezustands (2016) wurden insbesondere kurdische Gefangene in weit entfernte Städte zwangsverlegt, wo sie häufiger Misshandlungen und Diskriminierungen ausgesetzt waren. Neben den Gefangenen waren auch deren Angehörige aufgrund ihrer ethnischen Identität in diesen Städten Diskriminierungen ausgesetzt, und es gibt einige Fälle, in denen sie nicht einmal eine Unterkunft finden konnten, und somit die Stadt ohne Besuchsmöglichkeit verlassen mussten (CİSST 26.3.2021, S. 16). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren, und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, S. 30, 68; vgl. İHD 6.2022, S. 23). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, so diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, S. 30; 68) sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, S. 30; 68; vgl. İHD 23.10.2020, S. 7, SCF 26.11.2020). Beispielsweise beschwerten sich 13 Insassen des Frauengefängnisses in Van in einem Brief an einen Parlamentsabgeordneten der pro-kurdischen HDP, dass ihre Notizbücher - nebenbei auch kurdische Novellen und Gedichtsammlungen - mit dem Argument beschlagnahmt wurden, dass die Gefängnisverwaltung keinen Kurdisch-Türkisch-Dolmetscher habe (Duvar 23.11.2020). Kurden, die im Westen inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, S. 55). Ende August 2021 wurde die ehemalige HDP-Abgeordnete, Leyla Güven, mit Disziplinarmaßnahmen belegt, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde deswegen ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ein einmonatiges Verbot von Telefongesprächen und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021).

 

Hochsicherheitsgefängnisse

In den Hochsicherheitsgefängnissen, einschließlich der F-Typ-, D-Typ- und T-Typ-Gefängnisse, sind Personen untergebracht, die wegen Verbrechen im Rahmen des türkischen Anti-Terror-Gesetzes verurteilt oder angeklagt wurden, Personen, die zu einer schweren lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und Personen, die wegen der Gründung oder Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt oder angeklagt wurden oder im Rahmen einer solchen Organisation aufgrund eines der folgenden Abschnitte des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt oder angeklagt wurden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Drogenherstellung und -handel, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und deren Funktionieren. Darüber hinaus können Gefangene, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, gegen die Ordnung verstoßen oder sich Rehabilitationsmaßnahmen widersetzen, in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden (DIS 31.3.2021, S. 11-13).

Die seit dem Jahr 2000 eingeführte Praxis, Häftlinge in kleinen Gruppen oder einen einzelnen Häftling in Isolationshaft zu halten - eine Praxis, die insbesondere in F-Typ-Gefängnissen zu beobachten ist - hat rasant zugenommen, was die physische und psychische Integrität der Häftlinge ernsthaft beeinträchtigt (TOHAV 7.2019, S. 4). Bei Anklage oder Verurteilung wegen organisierter Kriminalität oder Terrorismus wird der Zugang zu Nachrichten und Büchern verwehrt (UKHO 10.2019, S. 70). Viele HDP-Mitglieder oder deren hochrangige Persönlichkeiten befinden sich in der Türkei in Gefängnissen der F-Kategorie, in denen die Menschen entweder in Isolation oder mit maximal zwei anderen Personen interniert sind. Sie dürfen nur andere HDP-Mitglieder oder Unterstützer sehen (UKHO 10.2019, S. 36).

 

Isolationshaft

Die Einzelhaft wird durch das Strafvollzugsgesetz geregelt, das eine Vielzahl von Handlungen festlegt, die mit Einzelhaft disziplinarisch geahndet werden können. Das Gesetz legt außerdem eine Obergrenze von 20 Tagen Einzelhaft fest. Das CPT betonte allerdings, dass diese Höchstdauer überhöht ist, und nicht mehr als 14 Tage für ein bestimmtes Vergehen betragen sollte (DIS 31.3.2021, S. 26). Zur vermehrten Verhängung der Einzelhaft kommt es in den 14 F-Typ-, 13 Hochsicherheits- und fünf S-Typ-Gefängnissen (İHD 6.2022, S. 21). Bei der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) machten 2020 die Beschwerden hinsichtlich der Verhängung der Einzelhaft rund 11 % aller Gefängnisbeschwerden aus. Laut der türkischen NGO CİSST gibt es Fälle, in denen die Isolationshaft die gesetzlichen 20 Tage überschritten hat. Die İHD merkte an, dass Isolationshaft über Monate hinweg gegen Untersuchungshäftlinge verhängt werden kann, wenn gegen sie ein Verfahren läuft, welches eine erschwerte lebenslängliche Haftstrafe nach sich zieht. Darüber hinaus betrachtet es die İHD als Isolation, wenn Gefangene, einschließlich der zu schwerer lebenslanger Haft Verurteilten, in Hochsicherheitsgefängnissen des Typs F keine Gemeinschaftsräume nutzen dürfen bzw. nur für eine Stunde pro Woche (DIS 31.3.2021, S. 26). In einigen Gefängnissen wurden verschiedene Gruppen von Gefangenen ohne rechtliche Begründung in Einzelzellen verlegt. In einigen Fällen wurden sogar Gefangene mit einem ärztlichen Gutachten, dem zufolge sie nicht in Einzelhaft untergebracht werden können, in Ein-Personen-Zellen gesperrt (CİSST 26.3.2021, S. 25) Betroffen von der Isolationshaft sind auch Mitglieder sexueller Minderheiten. Es ist möglich, dass LGBT-Häftlinge aufgrund ihrer Identität unabhängig von ihrer Verurteilung jahrelang in Isolation gehalten werden. In einigen Gefängnissen werden Mitglieder sexueller Minderheiten, entgegen ihren Forderungen, in Einzelzellen untergebracht (CİSST 26.3.2021, S. 48). Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Häftlinge sich in der Türkei in Isolationshaft befinden oder wie viele sich das Leben genommen haben, doch nach Schätzungen der Experten sollen etwa 3.000 Personen von Isolationshaft betroffen sein (DW 7.5.2019). Im Mai 2021 forderte das Europäische Parlament "die Türkei auf, alle Isolationshaft und die Inhaftierung in inoffiziellen Haftanstalten zu beenden" (EP 19.5.2021).

 

Frauen

Mit Stand Ende April 2022 gab es in der Türkei 12.310 weibliche Gefangene (İHD 2.8.2022, S. 3; vgl. ICPR 12.2022), was nahezu eine Verdoppelung zum Jahr 2015 (6.289 weibliche Insassen bzw. 3,6 %) ausmachte. Damit waren 3,9 % der Gefängnisinsassen Frauen (ICPR 12.2022). Diese Häftlinge sind in zehn geschlossenen und sieben offenen Gefängnissen für Frauen sowie in vielen anderen Haftanstalten in Frauenabteilungen untergebracht (İHD 6.2022, S. 34). Laut der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" (İHD) sind Gefängnisse einer der Orte, an denen Frauen Gewalt, Folter und Misshandlung ausgesetzt sind. Weibliche Häftlinge werden beleidigt, bedroht, körperlich gequält und misshandelt, und zwar sowohl von Justizvollzugsbeamten und Verwaltungsangestellten innerhalb der Einrichtung als auch von den Strafverfolgungsbehörden bei der Verlegung in Krankenhäuser und Gerichtsgebäude (İHD 2.8.2022, S. 3). Die Leibesvisitation ist eines der Hauptprobleme bei Vorwürfen von Folter und Misshandlung. Die Antragsteller geben an, dass die erzwungene Leibesvisitation manchmal auf eine körperliche Untersuchung hinausläuft, während Gefangene, die sich der Leibesvisitation widersetzen, geschlagen, gefoltert oder disziplinarisch bestraft werden (İHD 6.2022, S. 35). Das Versäumnis, Ermittlungen gegen diese Gewalttäter einzuleiten, welche Straffreiheit genießen, ebnet der İHD zufolge den Weg für eine Eskalation der Zahl solcher Fälle (İHD 2.8.2022, S. 3).

 

Kinder und Minderjährige

Einer der allgemeinen Kritikpunkte, z.B. der Civil Society in the Penal System Association (CİSST), ist der Umstand, dass der Zugang zu jugendlichen Strafgefangenen aufgrund der Politik des Staates im Bereich der Zivilgesellschaft und der Strafjustiz sehr eingeschränkt ist. Das Fehlen einer unabhängigen Überwachung durch nicht-staatliche oder professionelle Organisationen sowie die Tatsache, dass jugendliche Häftlinge nur eine sehr eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeit mit der Außenwelt haben, und der fehlende Zugang zu einer auf Rechten basierenden Unterstützung im Gefängnis selbst führen dazu, dass Rechtsverletzungen in den Gefängnissen nicht aufgedeckt und daher nicht verhindert werden (CİSST 6.2022, S. 7, 16).

Insgesamt waren mit Stand Frühjahr 2021 offiziell 2.076 Kinder zwischen zwölf und 18 Jahren in vier Erziehungsanstalten für Kinder und acht geschlossenen Strafvollzugsanstalten für Kinder inhaftiert (İHD 6.2022, S. 34). Obwohl der Aktionsplan der Regierung darauf abzielte, das Jugendstrafsystem mit Methoden zu verbessern, die das Kind aus dem Strafvollzug herausführen, wurde CİSST zufolge in der Praxis keine Verbesserung festgestellt. - Der Rückgang der Zahl der jugendlichen Gefangenen im Jahr 2021 war auf Änderungen der Vollzugsgesetze unter dem Einfluss des Coronavirus zurückzuführen. Jeder Tag, den Jugendliche im Alter von 12-15 Jahren im Gefängnis verbracht hatten, wurde als drei Tage, und jeder Tag, den Jugendliche im Alter von 15-18 Jahren im Gefängnis verbrachten, doppelt gezählt. Während dies für viele Kinder und Jugendliche die vorzeitige Entlassung bedeutete, wurde keine Regelung für die Überwachung der verbliebenen verurteilten Kinder und Jugendliche durch alternative Mittel getroffen (CİSST 6.2022, S. 8f.).

An Orten, an denen es keine speziellen Gefängnisse gibt, werden Minderjährige in getrennten Abteilungen innerhalb der Gefängnisse für männliche und weibliche Erwachsene untergebracht. Kinder unter sechs Jahren können bei ihren inhaftierten Müttern bleiben (USDOS 20.3.2023, S. 9; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Zahlen hinsichtliche der Kinder unter sechs Jahren, welche bei ihren Müttern ihr Leben im Gefängnis verbringen, variiert je nach Quelle bis zu 800 (FP 8.8.2021). Die NGO "Civil Sciety in the Penal System" schätzte, dass im August (2022) 383 Kinder mit ihren Müttern eingesperrt waren (USDOS 20.3.2023, S. 9). Das türkische Strafgesetzbuch sieht außerdem vor, dass Haftstrafen zwar für Mütter mit Kindern unter sechs Monaten ausgesetzt werden, nicht jedoch, wenn Personen wegen Verbindungen zu einer terroristischen Vereinigung verurteilt werden (DW 23.6.2019). Einer Studie der Right to Life Association zufolge sind die Kleinkinder durch Leibesvisitationen traumatisiert. Sie werden nicht gut ernährt und erhalten keine ausreichende medizinische Versorgung. Sie haben auch Schwierigkeiten, Zeit zum Spielen zu finden (SCF 12.10.2021). Die Kinder im zentraltürkischen Keskin-Gefängnis haben monatelang keine Milch, keine Eier und kein Spielzeug bekommen, wie ein Bericht des parlamentarischen Unterausschusses für die Rechte der Häftlinge zeigt. Die weiblichen Gefangenen berichteten, dass sie ihre Kinder nur ein paar Mal im Jahr in die Kindertagesstätte des Gefängnisses bringen können und dass sie ihre Kinder nicht sehen dürfen, wenn sie es wollen (Duvar 18.2.2021).

Die "Ankara Medical Chamber" ATO kritisierte, dass im Strafvollzugssystem mehrere Vorkehrungen getroffen werden, ohne die Rechte und Bedürfnisse von Kindern zu berücksichtigen. Kinder würden verhaftet, ohne eine ausreichende Risiko- und Bedarfsanalyse durchgeführt oder wirksame Maßnahmen zu ergriffen zu haben. Zudem wären Kinder aufgrund der schlechten physischen Bedingungen, der sozialen Isolation und der Disziplinarstrafen im Gefängnis einer sekundären Bestrafung ausgesetzt (Bianet 7.1.2022). Während das Gesetz vorschreibt, dass Kinder in der Strafverfolgungsphase mit einem auf Kinderrechte spezialisierten Richter in Kontakt stehen sollten, wurde diese Vorschrift während einer Recherche von CİSST nicht eingehalten. Die Verurteilung von Jugendlichen vor Erwachsenengerichten oder die Inhaftierung durch Strafrichter zeigt laut CİSST, dass Fachleute, die sich auf das Jugendstrafrecht spezialisiert haben, keinen Zugang zu den Gerichten haben (CİSST 6.2022, S. 11).

 

Angehörige sexueller Minderheiten (LGBTIQ+)

Eine offizielle Zahl von Angehörige sexueller Minderheiten in Haftanstalten ist unbekannt, da die Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten solche Daten nicht offenlegt (İHD 6.2022, S. 35). Mitglieder von sexuellen Minderheiten gehören zu jenen, die in Gefängnissen am häufigsten Gewalt, Diskriminierung, Demütigung und sexueller Belästigung ausgesetzt sind. Neben der Tatsache, dass es keine spezifischen Regelungen für die Bedürfnisse dieser Personengruppen gibt, sind auch die Programme zur Ausbildung von Verwaltungspersonal, Vollzugsbeamten und Sozialarbeitern in Bezug auf die Arbeit mit LGBTI-Personen unzureichend. Beschwerden von Angehörigen sexueller Minderheiten über Rechtsverletzungen und Übergriffe, die sie erleben, bleiben aufgrund homophober Positionen und verwurzelter Vorurteile ergebnislos (CİSST 26.3.2021, S. 48; vgl. İHD 6.2022, S. 35f.). LGBTI-Häftlinge werden in der Regel von heterosexuellen Häftlingen getrennt (DFAT 10.9.2020), allerdings dann oft in Einzelhaft untergebracht, was den Missbrauch der Betroffenen fördert. Überdies ist es ihnen nicht erlaubt, Kontakte zu knüpfen, mit anderen zu sprechen und an sportlichen Aktivitäten teilnehmen. Diese Situation wird zur physischen und psychischen Folter. Besonders heikel stellt sich die Situation für Transfrauen dar, da sie in Männergefängnissen untergebracht werden, und somit männerspezifischen Gefängnispraktiken, wie der Leibesvisitation, unterworfen sind. Das größte Problem sowohl von inhaftierten Transfrauen als auch Transmännern sind die Unterbrechungen der Geschlechtsumwandlungsprozesse. Die Einleitung des Geschlechtsumwandlungsprozesses und seine Fortsetzung werden in Gefängnissen unterbrochen und oft nicht einmal akzeptiert. Da die Versorgung mit Hormonpräparaten ein Problem ist, gibt es auch in dieser Hinsicht oft Beschwerden (İHD 6.2022, S. 35f.). Mehrere transsexuelle Gefangene sind aus Protest gegen Misshandlungen im Gefängnis in den Hungerstreik getreten (OMCT 2022).

 

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Die Covid-19-Pandemie verschärfte die Situation in den Gefängnissen, da die Überbelegung es schwierig machte, die Infektionen unter den auf engem Raum lebenden Gefangenen zu kontrollieren. Nach Angaben der türkischen Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten meldeten 55 von 372 Gefängnissen COVID-19-Fälle (OMCT 2022).

Im Jahr 2021 starben mindestens 175 Gefangene an den Folgen von COVID-19. Aus den eingelangten Ansuchen schloss die Menschenrechtsvereinigung İHD, dass die Haftbedingungen für die Pandemie nicht geeignet waren und keine hygienischen und gesunden Bedingungen für die Gefangenen geschaffen wurden. Darüber hinaus führten die Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie zu einer Entrechtung der Inhaftierten. Regelmäßige Untersuchungen und Behandlungen kranker Gefangener, einschließlich solcher in kritischem Zustand, wurden unterbrochen. Gefangene, die in regelmäßigen Abständen einen Arzt aufsuchen oder regelmäßig Medikamente einnehmen mussten, standen vor ernsthaften Problemen (İHD 6.2022, S. 27).

Angesichts des hohen Risikos der Ausbreitung von COVID-19 in überfüllten Gefängnissen verabschiedete das Parlament Mitte April 2020 eine Novellierung des Strafvollzugsgesetzes, die die Freilassung von bis zu 90.000 Gefangenen vorsah. Über 65.000 Personen profitierten mit Stand Juli 2020 von dieser neuen Bestimmung. Sie schloss jedoch nebst Schwerverbrechern, Sexualstraftätern und Drogen-Delinquenten eine sehr große Zahl von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Politikern, Anwälten und anderen Personen aus, die nach Prozessen im Rahmen der weit gefassten Anti-Terror-Gesetze inhaftiert wurden oder ihre Strafe verbüßen (EC 6.10.2020, S. 32; vgl. DFAT 10.9.2020).

 

Quellen:

 3Sat (6.5.2023): Die Ära Erdoğan am Ende? - Die Türkei zwischen Hoffnung und Verzweiflung, https://www.3sat.de/kultur/kulturdoku/die-tuerkei-zwischen-hoffung-und-verzweiflung-100.html , Zugriff 17.5.2023

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 19.8.2022

 ABC-TGM - Adalet Bakanlığı Ceza ve Tevkifevleri Genel Müdürlüğü [Ministerium für Justiz und Inneres und Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten] [Türkei] (5.5.2023): Genel Bilgi [Allgemeine Informationen], https://cte.adalet.gov.tr/Home/SayfaDetay/cik-genel-bilgi , 17.5.2023

 Ahval (25.10.2020): Turkey's prisons are punishing Kurdish prisoners with high translation fees, https://ahvalnews.com/kurd/turkeys-prisons-are-punishing-kurdish-prisoners-high-translation-fees , Zugriff 22.2.2022

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 EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 22.2.2022

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 SCF – Stockholm Center for Freedom (26.11.2020): Prison administration bans Kurdish publications and notebooks, https://stockholmcf.org/prison-administration-bans-kurdish-publications-and-notebooks/ , Zugriff 22.2.2022

 TOHAV – Foundation for Society and Legal Studie/ CİSST – Civil Society in the Penal System Association/ ÖHD – Lawyers for Freedom Association (7.2019): The Human Rights situation in prisons - Universal Periodic Review - Turkey – 2020, https://uprdoc.ohchr.org/uprweb/downloadfile.aspx?filename=7486&file=CoverPage , Zugriff 22.2.2022

 UKHO – United Kingdom Home Office [Großbritannien] (10.2019): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17. Juni to 21. Juni 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPORT_2019.odt , Zugriff 22.2.2022

 UNILCRIM/CoE - Université de Lausanne - Ecole des sciences criminelles/ Council of Europe (6.4.2022): Prisons and Prisoners in Europe 2021: Key Findings of the SPACE I report, https://wp.unil.ch/space/files/2023/04/230420_Key-Findings-SPACE-I_Prisons-and-Prisoners-in-Europe-2021.pdf , Zugriff 22.5.2023

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugirff 28.3.2023

 

 

Todesstrafe

Letzte Änderung: 26.06.2023

Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d. h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 12).

Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vgl. FIDH 13.10.2020). Und Ende Juni 2022 meinte der Justizminister, dass die Türkei die Entscheidung aus dem Jahr 2004 zur Abschaffung der Todesstrafe überdenken würde, nachdem Präsident Erdoğan die Todesstrafe im Zusammenhang mit absichtlich gelegten Waldbränden ins Spiel brachte (Reuters 25.6.2022).

 

Quellen:

 Duvar (29.9.2020): Turkish Parliament speaker announces support for return of death penalty, https://www.duvarenglish.com/politics/2020/09/29/turkish-parliament-speaker-announces-support-for-return-of-death-penalty/ , Zugriff 23.2.2022

 FIDH - International Federation for Human Rights 813.10.2020): Death Penalty Cannot be Reinstated in Turkey, https://www.fidh.org/en/region/europe-central-asia/turkey/death-penalty-cannot-be-reinstated-in-turkey , Zugriff 3.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 27.4.2023

 OSCE – Organization for Security and Co-operation in Europe (17.9.2019): The Death Penalty in the OSCE Area: Background Paper 2019, https://www.osce.org/files/f/documents/a/9/430268_0.pdf , Zugriff 23.2.2022

 Reuters (25.6.2022): Turkey re-evaluates death penalty after Erdogan's wildfires comment, https://www.reuters.com/world/middle-east/turkey-wildfire-under-control-after-4500-hectares-scorched-government-2022-06-25/ , Zugriff 10.8.2022

 

Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten

Letzte Änderung: 26.06.2023

Die Türkei definiert sich zwar als säkularer Staat, dessen Verfassung die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Religionsausübung garantiert und Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet (USDOS 15.5.2023), de facto besteht jedoch keine Trennung von Religion und Staat (BMZ 10.2020). Das Land ist von der jahrzehntelangen kemalistischen Tradition geprägt mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde (ÖB 30.11.2022, S. 23; vgl. BMZ 10.2020). Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB 30.11.2022, S. 23). Der Staat beansprucht das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens (BMZ 10.2020).

Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind nur armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Christen sowie Juden (USDOS 15.5.2023; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 23). Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'i, Protestanten, römische Katholiken oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status. Davon unabhängig kommt zudem im türkischen Recht keiner nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft als solcher Rechtspersönlichkeit zu (ÖB 30.11.2022, S. 23). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Das System der "vakıf" geht auf das Osmanische Reich zurück und wurde durch den Vertrag von Lausanne und diverse Stiftungsgesetze über die Zeit verfestigt. Derzeit gibt es 167 solcher Stiftungen, darunter 77 griechisch-orthodoxe, 54 armenisch-orthodoxe, 19 jüdische, zehn syrisch-orthodoxe, drei chaldäisch-katholische, zwei bulgarisch-orthodoxe und jeweils eine georgisch-orthodoxe und türkisch-orthodoxe (Stand: August 2022). Da die Regierung seit 2013 keine neue Wahlregelung für diese Stiftungen erlässt, können die Mitglieder der Stiftungsräte nicht bestellt werden. In der Praxis wird dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB 30.11.2022, S. 23; vgl. Bianet 12.4.2022, DFAT 10.9.2020). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethno-religiöse Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgruppen können sich ebenfalls, wenn sie die verwaltungsrechtlichen Vorgaben erfüllen, als Stiftung oder als Verein organisieren (AA 28.7.2022, S. 11).

Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (tarikat) sowie Logen (tekke oder zaviye), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 15.5.2023). Formal seit den Zwanziger-Jahren verboten, als etwa 1925 alle Derwischhäuser geschlossen wurden, organisieren sich die Anhänger des Sufismus in Vereinen und geben ihr Wissen legal, beispielsweise an Universitäten, weiter. An der staatlichen Universität Istanbul etwa besteht ein eigener Lehrstuhl samt Master-Studienlehrgang für Sufismus (DF 19.2.2018).

In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt. Es gibt jedoch weit verbreitete Berichte über Druck in der Familie, am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld, insbesondere auf Personen, die eine andere Religion, einen anderen Glauben oder eine andere Weltanschauung als den Islam haben - einschließlich der Angst, diskriminiert zu werden. Für Atheisten, Konvertiten zum Christentum, Aleviten und Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten sind diese Erfahrungen weit verbreitet. Die rechtlichen Instrumente zur Wiedergutmachung von diesbezüglichen Rechtsverletzungen sind nicht effektiv (NHC 11.9.2020, S. 10). Das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit schließt das Recht ein, die eigene Religion oder Weltanschauung zu verbreiten. Aktivitäten, die darauf abzielen, die eigene Religion zu verbreiten, werden allerdings oft mit Misstrauen betrachtet. Sie werden schnell als "missionarische Aktivitäten" bezeichnet und fallen als solche nicht in den Geltungsbereich des Rechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit (NHC-FBI 19.4.2022, S. 37).

Blasphemie ist nach dem Strafgesetzbuch verboten, das die "Erregung von Hass und Feindseligkeit" unter Strafe stellt, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden. Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert. Die Störung des Gottesdienstes einer religiösen Gruppe wird mit ein bis drei Jahren, die Beschädigung religiösen Eigentums mit drei Monaten bis zu einem Jahr und die Zerstörung religiösen Eigentums mit ein bis vier Jahren Gefängnis bestraft. Da es illegal ist, Gottesdienste an Orten abzuhalten, die nicht als Gebetsstätten registriert sind, gelten diese gesetzlichen Verbote in der Praxis nur für anerkannte religiöse Gruppen (USDOS 15.5.2023). Die Türkei machte nicht nur vom entsprechenden Artikel des Strafgesetzbuchs Gebrauch, sondern gehört auch zu den Top-10-Ländern der Welt, in denen Fälle von angeblicher Blasphemie durch die Nutzung sozialer Medien verfolgt werden. Beispielsweise kündigte die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft 2022 eine Untersuchung gegen Spotify, einen schwedischen Musikstreamingdienst, an, nachdem Beschwerden eingegangen waren, dass die Namen bestimmter Playlists "religiöse Werte" und Staatsbeamte beleidigten. - Im Jänner 2022 machte die türkische Popsängerin Sezen Aksu Schlagzeilen, nachdem sie einen Clip eines fünf Jahre alten Liedes von sich auf YouTube geteilt hatte. Das Lied erregte in den sozialen Medien große Aufmerksamkeit und löste bei mehreren Regierungsvertretern Kritik aus, weil der Text die religiösen Figuren Adam und Eva als "ignorant" bezeichnete. Nach dem Freitagsgebet in jenem Monat warnte Präsident Erdoğan, ohne Aksu namentlich zu nennen, dass "niemand gegen seine Heiligkeit Adam sprechen darf. Wenn es sein muss, ist es unsere Pflicht, diese Zungen herauszureißen. Niemand kann gegen unsere Mutter Eva sprechen. Es ist unsere Pflicht, diejenigen, die gegen sie sprechen, auf ihren Platz zu verweisen." Regierungsnahe Juristen erstatteten gegen die Sängerin Anzeige, die staatliche Religionsbehörde Diyanet und die Rundfunkbehörde RTÜK griffen ebenfalls ein (USCIRF 12.2022, S. 3; vgl. NZZ 1.2.2022).

Der Blasphemie-Paragraph dient vornehmlich als politisches Instrument zur Verfolgung all jener, die den staatlichen Institutionen und deren Vertretern kritisch gegenüber stehen. Außerdem scheint es in der Rechtspraxis laut der türkischen NGO Initiative für Religionsfreiheit - İnanç Özgürlüğü Girişimi so zu sein, dass die Anwendung von Artikel 216 Absatz 3 durch die Behörden weitgehend auf Fälle beschränkt ist, die den Islam betreffen, und nicht die äquivalenten Beleidigungen von religiösen Minderheiten (USCIRF 12.2022, S. 1f.). Nach einer Flut von Strafverfolgungen zwischen 2014 und 2016 - darunter von Journalisten, die 2016 französische Charlie-Hebdo-Karikaturen des Propheten Mohammad nachgedruckt haben - ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Beschwerden, Strafverfolgungen und Verurteilungen zu verzeichnen (DFAT 10.9.2020).

Das Strafgesetzbuch verbietet es, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Darauf stehen Gefängnisstrafen von bis zu einem Jahr, im Falle einer Aufstachelung zur Missachtung des Gesetzes sogar von bis zu drei Jahren (USDOS 15.5.2023).

Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine durch die Verfassung eingerichtete staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird. Obwohl das Gesetz nicht vorschreibt, dass alle Mitglieder des Rates sunnitische Muslime sein müssen, ist dies in der Praxis der Fall. (USDOS 15.5.2023). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).

In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99 % der Bevölkerung muslimischen Glaubens, inklusive Aleviten. Aus den im Jahr 2021 veröffentlichten Meinungsumfragen des Forschungs- und Meinungsforschungsunternehmens KONDA Research and Consultancy geht hervor, dass sich etwa 88 % als sunnitische Muslime bezeichnen, 6 % als Nichtgläubige, 4 % als Aleviten und die restlichen 2 % in der Kategorie "Sonstige". Die Aleviten-Stiftung geht jedoch davon aus, dass 25 bis 31 % der Bevölkerung Aleviten sind. 4 % der Muslime sind laut eigener Schätzung schiitische Jafari (USDOS 15.5.2023; vgl. BMZ 10.2020). Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 12.000-16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen und ca. 10.000 Baha'i. Die Zahl der ostorthodoxen Christen ist im Laufe des Jahres 2022 deutlich auf über 150.000 gestiegen, was vor allem auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen ist, der zu einem Zustrom von schätzungsweise 60.000 Russen und 40.000 Ukrainern führte. Zur ostorthodoxen Bevölkerung gehören auch weniger als 2.500 ethnisch griechisch-orthodoxe Christen und eine kleine, unbestimmte Anzahl bulgarisch-orthodoxer und georgisch-orthodoxer Christen. Zu den anderen Gruppen gehören schätzungsweise 7.000 bis 10.000 Mitglieder protestantischer und evangelikaler christlicher Konfessionen; 5.000 Mitglieder der Zeugen Jehovas; schätzungsweise 2.000 bis 3.500 armenische Katholiken; weniger als 3.000 chaldäische Christen; und weniger als 1.000 Jesiden (USDOS 15.5.2023).

Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (NL-MFA 31.10.2019). 3 % bezeichnen sich mittlerweile als Atheisten - 2008 waren es nur 1 % - und 2 % als nicht gläubig (AM 9.1.2019). Der Prozentsatz derjenigen, die sich als Muslime verstehen, sank dagegen von 55 % auf 51 %, was im Widerspruch zu den offiziell kolportierten 99 % steht. Allerdings sehen sich viele soziologisch und kulturell als Muslime, ohne religiös zu sein. Schätzungen zu Folge gelten 60 % als praktizierende Muslime (DW 9.1.2019).

Kritiker werfen der AKP vor, sunnitische Muslime zu bevorzugen, und verweisen auf die Umgestaltung des Bildungssystems, welches den islamischen Unterricht in säkularen Schulen begünstigt und den Aufstieg religiöser Schulen gefördert hat. Die AKP baute auch das Direktorat für religiöse Angelegenheiten aus und nutzte diese Institution als Kanal für politische Klientelpolitik. Neben anderen Funktionen nutzt die Partei das Direktorat, um regierungsfreundliche Predigten in Moscheen in der Türkei sowie in Ländern, in denen die türkische Diaspora präsent ist, zu verbreiten (FH 10.3.2023, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie Darwins Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (NL-MFA 31.10.2019). Das Kopftuch ist das einzige religiöse Symbol, das für Beamte oder Schüler in Grund-, Mittel- oder Oberschulen erlaubt ist. Andere religiöse Symbole wie die Kippa, das Kreuz oder der Zulfikar [Symbol von Schiiten, Aleviten und Alawiten] sind hingegen nicht erlaubt (NHC-FBI 19.4.2022, S. 39).

Neben der Rhetorik gegen Minderheitengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt sowie ein anti-westlicher, insbesondere gegen Europa gerichtetes Islamophobie-Narrativ Anlass zu Besorgnis. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begünstigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet - von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert - und ermutigt implizit zu Gewalt und Aggression (ÖB 30.11.2022, S. 24). Hierzu stellte das Europäische Parlament im Juni 2022 "mit Besorgnis fest, dass noch immer Hetze und Hassverbrechen gegen religiöse Minderheiten, hauptsächlich Aleviten, Christen und Juden, gemeldet werden und dass die einschlägigen Ermittlungen ergebnislos bleiben" (EP 7.6.2022, S. 13, Pt. 19).

Im Jahr 2021 waren die Bedingungen für die Religionsfreiheit in der Türkei nach wie vor schlecht, ohne dass sich die Situation im Vergleich zum Vorjahr verbessert hätte. Viele Religionsgemeinschaften sahen sich weiterhin mit bürokratischen Hindernissen konfrontiert, die die Ausübung ihrer Religion verhinderten oder ernsthaft einschränkten. Insbesondere weigerte sich die Regierung weiterhin, religiösen Gruppen die Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen. Ebenso unternahm die Regierung keine Schritte zur Wiedereröffnung der Theologischen Schule von Halki (Chalki-Seminar), einem Seminar des Ökumenischen Patriarchats der Ost-orthodoxen Kirche. Durch die Nachlässigkeit der Regierung gegenüber Vandalismus und sogenannte "Schatzsucher" wurden religiöse Stätten ernsthaft beschädigt oder zerstört (USCIRF 4.2021, S. 62f.).

Es kommt immer wieder zu Hassverbrechen, inklusive solcher Äußerungen seitens Regierungsvertreter und Politiker, auch der Opposition (BMZ 10.2020), die sich gegen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften und deren Gotteshäuser, zugehörige Einrichtungen, religiöse/spirituelle Führer und Mitglieder richten, und diese Straftaten bleiben zumal ungestraft. Die derzeitige Gesetzgebung ist unzureichend, um gegen Hassverbrechen vorzugehen. Die Straftaten werden weder ausreichend gemeldet noch von den Behörden ausreichend erfasst (NHC-FBI 19.4.2022, S. 37).

Die antisemitische Rhetorik in Printmedien und in sozialen Medien hält an (USDOS 20.3.2023, S. 90). Laut einem Bericht der armenischen Hrant-Dink-Stiftung über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, S. 68).

Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (NL-MFA 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht, wobei sich die Regierung auch mit Ende 2022 weiterhin nicht an ein Urteil des EGMR aus dem Jahr 2013 gehalten hat, wonach der von der Regierung verordnete verpflichtende Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gegen die Bildungsfreiheit verstößt (USDOS 15.5.2023). Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist ausschließlich sunnitisch-hanafitisch. Das Erziehungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr im Personalausweis, wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung und die Polizei einsehbar. Die Freistellung von alevitischen Kindern vom obligatorischen Religionsunterricht muss in der Regel auf dem Klageweg erstritten werden, da sie im Register als Muslime erfasst werden. Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung (BMZ 10.2020). Atheisten, Agnostiker, Baha'i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 15.5.2023).

Das Verfassungsgericht entschied im April 2022, dass der obligatorische Religionsunterricht gegen die Religionsfreiheit verstößt, und bestätigte damit die beiden früheren Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), welcher die Türkei wegen des Prinzips und des Inhalts des obligatorischen Religionsunterrichts kritisiert hatte (AM 12.4.2022; vgl. Bianet 11.4.2022).

Aleviten und Nicht-Muslime werden in Schulen und im öffentlichen Sektor systematisch diskriminiert (FH 10.3.2023, F4; vgl. AA 28.7.2022, S. 11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften nur in Einzelfällen im öffentlichen Dienst zu finden, aber nicht in der Armee (ÖB 30.11.2022, S. 26). Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Und Mitte August 2022 erfolgte seine Ernennung zum Distriktgouverneur von Babadağ/Denizli. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. - Im türkischen Parlament zählt die Republikanische Volkspartei (CHP) einen und die Demokratische Partei der Völker (HDP) zwei christliche Abgeordnete in ihren Reihen (ÖB 30.11.2022, S. 26).

Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 28.7.2022, S. 11; vgl. BMZ 10.2020) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 10.2020). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 28.7.2022, S. 11).

 

 

 

 

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 29.8.2022

 AM – Al Monitor (12.4.2022): Turkey’s top court rules compulsory religion courses violate rights, https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkeys-top-court-rules-compulsory-religion-courses-violate-rights , Zugriff 19.4.2022

 AM – Al Monitor (9.1.2019): Turks losing trust in religion under AKP, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/01/turkey-becoming-less-religious-under-akp.html , Zugriff 1.3.2022

 BMZ – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [Deutschland] (10.2020): Zweiter Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit, https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2410402/9e394a9928461b6c4ac0d4368b7a26af/201028-zweiter-bericht-der-bundesregierung-zur-weltweiten-lage-der-religionsfreiheit-data.pdf , Zugriff 3.5.2022

 Bianet (12.4.2022): Why Turkey's minorities not able to elect their community leaders for nine years?, https://bianet.org/english/minorities/260380-why-turkey-s-minorities-not-able-to-elect-their-community-leaders-for-nine-years , Zugriff 23.11.2022

 Bianet (11.4.2022): Compulsory religion class violates ECHR, Constitutional Court rules, https://bianet.org/english/law/260286-turkey-s-compulsory-religion-class-violates-echr-constitutional-court-rules , Zugriff 19.4.2022

 DF - Deutschlandfunk (19.2.2018): Mystik in der Türkei - Eine Frau leitet einen Sufi-Orden, https://www.deutschlandfunk.de/mystik-in-der-tuerkei-eine-frau-leitet-einen-sufi-orden-100.html , Zugriff 11.5.2022

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 DW – Deutsche Welle (9.1.2019): Zahl der Atheisten in Erdogans Türkei steigt, https://www.dw.com/de/zahl-der-atheisten-in-erdogans-t%C3%BCrkei-steigt/a-46992921 , Zugriff 1.3.2022

 EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 29.6.2022

 FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2023 , Zugriff 27.4.2023

 NHC-FBI - Norwegian Helsinki Committee’s Freedom of Belief Initiative [Yıldırım, Mine] (19.4.2022): An Appeal to Move Forward from Aspirations to Actions - Monitoring Report on the Right to Freedom of Religion or Belief in Turkey, https://inancozgurlugugirisimi.org/wp-content/uploads/2022/04/iog-monitoring-report-on-forb-2022-en.pdf , 9.5.2022

 NHC – Norwegian Helsinki Committee (11.9.2020): Pursuing Rights and Equality: Monitoring Report on the Right to Freedom of Religion or Belief in Turkey, https://www.nhc.no/content/uploads/2020/09/Report_Turkey_ENG_web.pdf , Zugriff 1.3.2022

 NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf , Zugriff 1.3.2022

 NZZ - Neue Zürcher Zeitung (1.2.2022): Kulturkampf in der Türkei: Die türkische Pop-Königin ist unantastbar – auch für Erdogan, https://www.nzz.ch/podcast/sezen-aksu-erdogans-kulturkampf-nzz-akzent-ld.1667345 , Zugriff 27.4.2023

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 USCIRF – US Commission on International Religious Freedom: Country [USA] (4.2022): Annual Report 2022, https://www.uscirf.gov/sites/default/files/2022-04/2022%20USCIRF%20Annual%20Report_1.pdf , Zugriff 9.5.2022

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 27.4.2023

 USDOS – US Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Turkey (Türkiye), https://www.ecoi.net/de/dokument/2091933.html , Zugriff 19.6.2023

 USDOS – US Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2051585.html , Zugriff 1.3.2022

 USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 1.3.2022

 

Aleviten

Letzte Änderung: 26.06.2023

Alevi ist die Bezeichnung für eine große Zahl von heterodoxen schiitischen Gemeinschaften mit unterschiedlichen Merkmalen. Damit bilden die Aleviten die größte religiöse Minderheit in der Türkei. Technisch gesehen fallen sie unter die schiitische Konfession des Islam, folgen aber einer grundlegend anderen Interpretation als die schiitischen Gemeinschaften in anderen Ländern. Sie unterscheiden sich auch erheblich in ihrer Praxis und Interpretation des Islam von der sunnitischen Mehrheit (MRGI 6.2018a). Während die meisten Aleviten ihren Glauben als eigenständige Religion betrachten, identifizieren sich einige als Schiiten oder Sunniten oder sehen ihre alevitische Identität überwiegend in einem kulturellen und nicht religiösen Rahmen. Aleviten sind meist säkular orientiert und unterstützen eine strikte Trennung von Religion und Politik (DFAT 10.9.2020, S. 24).

Die Zahl der Aleviten ist umstritten. Schätzungen aus verschiedenen Quellen variieren beträchtlich, von etwa 10 % bis zu 40 % der Gesamtbevölkerung. Aktuelle Zahlen deuten auf eine Zahl von 20 bis 25 Millionen hin (MRGI 6.2018a; vgl. USCIRF 4.2022, S. 63). Die türkische Regierung erkennt die Aleviten nicht offiziell an, weshalb sie bei Volkszählungen zu den Muslimen hinzugezählt werden (Gatestone 18.1.2018; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 24). Viele Aleviten sind auch Kurden, obwohl die geschätzten Zahlen wiederum sehr unterschiedlich sind (zwischen einer halben und mehreren Millionen). Kurdische Aleviten identifizieren sich primär eher als Aleviten (DFAT 10.9.2020, S. 24). Politisch stehen die kurdischen Aleviten vor dem Dilemma, ob sie ihrer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft gegenüber loyal sein sollen. Einige kümmern sich mehr um die religiöse Solidarität mit den türkischen Aleviten als um die ethnische Solidarität mit den Kurden, zumal viele sunnitische Kurden sie missbilligen (MRGI 6.2018a). Während die Aleviten über die ganze Türkei verstreut sind, konzentrieren sich die alevitischen Kurden auf Zentral- und Ost-Anatolien, Istanbul und andere Großstädte. Tunceli (Dersim) [östliche Zentraltürkei] ist das Zentrum des alevitischen Glaubens. Seine Bevölkerung ist überwiegend (zu 95 %) alevitisch. Durchschnittliche Aleviten verhalten sich in der Gesellschaft in der Regel unauffällig und betonen ihre religiöse Identität nicht (DFAT 10.9.2020, S. 24).

Das Alevitentum wird offiziell weiterhin als heterodoxe muslimische "Sekte" behandelt, nicht jedoch als religiöses Bekenntnis anerkannt. Dies führt dazu, dass alevitische Gebetshäuser (Cemevi) in vielen Gemeinden nicht als Gotteshäuser anerkannt sind, und dies trotz anderslautender Urteile des Obersten Berufungsgerichtes (Kassationsgericht) vom November 2018 und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (USDOS 15.5.2023; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 27). Infolgedessen stehen die Gebetshäuser nicht unter dem Schutz des türkischen Strafgesetzes (ÖB 30.11.2022, S. 27). Führungspersönlichkeiten der Aleviten nannten die Anzahl der 2.500 bis 3.000 Gebetshäuser als unzureichend, um die Bedürfnisse der Gläubigen zu befriedigen. Die Regierung erklärte weiterhin, dass die vom Diyanet finanzierten sunnitischen Moscheen den Aleviten und allen Muslimen zur Verfügung stünden, unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung (USDOS 15.5.2023). Abweichend von der Regierungslinie, wurden den Aleviten vereinzelt auf lokaler Ebene Rechte und Unterstützung eingeräumt. In Ízmir erhielten sieben Cemevis den Status einer Kultstätte. In Istanbul wurden kostenlose kommunale Dienstleistungen wie den anderen Religionsgemeinschaften auch den Gebetshäusern der Aleviten zugestanden (USDOS 12.5.2021).

Aleviten sind von einer systematischen Diskriminierung in Schulen und im öffentlichen Bereich betroffen (FH 10.3.2023, F4). Die türkische Regierung hat den Aktionsplan, der 2016 dem Ministerkomitee des Europarates vorgelegt wurde und sich auf Entscheidungen des EGMR über Cemevi und obligatorischen Religionsunterricht bezieht, nicht umgesetzt. Allerdings wurde am 9.11.2022 das neue staatliche Gremium für Alevitische Kultur und Gebetshäuser im Ministerium für Kultur und Tourismus durch Präsidentendekret eingerichtet. Parallel dazu wurde ein Gesetzesentwurf zur Regulierung von alevitischen Cemevi im türkischen Parlament eingebracht. Zahlreiche alevitische Verbände, CHP- und HDP-Abgeordnete protestierten dagegen. Hauptkritikpunkt ist, dass die alevitische Hauptforderung, Cemevi als Gebetsstätten anzuerkennen, nicht enthalten ist (ÖB 30.11.2022, S. 27; vgl. USDOS 15.5.2023).

Alevitische Eltern sind nach wie vor mit Problemen konfrontiert, wenn sie ihre Kinder vom sunnitischen Religionsunterricht abmelden wollen, da die Behörden die Aleviten nicht als religiöse Minderheit anerkennen (USCIRF 12.2021, S. 3). Andererseits dürften inzwischen erste Schritte zur Umsetzung eines EGMR-Urteils aus 2016 hinsichtlich der Verletzung der Religionsfreiheit und des Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot gesetzt worden sein (ÖB 30.11.2021, S. 27). Allerdings sah Ende September 2021 das Ministerkomitee des Europarates laut eigenen Angaben in der ungerechtfertigten und diskriminierenden Weigerung, den Glauben der alevitischen Gemeinschaft als Religion anzuerkennen, einen Grund, das Monitoring der Türkei fortzusetzen (CoE 27.9.2021, S. 3).

Als zweitgrößte religiöse Gruppe des Landes werden die Aleviten von Teilen der Mehrheitsgesellschaft als fremd und unzuverlässig angesehen (BMZ 10.2020). Die Aleviten sehen sich weiterhin mit Hassverbrechen konfrontiert, entsprechende Ermittlungen sind jedoch bisher meist ohne Resultate geblieben (EC 12.11.2022, S. 35).

 

Beispiele für Übergriffe

Aleviten sind weiterhin Ziel von Hassreden und Mobgewalt (FH 10.3.2023, D2). - Mehrfach waren Einrichtungen des alevitischen Kulturverbandes, Pir Sultan Abdal, das Ziel von Drohbotschaften. Im Jänner 2020 wurden Böden und Fenster des Kulturverbandes in Istanbul mit Drohbotschaften beschmiert (Ahval 8.2.2020). Im Oktober 2020 schrieben Unbekannte an die Tür des Hauses des Vorsitzenden des Pir Sultan Abdal Vereins in Bursa: "Es ist deine Zeit für den Tod" (USDOS 12.5.2021). 2020 erfolgte auch ein Angriff auf den Oppositionsführer der Republikanischen Volkspartei (CHP) Kılıçdaroğlu – ein Alevit – durch ein Mitglied der Gruppierung "Graue Wölfe" (ÖB 30.11.2021, S. 27). Auch 2021 wurden Häuser von Aleviten in Istanbul, Adana und Yalova mehrfach mit roten Kreuzen gekennzeichnet und Drohparolen besprüht (ÖB 30.11.2021, S. 26f.; vgl. USCIRF 4.2022, S. 62). Im Jänner 2021 wurden Häuser in der Provinz Yalova in roter Farbe mit einem "X" und der Bezeichnung "Alevi" markiert (TM 26.1.2021). Im August 2021 brachen Unbekannte in ein alevitisches Gebetshaus in Istanbul ein und beschädigten es (USCIRF 4.2022, S. 62). Im September 2021 berichteten die Medien, dass Unbekannte in der Provinz Mersin kurdisch-alevitische Häuser mit Graffiti beschmiert haben, auf denen stand: "Kurdische Aleviten raus" (USDOS 2.6.2022). AKP-Abgeordneter Hüseyn Besli bezeichnet im November 2021 Alevis und Kurden in einem in der regierungsfreundlichen Tageszeitung Akşam erschienen Artikel als chronische Lügner. Schon alevitische Kinder würden von ihren Eltern lernen, wie man am besten lügt (ÖB 30.11.2022, S. 27; vgl. Cumhuriyet 14.11.2022).

Im Jahr 2022 nahmen die gewalttätigen Übergriffe gegen alevitische Einrichtungen deutlich zu. Zwischen Juli und August wurden mindestens fünf alevitische NGOs und Gotteshäuser angegriffen und verwüstet (FH 10.3.2023, D2). Am 30.7.2022, dem ersten Tag des für die Aleviten heiligen Monats Muharram, wurden in Ankara gleichzeitig Angriffe auf die alevitschen Gebetshäuser und Vereine Tuzluçayır Ana Fatma Djemevi, Ege Mahallesi Şah-ı Merdan Djemevi, Gökçebel Village Association sowie die turkmenisch-alevitische Bektashi-Stiftung verübt. Beim Angriff auf die Bektashi-Stiftung wurde eine Frau durch Messerstiche verletzt und in ein Krankenhaus gebracht. Die übrigen Einrichtungen wurden mit Steinen und Stühlen beworfen. Ein Verdächtiger wurde festgenommen (Duvar 31.7.2022; vgl. BAMF 1.8.2022, S. 10, USDOS 15.5.2023). Am 5.8.2022 wurde Selami Sarıtaş, der Leiter der alevitischen Gemeinde Kartal-Cemevi, von zwei unbekannten Tätern vor seinem Wohnhaus in Istanbul körperlich angegriffen und verletzt (BAMF 8.8.2022, S. 11; vgl. HDN 8.8.2022, ÖB 30.11.2022, S. 27). Die Polizei reagierte mit der Aufstellung eines Spezialteams, um die Angreifer zu fassen (HDN 8.8.2022). Ein Cemevi und Häuser von Aleviten wurden im November 2022 mit Schimpfwörtern besprüht (ÖB 30.11.2022, S. 27).

Ein Teil der Aleviten bemüht sich um Anerkennung als eigene Konfession und Gleichstellung mit dem sunnitischen Islam. Das Thema Aleviten und Anerkennung ihrer Rechte bzw. Reformen zur Gleichstellung ihres Status verschwand seit dem Putschversuch 2016 gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs (ÖB 30.11.2022, S. 27). Allerdings wurden nach dem Putschversuch Tausende Aleviten festgenommen oder verloren ihre Arbeit. Sie wurden von Staatspräsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) pauschal verdächtigt, mit dem Militär und mit den Putschisten sympathisiert zu haben (Gatestone 18.1.2018).

 

Quellen:

 Ahval (8.2.2020): Turkey: Alevi community exposed to physical, psychological violence, https://ahvalnews.com/religion/turkey-alevi-community-exposed-physical-psychological-violence , Zugriff 1.3.2022

 BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (8.8.2022): Briefing Notes, KW 32, Gewaltsamer Übergriff auf ein alevitisches Gemeindemitglied, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw32-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 17.8.2022

 BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (1.8.2022): Briefing Notes, KW 31, Angriffe auf alevitische Einrichtungen, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw31-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 5.8.2022

 BMZ – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [Deutschland] (10.2020): Zweiter Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit, https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2410402/9e394a9928461b6c4ac0d4368b7a26af/201028-zweiter-bericht-der-bundesregierung-zur-weltweiten-lage-der-religionsfreiheit-data.pdf , Zugriff 3.5.2022

 CoE – Council of Europe (Department For The Execution Of Judgments Of The European Court Of Human Rights) (27.9.2021): Turkey - main issues before the Committee of Ministers - ongoing supervision, https://rm.coe.int/mi-turkey-eng/1680a23cae#page=1&zoom=auto ,-275,848, Zugriff 22.2.2022

 Cumhuriyet (14.11.2022): Eski AKP'li vekil Hüseyin Besli Alevi ve Kürt yurttaşları hedef aldı, https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/eski-akpli-vekil-huseyin-besli-alevi-ve-kurt-yurttaslari-hedef-aldi-1884700 , Zugriff 27.4.2023

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 HDN – Hürriyet Daily News (8.8.2022): Special team assigned over cemevi head attack, https://www.hurriyetdailynews.com/special-team-assigned-over-cemevi-head-attack-175942 , Zugriff 17.8.2022

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 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 27.4.2023

 TM – Turkish Minute (26.1.2021): Houses belonging to Alevis marked with X’s in western Turkey, https://www.turkishminute.com/2021/01/26/houses-of-alevis-marked-with-crosses-in-western-turkey/ , Zugriff 1.3.2022

 USCIRF – US Commission on International Religious Freedom: Country [USA] (4.2022): Annual Report 2022, https://www.uscirf.gov/sites/default/files/2022-04/2022%20USCIRF%20Annual%20Report_1.pdf , Zugriff 9.5.2022

 USCIRF – US Commission on International Religious Freedom: Country [USA] (12.2021): Update: Turkey; Religious Freedom in Turkey in 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069569/2021+Turkey+Country+Update.pdf , Zugriff 27.4.2022

 USDOS – US Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Turkey (Türkiye), https://www.ecoi.net/de/dokument/2091933.html , Zugriff 19.6.2023

 USDOS – US Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2074011.html , Zugriff 13.6.2022

 USDOS – US Department of State (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Turkey,https://www.ecoi.net/de/dokument/2051585.html , Zugriff 1.3.2022

 

Atheisten, Agnostiker und andere nicht-religiöse Personengruppen

Letzte Änderung: 26.06.2023

Hasstiraden und Beleidigungen gegen Atheisten und Deisten gingen laut Europäischer Kommission auch 2022 weiter (EC 12.10.2022, S. 35). - Atheisten, Agnostiker und Deisten werden am Arbeitsplatz, in der Familie und im Bildungssystem in ihrem Recht auf Gedanken- und Glaubensfreiheit diskriminiert. Angehörige dieser Personengruppen haben kein Recht auf Befreiung vom obligatorischen Religionsunterricht im Fach "Religiöse Kultur und Ethik". Wer sich kritisch über Religion oder Glauben im Allgemeinen oder über bestimmte Auslegungen, insbesondere des Islams, äußert, muss mit einer Anzeige rechnen und läuft Gefahr, nach dem türkischen Strafgesetzbuch verfolgt zu werden. Dies geschieht insbesondere nach Artikel 216/3: "öffentliche Herabsetzung der religiösen Werte eines Teils der Bevölkerung". Umgekehrt wird Artikel 216/3 nicht angewandt, um diese Minderheiten vor hasserfüllten oder verleumderischen Äußerungen zu schützen (NHC-FBI 19.4.2022, S. 6).

Am 23.10.2020 hielt der Leiter der staatlichen Religionsbehörde (DIYNET), Ali Erbaş, eine Rede anlässlich der Eröffnung einer Moschee in Patnos/Ağrı durch Staatspräsident Erdoğan. Darin richtete Erbaş sich gegen die Ungläubigen und sagte: "Von Menschen, die nicht an das Leben nach dem Tod glauben, wird alles Böse erwartet". Die Vereinigung der Atheisten in der Türkei reagierte mit einer Strafanzeige bei der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul wegen offener Beleidigung nicht-gläubiger Bürger (AD 6.12.2020). Unbeeindruckt von der Klage verkündigte Erbaş Ende März 2021: "Schützen wir unsere Kinder vor anderen Ideologien als dem Islam und verschiedenen Organisationen und Strukturen, die Unglauben, Atheismus, Deismus und Zoroastrismus fördern. Wir würden eine Sünde begehen, wenn wir sie nicht schützen würden" (Duvar 29.3.2021).

Laut einer aktuellen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Konda gibt es in der Türkei immer mehr Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen - in den vergangenen zehn Jahren habe sich ihre Zahl verdreifacht (DW 9.1.2019; vgl. HI 5.1.2021) und die Zahl der Nichtgläubigen verdoppelt, sodass der Anteil der beiden Kategorien insgesamt 5 % beträgt. Dieser Prozentsatz steigt insbesondere bei den jungen Menschen unter 30 Jahren an (HI 5.1.2021). Laut Konda war bereits 2019 die Zahl der Jugendlichen, die sich als religiös bezeichnen um 7 % auf 15 % gefallen (MEE 20.3.2019).

 

Quellen:

 AD - Ateizm Derneği [Atheismus Vereinigung] (6.12.2020): Criminal Complaint, https://www.ateizmdernegi.org.tr/blog/2020/12/06/criminal-complaint/ , Zugriff 10.5.2022

 Duvar (29.3.2021): Children must be protected from ideologies other than Islam: Turkey's top religious body, https://www.duvarenglish.com/children-must-be-protected-from-ideologies-other-than-islam-turkeys-top-religious-body-news-56839 , Zugriff 10.5.2022

 DW – Deutsche Welle (9.1.2019): Zahl der Atheisten in Erdogans Türkei steigt, https://www.dw.com/de/zahl-der-atheisten-in-erdogans-t%C3%BCrkei-steigt/a-46992921 , Zugriff 1.3.2022

 EC – European Commission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 3.11.2022

 HI - Humanists International (5.1.2021): Freedom of Thought Report - Turkey, https://fot.humanists.international/countries/asia-western-asia/turkey/#Non-believers , Zugriff 10.5.2022

 MEE - Middle East Eye (20.3.2019): Turkish youth increasingly secular and modern under Erdogan, poll finds, https://www.middleeasteye.net/news/turkish-youth-increasingly-secular-and-modern-under-erdogan-poll-finds , Zugriff 28.4.2023

 NHC-FBI - Norwegian Helsinki Committee’s Freedom of Belief Initiative [Yıldırım, Mine] (19.4.2022): An Appeal to Move Forward from Aspirations to Actions - Monitoring Report on the Right to Freedom of Religion or Belief in Turkey, https://inancozgurlugugirisimi.org/wp-content/uploads/2022/04/iog-monitoring-report-on-forb-2022-en.pdf , 9.5.2022

 

Ethnische Minderheiten

Letzte Änderung: 26.06.2023

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolische und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 20.3.2023, S. 85).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 28.7.2022, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRGI 6.2018b).

Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen (BS 23.2.2022, S. 7). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).

Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.3.2023, S. 85f.).

Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 12.10.2022, S. 43). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40). Von Hassreden und Übergriffen sind insbesondere auch Aleviten und Nicht-Muslime betroffen (FH 10.3.2023, D2). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).

Im Jahr 2020 waren insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner militärischen Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 2.2022, D2; vgl. USCIRF 12.2021, S. 4). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023, S. 87).

Die Regierung hat die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Gesetzliche Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen blieben in Kraft (EC 12.10.2022, S. 45). Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf (EC 19.10.2021, S. 41). An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch und Tscherkessisch angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Zazaki, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch. Allerdings wirkt die limitierte Aufnahme oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten ausgewirkt, die bereits durch die COVID-19-Pandemie beeinträchtigt wurden (EC 12.10.2022, S. 45).

Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2022; S. 28).

 

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 29.8.2022

 bpb – Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, https://web.archive.org/web/20180220015658/http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr-2017-2018 , Zugriff 15.5.2023 [Originallink funktioniert nicht mehr]

 BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf , Zugriff 21.3.2022

 EC – European Commission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 3.11.2022

 EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 25.2.2022

 EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 25.2.2022

 EP – Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 29.6.2022

 FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2023 , Zugriff 5.5.2023

 FH – Freedom House (2.2022): Freedom in the World 2022 – Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2022 , Zugriff 28.2.2022

 HDF – Hrant Dink Foundation (3.11.2020): Hate Speech and Discriminatory Discourse in Media 2019 Report, https://hrantdink.org/attachments/article/2728/Hate-Speech-and-Discriminatory-Discourse-in-Media-2019.pdf , Zugriff 25.2.2022

 MRGI – Minority Rights Group International (6.2018b): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/ , Zugriff 25.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 26.4.2023

 USCIRF – US Commission on International Religious Freedom: Country [USA] (12.2021): Update: Turkey; Religious Freedom in Turkey in 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069569/2021+Turkey+Country+Update.pdf , Zugriff 27.4.2022

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugirff 26.4.2023

 

Kurden

Letzte Änderung: 26.06.2023

Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20).

Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 30.11.2022, S. 27). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).

Dennoch wird der Krieg der Regierung gegen die PKK zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen (FH 10.3.2023, F4).

Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkari und ländliche Teile der Provinz Tunceli blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 20.3.2023, S. 29, 85). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 12.10.2022, S. 5). [Anm.: für weiterführende Informationen siehe Kapitel "Sicherheitslage" und Unterkapitel "Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)"]

Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 7.6.2022 "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Im Jahr davor zeigte sich das EP zudem besorgt "über die Einschränkungen der Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, sowie über den anhaltenden Druck auf kurdische Medien, Kultur- und Sprachinstitutionen und Ausdrucksformen im ganzen Land, der eine weitere Beschneidung der kulturellen Rechte zur Folge hat", und, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 10.5.2021, S. 16f, Pt. 44). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 10.5.2021, S. 17, Pt. 44).

Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023, S. 85) und die meisten blieben es auch (EC 12.10.2022, S. 18, 45). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete (EC 12.10.2022, S. 18; vgl. CCRT 8.4.2021)

Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 12.10.2022, S. 18). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). So wurden beispielsweise am 16.6.2022 16 kurdischen Journalistinnen und Journalisten, die eine Woche zuvor in Diyarbakır festgenommen worden waren, nach Gerichtsbeschluss in ein Gefängnis gebracht, vier weitere wurden unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Medienschaffenden wurden unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der verbotenen Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) [Dachorganisation der PKK] sowie Terrorpropaganda verhaftet. Ihnen wird vorgehalten, Sendungen für kurdische Fernsehsender im Ausland produziert sowie Interviews mit der KCK-Führung genutzt zu haben, um Anweisungen von diesen zu verbreiten (BAMF 20.6.2022, S. 11; vgl. VOA 11.6.2022; ÖB 30.11.2022, S. 22f.). Im Gegensatz hierzu entschied das Verfassungsgericht im Juli 2021, dass die Schließung der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem per Notstandsdekret im Zuge des Putsches vom Sommer 2016 das verfassungsmäßige Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzte. Ein türkisches Gericht hatte am 16.8.2016 die Schließung der Tageszeitung mit der Begründung angeordnet, dass diese eine Propagandaquelle der PKK sei (Ahval 4.7.2021). Kurdisch-sprachige Medien sind seit Ende des Friedensprozesses 2015 bzw. nach dem Putschversuch 2016 vermehrt staatlichem Druck ausgesetzt. Zahlreiche kurdischsprachige Medien wurden verboten (AA 28.7.2022, S. 10).

Zur Verfolgung kurdischer Journalisten siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit / Internet

Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit Langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig, so auch 2022, anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), zum kurdischen Neujahrsfest Newroz (Rudaw 22.3.2022) und am 1. Mai (WKI 3.5.2022).

Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21).

 

Übergriffe

Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (NL-MFA 2.3.2022, S. 43). Im Juli 2021 veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021). Auch im Jahr 2022 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden ÖB 30.11.2022, S. 27).

 

Beispiele: Im Mai 2020 wurde ein zwanzigjähriger Kurde in einem Park in Ankara erstochen, vermeintlich weil er kurdische Musik spielte (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f.). Anfang September 2020 wurde eine Gruppe von 16 kurdisch-stämmigen Saisonarbeitern aus Mardin bei der Haselnussernte gefilmt, wie sie von acht Männern tätlich angegriffen wurden (France24 15.9.2021; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S. 48). Entgegen den Betroffenen haben die türkischen Behörden einen ethnischen Kontext der Vorfälle bestritten (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f.; France24 15.9.2021). Regierungskritiker verzeichneten im Juli 2021 innerhalb von zwei Wochen vier Übergriffe auf kurdische Familien und Arbeiter, inklusive eines Toten bei einem Vorfall in Konya (Duvar 22.7.2021). So wurden laut der HDP-Abgeordneten, Ayşe Sürücü, eine Gruppe kurdischer Landarbeiter in der Provinz Afyonkarahisar von einem nationalistischen Mob physisch angegriffen, weil sie kurdisch sprachen. Sieben Personen, darunter zwei Frauen, mussten in Folge ins Krankenhaus (HDP 21.7.2021; vgl. TP 20.7.2021). Im September 2021 wurde das Haus von kurdischen Landarbeitern in Düzce von einem Mob umstellt, der ein Fenster einschlug und die Kurden aufforderte, zu gehen, da hier keine Kurden geduldet seien. Nach Angaben der Opfer stellte sich die Polizei auf die Seite der Angreifer und schloss den Fall ab (WKI 28.9.2021). Im Februar 2022 brachte die HDP den Vorfall einer vermeintlich rassistischen Attacke einer Gruppe von 30 Personen auf drei kurdische Studenten auf dem Campus der Akdeniz-Universität in der Provinz Antalya auf die Tagesordnung des Parlaments (Duvar 23.2.2022). Im September 2022 wurde eine kurdische Familie, die im Dorf Arpadere in der westlichen Provinz Aydın ein Haus kaufen wollte, bei einem, von manchen Quellen als rassistisch eingestuften, Angriff der Dorfbewohner schwer misshandelt. Die Polizei reagierte nicht auf den Frauen-Notruf KADES, der von einem weiblichen Familienmitglied aktiviert wurde (Duvar 13.9.2022; vgl. Bianet 13.9.2022).

Verwendung der kurdischen Sprache

Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 30.11.2022, S. 28). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Die bisherigen Bemühungen gewählter Gemeindevertretungen, die Schaffung von Sprach- und Kultureinrichtungen in diesen Provinzen zu fördern, blieben allerdings erfolglos. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, kurdische Medien und zahlreiche Kunsträume bleiben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016, was zu einer weiteren Einschränkung der kulturellen Rechte beitragt (EC 12.10.2022; S. 43). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern (ÖB 30.11.2022, S. 28) - So wurden 2019 lediglich 59 Kurdisch-Lehrer an staatliche Schulen eingestellt (Bianet 21.2.2022) - sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 30.11.2022, S. 28). Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (NL-MFA 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AM 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).

Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 30.11.2022, S. 28). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte, kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Dogan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. - Der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AM 10.8.2022; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 28). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Wahlkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022). Und im Jänner 2023 teilte der Parlamentsabgeordnete der HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, mit, dass zwei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Hevra festgenommen wurden, weil sie auf Kurdisch auf einem vom HDP-Jugendrat organisierten Konzert in Darıca nahe Istanbul gesungen haben (Duvar 23.1.2023).

Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020).

Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 10). 2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2022, S. 28). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).

Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S. 71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2021 immer wieder von Gewaltakten, mitunter mit Todesfolge, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 30.11.2021, S. 27).

In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Durvar 30.8.2021). Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).

Siehe auch das Unterkapitel: "Opposition" und bezüglich kurdischer Gefängnisinsassen das Kapitel: "Haftbedingungen"

 

Quellen:

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Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Letzte Änderung: 27.06.2023

Die türkische Gesetzgebung verankert die Gleichheit von Mann und Frau in Art. 10 der Verfassung. Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung - auch in der Ehe - sind unter Strafe gestellt (ÖB 30.11.2022, S. 36), und zwar mit zwei bis zehn Jahren Freiheitsentzug bei Verurteilung wegen versuchten sexuellen Missbrauchs und mindestens zwölf Jahren bei Verurteilung wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung (USDOS 20.3.2023, S. 79). Allerdings werden diese Bestimmungen nicht immer effektiv umgesetzt (USDOS 20.3.2023, S. 79; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 36). Ursache hierfür ist, dass in bestimmten Teilen der Gesellschaft verankerte Stereotype ebenso ein Hindernis bei der Umsetzung der Rechte der Frauen bleiben (ÖB 30.11.2022, S. 36) wie der mangelnde politische Wille und der patriarchale Zugang der Regierung zur Problematik (MEI 18.12.2019). Zwar wurden in den letzten 15 Jahren zahlreiche neue Gesetze - insbesondere 2012 das Gesetz Nr. 6284 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt - und politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen verabschiedet, inklusive der Bekämpfung häuslicher Gewalt, doch gibt es in fast allen Bereichen der Sozialpolitik, die mit Frauenrechten zu tun haben - von sexueller Gewalt über häusliche Gewalt bis hin zu Menschenhandel - erhebliche Umsetzungslücken, die weiterhin eine große Herausforderung darstellen. So werden im türkischen Strafgesetzbuch nicht alle Arten von Gewalt gegen Frauen als Straftaten definiert. Zwangsheirat oder psychische Gewalt werden nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt. Besorgniserregend ist laut Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen der Vereinten Nationen auch die Unvereinbarkeit und mangelnde Harmonisierung der nationalen Gesetze der Türkei mit ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen (OHCHR 27.7.2022, S. 4).

 

Austritt aus der "Istanbul-Konvention"

Trotz Forderung des Europäischen Parlaments "diese nicht nachvollziehbare Entscheidung zurückzunehmen, die eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden europäischen Werte darstellt und im Rahmen des Beitrittsprozesses der Türkei Eingang in die Bewertung finden wird" (EP 7.6.2022, S. 9, Pt. 11), entschied der Staatsrat als oberstes Verwaltungsgericht, dass die Entscheidung von Staatspräsident Erdoğan hinsichtlich des Austrittes aus der Istanbul-Konvention rechtmäßig war (AP 19.7.2022; vgl. EC 12.10.2022, S. 41). Das Gesetz zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen (Gesetz Nr. 6284) aus dem Jahr 2012 übernahm allerdings viele Aspekte der Istanbul-Konvention in das innerstaatliche Recht und bleibt trotz des Austritts der Türkei aus der Konvention in Kraft. Darüber hinaus ist die Türkei an andere internationale Menschenrechtsvorschriften gebunden, die sie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verpflichten. Zu nennen sind hier insbesondere das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) (HRW 5.2022, S. 2, 5).

Seinerzeit wurde die Istanbul-Konvention als erste internationale völkerrechtsverbindliche Vereinbarung vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan als einem der ersten 2011 unterschrieben und im Parlament 2012 ratifiziert. Seit Jahren wurde insbesondere von den Islamisten innerhalb und außerhalb der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Kritik an der Konvention immer lauter, nämlich dahin gehend, dass diese die Ordnung in der Familie untergrabe, die Scheidungsrate steigere und überhaupt hierdurch die Frau dem Manne den Gehorsam verweigere. Außerdem sahen islamisch-konservative Kreise in der Konvention auch einen Türöffner für die von ihnen verhasste "LGBTIQ-Kultur" und überhaupt für das Vordringen vermeintlicher westlicher Dekadenz (Standard 20.3.2021; vgl. AP 20.3.2021, NZZ 21.3.2021). So erklärte der Kommunikationschef des Präsidenten, die Konvention sei missbraucht worden, um "Homosexualität zu normalisieren", was mit den gesellschaftlichen Werten der Türkei unvereinbar sei. Die Ministerin für Familie, Arbeit und Sozialpolitik, Zehra Zumrut, argumentierte den Austritt damit, dass die Garantie von Frauenrechten in den türkischen Gesetzen und in der Verfassung ausreiche (DW 20.3.2021).

 

Kinder-, Früh- und Zwangsehen

Kinder-, Früh- und Zwangsehen geben nach wie vor Anlass zur Besorgnis, ebenso wie die willkürliche Strafminderung bei Gewalt gegen Frauen in Gerichtsverfahren, die möglicherweise Ausdruck sexistischer Vorurteile und Schuldzuweisungen an die Opfer sind. Insgesamt mangelt es an politischem Engagement, sich mit Fragen der Geschlechtergleichstellung zu befassen, und es herrscht eine wachsende Abneigung, den Begriff "Geschlechtergleichstellung" in offiziellen Dokumenten zu verwenden. Unabhängige Frauenrechtsorganisationen werden weitgehend vom Prozess der Ausarbeitung von Gesetzen und der Entwicklung von Politiken und Vorschriften zu Frauenfragen ausgeschlossen, während regierungsnahe, konservativere Organisationen konsultiert werden (EC 6.10.2020, S. 39).

Während ihrer langjährigen Regierungsherrschaft hat die konservative AK-Partei bzw. die Regierung der AKP eine starke Agenda der Familienwerte vorangetrieben: Frauen sollten heiraten und drei Kinder bekommen, so Präsident Erdoğan (NYRB 20.2.2019), weil sie ansonsten "unvollständig" seien. Das Frau-Sein wird mit der Mutterschaft gleichgesetzt. Laut Erdoğan können Frauen und Männer nicht gleichbehandelt werden, da dies gegen die Natur sei. Kurz nachdem Präsident Erdoğan im Jahr 2012 Abtreibung mit Mord gleichgesetzt hatte, sank die Zahl der staatlichen Krankenhäuser, die Abtreibungsdienste anbieten, dramatisch ab, sodass einige Frauen wie auch Mediziner im Zweifel sind, ob die Abtreibung, die 1983 legalisiert wurde, immer noch legal ist oder nicht (MEI 18.12.2019).

 

Gesetzliche Schutzmaßnahmen und deren praktische Umsetzung/ Verschärfungen des Strafrechts bezüglich Gewalt gegen Frauen

Das Gesetz verpflichtet die Polizei und die lokalen Behörden, Überlebenden von Gewalt oder von Gewalt bedrohten Personen verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Es schreibt auch staatliche Dienstleistungen wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für Überlebende vor und sieht vor, dass Familiengerichte Sanktionen gegen die Täter verhängen können (USDOS 20.3.2023, S. 80). Opfer häuslicher Gewalt können bei der Polizei oder beim Staatsanwalt am Gericht eine vorbeugende Verwarnung beantragen, die eine Reihe von Maßnahmen umfassen kann, die darauf abzielen, Täter häuslicher Gewalt zu zwingen, alle Formen der Belästigung und des Missbrauchs einzustellen, einschließlich des Verbots, sich dem Opfer zu nähern und es zu kontaktieren. Die Opfer haben auch das Recht, Schutzanordnungen zu beantragen, um verschiedene Formen des physischen Schutzes zu erwirken, einschließlich des sofortigen Zugangs zu einem Frauenhaus oder einer kurzfristigen Unterkunft, wenn kein Frauenhaus in unmittelbarer Nähe zur Verfügung steht. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, auf Verlangen Polizeischutz in Anspruch zu nehmen, und in einigen Fällen können Frauen ihre Identität und ihren Aufenthaltsort anonymisieren lassen. Die Gerichte stellen eine einstweilige Verfügung für eine bestimmte Dauer von bis zu sechs Monaten. Das Opfer kann deren Verlängerung beantragen. Täter können mit kurzen Haftstrafen (zorlama hapsi) belegt oder zum Tragen einer elektronischen Fußfessel verpflichtet werden, wenn sie gegen die Bedingungen der vorbeugenden Abmahnung verstoßen (HRW 5.2022, S. 2).

Mit dem vierten Justizreformpaket vom Juli 2021 wurden die Verbrechen der vorsätzlichen Tötung, vorsätzlichen Körperverletzung, Verfolgung und Freiheitsentziehung einer ehemaligen Ehepartnerin/eines ehemaligen Ehepartners in die Liste der sog. "qualifizierten Verbrechen" aufgenommen, was bisher nur während aufrechter Ehe galt. Die Strafen wurden angehoben. Experten begrüßen, dass der Anwendungsbereich auf frühere Ehepartner erstreckt wurde, sehen die Änderung jedoch als nicht weitreichend genug an und kritisieren die Beschränkung auf das formale Kriterium einer (früheren) Ehe unter Nichtbeachtung anderer partnerschaftlicher Verbindungen (ÖB 30.11.2022, S. 13f.). So kritisierte Reem Alsalem, UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen, ihre Ursachen und Folgen, dass die Änderung der Strafprozessordnung jedoch vorsieht, dass neben einem "dringenden strafrechtlichen Verdacht" auch "konkrete Beweise" für die Verhängung einer Untersuchungshaft während des Prozesses bei Straftaten, einschließlich sexueller Übergriffe und Missbrauch, verlangt werden. Laut Alsalem zugetragenen Informationen würden Männer, die Gewalt gegen Frauen ausüben, sich weiterhin erfolgreich auf "Gewohnheit" als mildernden Umstand berufen, um ihre Strafe gemäß Artikel 29 des Strafgesetzbuches zu verringern, was gegen internationale Menschenrechtsvorschriften verstößt (OHCHR 27.7.2022, S. 6).

Anlass zur Sorge gäbe außerdem der eingeschränkte Umfang der Prozesskostenhilfe, der dazu führt, dass Frauen, die den Mindestlohn verdienen, keinen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, das umständliche Verfahren zum Nachweis der Anspruchsberechtigung und die Sprachbarrieren, mit denen sich rechtsuchende Frauen konfrontiert sehen, insbesondere Frauen, die ethnischen Minderheiten angehören, einschließlich türkisch-kurdischer Frauen, und Frauen, die Flüchtlinge oder Migranten sind oder unter vorübergehendem Schutz stehen. Auch geschlechtsspezifische Stereotype und der Mangel an Richterinnen sind Alsalem zufolge problematisch (OHCHR 27.7.2022, S. 6).

Am 27.5.2022 wurde das Gesetz Nr. 7406, welches u. a. Änderungen des türkischen Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung (StPO) vornimmt, im Amtsblatt veröffentlicht. Dieses Änderungsgesetz macht die vorsätzliche Tötung einer Person zu einem erschwerenden Delikt, wenn das Opfer eine Frau ist. Zuvor galt unter anderem die Tötung einer "Frau, von der man weiß, dass sie schwanger ist", als erschwerender Umstand. Durch die Gesetzesänderung wird die vorsätzliche Tötung einer Frau nun mit einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet. Das Änderungsgesetz führt auch erhöhte Mindeststrafen für die Straftatbestände der vorsätzlichen Körperverletzung (Art. 86 StGB), der Peinigung (vorsätzliche Zufügung von Schmerzen und Leiden an einer Person, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist, Art. 96), Folter (folterähnliche Handlungen von Amtsträgern und ihren Gehilfen, Art. 94) und die Drohung, das Leben oder die körperliche oder sexuelle Unversehrtheit zu verletzen (Art. 106), wenn das Opfer eine Frau ist. Mit den Änderungen wird auch ein neuer Straftatbestand eingeführt, der die Verursachung einer schwerwiegenden Beunruhigung [disquiet] oder der Angst einer Person hinsichtlich ihrer eigenen Sicherheit oder die ihrer Angehörigen durch die beharrliche körperliche Verfolgung der Person oder den beharrlichen Versuch, mit der Person über Kommunikationsmedien, informationstechnische Systeme oder eine dritte Person Kontakt aufzunehmen unter Strafe stellt. Die Verfolgung der Straftat setzt die Anzeige des Opfers voraus, wobei die Straftat mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren geahndet wird. Die Strafe wird auf ein bis drei Jahre Gefängnis erhöht, wenn es u. a. ein geschiedener oder getrennt lebender Ehepartner ist. Schließlich wurden Änderungen an Artikel 62 der StPO vorgenommen, indem die Gründe für eine Strafmilderung nach Ermessen des Gerichts festgelegt sind. Die Änderungen stellen klar, dass "das Verhalten des Täters nach der Begehung der Straftat und während des Prozesses" Reue zeigen muss, damit es als Grund für eine Strafmilderung gilt. Die Gründe sind nun dezidiert aufgelistet, etwa der Hintergrund des Straftäters, seine sozialen Beziehungen und das reumütige Verhalten des Straftäters nach der Begehung der Straftat. Neu wird eine Ausnahme hinzugefügt, die besagt, dass vorgeschobene Handlungen eines Straftäters, die darauf abzielen, das Gericht zu beeinflussen, nicht als Grund für eine Strafmilderung angesehen werden können. Eine Reihe von Frauengruppen und Juristen haben die neuen Änderungen kritisiert, weil sie sich auf die Verschärfung der Strafen konzentrieren und nicht auf Maßnahmen zur Prävention und effizienten Untersuchung und Verfolgung von Gewaltdelikten gegen Frauen sowie auf die Unterstützung der Opfer. Die Kriminalisierung von Stalking scheint von diesen positiver aufgenommen worden zu sein, obwohl sie kritisierten, dass die Verfolgung der Straftat von der Anzeige des Opfers abhängig gemacht wird (LoC 20.6.2022).

Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums haben Polizeibeamte mitunter den Frauen davon abgeraten, häusliche Gewalt anzuzeigen und ermutigten sie, sich mit dem Täter zu versöhnen. Es kam auch vor, dass Frauen falsche oder gar keine Informationen erhielten, wenn sie sich an die Polizei wandten. Außerdem wurden Kontaktverbote, die von Familiengerichten oder Polizeibeamten verhängt wurden, nicht immer durchgesetzt. Darüber hinaus wurden Kontaktverbote zwar für maximal sechs Monate verhängt, jedoch nicht automatisch verlängert, sodass die Frauen wiederholt ein bürokratisches Verfahren durchlaufen mussten, um dieselbe Schutzmaßnahme erneut erwirken zu können (NL-MFA 2.3.2022, S. 53). Zwar erlassen Polizei und Gerichte Präventiv- und Schutzanordnungen, deren Nichtbeachtung jedoch hinterlässt gefährliche Schutzlücken für Frauen (HRW 5.2022, S. 3). In vielen Fällen konnten sich Männer, gegen die ein Kontaktverbot verhängt worden war, der Wohnadresse der betroffenen Frau nähern, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Es gab auch Verzögerungen bei der Verhängung von Kontaktverboten, oder diesbezügliche Aufforderungen dazu wurden einfach nicht befolgt (NL-MFA 2.3.2022, S. 53; vgl. HRW 5.2022, S. 3). Nicht nur stellen die Gerichte häufig Verwarnungen für viel zu kurze Zeiträume aus, sondern die Behörden versäumen es, wirksame Risikobewertungen vorzunehmen oder die Wirksamkeit der Anordnungen zu überwachen, sodass Überlebende häuslicher Gewalt der Gefahr fortgesetzter - und manchmal tödlicher - Gewalt ausgesetzt sind. Bei denjenigen, die strafrechtlich verfolgt und verurteilt wurden, kommt dies oft zu spät und die Strafen sind zu gering, um eine wirksame Abschreckung zu bewirken. In den schwerwiegendsten Fällen wurden Frauen ermordet, obwohl den Behörden die Gefahr, der sie ausgesetzt waren, bekannt war und den Tätern förmliche Vorbeugeanordnungen zugestellt worden waren (HRW 5.2022, S. 3). Laut Innenminister Süleyman Soylu wurde seit ihrer Einführung vor vier Jahren die staatliche mobile Anwendung KADES, die Frauen eine Hotline zur Meldung häuslicher Gewalt bietet, von 3,5 Millionen Frauen heruntergeladen. Seit 2018 haben mehr als 355.000 Frauen über diese App Fälle von Gewalt gemeldet (Duvar 28.7.2022). Allerdings kam die Polizei in manchen Fällen nach Notruf über die App nicht, oder gab der Frau inkorrekte Informationen, oder versuchte die Frau gar zu überreden, in der gewaltbehafteten Umgebung zu bleiben (NL-MFA 2.3.2022, S. 54).

Das Fehlen einer Abschreckungspolitik seitens der Justiz und der Verwaltung gegenüber den Tätern, die Verbrechen gegen Frauen begehen, gibt der Europäischen Kommission weiterhin Anlass zur Sorge. Das Fehlen eines engagierten Ansatzes seitens der Justiz und der Mangel an verfügbaren Unterstützungsdiensten wurden durch die negative Rhetorik der Behörden noch verschärft. (EC 12.10.2022, S. 41). Die unzureichende Datenerhebung verhindert, dass die Behörden und die Öffentlichkeit einen soliden Überblick über das Ausmaß der häuslichen Gewalt in der Türkei oder die Lücken in der Umsetzung des Schutzes erhalten, die zu den anhaltenden Risiken für die Opfer beitragen (HRW 5.2022, S. 4; vgl. EC 12.10.2022, S. 41).

Die Gerichte urteilen oft milde über die Täter sexueller Gewalt, darunter auch über diejenigen, die wegen der Vergewaltigung minderjähriger Mädchen verurteilt wurden, und die Strafen werden oft herabgesetzt, wenn der Angeklagte während des Prozesses "gutes Benehmen" an den Tag legt (DFAT 10.9.2020, S. 35). Laut einem Bericht aus den Reihen der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), jedoch unter Verwendung offizieller Daten des Justizministeriums, entschied die Justiz in den letzten acht Jahren in 73 % von fast 26.000 Fällen von Gewalt gegen Frauen, von einer Verfolgung der Täter abzusehen. Die Staatsanwälte ließen zwischen 2012 und 2020 18.551 Verdächtige häuslicher Gewalt frei, was einer Straffreiheit für sieben von zehn Gewalttätern gleichkommt, wobei es 2012 noch in über der Hälfte der Fälle zu einer Strafverfolgung kam, währenddessen 2019 in 82 % der Fälle von einer solchen abgesehen wurde (TM 25.11.2020). Gewalt gegen Frauen bleibt in der Türkei ein hochaktuelles Thema. Das Thema fand in den letzten Jahren wachsende Aufmerksamkeit und wird von Medien und einer breiteren Öffentlichkeit thematisiert. In Teilen der Bevölkerung findet eine wachsende Sensibilisierung statt. Projekte von NGOs zielen auf eine weitere Bewusstseinsbildung für das Problem ab (ÖB 30.11.2022, S. 36).

 

Femizide

Es kommt immer noch zu sogenannten Ehrenmorden an Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies kann auch Vergewaltigungsopfer betreffen (AA 28.7.2022, S. 14). Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben, sind oft unmittelbar bedroht (AA 24.8.2020, S. 18). Im Jahr 2022 wurden nach Angaben der Plattform "Wir werden Frauenmorde stoppen" 396 Femizide begangen (Welt 9.3.2023; vgl. RND 6.2.2023). Im Jänner 2023 wurden bereits 31 Frauen von ihren männlichen Partnern oder Verwandten ermordet. Weitere 28 Frauen starben unter "verdächtigen Umständen". In sechs Fällen wurden Frauen ermordet, obwohl Gerichte gegen die späteren Täter Anordnungen erlassen hatten, sich von den Frauen fernzuhalten. Von 28 identifizierten tatverdächtigen Männern wurden nach Angaben der Organisation "Wir werden Frauenmorde stoppen" nur 13 festgenommen. Lediglich sechs kamen in Untersuchungshaft (RND 6.2.2023).

Am 29.9.2021 entschied der Verfassungsgerichtshof, dass mehrere Beamte, die vor dem Mord an einer Frau keine angemessenen Präventions- und Schutzmaßnahmen ergriffen hatten, um die Tat zu verhindern, strafrechtlich verfolgt werden sollen. S. Erfındık war 2013, einen Tag nachdem eine einstweilige Verfügung gegen ihren geschiedenen Ehemann ausgelaufen war, ermordet worden. Vor der Tat hatte sie nach Morddrohungen mehrfach eine Verlängerung der einstweiligen Verfügung sowie Schutzmaßnahmen beantragt, die jedoch von den Behörden abgelehnt wurden. Der Verfassungsgerichtshof urteilte, dass der Mord auf Fahrlässigkeit der Amtsträger und deren Versäumnis, geeignete Maßnahmen durchzuführen, zurückzuführen sei (BAMF 4.10.2021, S. 13f).

 

Schutzeinrichtungen

Die Hilfsangebote für Frauen, die Gewalt überlebt haben, sind nach wie vor sehr begrenzt, und die Zahl der Zentren, die solche Dienste anbieten, ist weiterhin unzureichend (USDOS 20.3.2023, S. 80; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 37). Das dortige Personal, insbesondere im Südosten des Landes, kann keine angemessene Betreuung und Dienste anbieten. Laut einigen NGOs ist der Mangel an Dienstleistungen für ältere Frauen, LGBTI-Frauen sowie für Frauen mit älteren Kindern noch akuter. Die Regierung unterhielt eine landesweite Hotline für häusliche Gewalt und eine Webanwendung namens Women Emergency Assistance Notification System (KADES) (USDOS 20.3.2023, S. 80).

2022 existierten im ganzen Land lediglich 149 Frauenhäuser mit einer Kapazität von 3.624 Plätzen für weibliche Opfer von Gewalt und deren Kinder (ÖB 30.11.2022, S. 37). Den Angaben der Menschenrechtsvereinigung İHD zufolge sind es 145 Frauenhäuser, von denen 110 vom Ministerium für Familie und Soziales und je eines von der Migrationsverwaltung und der Mor Çatı Women's Shelter Foundation betrieben werden. Buben, älter als zwölf, und Frauen, älter als 60, können jedoch nicht in diesen Unterkünften untergebracht werden, mit Ausnahme der Schutzeinrichtung von Mor Çatı. Auch die Zahl der Unterkünfte, die Asylwerber, Flüchtlinge und Migrantinnen aufnehmen, ist begrenzt. Laut İHD sind die Bürgermeisterämter auch 2021 nicht ihren Verpflichtungen zur Einrichtung und Unterhaltung von Frauenhäusern nachgekommen. Obwohl 237 Bürgermeisterämter verpflichtet sind, Frauenhäuser einzurichten, verfügen nur 33 Gemeinden über solche Einrichtungen (İHD 2.8.2022, S. 2). Schutzeinrichtungen für Frauen und Mädchen fehlen insbesondere in ländlichen und entlegenen Regionen. Flüchtlingsfrauen und Migrantinnen (OHCHR 27.7.2022, S. 7) sowie Frauen und Mädchen mit Behinderungen stoßen beim Zugang zu Unterkünften auf erhebliche Hindernisse (OHCHR 27.7.2022, S. 7; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 37).

Die meisten von der Regierung betriebenen Frauenhäuser gelten als überfüllt und bieten nur eine Grundversorgung, ohne professionelle Beratung oder psychologische Betreuung. Die Lebensbedingungen in den meisten dieser Frauenhäuser ähneln jenen in Gefängnissen. Die Wartezeiten für die Aufnahme sind lang, sodass Frauen, die dringend Hilfe und Beratung benötigen, diese nicht zeitnah erhalten. Zudem gibt es Behördenmitarbeiter, die nur Opfer von physischer Gewalt aufnehmen, nicht aber Opfer von psychischer Gewalt, obwohl auch letztere Opfergruppe Anspruch auf Schutz hat. Außerdem verlangen Beamte, obwohl sie dazu nicht befugt sind, in einigen Fällen medizinische Unterlagen als Beweis dafür, dass die Frau körperlich angegriffen wurde (NL-MFA 2.3.2022, S. 55).

Allgemein werden Maßnahmen in diesem Bereich im Zusammenwirken mit dem Innenministerium, dem Gesundheitsministerium, dem Justizministerium, dem Verteidigungsministerium sowie dem Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) gesetzt. 71.000 Polizeibeamte, 65.000 Beschäftigte des Gesundheitsbereichs sowie 47.566 Religionsvertreter wurden entsprechend geschult (ÖB 30.11.2022, S. 37). Es fehlt jedoch bislang an ausreichender Koordination zwischen einzelnen Institutionen sowie Sensibilisierung von Exekutivbeamten, wie mit Fällen von Gewalt umzugehen ist (ÖB 30.11.2022, S. 37; vgl. EC 6.10.2020, S. 38). NGOs beklagen, dass religiöse Würdenträger, denen offenbar leichterer Zugang zu Frauenhäusern gewährt wird als Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, Frauen oftmals zu einer Rückkehr in die Familie überreden (ÖB 30.11.2022, S. 37).

 

Behördliches Vorgehen gegen Frauenrechtsaktivistinnen

Anlässlich des internationalen Tages gegen Gewalt gegen Frauen gab es Demonstrationen am 25.11.2022. Die Behörden haben in mehreren Städten diese Demonstrationen verboten und verhindert. In Istanbul hatte die Polizei mit massivem Aufgebot die Innenstadt weiträumig abgesperrt, während in Ankara etwa Kundgebungen, aber keine Märsche zugelassen waren (ARD 25.11.2022). Allein in Istanbul waren am 28.11.2022 40 Menschen festgenommen worden, teilte die Organisation "Wir werden Frauenmorde stoppen" mit, während bereits zwei Tage zuvor nach anderen Angaben an die 200 festgenommen worden waren (Tagesspiegel 27.11.2022). Auch in den osttürkischen Provinzen Şırnak, Ağrı und Van wurde demonstriert. Rund zwei Dutzend Frauen wurden festgenommen, darunter die Provinz- und Bezirksvorsitzenden der pro-kurdischen HDP (SCF 25.11.2022). Am Internationalen Frauentag 2023 nahm die Polizei bei Demonstrationen in Istanbul mehrere Personen fest und setzte Tränengas gegen die Demonstrierenden ein. Zuvor hatte das Büro des Bezirksgouverneurs Istanbul, wie in den Jahren zuvor, das zentrale Taksim-Viertel und die Umgebung für Demonstrationen anlässlich des Weltfrauentages gesperrt. Die Behörden erklärten, der geplante Marsch sei aus Sorge um die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit sowie zur Verhinderung von Straftaten und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer verboten worden (BAMF 13.3.2023, S. 3, vgl. TM 8.3.2023, CNN 9.3.2023).

Am 5.4.2021 wurden während einer Razzia in der Provinz Diyarbakır im Frauenrechtsverein Rosa, der sich für Opfer von Gewalt einsetzt, 22 Frauen verhaftet, denen von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird, Mitglieder für die PKK zu rekrutieren und politische Propaganda für diese zu verbreiten (BAMF 12.4.2021, S. 16; vgl. SCF 9.4.2021). Hassreden gegen unabhängige Frauenorganisationen haben zugenommen. Erklärungen des Innenministeriums, die Frauenorganisationen und Feministinnen wegen angeblicher terroristischer Verbindungen ins Visier nahmen, bedrohen die Existenz von Frauenverbänden. Frauenmärsche wurden mit Polizeigewalt beantwortet, und es wurde ein Gerichtsverfahren zur Schließung der bekannten Frauenplattform namens "We Will Stop Femicides Platform" eingeleitet (EC 12.10.2022, S. 41).

Auch die Gewalt gegen Journalistinnen hat in der Türkei zugenommen. Nach Angaben der Koalition für Frauen im Journalismus (CFWIJ) wurden allein in der ersten Hälfte des Jahres 2021 44 Journalistinnen Opfer von Polizeigewalt und 13 verhaftet, während sie über Ereignisse vor Ort berichteten. Nach Angaben der CFWIJ hat die Gewalt gegen Journalistinnen im Jahr 2021 im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2020 um fast 160 % zugenommen (SCF 21.1.2022).

 

Sozioökonomische Stellung

Was die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Beschäftigungs- und Sozialpolitik betrifft, so sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor sehr groß. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote der Frauen (14,7 %) blieb auch 2021 nachhaltig höher als jene der Männer. Während 2021 62,8 % der Männer beschäftigt waren, betrug der diesbezügliche Anteil bei den Frauen lediglich 28 % (EC 12.10.2022; S. 101f.). Die Kategorie jener 18- bis 29-Jährigen, welche sich weder in Beschäftigung noch in Aus- oder Fortbildung befinden, umfasst in der Türkei 34,7 %, allerdings liegt der Prozentanteil bei jungen Frauen mit 50,5 weit höher als bei den Männer in derselben Altersgruppe, wo nur 24,4 % betroffen sind (UNDP 24.2.2022).

Mit einem Wert von 0,639 (1 = bester Wert) lag die Türkei auf Platz 124 von 146 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index 2022. In den Sub-Indices lag die Türkei bei der "Wirtschaftlichen Teilhabe und Chancen" nur auf Platz 134. Währenddessen sahen die Platzierungen beim "Bildungsstand" (Rang 101), bei der "Politischen Ermächtigung" (Platz 112) und bei der "Gesundheit" (Position 99) besser aus (WEF 7.2022).

Zur allgemeinen Situation der kurdischen Frauen siehe Kapitel: Kurden; zur Lage von inhaftierten Frauen siehe Kapitel: Haftbedingungen

 

Quellen:

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 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 23.2.2022

 AP – Associated Press (19.7.2022): Turkish court upholds exit from treaty protecting women, https://apnews.com/article/middle-east-turkey-recep-tayyip-erdogan-istanbul-52fe1ada82b11c4e51f279fff49fc688 , Zugriff 8.8.2022

 AP – Associated Press (20.3.2021): Turkey withdraws from European treaty protecting women, https://apnews.com/article/world-news-turkey-europe-istanbul-violence-f096c185314cde20dce2504a70ee6889 , Zugriff 22.3.2021

 ARD-aktuell / tagesschau.de (25.11.2022): Viele Festnahmen bei Kundgebung in Ankara, https://www.tagesschau.de/ausland/europa/tuerkei-proteste-119.html , Zugriff 28.11.2022

 BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (13.3.2023): Briefing Notes, KW 11, Demonstrationen am Weltfrauentag, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw11-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 21.3.2023

 BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (4.10.2021): Briefing Notes, KW 40, Urteil des Verfassungsgerichtshofs in Femizid-Fall, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw40-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 23.2.2022

 BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (12.4.2021): Briefing Notes, KW 15, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw15-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 23.2.2022

 CNN - Cable News Network (9.3.2023): Turkish police fire pepper spray after International Women's Day protest in Istanbul, https://edition.cnn.com/2023/03/09/europe/turkey-protests-istanbul-international-womens-day-intl/index.html , Zugriff 21.3.2023

 DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 23.2.2022

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 EC – European Commission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 4.11.2022

 EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 23.2.2022

 EP – Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 1.8.2022

 HRW – Human Rights Watch (5.2022): Combatting Domestic Violence in Turkey. The Deadly Impact of Failure to Protect, https://www.ecoi.net/en/file/local/2073620/turkey0522_web.pdf , Zugriff 7.6.2022

 İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (2.8.2022): Submission of the Human Rights Association / İHD (Turkey) to the Office of the Special Rapporteur on Violence against Women, Its Causes and Consequences, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2022/08/IHD-Submission_Violence-against-Women_UN-SR-on-VaW.pdf , Zugriff 17.8.2022

 LoC – Library of Congress (20.6.2022): Turkey: Penal and Criminal Procedure Code Amendments Increase Sanctions for Crimes Against Women and Health Workers, Criminalize Stalking, Reform Sentence Mitigation, https://www.loc.gov/item/global-legal-monitor/2022-06-20/turkey-penal-and-criminal-procedure-code-amendments-increase-sanctions-for-crimes-against-women-and-health-workers-criminalize-stalking-reform-sentence-mitigation/ , Zugriff 8.8.2022

 MEI – Middle East Institute (18.12.2019): Femicide in Turkey: What's lacking is political will, https://www.mei.edu/publications/femicide-turkey-whats-lacking-political-will , Zugriff 23.2.2022

 NL-MFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 3.10.2022

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 NZZ – Neue Zürcher Zeitung (21.3.2021): Türkei tritt aus Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen aus – landesweite Empörung, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-verlaesst-istanbul-konvention-gegen-gewalt-an-frauen-ld.1607689 , Zugriff 23.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 25.4.2023

 OHCHR – UN Office of the High Commissioner for Human Rights (27.7.2022): United Nations Special Rapporteur on Violence against women and girls, its causes and consequences, Reem Alsalem; Official visit to Türkiye 18 - 27 July 2022, https://www.ohchr.org/sites/default/files/documents/issues/women/sr/2022-07-27/SR-VAW-preliminary-findings-EN.docx , Zugriff 18.8.2022

 RND - Redaktionsnetzwerk Deutschland (6.2.2023): Jeden Tag ein Frauenmord, https://www.rnd.de/panorama/femizide-in-der-tuerkei-jeden-tag-ein-frauenmord-UZ3L5CDYPNGCNOMFT7OWVVDT34.html , Zugriff 12.5.2023

 SCF – Stockholm Center for Freedom (25.11.2022): Turkish police prevent demonstrations by women’s groups, detain dozens of protestors, https://stockholmcf.org/turkish-police-prevent-demonstrations-by-womens-groups-detain-dozens-of-protestors/ , Zugriff 28.11.2022

 SCF – Stockholm Center for Freedom (21.1.2022): Women’s Rights in Turkey: 2021 in Review, https://stockholmcf.org/womens-rights-in-turkey-2021-in-review/ , Zugriff 28.1.2022

 SCF – Stockholm Center for Freedom (9.4.2021): Turkish authorities arrest 6 women’s rights activists in Diyarbakır, https://stockholmcf.org/turkish-authorities-arrest-six-womens-rights-activists-in-diyarbakir/ , Zugriff 23.2.2022

 Standard – Der Standard (20.3.2021): Türkei tritt aus Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen aus, https://www.derstandard.at/story/2000125220853/tuerkei-kehrt-istanbul-konvention-gegen-gewalt-an-frauen-den-ruecken , Zugriff 23.2.2022

 Tagesspiegel (27.11.2022): 300 Femizide in der Türkei: Zahlreiche Festnahmen bei Demos gegen Gewalt an Frauen, https://www.tagesspiegel.de/300-femizide-in-der-turkei-zahlreiche-festnahmen-bei-demos-gegen-gewalt-an-frauen-8929300.html , Zugriff 28.11.2022

 TM – Turkish Minute (8.3.2023):Turkish police break up Int’l Women’s Day march, detain at least 10 in İstanbul, https://www.turkishminute.com/2023/03/08/police-break-up-womens-day-march-detain-at-least-10-in-istanbul/ , Zugriff 21.3.2023

 TM – Turkish Minute (25.11.2020): Most domestic violence suspects go unprosecuted in Turkey, report reveals, https://www.turkishminute.com/2020/11/25/most-domestic-violence-suspects-go-unprosecuted-in-turkey-report-reveals/ , Zugriff 23.2.2022

 UNDP - United Nations Development Program (24.2.2022): New project for Turkish women outside the workforce and education, https://www.undp.org/turkiye/press-releases/new-project-turkish-women-outside-workforce-and-education , Zugriff 16.11.2022

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugirff 25.4.2023

 WEF – World Economic Forum (7.2022): Global Gender Gap Report 2022, https://www3.weforum.org/docs/WEF_GGGR_2022.pdf , Zugriff 25.4.2023

 Welt (9.3.2023): Tausende Frauen demonstrieren in Istanbul – Polizei setzt Pfefferspray ein, https://www.welt.de/politik/ausland/article244184555/Tuerkei-Tausende-Frauen-demonstrieren-in-Istanbul-Polizei-setzt-Pfefferspray-ein.html , Zugriff 12.5.2023

 

Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 28.06.2023

Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB 30.11.2022, S. 10; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 57). So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 10.3.2023, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 30.11.2022, S. 6; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 57).

Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MFA-NL 18.3.2021, S. 27f). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (NL-MFA 2.3.2022, S. 27). Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Und Ende Dezember wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (MedyaNews 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022).

Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat (ÖB 30.11.2022, S. 10). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022).

Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z. B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MFA-NL 18.3.2021, S. 27f).

Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 20.3.2023, S. 57f.).

Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45). Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war, und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).

Das Verfassungsgericht entschied Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).

Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 28.7.2022, S. 23, 26).

 

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 29.8.2022

 Duvar (26.12.2022): International travel ban imposed on HDP MP, https://www.duvarenglish.com/international-travel-ban-imposed-on-hdp-mp-news-61648 , Zugriff 29.12.2022

 Duvar (10.3.2022): HDP MP Gergerlioğlu files objection against int'l travel ban, seizure of passport, https://www.duvarenglish.com/hdp-mp-omer-faruk-gergerlioglu-files-objection-against-intl-travel-ban-seizure-of-passport-news-60577 , Zugriff 29.12.2022

 Duvar (29.1.2022): Turkey’s top court rules passport cancellation for sacked civil servants unconstitutional, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-passport-cancellation-for-sacked-civil-servants-unconstitutional-news-60256 , Zugriff 8.2.2022

 FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2023 , Zugriff 12.5.2023

 FR – Frankfurter Rundschau (11.6.2022): Gefangen in der Türkei: Mehr als 100 Deutsche dürfen nicht ausreisen, https://www.fr.de/politik/gefangen-erdogan-tuerkei-viele-deutsche-duerfen-nicht-zurueck-deutschland-pkk-91604026.html , Zugriff 11.8.2022

 HDN – Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000 , Zugriff 16.10.2019

 MedyaNews (26.12.2022): Turkey imposes travel ban on Kurdish-Alevi lawmaker, https://medyanews.net/turkey-imposes-travel-ban-on-kurdish-alevi-lawmaker/ , Zugriff 29.12.2022

 NL-MFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 3.10.2022

 NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 16.11.2021

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 30.3.2023

 TM – Turkish Minute (22.6.2020): Turkey removes passport restrictions for 28,000 more citizens, https://www.turkishminute.com/2020/06/22/turkey-removes-passport-restrictions-for-28000-more-citizens/ , Zugriff 11.12.2020

 TM – Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects' spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regulation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/ , Zugriff 16.10.2019

 TM – Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkey-lifts-restrictions-on-more-than-50000-passports/ , Zugriff 16.10.2019

 TM – Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictions-from-155350-passports/ , Zugriff 16.10.2019

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugirff 30.3.2023

 USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 12.4.2021

 USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 16.10.2019

 

Grundversorgung / Wirtschaft

Letzte Änderung: 28.06.2023

Das starke Wirtschaftswachstum des Vorjahres mit 11,4 % hat sich 2022 halbiert. Die Wachstumsaussichten für 2023 haben sich auch infolge der Erdbebenkatastrophe eingetrübt, aktuell (Stand April 2023) wird mit einem Wachstum von 2,8 % des BIP gerechnet (WKO 4.2023, S. 4). Denn in wichtigen Absatzmärkten der türkischen Exporteure wie der Europäischen Union und den USA wird 2023 ein Konjunkturabschwung erwartet. Die reale Kaufkraft ist gesunken. Die positiven Effekte auf den Konsum durch die deutliche Senkung des Leitzinses seit September 2021 von 19 auf 9 % werden durch die horrende Inflation gedämpft. Die Konsumentenpreise legten im Oktober 2022 um durchschnittlich 86 % zu. Die meisten Unternehmen reagieren mit Gehaltserhöhungen, die die Einbußen aber nur abfedern. Neben der Inflation führt der stark schwankende Wechselkurs der türkischen Lira (TL) zu hoher Unsicherheit. Die Bevölkerung flüchtet in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien. Die Verschuldung der Bevölkerung ist bereits hoch. Die Auslandsschulden sowohl der Unternehmen als auch des Staates geben Anlass zur Sorge. Die Währungsreserven sind niedrig und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 30.11.2022). Während die offizielle Inflationsrate Ende 2022 bei rund 85 % lag, bezifferte das unabhängige Wirtschaftsinstitut "Ena Grup" die Teuerung bei knapp über 170 % (FR 23.12.2022). Besonders waren Lebensmittel von der Preissteigerung betroffen (Duvar 23.10.2022; vgl. AM 3.11.2022). Umfragen zeigten, dass die Türken die Inflation weit höher einschätzten, als die offiziellen Daten wiedergeben (Duvar 23.10.2022). Die Talfahrt der türkischen Lira setzte sich auch 2022 fort. Erhielt man im März 2021 für einen Euro noch 8,8 Lira, so stand der Wechselkurs im März 2023 bei 21,16 Lira für 1 Euro (WKO 4.2023, S. 4).

Die Arbeitslosigkeit im Land ist hoch (GTAI 30.11.2022), obschon sie 2022 leicht zurückging war. Im November 2022 verzeichnete das Statistikamt 10,2 % statt 12 % (2021) Arbeitslose und 17,8 % Jugendarbeitslosigkeit (2021: 21,4 %). Die Erwerbstätigenquote lag bei 54,1 % (WKO 4.2023, S. 5). Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ging für 2023 in ihrer Berechnung von einer Arbeitslosenrate bei den über 15-Jährigen von 9,9 % aus, wobei sie bei Frauen mit 12,5 % etwas, und besonders in der Altersgruppe der 15 bis 24-Jährigen mit 18,8 % deutlich höher ausfiel (ILO 2023). Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73 % "gerne in einem anderen Land leben würden". 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).

Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).

Die Armutsgrenze in der Türkei ist im Jänner 2023 auf 28.875 Lira [Anm.: 1 Euro war Ende April 2023 fast 21,5 Lira wert.] ge​ stiegen, mehr als das Dreifache des Mindestlohns (8.506 Lira), wie Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) zeigen. - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag im Jänner 2023 bei 8.864 Lira. Damit lag der Mindestlohn bereits im Jänner 2023 unter der Hungerschwelle für eine vierköpfige Familie (Duvar 30.1.2023).

Präsident Erdoğan hat den Mindestlohn ab dem 1.1.2023 auf 8.500 Türkische Lira netto von zuvor 5.500 TL angehoben. Allerdings kritisierten sowohl die Gewerkschaften als auch die Opposition die Anhebung als zu gering, auch weil 60 % aller Arbeitenden nur den Mindestlohn verdienen (FR 23.12.2022). Mit der Steigerung um rund 55 % ist die Mindestlohnerhöhung weit unter der offiziell verkündeten Inflationsrate von rund 84 %. Private Unternehmen sind allerdings nicht verpflichtet, eine Lohnerhöhung von 55 % durchzuführen, solange die Löhne nicht unter dem Mindestlohn liegen. Laut inoffiziellen Quellen beträgt die tatsächliche Inflation sogar über 170 %. Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betragen aber die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern durchschnittlich 25.365 Lira, und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira aus. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023).

Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befindet sich mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).

Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der damals 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5 % aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Unter den OECD-Staaten hat die Türkei einen der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20 % des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13 %. Die Türkei hat u. a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).

Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB 30.11.2022, S. 41). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB 30.11.2022, S. 41).

 

Quellen:

 AM – Al Monitor (3.11.2022): Turkish inflation hits 85.5% as doubts linger over official data, https://www.al-monitor.com/originals/2022/11/turkish-inflation-hits-855-doubts-linger-over-official-data , Zugriff 7.11.2022

 AM – Al Monitor (27.1.2021): COVID-19 pandemic expands poverty in Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2021/01/turkey-pandemic-pandemic-expands-poverty-high-inflation.html , Zugriff 24.2.2022

 Duvar (30.1.2023): Turkish hunger threshold surpasses minimum wage in first month of 2023, https://www.duvarenglish.com/turkish-hunger-threshold-surpasses-minimum-wage-in-first-month-of-2023-news-61738 , Zugriff 25.4.2023

 Duvar (23.10.2022): ‘People's inflation’ for basic goods at 177 percent in Turkey, https://www.duvarenglish.com/peoples-inflation-for-basic-goods-at-177-percent-in-turkey-news-61461 , Zugriff 25.10.2022

 Duvar (7.6.2022): 14.8 million people in Turkey suffer from undernourishment: UN report, https://www.duvarenglish.com/148-million-people-in-turkey-suffer-from-undernourishment-un-report-news-60908 , Zugriff 15.6.2022

 DW – Deutsche Welle (13.4.2023): Türkei vor der Wahl: Fleisch für viele Menschen unerschwinglich, https://www.dw.com/de/t%C3%Bcrkei-vor-der-wahl-fleisch-f%C3%Bcr-viele-menschen-unerschwinglich/a-65299835 , Zugriff 25.4.2023

 FP - Foreign Policy (27.1.2023): Erdogan’s Turkey Faces a Growing Exodus Ahead of Elections, https://foreignpolicy.com/2023/01/27/turkey-elections-erdogan-exodus-population-migration/ , Zugriff 21.3.2023

 FR - Frankfurter Rundschau (23.12.2022): Erdogan hebt Mindestlohn in der Türkei an – Inflation steigt weiter, https://www.fr.de/politik/tuerkei-mindestlohn-erdogan-wirtschafts-krise-inflation-waehrung-91993135.html , Zugriff 29.12.2022

 GCT – Greek City Times (8.6.2022): Malnutrition in Turkey explodes as Erdoğan escalates war rhetoric against Greece, https://greekcitytimes.com/2022/06/08/malnutrition-in-turkey-erdogan/ , Zugriff 15.6.2022

 GTAI – Germany Trade and Invest (30.11.2022): Wirtschaftswachstum ist mit Risiken behaftet, https://www.gtai.de/de/trade/tuerkei/wirtschaftsumfeld/wirtschaftswachstum-ist-mit-risiken-behaftet-247908#toc-anchor--3 , Zugriff 21.3.2023

 KAS – Konrad-Adenauer-Stiftung (15.2.2022): Jugendstudie Türkei 2021, https://www.kas.de/de/web/tuerkei/publikationen/einzeltitel/-/content/jugendstudie-tuerkei-2021-2 , Zugriff 24.2.2022

 ILO - International Labour Organization (2023): ILOSTAT explorer – Türkiye, https://www.ilo.org/shinyapps/bulkexplorer35/?lang=en&segment=indicator&id=UNE_2EAP_SEX_AGE_RT_A , Zugriff 25.4.2023

 OECD – Organisation for Economic Cooperation and Development (2019): Society at a Glance 2019: OECD Social Indicators, https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/soc_glance-2019-en.pdf?expires=1573813322&id=id&accname=guest&checksum=2EE74228759055A97295ED4460FC22E0 , Zugriff 24.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 21.4.2023

 Standard (25.7.2022): Türkei lernt, mit Inflationsraten jenseits der 100 Prozent zu leben, https://www.derstandard.at/story/2000137723848/tuerkei-lernt-mit-inflationsraten-jenseits-der-100-prozent-zu-leben?ref=loginwall_articleredirect , Zugriff 16.8.2022

 TM – Turkish Minute (8.6.2022): 90 percent of Turks struggling to make ends meet amid economic crisis: poll, https://www.turkishminute.com/2022/06/08/rcent-of-turks-struggling-to-make-ends-meet-amid-economic-crisis-poll/ , Zugriff 15.6.2022

 TM – Turkish Minute (7.6.2022): 14.8 million Turks suffer from insufficient food consumption, UN data show, https://www.turkishminute.com/2022/06/07/illion-turks-suffer-from-insufficient-food-consumption-un-data-show/ , Zugriff 15.6.2022

 WKO - Wirtschaftskammer Österrreich (4.2023): AUSSENWIRTSCHAFT WIRTSCHAFTSBERICHT TÜRKEI, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/tuerkei-wirtschaftsbericht.pdf , Zugriff 21.3.2023

 WKO - Wirtschaftskammer Österrreich (10.3.2023): Mindestlohn ab 1.1.2023 um 55 % höher - Lebenshaltungskosten steigen weiter, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/mindestlohn-ab-2023-55-prozent-hoeher.html , Zugriff 21.4.2023

 

Sozialbeihilfen / -versicherung

Letzte Änderung: 28.06.2023

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 28.7.2022, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 28.7.2022, S. 21).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z. B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von 24 Monaten über monatlich 150 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 1.416 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 315 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 1.124 TL und 1.687 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 3.340 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hatte 2022 monatlich Anspruch auf 875 TL (Auszahlung alle zwei Monate) aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 18.975 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 30.11.2022, S. 42).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).

 

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 29.8.2022

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 24.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 6.4.2023

 SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016a): Das Türkische Soziale Sicherheitssystem, http://web.archive.org/web/20220302125002/http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/de/detail/das_turkische , Zugriff 11.5.2023 [Der Originallink ist inaktiv]

 SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016b): Financing of Social Security, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/social_security_system/social_security_system , Zugriff 11.5.2023 [Der Originallink ist inaktiv]

 SSA – Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 28.6.2022

Arbeitslosenunterstützung

Letzte Änderung: 28.06.2023

Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR 2022; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 41).

Nach Erhöhung des Mindestlohns im Juli 2022 beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 2.568 TL (rund € 141), der Maximalbetrag 5.123 TL (rund € 283) (ÖB 30.11.2022, S. 41). - Auf das Arbeitslosengeld werden keine Steuern oder Abzüge erhoben, mit Ausnahme der Stempelsteuer (İŞKUR 2022). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 8.2022; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 41f., İŞKUR 2022).

Quellen:

 IOM – International Organization for Migration (8.2022): Länderinformationsblatt Türkei 2022, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202022%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf , Zugriff 16.12.2022

 IOM – International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 24.2.2022

 İŞKUR - Türkiye İş Kurumu (2022): Unemployment Benefit, https://www.iskur.gov.tr/en/job-seeker/unemployment-insurance/unemployment-benefit/ , Zugriff 16.8.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 30.3.2023

 

Pension

Letzte Änderung: 28.06.2023

Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung.

Berechtigung:

 Staatsbürger über 18 Jahre

 Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar)

 Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben.

Voraussetzungen:

 Anmelden bei der Sozialversicherung SGK.

 Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden.

 Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr.

Personen älter als 65 Jahre, Menschen mit Behinderungen über 18 und Personen mit Verwandten unter 18 Jahren mit Behinderungen, für die sie die gesetzliche Vormundschaft übernehmen, können eine regelmäßige monatliche Zahlung erhalten. Unmittelbare Familienmitglieder von Versicherten, die nach ihrer Pensionierung verstorben sind und/oder mindestens zehn Jahre gearbeitet haben, haben Anspruch auf Witwen- oder Waisenhilfe. Wenn der/die Verstorbene länger als fünf Jahre gearbeitet hat, haben seine/ihre Kinder unter 18 Jahren, Kinder in der Sekundarschule unter 20 Jahren und Kinder, die unter 25 Jahre alt sind und an einer Hochschule eingeschrieben sind, Anspruch auf Waisenhilfe (IOM 8.2022).

Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2 % für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90 %. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018).

Kurz vor dem Jahreswechsel 2022/2023 hat Präsident Erdoğan das Mindestalter für die Pension aufgehoben und damit mehr als zwei Millionen Bürgern die Möglichkeit gegeben, sofort in den Ruhestand zu treten. Bislang galt in der Türkei ein Mindestalter von 60 Jahren für Männer und 58 für Frauen (ZO 29.12.2022). Ab Mitte Jänner 2023 zählt nur noch die gearbeitete Zeit: 7.200 Tage berechtigen dann zum Pensionseintritt. Allerdings arbeiten viele Pensionisten trotzdem weiter, da die Pension nicht zum Leben reicht. Über zwei Mio. Türken würden in den Genuss der neuen Regelung kommen (ARD 2.1.2023).

Nachdem bereits Anfang Jänner eine 30-prozentige Erhöhung der Gehälter und Pensionen der Staatsdiener sowie eine Erhöhung der Mindestpension von 3.500 auf 5.500 Lira (ca. 293 Euro) für die erste Hälfte des Jahres 2023 angekündigt wurde (DS 4.1.2023; vgl. HDN 4.1.2023), bewilligte Präsident Erdoğan kurz vor den Wahlen eine weitere Gehaltserhöhung von 45 % für 700.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. Der Mindestlohn im öffentlichen Dienst steigt damit auf 15.000 Lira (knapp 700 Euro). Die Pensionen für Veteranen und Angehörige von Terroropfern sollen zudem um 10 % Prozent erhöht werden (FAZ 9.5.2023; vgl. DS 9.5.2023). Zudem kündigte Erdoğan eine Erhöhung der eigentlichen Beamtengehälter, die sich automatisch auf deren Pensionen auswirken, auf mindestens 22.000 Lira an (PRT 11.5.2023).

Die türkischen Pensionisten gehören zu den ärmsten der Welt. Das Pensionsniveau in der Türkei liegt bei knapp 22 % des Wertes der nationalen Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Pension nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern (ILO 2021 S. 56f).

 

Quellen:

 ARD-aktuell / tagesschau.de (2.1.2023): Erdogans Rentengeschenk, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/erdogan-schafft-renteneintrittsalter-ab-101.html , Zugriff 13.2.2023

 DS - Daily Sabah (9.5.2023): Türkiye hikes state worker wages by 45% ahead of key elections, https://www.dailysabah.com/business/economy/turkiye-hikes-state-worker-wages-by-45-ahead-of-key-elections , Zugriff 11.5.2023

 DS - Daily Sabah (4.1.2023): Türkiye hikes wages of active, retired civil servants by 30%: Erdoğan, https://www.dailysabah.com/business/economy/turkiye-hikes-wages-of-active-retired-civil-servants-by-30-erdogan , Zugriff 13.2.2023

 FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (9.5.2023): Erdogan verteilt Wahlkampfgeschenke, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wahlen-in-der-tuerkei-erdogan-verteilt-wahlkampfgeschenke-18881364.html , Zugriff 11.5.2023

 HDN - Hürriyet Daily News (4.1.2023): Erdoğan adds 5 percent to civil servants’ wage, pensions, https://www.hurriyetdailynews.com/erdogan-adds-5-percent-to-civil-servants-wage-pensioners-179869 , Zugriff 13.2.2023

 ILO – International Labour Organization (2021): World Social Protection Report 2020–22: Social Protection at the Crossroads – in Pursuit of a Better Future, https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/---publ/documents/publication/wcms_817572.pdf , Zugriff 9.2.2022

 IOM – International Organization for Migration (8.2022): Länderinformationsblatt Türkei 2022, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202022%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf , Zugriff 16.12.2022

 PRT - President of the Republic of Turkey (11.5.2023): "Lowest public servant salary will approximate TL22 thousand", https://www.tccb.gov.tr/en/news/542/147134/-lowest-public-servant-salary-will-approximate-tl22-thousand -, Zugriff 11.5.2023

 SSA – Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 30.3.2023

 ZO - Zeit Online (29.12.2022): Türkei schafft Mindestalter für Altersrente ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-12/recep-tayyip-erdogan-alter-rente-tuerkei-aufgehoben?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fthema%2Ftuerkei , Zugriff 13.2.2023

 

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 28.06.2023

Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc.. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10 % tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 30.11.2022, S. 42f.).

Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).

Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden (MPI-SR 3.2021). Mit Stand März 2021 waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SR 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020).

Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB 30.11.2022, S. 43). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 28.7.2022, S. 21).

Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Ízmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, S. 22).

Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind. Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes (TTB) ist die Zahl der abwandernden Mediziner besonders in den letzten vier Jahren explodiert. Während im Jahr 2012 insgesamt nur 59 von ihnen ins Ausland gingen, kehrten zwischen 2017 und 2021 fast 4.400 Ärzte dem Land den Rücken (FNS 31.3.2022a). TTB-Generalsekretär Vedat Bulut erklärte, dass im Jahr 2021 1.405 Ärzte ins Ausland gingen, während die Prognose für 2022 bei 2.500 lag. Etwa 55 % von ihnen sind Fachärzte (Duvar 23.5.2022). Eine der Hauptursachen für die Abwanderung, nebst der Wirtschaftskrise, ist die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt fast 12.000 Fälle von Gewalt gegen medizinisches Fachpersonal, darunter auch mehrere Todesfälle (FNS 31.3.2022a).

Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Private Versicherungen können, je nach Umfang und Deckung, hohe Behandlungskosten übernehmen. Innerhalb der SGK sind Impfungen, Laboruntersuchungen zur Diagnose, medizinische Untersuchungen, Geburtsvorbereitung und Behandlungen nach der Schwangerschaft sowie Notfallbehandlungen kostenlos. Der Beitrag für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenversicherung (GSS) hängt vom Einkommen des Leistungsempfängers ab - ab 150,12 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 8.2022). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SR 3.2021, S. 15).

Rückkehrende mit einer Aufenthaltserlaubnis, die dauerhaft (seit mindestens einem Jahr) in der Türkei leben und keine Krankenversicherung nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes haben, müssen eine monatliche Pflichtgebühr entrichten. Die Begünstigten müssen sich registrieren lassen und die Versicherungsprämie für mindestens 180 Tage im Voraus bezahlen, damit sie in den Genuss des Sozialversicherungssystems bzw. der Gesundheitsversorgung zu kommen. Die Versicherung tritt automatisch in Kraft, und die Begünstigten können das System auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch weitere sechs Monate in Anspruch nehmen. Die Versicherung muss mindestens 60 Tage vor der Diagnose abgeschlossen worden sein. - Rückkehrende können sich über Sozialversicherungsämter im ganzen Land anmelden (IOM 8.2022).

 

 

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 29.8.2022

 Duvar (23.5.2022): Top Turkish medical group: Seven doctors going abroad every day, https://www.duvarenglish.com/no-monkeypox-cases-detected-in-turkey-health-ministry-news-60868 , Zugriff 25.5.2022

 FNS – Friedrich-Naumann-Stiftung (31.3.2022a): Brain-Drain: Die Abwanderung türkischer Ärztinnen und Ärzte, https://www.freiheit.org/de/tuerkei/brain-drain-die-abwanderung-turkischer-aerztinnen-und-aerzte?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter+2021-12-08T17%3A03%3A25%2B01%3A00 , Zugriff 6.4.2022

 IOM – International Organization for Migration (8.2022): Länderinformationsblatt Türkei 2022, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202022%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf , Zugriff 16.12.2022

 MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (3.2021): Social Law Report No. 4/2021 - Sozialrechtliche Entwicklungen in der Türkei Berichtszeitraum: April 2020 – März 2021, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_4_2021__T%C3%BCrkei.pdf , Zugriff 9.2.2022

 MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April 2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_T%C3%BCrkei__final.pdf , Zugriff 24.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 6.4.2023

 SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016c): Universal Health Insurance, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins , Zugriff 12.9.2022 [Link ist z.Z. nicht verfügbar. Die Daten sind bei Bedarf bei der Staatendokumentation einsehbar.]

 

Behandlung nach Rückkehr

Letzte Änderung: 29.06.2023

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).

Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2022, S. 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).

Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, S. 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 24.3.2023). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 24.3.2023). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 24.3.2023).

Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt (AA 24.3.2023).

Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2022, S. 10).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2022, S. 40). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 40). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB 30.11.2022, S. 45). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, S. 71).

Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2022; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 25). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).

Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:

 Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

 Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/

 TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 30.11.2022, S. 41).

 

Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung

Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Art. 9 des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S. 50).

Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Gegen Personen, die im Ausland für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurden, kann in der Türkei erneut ein Verfahren geführt werden (Art. 9). Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9) (ÖB 30.11.2022, S. 40). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Art. 9 Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben (DFAT 10.9.2020, S. 50). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11 (1)). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben und Geldfälschung (ÖB 30.11.2022, S. 40f.).

Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat begangen wird: entweder gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016).

 

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.3.2023): Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962 , Zugriff 9.5.2023

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff am 29.8.2022

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 24.2.2022

 CoE – Council of Europe – Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-en.pdf , Zugriff 24.2.2022

 DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 24.2.2022

 EU - Europäische Union (24.2.2023): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 24. Februar 2023, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2022/1241, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32023D0422&qid=1680857637258&from=DE , Zugriff 9.5.2023

 Independent [türkische Ausgabe] (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/295631/yurtd%C4%B1%C5%9F%C4%B1nda-ya%C5%9Fayan-binlerce-ki%C5%9Fiye-t%C3%BCrkiye-giri%C5%9Flerinde-sosyal-medya-payla%C5%9F%C4%B1mlar%C4%B1 , Zugriff 24.2.2022 (Übersetzung mittels webtran.de)

 NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 24.2.2022

 NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf , Zugriff 24.2.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 27.3.2023

 SCF – Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-or-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/ , Zugriff 24.2.2022

 TR-MFA – Republic of Turkey - Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (2022): PKK, http://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa , Zugriff 9.5.2023

 USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugirff 27.3.2023

 VB – Verbindungsbeamter des BMI für die Türkei [Österreich] (1.3.2022): Auskunft des VB, per Mail

 

IndiviudellMedizinische Behandlung

In der Türkei sind folgende Behandlungen verfügbar (AVA 16795):

- psychiatrische klinische Behandlung (Kurzzeit) durch einen Psychiater;

- psychiatrische ambulante Langzeitbehandlung durch einen Psychiater;

- psychiatrische klinische Langzeitbehandlung (z. B. für chronisch psychotische Patienten) durch einen Psychiater:

- psychiatrische Zwangseinweisung, falls erforderlich;

- Psychiatrische Behandlung: Betreutes Wohnen/häusliche Pflege durch eine psychiatrische Krankenschwester;

- Laboruntersuchung: Überwachung des vollständigen Blutbildes;

- Laboruntersuchung: Medikamentenspiegel im Blut für Clozapin.

 

Es bestehen Dienstleistungen für betreutes Wohnen beispielsweise für ältere Menschen, etwa spezielle Altenheime. Psychiatriepatienten werden in Krankenhäusern und nicht in eigens dafür eingerichteten Unterkünften/betreuten Wohnungen versorgt, z. B. im Hacettepe Medical School Hospital in Ankara und im Bakırköy Prof. Dr. Mazhar Osman Mental Health and Neurological Diseases Education and Research Hospital in Istanbul (AVA 16795). Wenn ein solcher Patient aufgrund seiner psychiatrischen Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, zuhause zu leben (selbst bei laufender Betreuung durch eine psychiatrische Pflegekraft), ist laut Analyse von MedCOI der nächste Schritt die Einweisung in eine Klinik.

- Quelle: BFA, Staatendokumentation, Anfragebeantwortung Türkei, Behandlung von paranoider Schizophrenie und Canabismissbrauch vom 19.06.2023

 

II.1.3. Behauptete Ausreisegründe aus dem Herkunftsstaat

 

Es kann nicht festgestellt werden, dass den BF1-4 eine aktuelle sowie unmittelbare persönliche und konkrete Gefährdung oder Verfolgung in ihrem Heimatland Türkei droht.

 

Ebenso kann unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände nicht festgestellt werden, dass die BF1-4 im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei der Gefahr einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt wären.

 

2. Beweiswürdigung:

 

II.2.1. Das erkennende Gericht hat durch den vorliegenden Verwaltungsakt Beweis erhoben und ein ergänzendes Ermittlungsverfahren sowie Beschwerdeverhandlungen durchgeführt.

 

Aufgrund der vorliegenden Verwaltungsakte, des Ergebnisses des ergänzenden Ermittlungsverfahrens sowie der Beschwerdeverhandlungen ist das erkennende Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.

 

II.2.2. Die Feststellungen zur Person der BF1-4 (Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Konfessionslosigkeit, familiäre und private Verhältnisse in Österreich und der Türkei) ergeben sich – vorbehaltlich der Feststellungen zur Identität - aus in diesem Punkt nicht widerlegten Angaben des BF1-4 sowie aus ihren Sprach- und Ortskenntnissen.

 

Die Identität der BF1-4 konnte aufgrund der dahingehend glaubwürdigen sowie durch entsprechende Dokumente (türkischer Führerschein des BF1) nachgewiesenen Angaben im Asylverfahren festgestellt werden.

Die illegale Einreise nach Österreich sowie die Dauer des Aufenthaltes in Österreich der BF1-4 ergeben sich aus einer Einsichtnahme in die Unterlagen in den Asylverfahren der BF1-4, das Zentrale Fremdenregister (IZR) sowie den Angaben der BF im gegenständlichen Verfahren.

 

Die Feststellungen zum Wohnsitz der BF1-4 geht aus dem Zentralen Melderegister hervor. Der Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber beruht auf der Einsicht ins Fremdeninformationssystem.

 

Dass die BF1-4 in Österreich nicht erwerbstätig waren und strafrechtlich unbescholten sind beruht auf einer Einsicht in das Strafregister der Republik Österreich sowie auf eine Abfrage beim Sozialversicherungsträger.

 

Die Deutschkenntnisse der BF1-2 und des BF4 beruhen auf der persönlichen Wahrnehmung der erkennenden Richterin in der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Die BF1-4 haben auch keine positiven Deutschprüfungszeugnisse auf einem bestimmten Niveau vorgelegt. Aufgrund des Schulbesuches des BF4 in Österreich sowie dem positiv abgeschlossenen Pflichtschullehrgang kann beim BF4 von Deutschkenntnissen auf einem guten Niveau ausgegangen werden.

 

Die rechtskräftigen Verurteilungen des BF1 in der Türkei in den Jahren XXXX , die Ermittlungsverfahren im Hinblick auf die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation, Terrorpropaganda und wegen Beleidigung des Präsidenten sowie die Anklageerhebung wegen Beleidigung des Präsidenten geht aus den vorgelegten Unterlagen der Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte und Verwaltungsbehörden in der Türkei hervor.

 

Die festgestellten politischen Aktivitäten des BF1 in Österreich resultieren aus den im Verfahren vorgelegten Auszügen aus den sozialen Medien sowie einer Nachschau auf den Plattformen XXXX im XXXX .

 

Dass die BF2 in den sozialen Medien nicht mit ihrem Klarnamen Beiträge zum Erdbeben in der Türkei veröffentlich, beruht auf deren Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am XXXX (VS 11).

 

Die Feststellungen zum Asylverfahren des Sohnes der BF2 gehen aus dem hg. Verfahrensakt zur GZlen: XXXX , XXXX hervor.

 

Die zuletzt erstellen Diagnosen der BF2 gehen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten neurologisch-psychiatrischen Gutachten des XXXX , vom XXXX und aus dem von der BF2 vorgelegten fachärztlichen Befundbericht des Facharztes für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, XXXX , vom XXXX hervor.

 

Die Fachärzte kommen zu unterschiedlichen Diagnosen und wird in der Stellungnahme der BF2 vom 31.07.2023 kritisiert, dass der Befund des Amtssachverständigen im krassen Gegensatz zu den weiteren aktenkundigen Befunden stehe. Hingewiesen wird dahingehend auf

 

- den Befund des XXXX vom XXXX

- den Befund der XXXX vom XXXX

- den Entlassungsbefund des XXXX sowie

- den Ambulanzbefund der XXXX vom XXXX .

 

Diese fachärztlichen Befunde würden mehrheitlich – wenn auch nicht einhellig – von einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer bipolaren affektiven Störung (PTBS F43.1, F43.2) ausgehen. Zudem würden diese Befunde nahezu alle von der Notwendigkeit therapeutischer Maßnahmen und einer dauerhaften Behandlungsbedürftigkeit, zusätzlich zu einer medikamentösen antidepressiven Therapie, ausgehen. Insbesondere sei eine weitere psychiatrische Behandlung bzw. die Fortsetzung einer Psychotherapie empfohlen.

 

Kritisiert wurde weiters, dass der Amtssachverständige trotz dahingehender Verpflichtung die Therapiebestätigungen der XXXX nicht miteinbezogen sowie die Traumatisierung aufgrund der Flucht aus der Türkei nicht thematisiert habe.

 

Anhand der vorliegenden Krankenunterlagen ist ersichtlich, dass sich die BF2 seit XXXX immer wieder in psychologischer bzw. psychiatrischer Behandlung befunden hat und im Laufe der Zeit unterschiedliche Diagnosen erstellt wurden. Aus dem Ambulanzbefund der XXXX vom XXXX geht erstmals die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung (kurz: PTBS oder PTSD) hervor, wobei bei der Untersuchung durch die Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, XXXX , am XXXX keine PTBS, sondern eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome und eine Traumatisierung festgestellt wurden.

 

Bei einer Untersuchung im XXXX am XXXX wurde neben einer Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion (F43.2) nur der Verdacht auf deine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Vor dieser Diagnose befand sich die BF2 vom XXXX bis XXXX in ambulanter Behandlung des XXXX und wurden dort die Diagnosen funktionelle Anfälle im Rahmen der Belastungsstörung, eine Depression, eine Somatisierungsstörung (Beschwerden an verschiedenen Stellen am Körper, deren Ursache nicht geklärt werden kann), Cephalea (Kopfschmerzen) sowie Rückenschmerzen gestellt. Empfohlen wurde eine psychiatrische Vorstellung im XXXX , wo letztlich nur der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt wurde.

 

In weiterer Folge startete die BF2 am XXXX mit einer psychotherapeutischen Behandlung in der XXXX , wo im XXXX eine Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion und im XXXX zusätzlich der Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde.

 

Während der psychotherapeutischen Behandlung in der XXXX begab sich die BF2 erneut in Behandlung der Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, XXXX , welche am XXXX die Diagnose „Vorstellungskonkretisierungen bei PTSD (F43.1)“ stellte.

 

Die von der BF2 im XXXX aufgenommen psychotherapeutische Behandlung endete im XXXX und war die BF2 am XXXX wieder bei XXXX in Behandlung. Zu diesem Zeitpunkt wurden bei der BF2 ein ängstlich-depressives Zustandsbild bei PTSD sowie „binge eating“ (Essattacken mit Kontrollverlust) festgestellt und ihr die Wiederaufnahme der Psychotherapie geraten.

 

Ca. sieben Monate später wurde erstmals vom BVwG ein neurologisch-psychologisches Sachverständigengutachten bei XXXX , in Auftrag gegeben. Das insgesamt sechzehn Seiten umfassende Gutachten vom XXXX gliedert sich dabei übersichtlich und nachvollziehbar in Befundaufnahme (samt Auflistung und Auszug der vorgelegten Befunde), Vorerkrankungen, aktuelle Medikation, Biographie, einer Übersicht über die Befragung und einen anschließenden klinischen Untersuchungsbefund. Der Gutachter – ein Facharzt für Psychiatrie und Neurologie – gliederte den Untersuchungsbefund einerseits in einen neurologischen Status und einen psychiatrischen Status und führte auch ein strukturiertes Interview hinsichtlich einer PTSD, wobei der Gutachter zum Ergebnis kam, dass die Diagnosekriterien nach ICD-10 aktuell nicht vorliegen. Weiters folgt eine Zusammenfassung der Beurteilung sowie die Diagnosen „Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion – in Remission“ und „chronische Spannungskopfschmerzen“. Die BF2 gab im Rahmen der Untersuchung für das Sachverständigengutachten auch an, dass sie ohne ärztliche Rücksprache ihre Medikamente abgesetzt habe, sich aber regelmäßig einer Psychotherapie unterziehe.

 

Im XXXX konsultierte die BF2 erneut einen Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, XXXX , welcher eine Agoraphobie mit Panikstörung, eine PTBS und eine bipolar affektive Störung – gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (Zustand nach dreimaligen Suizidversuch) diagnostizierte. Im fachärztlichen Befundbericht des XXXX vom XXXX wurden diese Diagnosen bestätigt.

 

Im Rahmen des gegenständlichen Asylverfahrens wurde erneute ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei XXXX , in Aufrage gegeben und kam

dieser im Gutachten vom XXXX zum Ergebnis, dass die BF2 an einer

 

- rezidivierenden depressiven Störung – gegenwärtig mittelgradige Episode und an

- einer vordiagnostizierten Panikstörung leidet.

 

Zur Einvernahmefähigkeit der BF2 wurde festgestellt, dass sie in der Lage sei, vor dem BVwG ein bis zwei Stunden Angaben zu ihren Fluchtgründen, Rückkehrbedingungen und zur ihrer Integration in Österreich zu tätigen.

 

Am XXXX war die BF2 erneut in Behandlung beim Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, XXXX , und erstellte dieser im fachärztlichen Befund vom XXXX folgende Diagnosen:

 

- (choronifizierte, komplexe) posttraumatische Belastungsstörung

- Bipolar affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (Zustand nach dreimaligen Suizidversuchen)

- Agoraphobie mit Panikstörung

- Binge Eating Störung

 

Weiters kam der Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, XXXX , zum Ergebnis, dass bei der BF2 die Belastbarkeit und Ausdauerfähigkeit stark eingeschränkt seien. Eine Befragung über dreißig Minuten sei der BF2 derzeit krankheitsbedingt nicht zumutbar.

 

Anhand des aufgezeigten Krankheitsbildes der BF2 ist erkennbar, dass die psychische Gesundheit der BF2 im Laufe der Zeit starken Schwankungen unterlegen war. Beispielsweise wurde die erstmals XXXX diagnostizierte PTBS in den folgenden Jahren auch nicht diagnostiziert ( XXXX ) oder nur der Verdacht auf PTBS festgestellt. Anstelle der XXXX gestellten Diagnose der PTBS wurden XXXX unter anderem eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome, eine Traumatisierung, eine Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion ( XXXX ), Depression, Somatisierungsstörung, Cephalea sowie Rückenschmerzen festgestellt und teilweise – wie bereits angemerkt - nur der Verdacht auf PTBS ( XXXX ) festgehalten.

 

Nach dem Ende der Psychotherapie im XXXX haben sich die Anzeichen einer PTBS offenbar wieder verstärkt und wurde diese im XXXX ( XXXX ) erneut diagnostiziert. Im Rahmen der Untersuchung zur Erstellung eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens vom XXXX gab die BF2 an, dass sie sich wieder einer Gesprächstherapie unterziehe und vermeinte, keine psychischen Beschwerden zu haben. Auf konkrete Nachfrage des Sachverständigen führte sie aus, dass sie Zukunfts- und Existenzängste habe sowie an Trennungsschmerz leide, weil ihr Kind in der Türkei lebe. Sie bestätigte weiters, keine Suizidgedanken mehr zu haben und gab an, dass sie ohne ärztliche Rücksprache ihre Medikamente abgesetzt habe.

 

Mehr als ein halbes Jahr nach der diagnostizierten PTSD (ängstlich- depressiver Zustandsbild bei PTSD) und nach Wiederaufnahme der Gesprächstherapie fühlte sich die BF2 offenbar in der Lage ihren Alltag ohne Medikation, jedoch mit Hilfe einer Gesprächstherapie zu meistern, was sich auch in der Diagnose „Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion – in Remission“ und „chronische Spannungskopfschmerzen“ widerspiegelte.

 

In weiterer Folge befand sich die BF2 offenbar länger nicht in ärztlicher Behandlung und wurde am XXXX im ärztlichen Befund des XXXX einer Verschlechterung ihres psychischen Gesundheitszustandes festgehalten. Die BF2 befand sich zu diesem Zeitpunkt wieder regelmäßig in psychiatrischer Behandlung und wurde auf eine anhaltende psychosoziale Belastung (u. a. laufendes Asylverfahren) sowie dem Abbruch der Psychotherapie (finanzielle Gründe) hingewiesen. Die Symptome einer PTBS lagen wieder vor und wurden zudem eine Agrophobie mit Panikstörung, eine Binge Eating Störung sowie eine bipolare affektive Störung (gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (Zustand nach dreimaligem Suizidversuch) diagnostiziert. Auch im ca. ein Jahr später ( XXXX ) erneut erstellten fachärztlichen Befundbericht des XXXX wurden die Diagnosen vom XXXX bestätigt. Die BF2 hat zu diesem Zeitpunkt aus Kostengründen nach wie vor keine Psychotherapie in Anspruch genommen, wobei ihr zur weiteren längerfristigen Stabilisierung zu einer solchen geraten wurde. Weiters findet sich im ärztlichen Befundbericht der Hinweis, dass es durch die Erdbebenkatastrophe in der Türkei zu einer deutlichen Verschlechterung des Zustandsbildes der BF2 gekommen sei, weil Familienangehörige durch das Beben verstorben, verletzt oder verschüttet worden seien.

Ca. sechs Wochen nach der Erstellung dieses fachärztlichen Befundberichtes wurde das neurologisch-psychiatrische Sachverständigengutachten des XXXX vom XXXX im gegenständlichen Asylverfahren erstellt. Im Rahmen der Untersuchung gab die BF2 an, dass sie seit Kurzem wieder in fachärztlicher Behandlung sei und sich erneut einer Psychotherapie unterziehe. Einer Empfehlung zu einem stationären Krankenhausaufenthalt sei sie nicht gefolgt. Als belastende Faktoren zählte die BF2 auf: „Ich fühle mich nicht frei, ich kann keiner Arbeit nachgehen. Ich bin aber jetzt eh nicht arbeitsfähig und habe Konzentrationsprobleme.“ Zum Zeitpunkt der Erstellung des Sachverständigengutachtens hat sich die BF2 somit wieder in Psychotherapie sowie seit geraumer Zeit auch in regelmäßiger psychiatrischer Behandlung befunden. Die Trauer über den Verlust von Angehörigen hat die BF2 offenbar bereits in so einem Ausmaß überwunden, dass sie diese bei der Erfragung nach aktuellen Beschwerden und ihrer Krankheitsentwicklung nicht mehr erwähnte. Als belastend wurden sohin der unklare Ausgang des Asylverfahrens sowie die fehlende Möglichkeit einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen angegeben.

 

Das kritisierte neurologisch-psychiatrische Sachverständigen-Gutachten vom XXXX stützt sich – wie schon jenes vom XXXX - auf eine ambulante Untersuchung der BF2, wobei bereits vorliegende Befunde ( XXXX ), Ambulanzbefund ( XXXX ), Entlassungsberichte ( XXXX ) sowie das eigenen Vorgutachten und auch die Teilnahme der BF2 an Psychotherapien/Gesprächstherapien berücksichtigt wurden. Der Gutachter führte ein ärztliches Gespräch durch, welches eine ausführliche Erhebung der Biografie der BF2 enthält, stellte nach der Erhebung aktueller Beschwerden und der Krankheitsentwicklung ihren neurologischen und psychiatrischen Status fest und führte außerdem mit der BF2 ein strukturiertes Interview hinsichtlich einer posttraumatischen Belastungsstörung durch, welches zu dem Ergebnis führte, dass die Diagnosekriterien für eine solche Erkrankung nicht vorliegen. In der Folge kam der Sachverständige hinsichtlich des Gesundheitszustandes der BF2 zur Schlussfolgerung, dass es sich dabei um eine "Rezidivierende depressive Störung – gegenwärtig mittelgradige Episode“ und eine „vordiagnostizierte Panikstörung“ handelt. Die medizinische Beurteilung ist schlüssig begründet und der Sachverständige gerichtlich beeidet, weshalb kein Grund ersichtlich ist, das Gutachten in Zweifel zu ziehen.

 

Ca. fünf Monate später wurde am XXXX seitens des behandelnden Arztes der BF2, XXXX , Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, ein fachärztlicher Befundbericht erstellt, welcher wiederum eine Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes der BF2 festhält. Hingewiesen wurde erneute darauf, dass die BF2 aufgrund finanzieller Probleme ihre Psychotherapie abbrechen habe müssen, obwohl sie davon sehr profitiert habe und eine Psychotherapie für eine längerfristige Stabilisierung dringend geboten sei, zumal höchstwahrscheinlich aufgrund der in der Natur der Erkrankung(en) liegenden Chronifizierung sowie der gegenseitigen, negativen Beeinflussung und Potenzierung der komplexen psychiatrischen Krankheitsbilder eine dauerhafte (lebenslange) Behandlungsnotwendigkeit bestehe. Bei einer Überstellung in die Türkei würde es auch durch die Unterbrechung der Behandlung zu einer akuten, signifikanten Verschlechterung des fragilen Zustandsbildes (wahrscheinlich mit suizidaler Einengung) kommen. Die Belastbarkeit und Ausdauerfähigkeit der BF2 sei stark eingeschränkt (Befragung über dreißig Minuten nicht zumutbar). Angesichts dessen wurden bei der BF2

 

- eine (chronifizierte, komplexe) posttraumatische Belastungsstörung,

- Eine bipolar affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (Zustand nach dreimaligen Suizidversuchen)

- eine agrophobie mit Panikstörung sowie

- eine Binge Eating Störung

 

diagnostiziert.

 

Als Therapievorschlag wurden Sertralin 100 mg Tabletten, Abilify 10 mg Tabletten, Seroquel 25 mg Tabletten, Atarax 25 mg Tabletten, Truxal 50 mg Tabletten (bis zu dreimal täglich bei Spannungszuständen) sowie regelmäßige EKG-Kontrollen, Laborkontrollen und internistische Kontrollen aufgelistet.

 

Mehrere Monate nach der Erstellung des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens wurde sohin erneute einer Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes der BF2 diagnostiziert und wird dies auch nicht in Abrede gestellt.

 

Anhand der dargestellten Krankengeschichte ist bei der BF2 ein schwankender Verlauf der psychischen Gesundheit seit XXXX offensichtlich bzw. ist erkennbar, dass mit den Abbrüchen der Psychotherapie oder mit den von der BF2 beschriebenen – nicht immer gleichbleibenden - Belastungssituationen immer auch eine Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes einhergegangen ist, sich der Gesundheitszustand aber mit der Aufnahme einer Psychotherapie oder Änderung der belastenden Faktoren auch wieder stabilisierte bzw. verbesserte.

 

Alleine aufgrund sich nicht deckender Diagnosen verschiedener Ärzte im Verlauf von ca. acht Jahren kann entgegen der Ausführungen in der Stellungnahme vom 31.07.2023 jedoch keine Mangelhaftigkeit der eingeholten Sachverständigengutachten erkannt werden.

 

An dieser Stelle ist erneut darauf hinzuweisen, dass der vom BVwG beauftragte Gutachter die ihm vom Gericht zur Verfügung gestellten Beweismittel (vorgelegte medizinische Unterlagen) aufgelistet und auszugsweise wiedergegeben hat. Der Gutachter hat zudem schlüssig angeführt, dass es zu einem Gespräch mit der BF2 kam. Aufgrund dieses Gespräches wurden Feststellungen zur Biographie sowie zu aktuellen Beschwerden getroffen. Es erfolgte eine klinische Untersuchung samt Erhebung des neurologischen und psychiatrischen Status. Zur Erstellung einer Diagnose für das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung bzw. für das Nichtvorliegen sowie zur Abgrenzung anderer psychischer Störungen wurde ein strukturiertes Interview eingesetzt. Aus dem Gutachten bzw. dessen Erstellung ist keinster Weise ersichtlich, dass an dieses nicht objektiv herangegangen wurde. Die Sachlage wurde augenscheinlich unparteiisch fachlich beurteilt. Die oben angeführte Behauptung, das Gutachten sei mangelhaft, sind nicht nachvollziehbar und bestehen daher seitens des Gerichtes keine Bedenken an der erforderlichen Objektivität und Korrektheit des Gutachtens.

 

Letztlich ist daher zu der Feststellung zu gelangen, dass der psychische Gesundheitszustand der BF2 starken Schwankungen unterliegt und bei ihr zuletzt am XXXX die oben angeführten psychischen Erkrankungen diagnostiziert wurden, welche dem aktuellen Grad der psychischen Erkrankung entsprechend medikamentös und begleitend durch eine Psychotherapie behandelt werden sollen.

 

Sowohl XXXX , als auch XXXX kamen zum Ergebnis, dass die Einvernahmefähigkeit der BF2 zeitlich beschränkt ist, wobei im XXXX noch ein bis zwei Stunden und im XXXX dreißig Minuten Befragungszeit als zumutbar eingestuft wurden. In der mündlichen Verhandlung am XXXX wurde die BF2 auch gefragt, ob sie psychisch und physisch in der Lage sei der stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen und die an sie gerichteten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Die BF2 erklärte, grundsätzlich dazu bereit zu sein, forderte aber – wenn möglich – eine Pause nach dreißig Minuten ein. Nach dem Beginn der Befragung der BF2 wurden die Verhandlung auch von XXXX bis XXXX Uhr und von XXXX bis XXXX unterbrochen. Die Dauer und Anzahl der Pausen in der mündlichen Verhandlung wurden von der Vertretung und der BF2 in der mündlichen Verhandlung in weiterer Folge auch nicht beanstandet, weshalb nicht anzunehmen ist, dass die BF2 in unzumutbarer Dauer befragt wurde. Festzuhalten ist dazu noch, dass eine grundsätzliche Einvernahmefähigkeit im gesamten Asylverfahren bestanden hat und lediglich die Belastbarkeit und Ausdauerfähigkeit der BF2 eingeschränkt ist. Im neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom XXXX kam der Sachverständige im Übrigen zu dem Ergebnis, dass aus neurologisch-psychiatrischer Sicht keine Anhaltspunkte vorliegen, wonach die BF2 in der mündlichen Verhandlung am XXXX nicht in der Lage gewesen wäre, Angaben zu ihrem Verfahren zu tätigen. Auch entsprechend dem ebenfalls im XXXX erstellten fachärztlichen Befundbericht des XXXX wurde die Einvernahmefähigkeit der BF2 weder ausgeschlossen noch eingeschränkt.

 

Dass der Gesundheitszustand der BF2 im Falle einer Abschiebung in die Türkei in signifikanter Weise eine Verschlechterung erfahren würde, kam im Verfahren ebenfalls nicht hervor. Im neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom XXXX wurde eine kurz- bis mittelfristige Verschlechterung des Krankheitsbildes für möglich befunden. Die reale Gefahr einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes in einem lebensbedrohlichen Ausmaß wurde ausgeschlossen. XXXX kam in seinem späteren fachärztlichen Befundbericht vom XXXX zu dem Ergebnis, dass es zu einer akuten signifikanten Verschlechterung kommen würde, wobei er im Kontext ausführte, dass eine adäquate psychiatrische Versorgung seinerseits nicht gewährleistet wäre. Zudem hält er eine suizidale Einengung für wahrscheinlich.

 

Der immanenten Behauptung, wonach die BF2 auf eine Behandlung durch XXXX angewiesen sei, ist jedoch entgegenzuhalten, dass die BF2 im Bundesgebiet keine Behandlung in Anspruch nimmt, die ausschließlich und exklusiv in Österreich verfügbar wäre. Hinweise, dass die in Österreich verabreichte Medikamente bzw. vergleichbare Medikamente oder eine psychotherapeutische Behandlung in der Türkei nicht dauerhaft verfügbar wären, bzw. dass es sonstige Gründe geben würde, die gegen eine Fortsetzung der hier in Österreich erfolgten Behandlung der psychischen Erkrankung im Herkunftsstaat sprechen, gehen aus den zugrundeliegenden Länderberichten nicht hervor. Entsprechend der Länderberichte hat die BF2 uneingeschränkten Zugang zum türkischen Gesundheitssystem und stehen ihr notwendige Behandlungen in stationärer, ambulanter und medikamentöser Hinsicht offen. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10 % tragen und sind 90 % der türkischen Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt (ÖB 30.11.2021, S. 40). Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (IOM 2021).

 

Das von der BF mittels Befunden untermauerte Krankheitsbild ist in der Türkei jedenfalls – auch dauerhaft - behandelbar und die erforderlichen Medikamente bzw. Therapien erhältlich.

 

Der Vollständigkeit halber ist noch darauf einzugehen, dass die BF2 im Laufe der Jahre immer wieder auch Suizidgedanken äußerte, diese aber entsprechend der Schwankungen ihrer psychischen Gesundheit regelmäßig auch verneinte. Tatsächlich erfolgte Suizidversuche sind durch medizinische Unterlagen nicht belegt worden und wurde im neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens vom XXXX eine Suizidalität als nicht vorliegend gewertet. Im zuletzt erfolgten fachärztlichen Befundbericht des XXXX vom XXXX wurde zwar ausgeführt, dass es im Falle der Rückkehr der BF2 – auch vor dem Hintergrund der Angst der BF2 vor politischer Verfolgung und Verhaftung in der Türkei - zu einer signifikanten Verschlechterung des fragilen Zustandsbildes (wahrscheinlich mit suizidaler Einengung) kommen würde. Eine akute Suizidalität wurde nicht festgestellt und sind eine solche folglich auch nicht anzunehmen.

 

Wenn die BF2 mit Stellungnahme vom 02.10.2023 ein Gutachten einer allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen, Klinischen- und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin in Logotherapie und Existenzanalyse sowie zertifizierte Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologin, XXXX vorlegte und damit eine Unschlüssigkeit des Gutachtens des XXXX bzw. den darin gezogenen Schlussfolgerungen aufzeigen möchte, ist Folgendes in Betracht zu ziehen:

Die von der BF2 bzw. deren rechtsfreundlichen Vertretung behaupteten divergierenden Erhebungsmethoden und vorgebrachten mangelnden Qualifikation des XXXX ist dieser mit einem Ergänzungsgutachten nachvollziehbar entgegengetreten.

XXXX verwies – wie bereits oben von erkennenden Gericht erörtert, darauf, dass dieser ein ausführliches neurologisch-psychiatrisches Gutachten vom XXXX erstellte. Es erfolgte in diesem Zusammenhang eine ausführliche Erhebung der Anamnese, der Biografie der medizinischen Vorgeschichte, die Einholung und Begutachtung beziehungsweise Bewertung der vorgelegten Befunde und Unterlagen und insbesondere ein ausführlicher neurologischer und psychiatrischer Status. Zusätzlich fand auch ein strukturiertes Interview hinsichtlich einer posttraumatischen Belastungsstörung statt. Weiters wurde die Symptomliste für eine chronisch posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-10 herangezogen. Insgesamt erfolgte somit nach entsprechender Befundaufnahme eine Bewertung der von der Betroffenen angegebenen Symptome und eine Bewertung des Längsschnittverlaufes und konnten in weiterer Folge somit die im Gutachten angeführten Diagnosen gestellt werden. Hinsichtlich der Bewertung der Ausprägung einer rezidivierenden depressiven Störung wurden die gültigen Diagnosekriterien, (S3-Leitlinien) herangezogen und konnten entsprechend dieser Leitlinien Haupt- und Nebensymptome des Krankheitsbildes festgestellt werden und eine mittelgradige Episode der rezidivierenden depressiven Störung festgehalten werden.

 

Hinsichtlich der Auffassung der BF2, XXXX habe eine fragwürdige und nicht geeignete Erhebungsmethode verwendet, bei der Exploration von Frau XXXX hingegen seien unter anderem Fragen professionell darauf ausgerichtet gewesen, die Diagnose einer PTBS zu erheben oder zu negieren. Im Gutachten der XXXX könne man die Ursache der PTBS nachvollziehen. Die Zeitdauer der Befragung wurde mit 3 Stunden angegeben.XXXX legte bezüglich der von XXXX angewandten Methode BDI-III Beck-Depressions-Inventar dar, dass es sich hierbei um einen Selbstbeurteilungsbogen handelt, welchen die BF2 selbstständig ausgefüllt hat. Offenbar wurden die Angaben der BF2 vollkommen unwidersprochen im Gutachten eingebaut und wiedergegeben. Ebenso sei der Fragebogen zur Traumafolgestörung ein Selbstbeurteilungsbogen und wurde auch dieser vollkommen unkritisch im Gutachten wiedergegeben. Laut XXXX sei es Aufgabe eines medizinischen neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen die subjektiven Angaben einer betroffenen Person im Gutachten auch entsprechend zu werten, und insbesondere auch im Längsschnittverlauf zu beurteilen, ob die Angaben der betroffenen Person auch tatsächlich mit dem vorliegenden Krankheitsbild und der Symptomatik in Einklang zu bringen sind. In der klinischen Untersuchung des XXXX erfolgte eine ausführliche Anamneseerhebung mit der Betroffenen, ebenso die Erhebung des klinisch neurologischen und psychiatrischen Status. Es wurde auch ein strukturiertes Interview durchgeführt zur Beurteilung, ob eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegt. Bei der eigenen Befunderhebung wurde in diesem Interview, die von der Betroffenen angegebene Symptomatik entsprechende bewertet und auch kritisch hinterfragt.

 

Anhand dieser Erläuterungen des XXXX kann das Vorbringen der BF2 der Gutachter habe keine zweckmäßige Erhebungsmethode angewandt nicht gefolgt werden.

 

Angeführt darf zudem in diesem Zusammenhang, dass XXXX klarstellte, dass zur Feststellung der Ausprägung und des Ausmaßes einer depressiven Störung mehrere Erhebungsmethoden möglich sind. Zur eigenen fachlichen Eignung legte er dar, dass er seit vielen Jahren fachärztlich auf dem Fachgebiet der Neurologie und Psychiatrie tätig ist. Seit vielen Jahren ist dieser als allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger tätig und wurde in zahlreichen Verfahren, sei es beispielsweise in Sozialrechtsverfahren oder Strafrechtsverfahren zu den Fragestellungen wie beispielsweise Verhandlungsfähigkeit oder Einvernahmefähigkeit bestellt. Ebenso zu Fragestellungen wie beispielsweise im Zusammenhang mit der Entscheidungsfähigkeit betroffener Personen (Erwachsenenschutzverfahren) oder in Strafverfahren (§ 11 StGB, § 21 StGB). Die fachliche Eignung ist somit zweifelsfrei gegeben, insbesondere auch zur Fragestellung einer Einvernahmefähigkeit von Erwachsenen im mittleren Alter.

 

Aufgrund der aus der Sicht des erkennenden Gerichtes offensichtlich unterschiedlichen wissenschaftlichen Grundlagen können die Feststellungen bzw. Schlussfolgerungen des Gutachtens von XXXX im gegenständlichen Verfahren keine Beachtung finden. Vor allem die Feststellungen zur Einvernahmefähigkeit der BF2 seitens XXXX stehen im vollkommenen Widerspruch zu den diesbezüglichen Erläuterungen von XXXX und XXXX . Diese beiden Ärzte haben die BF2 mehrmals untersucht bzw. hatten diese in Begutachtung, sodass davon auszugehen ist, dass diese den oben bereits angeführten augenscheinlich immer wieder veränderten Gesundheitszustand der BF2 besser beurteilen können.

 

Die Teilnahme an der BF2 einem Basisbildungskurs (Deutsch, Mathematik, Englisch, IKT und soziales Lernen) geht aus der Kursbesuchsbestätigung der XXXX vom XXXX hervor.

 

Die Teilnahme der BF2 an einen Basisbildungskurs im XXXX (Kompetenzen in der deutschen Sprache, Mathematische Kompetenzen, digitale Kompetenzen, Lernkompetenzen) ist der Kursbesuchsbestätigung der XXXX vom XXXX und dem Zertifikat der XXXX vom XXXX zu entnehmen.

 

Dass die BF3 vom XXXX bis XXXX an einem Basisbildungskurs (Deutsch, Mathematik, Englisch, IKT und soziales Lernen) teilgenommen hat, geht aus der Kursbesuchsbestätigung der XXXX vom XXXX und dem Zertifikat der XXXX vom XXXX hervor (AS 437).

 

Dass die BF3 ist seit XXXX nicht mehr aufrecht in Österreich gemeldet und nach XXXX verzogen ist, geht aus dem zentralen Melderegister hervor und beruht auch auf den dahingehend plausiblen Angaben der BF2 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am XXXX . Die ordnungsgemäße Ladung der BF3 zu den mündlichen Beschwerdeverhandlungen ist dem Verfahrensakt zu entnehmen.

 

Dass der BF4 hat in Österreich die Mittelschule besucht und im Schuljahr XXXX die Polytechnische Schule mit einem „Nicht genügend“ in den Unterrichtsfächern „Lebende Fremdsprache Englisch“ und „Deutsch“ abgeschlossen hat, ist dem Jahreszeugnis der Polytechnische Schule XXXX vom XXXX zu entnehmen (AS 253).

 

Die Teilnahme des BF4 vom XXXX bis XXXX an einem Pflichtschulabschlusskurs geht aus der Kursbesuchsbestätigung der XXXX vom XXXX hervor.

 

Dass der BF4 die Externisten-Pflichtschulabschlussprüfung bestanden hat, ist dem Zeugnis der Prüfungskommission der Pflichtschulabschlussprüfung zu entnehmen (AS 339).

 

Aus dem Zertifikat der Initiative Erwachsenenbildung vom XXXX geht hervor, dass der BF4 den Basisbildungskurs „Basisbildung niedriges A1“ besucht hat. Dass der BF4 die Deutschprüfung auf dem Niveau BF1 am XXXX nicht bestanden hat, geht aus der Prüfungsbestätigung des ÖIF vom XXXX hervor.

 

Dass der BF4 seinen Wehrdienst noch nicht absolviert hat, ergibt sich einerseits aus seinen eigenen Angaben und steht andererseits im Einklang mit seinem Alter und seinem Ausreisedatum.

 

II.2.3. Zu der getroffenen Auswahl der Quellen, welche zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat herangezogen wurden, ist anzuführen, dass es sich hierbei aus der Sicht des erkennenden Gerichts um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen - sowohl staatlichen, als auch nichtstaatlichen Ursprunges - handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten – von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates, über den berichtet wird, zur Kenntnis gelangen – diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um Sachverhalte geht, für die ausländische Regierungen verantwortlich zeichnen, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteiennahme weder für den potentiellen Verfolgerstaat, noch für die behauptetermaßen Verfolgten unterstellt werden kann. Hingegen findet sich hinsichtlich der Überlegungen zur diplomatischen Zurückhaltung bei Menschenrechtsorganisationen im Allgemeinen das gegenteilige Verhalten wie bei den oa. Quellen nationalen Ursprunges. Der Organisationszweck dieser Erkenntnisquellen liegt gerade darin, vermeintliche Defizite in der Lage der Menschenrechtslage aufzudecken und falls laut dem Dafürhalten - immer vor dem Hintergrund der hier vorzunehmenden inneren Quellenanalyse - der Organisation ein solches Defizit vorliegt, dies unter der Heranziehung einer dem Organisationszweck entsprechenden Wortwahl ohne diplomatische Rücksichtnahme, sowie uU mit darin befindlichen Schlussfolgerungen und Wertungen – allenfalls unter teilweiser Außerachtlassung einer systematisch-analytischen wissenschaftlich fundierten Auswertung der Vorfälle, aus welchen gewisse Schlussfolgerungen und Wertungen abgeleitet werden - aufzuzeigen (vgl. Erk. des AsylGH vom 1.8.2012, Gz. E10 414843-1/2010).

 

Die getroffenen Feststellungen ergeben sich daher im Rahmen einer ausgewogenen Gesamtschau unter Berücksichtigung der Aktualität und der Autoren der einzelnen Quellen. Auch kommt den Quellen im Rahmen einer Gesamtschau Aktualität zu (zu den Anforderungen an die Aktualität einer Quelle im Asylverfahren vgl. etwa Erk. d. VwGH v. 4.4.2001, Gz. 2000/01/0348).

 

Der Vollständigkeit halber wird noch darauf hingewiesen, dass die dem BF zur Kenntnis gebrachten länderspezifischen Feststellungen zum Herkunftsstaat Türkei zwar nicht den Anspruch absoluter Vollständigkeit erheben (können), jedoch als so umfassend und aktuell qualifiziert werden, dass der Sachverhalt bezüglich der individuellen Situation des BF in Verbindung mit der Beleuchtung der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat als geklärt angesehen werden kann. Es ist - bei einem Land wie der Türkei mit einer sehr hohen Berichtsdichte, in dem praktisch ständig neue Erkenntnisquellen entstehen - de facto unmöglich, sämtliches existierendes Berichtsmaterial zu berücksichtigen, weshalb die belangte Behörde bzw. das erkennende Gericht ihrer Obliegenheit zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei nachkommt, wenn sie bzw. es sich zur Entscheidungsfindung eines repräsentativen Querschnitts des bestehenden Quellenmaterials bedient.

 

Wenn in der Stellungnahme vom 22.02.2023 auszugsweise Passagen aus den BF1-4 zur Kenntnis gebrachten Länderinformationen zur Menschenrechtslage, politischen Lage, Sicherheitslage im Südosten der Türkei und im Nordirak, Rechtsstaatlichkeit und Justizwesen, Wehrdienst samt Situation kurdisch-stämmiger Rekruten in der Armee, Meinungsfreiheit, Haftbedingungen sowie Lage der kurdischen Volksgruppe wiederholt werden, zeigte die Stellungnahme diesbezüglich weder eine Unrichtigkeit, noch eine Unvollständigkeit der den BF1-4 vorgehaltenen Quellen zur gegenwärtigen Lage auf und kann im Hinblick auf die in der Stellungnahme thematisierten Bereiche jedenfalls auf die nachstehenden Ausführungen verwiesen werden, zumal es eine Frage der Beweiswürdigung und insbesondere der rechtlichen Beurteilung ist, inwieweit den BF1-4 unter Berücksichtigung der aktuellen Länderinformationen eine Rückkehr möglich und zumutbar ist.

 

Die BF1-4 traten den Quellen und deren Kernaussagen auch sonst nicht konkret und substantiiert entgegen.

 

II.2.4. Das erkennende Gericht hat anhand der Darstellung der persönlichen Bedrohungssituation eines Beschwerdeführers und den dabei allenfalls auftretenden Ungereimtheiten – z.B. gehäufte und eklatante Widersprüche (z.B. VwGH 25.1.2001, 2000/20/0544) oder fehlendes Allgemein- und Detailwissen (z.B. VwGH 22.2.2001, 2000/20/0461) - zu beurteilen, ob Schilderungen eines Asylwerbers mit der Tatsachenwelt im Einklang stehen oder nicht. Auch wurde vom Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass es der Verwaltungsbehörde [nunmehr dem erkennenden Gericht] nicht verwehrt ist, auch die Plausibilität eines Vorbringens als ein Kriterium der Glaubwürdigkeit im Rahmen der ihr zustehenden freien Beweiswürdigung anzuwenden. (VwGH v. 29.6.2000, 2000/01/0093).

 

Weiters ist eine abweisende Entscheidung im Verfahren nach § 7 AsylG [numehr: § 3 AsylG] bereits dann möglich, wenn es als wahrscheinlich angesehen wird, dass eine Verfolgungsgefahr nicht vorliegt, das heißt, mehr Gründe für als gegen diese Annahme sprechen (vgl zum Bericht der Glaubhaftmachung: Ackermann, Hausmann, Handbuch des Asylrechts [1991] 137 f; s.a. VwGH 11.11.1987, 87/01/0191; Rohrböck AsylG 1997, Rz 314, 524).

 

Von einem Antragsteller ist ein Verfolgungsschicksal glaubhaft darzulegen. Einem Asylwerber obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen und Verhältnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Asylanspruch lückenlos zu tragen und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Die Behörde muss somit die Überzeugung von der Wahrheit des von einem Asylwerber behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor asylrelevanter Verfolgung herleitet. Es kann zwar durchaus dem Asylwerber nicht die Pflicht auferlegt werden, dass dieser hinsichtlich asylbegründeter Vorgänge einen Sachvortrag zu Protokoll geben muss, der auf Grund unumstößlicher Gewissheit als der Wirklichkeit entsprechend gewertet werden muss, die Verantwortung eines Antragstellers muss jedoch darin bestehen, dass er bei tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit die Ereignisse schildert.

 

Die BF1-4 wurden im Rahmen des Asylverfahrens darauf hingewiesen, dass ihre Angaben eine wesentliche Grundlage für die Entscheidung im Asylverfahren darstellen. Die BF1-4 wurde zudem aufgefordert, durch wahre und vollständige Angaben an der Sachverhaltsfeststellung mitzuwirken und sie wurden darauf aufmerksam gemacht, dass unwahre Angaben nachteilige Folgen haben.

 

II.2.4.1. Der BF1 stützte seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz auf eine strafrechtliche Verfolgung seiner Person aufgrund seiner journalistischen bzw. schriftstellerischen Tätigkeit. Er sei in der Türkei als vermeintliches Mitglied einer terroristischen Organisation strafgerichtlich verurteilt worden und müsse eine Freiheitsstrafe von XXXX verbüßen. Dieses Vorbringen wurde jedoch als nicht glaubhaft erachtet, zumal es sich als unsubstantiiert und widersprüchlich erwiesen hat. Der BF1 hinterließ darüber hinaus in der damaligen mündlichen Verhandlung einen unsicheren und ausweichenden Eindruck und es zeigte sich auch bei der Befragung der BF2 Unkenntnis in wesentlichen Belangen. Auch die vom BF1 im ersten Asylverfahren als Beweismittel vorgelegten Urkunden waren zur Glaubhaftmachung der behaupteten Verfolgungssituation nicht geeignet. Die BF2-4 führten im ersten Asylverfahren aus, keine eigenen Fluchtgründe zu haben und gaben an, die Türkei aufgrund der politischen Probleme des BF1 verlassen zu haben.

 

Mit dem ersten Wiederaufnahmeantrag vom 05.10.2020 wurde ein Auskunfts- und Informationsformulars der XXXX vom XXXX vorgelegt und behauptet, es ergebe sich daraus zweifelsfrei, dass die BF1-2 „aufgrund der Teilnahme an politischen/ideologischen Ausbildungen an PKK/KCK/PYD/YPG Terror Organisationen“ verfolgt werden würden.

 

Die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens lagen mangels "nova reperta" jedoch schon grundsätzlich nicht vor und wurde ergänzend festgehalten, dass das nunmehr vorgelegte Beweismittel einen anders gelagerten Sachverhalt, nämlich den angeblich (neu erhobenen) Vorwurf, wonach der BF1 politische bzw. ideologische Ausbildungen der Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) erhalten und Propagandaaktivtäten für die PKK entfaltet habe, betrifft.

 

Das Auskunfts- und Informationsformular der XXXX vom XXXX wurde als untauglich gewertet, die Feststellung in Zweifel zu ziehen, wonach der BF1 wegen seiner journalistischen bzw. literarischen Tätigkeit als vermeintliches Mitglied einer terroristischen Organisation angesehen wird und diesem die Verbüßung einer Freiheitsstrafe von XXXX im Rückkehrfall drohe. Hingewiesen wurde auch darauf, dass das Auskunfts- und Informationsformular auch mit keinem Wort die BF2 erwähnt und andere angebliche Verurteilungen des BF1 (nämlich wegen XXXX ) erwähnt werden, von welchen im ersten Asylverfahren keine Rede war.

 

Am 23.12.2020 stellten die BF1-4 einen zweiten Antrag auf Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen ersten Asylverfahrens.

 

Als Wiederaufnahmegrund wurden folgende neue Beweismittel genannt:

 

- Schreiben XXXX vom XXXX an XXXX

- Schreiben XXXX vom XXXX

- Schreiben XXXX , vom XXXX

- Bescheid XXXX an XXXX

 

- Haftbefehl XXXX vom XXXX

- Schreiben XXXX

- Urteil XXXX , betreffend einen Haftbefehl gegen den BF1. Die Person sei einzuvernehmen und im Anschluss daran wieder frei zu lassen

 

- Urteil XXXX

- Schreiben XXXX

- Bescheid XXXX an XXXX

- Anzeige XXXX an XXXX

 

Diese Unterlagen sollten eine Verfolgung des BF1 aufgrund eines gegen den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan gerichteten Eintrages auf der Internetplattform „ XXXX “ aus dem Jahre XXXX , der öffentlich einsehbar ist, seitens der türkischen Staatsanwaltschaft wegen des Vorwurfs der „Beleidung des Präsidenten belegen.

 

Aus diesen Unterlagen ließ sich ableiten, dass gegen den BF1 (nach einem Zuständigkeitskonflikt der Staatsanwaltschaften XXXX und XXXX ) mit gerichtlicher Bewilligung ein Haftbefehl zum Zweck der Ermöglichung einer Einvernahme des BF1 durch die Staatsanwaltschaft erlassen wurde (Haftbefehl des XXXX vom XXXX ). Nach der Einvernahme ist die Freilassung des BF1 angeordnet. Die Einvernahme ist innerhalb von 24 Stunden persönlich oder im Wege der Videokonferenz durchzuführen. Dem Verfahren liegt eine anonyme über das Internet eingebrachte Anzeige vom XXXX zugrunde, wonach der BF1 im Internet die Wortfolge „ XXXX “ gepostet habe (Anzeige der XXXX vom XXXX ).

 

Beweismittel über eine erfolgte strafgerichtliche Anklage oder eine erfolgte strafgerichtliche Verurteilung des BF1 in der Türkei wurden nicht vorgelegt und konnten auch nicht festgestellt werden.

 

Der vom BF1 in den sozialen Medien vor dem XXXX veröffentlichte Beitrag über den türkischen Präsidenten musste dem BF1 als Urheber jedoch bereits vom Zeitpunkt seiner Veröffentlichung an ebenso bekannt gewesen sein sowie der Umstand, dass die Enunziation aufgrund ihres Wortlautes mit strafrechtlichen Bestimmungen in der Türkei zumindest potentiell in Konflikt stehen könnte.

 

Ungeachtet dessen erwähnte der BF1 diesen Umstand im rechtskräftig abgeschlossenen ersten Asylverfahren nicht. Die Enunziation als solche wurde daher nicht als neu hervorgekommene Tatsache angesehen. Anderes wurde für die vorgelegten Beweismittel betreffend ein gegen den BF1 anhängiges Ermittlungsverfahren in der Türkei angenommen. Der Umstand des behaupteten behördlichen Interesses am BF1 bzw. die Anzeige der Staatsanwaltschaft und der Haftbefehl erfüllten somit – unabhängig von der Frage nach der Echtheit bzw. Richtigkeit der gegenständlichen Anzeige betreffend die angebliche Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten und des darauf basierenden Haftbefehls – den Begriff der nova reperta.

Der zweite Wiederaufnahmeantrag war dennoch nicht erfolgreich, zumal die Wiederaufnahme des Verfahrens die Eignung der neuen Tatsachen oder Beweismittel voraussetzt, wonach diese allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anderslautendes Ergebnis herbeigeführt hätten.

 

Aus dem bloßen Erhalt der Anzeige der XXXX vom XXXX , der Anzeige der XXXX vom XXXX an die Staatsanwaltschaft XXXX betreffend eine „Präsidentenbeleidigung“ auf XXXX durch den BF1 und die in diesem Zusammenhang von der XXXX am XXXX durchgeführte Ergänzung der Unterlagen über den Erstwiederaufnahmewerber sowie des erlassenen Haftbefehls des XXXX vom XXXX den BF1 betreffend, konnte jedenfalls noch kein asylrelevanter Sachverhalt geschlossen werden, zumal es solchen Schreiben an der für die Asylgewährung nötigen Eingriffsintensität mangelt (VwGH 07.09.2000, Zl. 2000/01/0153). Die bloße Existenz polizeilicher oder staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen – wie vom BF1 im zweiten Wiederaufnahmeantrag behauptet – sind nicht als unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung und auch sonst nicht als Verfolgung (siehe dazu die Aufzählung in Art. 9 Abs. 2 der Statusrichtlinie) zu werten.

 

Ausgeführt wurde auch, dass das Delikt, dessen Begehung der BF1 verdächtigt wird, eine gerichtlich strafbare Handlung darstellt, welche von den türkischen Behörden entsprechend des in der Türkei in Geltung stehenden Strafgesetzes zu ahnden ist. Behördliche Ermittlungen wegen strafbarer Verhaltensweisen können jedoch nicht als Verfolgung im Sinne der Konvention qualifizieren werden, insoweit die Strafverfolgung eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Bei einer Beleidigung des Staatsoberhauptes handelt es sich um ein kriminelles Delikt, aufgrund dessen es in rechtsstaatlichen Staaten regelmäßig zu einer strafrechtlichen Verfolgung kommen kann. Ein derartiges Delikt ist auch in anderen Mitgliedstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention mit Strafe bedroht (vgl. dazu §§ 115 und 117 österreichisches StGB, wonach die Beleidigung des Bundespräsidenten ein Offizialdelikt ist; ferner § 90 Abs. 1 deutsches StGB, wonach die Verunglimpfung des Bundespräsidenten mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft wird) und darüber hinaus sind strafbare Handlungen unter die Fluchtgründe der Genfer Konvention 1951 nicht subsumierbar.

Festgehalten wurde sohin, dass es sich bei den Maßnahmen gegen den BF1 grundsätzlich um ein legitimes Ziel der Polizei und der unabhängigen Justiz, im Rahmen der Strafrechtspflege (mögliche) strafbare Handlungen aufzuklären sowie verdächtige Personen aufzuspüren handelt, und als Beispiel für ein funktionierendes Polizei- und Justizsystem in Übereinstimmung mit den Länderinformationen zum Heimatland des BF1 steht.

 

Im gegenständlichen Asylverfahren behauptete der BF1, dass in der Türkei neben dem laufenden Verfahren wegen Beleidigung des Präsidenten nach wie vor Ermittlungen wegen dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation PKK/KCK/PYD/YPG/SDG geführt werden würden. Das Interesse der türkischen Behörden beschränke sich jedoch nicht nur auf seine Person, sondern umfasse auch seine Ehegattin und die Kinder.

 

Im ersten Asylverfahren erachtete das Bundesverwaltungsgericht das Vorbringen des BF1, er sei in der Türkei wegen seiner journalistischen bzw. literarischen Tätigkeit als vermeintliches Mitglied einer terroristischen Organisation strafgerichtlich verurteilt worden und müsse im Rückkehrfall eine Freiheitsstrafe von XXXX verbüßen, als nicht glaubhaft.

 

Im gegenständlichen Asylverfahren legte der BF1 mehrere gerichtliche Unterlagen vor, welche belegen würden, dass nach wie vor Ermittlungen bzw. Verfahren wegen der Mitgliedschaft bei einer Terrororganisation und wegen Präsidentenbeleidigung geführt werden würden und jeweils auch Anklagen (AS 793) erhoben worden seien bzw. hinsichtlich der Präsidentenbeleidigung auch ein Urteil ergangen sei.

 

Aus den vorliegenden Polizei-, Staatsanwaltschafts- und Gerichtsunterlagen geht jedoch nicht hervor, dass wegen dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation PKK/KCK/PYD/YPG/SDG oder der Terrorpropaganda Anklage gegen den BF1 erhoben wurde.

 

Das wegen dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation PKK/KCK/PYD/YPG/SDG oder der Terrorpropaganda Anklage erhoben worden sei, gehe den Angaben des BF1 folgend aus dem Auskunfts- und Informationsformular der XXXX vom XXXX und der Klageschrift der Staatsanwaltschaft XXXX vom XXXX hervor.

 

Dieser Behauptung kann jedoch nicht gefolgt werden, zumal der Inhalt der vorgelegten Beweismittel einen anderen Sachverhalt widerspiegelt. Es steht anhand dem Auskunfts- und Informationsformular der XXXX vom XXXX zwar fest, dass Ermittlungen gegen den BF1 in Zusammenhang mit der Aufdeckung von Aktivitäten in Zusammenhang mit der PKK/KCK/PYD/YPG Terrororganisationen sowie zu Kontakten des BF1 zum leitenden Bergkader der PKK/KCK/PYD/YPG geführt worden sind, aufgrund der die XXXX die Teilnahme des BF1 an politischen/ideologischen Ausbildungen der PKK/KCK/PYD/YPG Terrororganisationen bestätigt und es auch für möglich befunden hat, dass der BF1 im Ausland ein Sympathisant/Partner der Terrorgruppe sei. Der bestehende Anfangsverdacht hat sich in weiterer Folge offenbar aber nicht erhärtet, zumal sich aus der Klageschrift der Staatsanwaltschaft XXXX vom XXXX eindeutig ergibt, dass gegen den BF1 lediglich Anklage wegen dem Verbrechen der Beleidigung des Bundespräsidenten erhoben wurde. Weiters ist der Anklageschrift zu entnehmen, dass Untersuchungen der Generalstaatsanwaltschaft XXXX wegen der Beteiligung an politischen/ideologischen Schulungen in Ausbildungsstätten der Terrororganisation und Propagandaaktivitäten im Namen der Terrororganisation durchgeführt wurden, dass Verfahren aber vom Akt getrennt und in der Ermittlungslinie der Generalstaatsanwaltschaft registriert wurde. Festgehalten wurde darüber hinaus, dass leidglich die Ermittlungen wegen des Verbrechens der Beleidigung gegen den Bundespräsidenten fortgesetzt werden. Der strafrechtliche Anfangsverdacht hat sich für die türkischen Strafverfolgungsbehörden im Hinblick auf die Beteiligung des BF1 an politischen/ideologischen Schulungen in Ausbildungsstätten der Terrororganisation und Propagandaaktivitäten im Namen der Terrororganisation offenbar nicht erhärtet und wurden die Ermittlungen gegen den BF1 in dieser Hinsicht nicht fortgeführt.

 

Hinweise darauf, dass – wie vom BF1 behauptet - die Ermittlungen gegen ihn lediglich in einem abgesonderten eigenen Verfahren fortgeführt wurden, sind nicht erkennbar. Sämtliche weitere vom BF1 vorgelegten Unterlagen der türkischen Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte beziehen sich auf den Verdacht der Beleidigung des Bundespräsidenten und war der BF1 auch in der Lage dahingehend ein umfassendes Konvolut an Beweismitteln vorzulegen. Nachweise dafür, dass die Ermittlungen gegen den BF1 wegen seiner Beteiligung an politischen/ideologischen Schulungen in Ausbildungsstätten der Terrororganisation und Propagandaaktivitäten im Namen der Terrororganisation fortgeführt wurden konnte er keine erbringen.

 

An dieser Stelle wird noch einmal auf das zweite Wiederaufnahmeverfahren verwiesen, wo bereits festgestellt wurde, dass das Auskunfts- und Informationsformular der XXXX vom XXXX keinesfalls belege, dass der BF1 wegen seiner journalistischen bzw. literarischen Tätigkeit als vermeintliches Mitglied einer terroristischen Organisation angesehen wird und ihm die Verbüßung einer Freiheitsstrafe von XXXX im Rückkehrfall drohe.

 

Im gegenständlichen Verfahren ist dem BF1 daher lediglich gelungen, gegen ihn geführte Ermittlungen wegen seiner Beteiligung an politischen/ideologischen Schulungen in Ausbildungsstätten der Terrororganisation und Propagandaaktivitäten nachzuweisen. Die vorgelegten Beweismittel sprechen jedoch eindeutig dafür, dass die Ermittlungen nicht weitergeführt wurden und auch keine Anklage wegen dieser Straftaten in der Türkei gegen ihn erhoben wurde.

 

Was das Verfahren gegen den BF1 wegen der Beleidigung des Präsidenten angeht, ist Folgendes anzuführen:

 

Eindeutig festgestellt werden konnte, dass gegen den BF1 am XXXX eine anonyme Anzeige wegen Präsidentenbeleidigung bei den türkischen Behörden erstattet wurde, in weiterer Folge ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und zwecks Einvernahme des BF1 auch ein Haftbefehl am XXXX ergangen ist, in welchem explizit festgehalten wurde, dass der BF1 nach der Einvernahme wieder freizulassen sei.

 

Mit Klageschrift der Staatsanwaltschaft XXXX vom XXXX (Ermittlungszahl: XXXX , Aktenzahl: XXXX , Klagenummer XXXX ) wurde in weiterer Folge gegen den BF1 Anklage wegen öffentlichen Beschimpfungen an den Bundespräsidenten gemäß Nr. 5237 Art. 299/1-2 und 53/1 tStGB erhoben (AS 263). Das Strafgericht XXXX (AZ: XXXX ) hat für den XXXX jeweils Verhandlung anberaumt, zu denen der BF1 nicht erschienen ist, wobei zuletzt beschlossen wurde, die Vollstreckung des Haftbefehls abzuwarten und die Anhörung auf den XXXX zu verschieben. Entsprechend den Ausführungen des BF1 ist er auch bei dieser Verhandlung nicht anwesend gewesen.

 

Unklar ist auf den ersten Blick jedoch, ob es in der Türkei zu einer Verurteilung des BF1 wegen der Präsidentenbeleidigung gekommen, oder das Verfahren nach wie vor nicht abgeschlossen ist. Der BF1 berief sich dabei insbesondere auf eine Passage im Auskunfts- und Informationsformulars der XXXX XXXX am XXXX gegen den BF1 mit gerichtlicher Bewilligung vom XXXX (Urteil des XXXX betreffend einen Haftbefehl gegen den BF1) erlassenen Haftbefehl zum Zweck der Einvernahme des BF1 durch die Staatsanwaltschaft.

 

Der Haftbefehl sowie dessen gerichtliche Bewilligung beziehen sich jedoch ausschließlich auf den Verdacht gegen den BF1, wonach er das Verbrechen der Präsidentenbeleidigung begangen habe, und ist eine Verurteilung daraus nicht ableitbar.

 

Aus dem Auskunfts- und Informationsformulars der XXXX XXXX XXXX

 

Der zeitliche Ablauf im Verfahren spricht jedoch dagegen, dass bereits ein Urteil gegen den BF1 wegen der Beleidigung des Präsidenten ergangen ist. Das Auskunfts- und Informationsformulars der XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX XXXX Eine Verurteilung wegen öffentlicher Beleidigung des Präsidenten (Art. 299/1, 2, 243, 53 Verfassung der türkischen Republik) ist bis dato daher nicht anzunehmen.

Aus den vorliegenden Gerichtsunterlagen geht auch nicht hervor, dass bei den geführten Ermittlungs- und Strafverfahren in der Türkei die wesentlichen Verfahrensgrundsätze nicht eingehalten wurden.

 

Der BF1 führte stets aus, dass er kein Mitglied einer Terrororganisation sei und auch nie an politischen/ideologischen Schulungen in Ausbildungsstätten einer Terrororganisation oder an Propagandaaktivitäten im Namen der Terrororganisation beteiligt war. Zu diesem Ergebnis sind offenbar auch die türkischen Strafverfolgungsbehörden nach einem anfänglichen Ermittlungsverfahren gekommen, ansonsten das Ermittlungsverfahren weitergeführt worden wäre. Der Klageschrift der Staatsanwaltschaft XXXX vom XXXX ist – wie oben bereits ausgeführt – klar zu entnehmen, dass das Ermittlungsverfahren wegen der Beteiligung des BF1 an politischen/ideologischen Schulungen in Ausbildungsstätten einer Terrororganisation oder an Propagandaaktivitäten im Namen der Terrororganisation vom Verfahren wegen der Beleidigung des Präsidenten getrennt und in weiterer Folge lediglich bei der XXXX registriert wurde.

 

Zum nach wie vor laufenden Strafverfahren wegen der Beleidung des Präsidenten ist anzuführen, dass infolge der anonymen Anzeige am XXXX bereits am XXXX von der XXXX das XXXX übermittelt wurde, wobei im Protokoll vom XXXX festgehalten wurde, dass in öffentlichen Quellen kein Profil mit dem Namen/Username „ XXXX “ – wie in der Anzeige bekanntgegeben – gefunden wurde (AS 399). Im Protokoll der XXXX (ohne Datum) wurde nach einer Koordination der Beamten mit anderen Institutionen festgehalten, dass der Besitzer vom einschlägigen Sozialmedien-Account „ XXXX “ (TR: XXXX ), geb. am XXXX , standesamtlich eingetragen in XXXX , zuletzt XXXX ausgereist ist und im Ausland leben kann. Durch eine Abfrage über TEMBIS und EKIP konnte eine Adresse des BF1 in der Türkei und eine siebenmalige UYAP-Registrierung festgestellt werden.

 

Im Weiteren wurde die örtliche Zuständigkeit neu geklärt und letztlich die Staatsanwaltschaft XXXX mit der Durchführung des Ermittlungsverfahrens betraut. Noch im XXXX wurden weitere Ermittlungsschritte zur Eruierung einer aufrechten Meldeadresse des BF1 in der Türkei gesetzt und seitens der Staatsanwaltschaft XXXX am 12.09.2019 ergänzende Unterlagen über den BF1, wonach er themenbezogene „Teilungen“ gemacht habe, bei der XXXX , angefordert (AS 302).

 

Dem am XXXX seitens der untersuchenden Beamten erstellten Protokoll (AS 283) ist zu entnehmen, dass auf der Soziale-Medien-Plattform XXXX eine Suchabfrage durchgeführt wurde, welche erfolgreich war. Mehrere Benutzer mit dem Benutzernamen „ XXXX “ wurden gefunden und geteilte Inhalte sowie Fotos aufgelistet. Der Suchvorgang (Suche nach Name, Zuname, Geschlecht, Heimat sowie das Abgleichen von Fotos, Google-Suche) bzw. wie aus XXXX Treffern das XXXX -Konto des BF1 herausgefiltert wurde, wird detailliert dargestellt. In dem Protokoll wird auch festgehalten, dass die XXXX des BF1 am XXXX zum Aufenthaltsort des BF1 befragt und sohin auch der Aufenthaltsort des BF1 in XXXX in Erfahrung gebracht wurde (AS 284). Über die öffentlich zugänglichen Informationen auf dem XXXX -Profil des BF1 konnten auch Informationen über BF2 eruiert werden (in der Türkei nicht registrierte Eheschließung der BF1-2, Geburtsort der BF2) und wurde über eine Verknüpfung auf dem XXXX -Konto auch der XXXX des BF1 durchsucht.

 

Die Ermittlungsbeamten kamen letztlich zu dem Ergebnis, dass die ermittelte XXXX vom BF1 verwaltet wird, die dort enthaltenen Informationen und Fotos mit den Daten im XXXX und den Angaben der XXXX am XXXX übereinstimmen. Weiters wurde festgehalten, dass der BF1 persönlich vor und nach der Ermittlung die persönlichen Teilungen (lt. der im Protokoll aufgelisteten Abbildungen) veröffentlicht hat.

 

Zum XXXX des BF1 wurde ausgeführt, dass dort grundsätzlich Videos über XXXX geteilt wurden.

 

Zum XXXX -Profil der BF2 wurde festgehalten, dass bei der Durchsicht von den öffentlichen Teilungen kein Profilfoto und keine Freundesliste gefunden werden konnte, und dieses Konto daher keine nützlichen Informationen beinhaltet (AS 284).

 

Im Protokoll wurde abschließend noch ausgeführt, dass die Informationen aus öffentlichen Quellen (das XXXX -Profil des BF1 ist öffentlich) erworben wurden, welche jederzeit von den verwaltenden Personen (BF1) geändert, gelöscht oder aufgehoben werden können. Sozialmediendienste dürften keine IP-Adressen bekanntgeben, solange es sich nicht um Kindesmisshandlung, Mord oder Selbstmord handelt. Die Server der Sozialmediendienst seien im Ausland (USA) und könnten daher keine Informationen oder Dokumente angefordert werden.

 

Die türkischen Ermittlungsbeamten haben sohin ausführlich, nachvollziehbar und unter Einhaltung gesetzlicher Grenzen (fehlender Verdacht einer schwerwiegenden Straftat) und örtlichen Kriterien (Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft) geprüft, ob der BF1 tatsächlich ein XXXX -Konto betreibt und die dort veröffentlichten Beiträge auch von ihm persönlich stammen. Weitere Verdachtsmomente einer gesetzwidrigen Veröffentlichung (zusätzlich zum die Ermittlungen auslösenden Beitrag über den türkischen Präsidenten) durch den BF1 auf seinem XXXX -Profil sind dem Protokoll nicht zu entnehmen, vielmehr wird festgehalten, dass der XXXX -Kanal des BF1 sich auf XXXX beschränkt und auch das XXXX -Konto der BF2 keine strafrechtlich relevanten Inhalte aufweist. Die Ermittlungsbeamten haben sich sohin auf die Identitätsfeststellung des BF1 in Zusammenhang mit seinem XXXX -Konto konzentriert und auch den BF1 entlastende Fakten festgehalten.

 

Da der BF1 trotz aller Durchsuchungen in der Türkei nicht gefunden und seine Verteidigung nicht aufgenommen werden konnte, wurde gegen ihn gemäß Artikel 199 (1) türkischen Strafprozessgesetzes Nr. 5271 (AS 239) am XXXX von der Strafkammer XXXX ein Haftbefehl erlassen. Diesem ist klar zu entnehmen, dass der BF1 nach der Einvernahme wieder freizulassen sei. Im Haftbefehl wurde auch die genaue Vorgehensweise für die Verhaftung des BF1 innerhalb und außerhalb der Gerichtsbarkeit (Zuständigkeit) festgelegt. Weiters wurde festgehalten, dass der BF1 im Falle der Vollstreckung der Festnahme über den Antrag seines Verteidigers auf Rücktritt von der Anwaltschaft vom XXXX benachrichtigt wird (AS 239).

 

Die Festnahme des BF1 konnte bis dato nicht vollstreckt werden und wurde am XXXX durch die Staatsanwaltschaft XXXX Anklage gegen den BF1 wegen öffentlicher Beschimpfungen an den Bundespräsidenten gemäß Gesetz Nr. 5237 Art. 299 (1) und (2) sowie Art. 53 (1) tStBG erhoben. Die Anklageschrift beruft sich auf die Ermittlungsergebnisse und wird ausschließlich auf den am XXXX angezeigten veröffentlichten Beitrag verwiesen, wonach der BF1 „ XXXX “ auf XXXX veröffentlich hat. Die Klageerhebung erfolgte infolge der Zustimmung durch den XXXX , welchem zuvor die Ermittlungsunterlagen übermittelt wurden (AS 264). Letztlich wurde in der Anklageschrift die Entscheidungsfindung im Namen der Öffentlichkeit beantragt und eingefordert.

 

Nach Einreichung der Anklageschrift durch XXXX und Überprüfung der Zuteilung an das Strafgericht XXXX wurde beschlossen, am XXXX eine Verhandlung anzuberaumen (AS 235).

 

Am XXXX fanden jeweils Anhörungen vor der Strafkammer XXXX statt, zu denen der BF1 nicht erschienen ist. Im Anhörungsprotokoll vom XXXX wurde vermerkt, dass der Anwalt des BF1 sein Vertretungsverhältnis mit Rücktrittsschreiben vom XXXX aufgelöst hat. Von der Staatsanwaltschaft wurde am XXXX das Abwarten der Vollstreckung der Verhaftung des BF1 beantragt und von der Strafkammer XXXX auch beschlossen. Weiters wurden die Anhörungen verschoben; zuletzt auf den XXXX (AS 745).

 

Weitere Ermittlungs- oder Verfahrensschritte konnte der BF1 nicht belegen, obwohl er in der mündlichen Verhandlung ankündigte, weitere Ladungstermine zu Verhandlungen wegen der Präsidentenbeleidigung vorlegen zu können (VS 9), was bis dato nicht erfolgte.

 

Es ist auch darauf hingewiesen, dass kein internationaler Haftbefehl oder eine Red Notice von Interpol aktenkundig wurde und die türkischen Behörden auch die Auslieferung des BF1 nicht beantragt haben.

 

Der BF1 geht auch davon aus, dass seine aktuellen Veröffentlichungen in den sozialen Medien mit politischem Hintergrund (VS 10) den türkischen Ermittlungsbehörden bekannt sind, zumal diese über ein allgemeines Informationssammlungssystem der türkischen Sicherheitsbehörden namens GBT-System nach seinen Veröffentlichungen suchen würden und deshalb auch neue Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden seien.

 

Der Annahme des BF1, dass er aufgrund des eingeleiteten Strafverfahrens wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten unter Beobachtung der türkischen Behörden steht, ist nicht entgegenzutreten. Es haben sich jedoch keine Hinweise ergeben und hat der BF1 auch keine Nachweise erbracht, dass gegen ihn wegen seiner Internetpräsenz neue Ermittlungsverfahren eingeleitet worden seien. Sämtliche vom BF1 vorgelegten Unterlagen der türkischen Strafverfolgungsbehörden beziehen sich ausschließlich auf die in der Anzeige vom XXXX angeführte Veröffentlichung auf seinem XXXX -Konto und wurde zu keinem Zeitpunkt eine andere möglicherweise strafrechtlich relevante Veröffentlichung des BF1 thematisiert, obwohl im Ermittlungsverfahren zur Beleidung des türkischen Präsidenten nachweislich seine Internetpräsenz in den sozialen Medien überprüft wurde. Zum Ermittlungs- und Strafverfahren wegen der Präsidentenbeleidigung war es dem BF1 jedenfalls möglich, verschiede Unterlagen der türkischen Strafverfolgungsbehörden zu beschaffen sowie vorzulegen und ist nicht ersichtlich, warum dies in einem allfälligen neuen Ermittlungs- und Strafverfahren wegen seiner Internetpräsenz nicht möglich wäre.

 

Den Nachweis eines neuerlich eingeleiteten Ermittlungs- oder Strafverfahrens wegen seiner politischen Äußerungen im Internet konnte der BF1 sohin nicht erbringen und sind strafrechtliche Konsequenzen aufgrund seiner laufenden Veröffentlichungen in den sozialen Medien auch nicht evident.

 

Der BF1 bringt in den sozialen Medien zwar politische Anliegen zum Ausdruck, tut dies aber offenkundig nicht in einer Form, die als konkrete (weitere) Beleidigung und/oder Kritik an Erdogan zu verstehen wäre oder sonst einen strafrechtlichen Kontext aufweist. Die Beiträge betreffen allgemeine und konkrete Forderungen/Kritik an der türkischen Politik sowie Ereignisse im Zusammenhang mit der kurdischen Volksgruppe in der Türkei, wobei sich der BF1 dabei teilweise überspitzter Formulierungen/Vergleiche oder auch Karikaturen bedient.

 

Damit unterstützt der BF1 zwar die grundlegenden politischen Forderungen der Kurden, Inhalte, wonach er terroristischen Aktivitäten nicht ablehnen würde oder er sich zB aktiv bei pro kurdischen Parteien oder bei der PKK beteiligen/engagieren würde, kann das Bundesverwaltungsgericht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht erkennen.

 

Dass er durch das bloße Teilen seiner Beiträge bereits als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden könnte, ist aber insbesondere vor dem Hintergrund dessen, dass der BF1 aufgrund der Einleitung des Strafverfahrens wegen Beleidigung des Präsidenten im Fokus der türkischen Behörden steht und bis dato kein weiteres Ermittlungs- oder Strafverfahren eingeleitet wurde, nicht schlüssig. Der BF1 hat im Übrigen auch nie behauptet, dass er seine Leser zu konkreten Handlungen aufgefordert habe.

 

Der BF1 brachte vor dem BFA auch vor, dass seine Bücher, mit denen er ebenfalls seine oppositionelle Haltung an die Öffentlichkeit bringe, in der Türkei verboten worden seien (AS 717). Noch in derselben Einvernahme widerliegt der BF1 die Behauptung jedoch selbst, zumal er befragt danach, wovon er in Österreich lebe ausführte, dass seine Bücher in der Türkei verkauft werden würden und er von seinem Verlag dafür Geld bekomme. Er habe in der Türkei einen Online-Handel bzw. einen „Link“, wofür er anteilig Geld bekomme (AS 723). In der Türkei sei er noch Geschäftspartner dieses Verlages gewesen, jetzt habe er mit dem Verlag einen Vertrag und bekomme seit XXXX einen Anteil der Verkaufserlöse. Der BF1 führte erklärend aus, dass er in der Türkei einen guten Ruf habe und die Leute Vertrauen in seinem Namen hätten, weshalb sie bei seinem Online-Handel einkaufen würden. Nachdem die Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber eingestellt worden seien, habe er die Internet-Seite mit seinem Online-Handel aktiviert, damit er wieder ein Einkommen habe. In der Einvernahme vor dem BFA am 05.04.2022 merkte der BF1 zwar an, dass momentan keine Bücher verkauft werden würden (AS 723), was aber offenbar nur vorübergehend so gewesen ist, zumal er in der mündlichen Beschwerdeverhandlung wieder darauf hinwies, dass er über seine Internetseite ( XXXX ) in der Türkei nach wie vor – je nach Umsatz – ca. XXXX ,-- monatlich ausbezahlt bekommen (VS 11).

 

Der Verkauf seiner Bücher in der Türkei ist damit offenkundig nicht verboten worden und dient dem BF1 aktuell als wesentliche Einnahmequelle für seinen Lebensunterhalt. Dass ihm der Verkauf seiner Bücher in der Türkei aufgrund oppositioneller Inhalte verboten wurde, konnte er sohin nicht glaubwürdig darlegen.

 

Anhand obiger Ausführungen ergibt sich folglich, dass der BF1 bei einer Rückkehr in die Türkei wegen behaupteter exilpolitischer Tätigkeit bzw. seiner Internetpräsenz nicht der Gefahr polizeilicher oder justizieller Maßnahmen ausgesetzt sein wird. Die Auffassung, wonach er im Falle seiner Rückkehr in die Türkei damit zu rechnen habe, dass er festgenommen und gegen ihn wegen seiner prokurdischen Auslandsaktivitäten ein gerichtliches Strafverfahren geführt werde, in dem ihm Propaganda für eine terroristische Organisation zur Last gelegt wird, konnte nicht geteilt werden.

 

Auch entsprechend den Länderfeststellungen können öffentliche Äußerungen (beispielsweise in sozialen Netzwerken) sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden (AA 28.7.2022, S. 15). Es finden sich in den Veröffentlichungen des BF1 jedoch keine Aufforderungen zu gewaltsamen oppositionellen oder gar zu terroristischen Aktivitäten.

 

Die seitens des BF1 gesetzten Aktivitäten in den sozialen Medien nach dem XXXX sind für sich genommen daher nicht geeignet, in den Augen der türkischen Behörden ein Bedrohungsbild zu erfüllen, welches es zu bekämpfen gilt und ist davon auszugehen, dass sich der BF1 durch seine unmaßgeblichen politischen Äußerungen von niedrigem Profil mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht in eine Position brachte, in der er für die türkischen Behörden als auffällig regimekritisch oder gar im Sinne der innerstaatlichen Gesetzgebung als des Separatismus oder Terrorismus Verdächtiger anzusehen wäre.

 

Dies wird auch dadurch bestätigt, dass es dem BF1 nicht gelungen ist, neben den zahlreichen Nachweisen für ein Ermittlungs- und Strafverfahren wegen der Beleidigung des Präsidenten, zusätzliche Unterlagen der türkischen Ermittlungs- bzw. Strafverfolgungsbehörden wegen einer nach der Anzeige am XXXX erfolgten Veröffentlichung des BF1 in den sozialen Medien vorzulegen.

 

Der BF1 ist in der Türkei (wieder) anwaltlich vertreten und bestätigte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung in das E-Devlet-System Einsicht genommen zu haben. Trotzdem wurde bis dato kein E-Devlet-Auszug in Vorlage gebracht und ist aus dem vorgelegten Auszug des Strafregisters bzw. des Strafregisterarchives (iZm der Löschung von Strafeinträgen) vom XXXX (AS 831) ein neues Ermittlungs- oder Strafverfahren ebenfalls nicht ersichtlich. Auch einem vorgelegten Auszug mit UYAP Fahndungs- und Haftdaten (ohne Datum) ist neben älteren Fahndungen aus XXXX ( XXXX ) lediglich die Fahndung wegen der Beleidigung des Präsidenten aufgrund der Anzeige am XXXX zu entnehmen (AS 825).

 

Zusammengefasst konnte der BF1 in Bezug auf seine Veröffentlichungen (Bücher und soziale Medien) sohin lediglich ein gegen ihn eingeleitetes Strafverfahren wegen der Beleidung des türkischen Bundespräsidenten belegen.

Da die Anklageerhebung bereits am XXXX erfolgte, der BF1 – wie oben ausgeführt – nach dem im Strafverfahren gegenständlichen Beitrag auf seinem XXXX -Konto offenbar keine für die türkischen Strafverfolgungsbehörden relevanten Beiträge in den sozialen Medien mehr veröffentlicht hat, ist in Betracht zu ziehen, dass das Verfahren möglicherweise bis zur Ergreifung des BF1 ruhend gestellt wurde, ansonsten es auch nach dem XXXX zu weiteren Verfahrensschritten gekommen wäre.

 

Dass es in der Türkei bereits zu einer Verurteilung des BF1 wegen der Beleidigung des Präsidenten gekommen ist, kann jedenfalls nicht festgestellt werden.

 

Anhand obiger Darstellung ist auch nicht anzunehmen, dass grundsätzliche Verfahrensgarantien durch die türkischen Strafverfolgungsbehörden missachtet worden wären. Die der Anklage zugrundeliegenden Ermittlungsergebnisse sind vertretbar und stützten sich auf verschiedene oben dargelegte Ermittlungsschritte der türkischen Sicherheitsbehörden. Die Ermittlungsergebnisse wurden nachvollziehbar dokumentiert und liegt dem Strafverfahren eine Anklage der zuständigen türkischen Staatsanwaltschaft zugrunde, weshalb auch der Grundsatz des Anklageprozesses gewahrt ist. Hinweise auf Verstöße gegen die Geschäftsverteilung haben sich im Verfahren nicht ergeben und wurden im Verfahren vom BF1 auch nicht behauptet.

 

Aus den Ermittlungsberichten geht auch konkret hervor, aufgrund welcher Veröffentlichung des BF1 das Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet wurde. Den Berichten ist darüber hinaus zu entnehmen, dass dem BF1 eine bestimmte URL-Adresse zugeordnet werden konnte und er aufgrund personenspezifischer Abfragen als Inhaber des XXXX -Profils identifiziert wurde. Vom BF1 selbst wurde im Übrigen nie bestritten, dass er die ihm zur Last gelegten Veröffentlichung vorgenommen hat.

 

Von Seiten der türkischen Ermittlungsbehörden wurde mehrfach versuchte, den BF1 einzuvernehmen. Nachdem der BF1 nicht angetroffen wurde und den Behörden die Ausreise des BF1 aus der Türkei auch bekannt war, wurde am XXXX ein Haftbefehl zwecks Vorführung des BF1 zu einer Einvernahme erlassen.

 

Aufgrund des Aufenthaltes des BF1 in XXXX ist es bis dato zu keiner Einvernahme des BF1 gekommen. Das Verfahren wurde nicht eingestellt, aber auch nicht weiter betrieben. Der Vollständigkeit halber sei auch darauf hingewiesen, dass kein internationaler Haftbefehl gegen den BF1 aktenkundig wurde und die türkischen Behörden auch seine Auslieferung nicht beantragt haben. Derartiges wurde vom BF1 auch nicht behauptet. Der BF1 ist in der Türkei auch durch einen Rechtsanwalt vertreten und wird von diesem laufend über den Stand des Verfahrens informiert (AS 795). Dass von den türkischen Behörden und Gerichten grundlegende Verfahrensgarantien des BF1 missachtet worden wären, kann in Anbetracht der vom BF1 vorgelegten Unterlagen daher ausgeschlossen werden. Insbesondere die Bemühungen, den BF1 persönlich zu den Ermittlungsergebnissen zu befragen sowie der Festnahmeauftrag, welcher sich auf die Einvernahme des BF1 beschränkt, sprechen gegen die im Verfahren vorgetragenen Befürchtungen des BF1, wonach er bei einer Rückkehr in die Türkei für einen unbestimmten Zeitpunkt inhaftiert, verhört, misshandelt und zu einer Haftstrafe verurteilt werden würde. Dass sich der Festnahmeauftrag auf die Einvernahme des BF1 beschränkt, spricht ebenfalls dafür, dass die Motivation für die gegen den BF1 gesetzten Ermittlungs-und Verfahrensschritte nicht in persönlichen Gründen liegt.

 

Den vorliegenden Unterlagen kann auch eine bereits erfolgte Verurteilung nicht entnommen werden. Es ist daher offen, ob es im Strafverfahren überhaupt zu einer Verurteilung kommt.

 

Aufbauend auf den nicht auffälligen Ablauf der bisherigen Ermittlungstätigkeiten und des (bisherigen) Strafverfahrens ist auch davon auszugehen, dass der BF1 im Rahmen des fortzuführenden Strafverfahrens die Gelegenheit haben wird, zu den erhobenen Vorwürfen Stellung zu beziehen. Es spricht auch nichts dagegen, dass er sich –wie schon bisher –anwaltlich vertreten lassen kann. Im Übrigen ist anzumerken, dass es nicht Gegenstand des Asylverfahrens ist, den Ausgang des in der Türkei gegen den BF1 eingeleiteten Strafverfahren zu prognostizierten. Eine solche Prognose ist im gegenständlichen Stadium des Strafverfahrens nicht möglich.

 

Selbst wenn in der Folge ein gänzlicher oder teilweiser Schuldspruch ergehen sollte, wonach der BF1 das Verbrechen der Beleidigung des türkischen Präsidenten begangen habe, so ist nicht ersichtlich weshalb ihm nunmehr kein rechtsstaatliches Verfahren zuteilwerden sollte und werden ihm alle Rechtsbehelfe, von der Erhebung von Rechtsmitteln bis hin zur Anrufung des Kassationsgerichtshofes, offenstehen.

 

Das Bundesverwaltungsgericht kann daher auch keinen Anhaltspunkt dafür erkennen, dass das gerichtliche Strafverfahren in der Türkei alleine den Zweck hatte, den BF1 aufgrund seines politischen Engagements als Schriftsteller oder seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit zu verfolgen.

 

Zu klären ist, ob dieser Sachverhalt zur Gewährung von internationalem Schutz führen muss. Insoweit wird auf untenstehende rechtliche Beurteilung verwiesen.

 

Was die Befürchtung angeht, wonach auch die Familie des BF1 aufgrund seiner politischen Veröffentlichungen in das Visier der türkischen Behörden geraten sind, ist anzumerken, dass im Zuge der Ermittlungen gegen den BF1 in den sozialen Medien durch Verknüpfungen auch das XXXX -Konto der BF2 gesichtet wurde, die ermittelnden Beamten jedoch zu dem Ergebnis gekommen sind, dass dieses Konto keine nützlichen Informationen beinhalte (AS 284). Die türkischen Strafverfolgungsbehörden sahen sohin keine Veranlassung auch gegen die BF2 (weitere) Ermittlungen durchzuführen und konnten solche seitens der BF1-2 nicht belegt werden. Im Übrigen tritt die BF2 in den sozialen Medien nicht unter ihrem Klarnamen auf.

 

Die BF2-4 brachten im ersten Asylverfahren auch konstant vor, keine eigenen Fluchtgründe zu haben und lediglich aufgrund der Probleme des BF1 ausgereist zu sein. Nachdem der BF1 nicht in der Lage war eine ungerechtfertigte asylrelevante (Straf-)Verfolgung seiner Person darzulegen, ist auch anzunehmen, dass die BF2-4 bei einer Rückkehr in die Türkei keine asylrelevanten Probleme in Zusammenhang mit dem Strafverfahren gegen den BF1 wegen Beleidigung des Präsidenten zu gewärtigen haben. Die BF2-4 haben sich weder in der Türkei, noch in Österreich in herausragender Position politisch betätigt und somit keine Handlungen gesetzt, welche ein Interesse der türkischen Behörden an ihrer Person initiieren könnte.

 

Im zweiten Asylverfahren brachte der BF1 vor dem BFA am 05.04.2022 neu und erstmals auch vor, dass er in der Türkei selbst Folter erlebt habe, diese aber nicht mehr fürchte (AS 727). Foltermethoden in der Türkei würden aber auch einschließen, dass die eigenen Kinder und die Frau vor den Augen des Inhaftierten gefoltert oder vergewaltigt werden würden (AS 727). Er habe sohin keine Angst um sich selbst, sondern um seine Familie. Zu seiner Person führte der BF1 im Weiteren noch aus, dass ihm seine Nase und Rippen gebrochen worden seien und er Elektroschocks erhalten habe, sodass er Monate gebraucht habe, um wieder normal zu funktionieren (AS 727). Ihm seien noch weitere Foltermethoden widerfahren, welche unmenschlich seien und weshalb er sie nicht erzählen wolle. Auch in der Einvernahme vor dem BFA am 31.05.2022 verwies der BF1 auf die bereits dargelegten Folterungen seiner Person und vermeinte, dass dies von seiner Uni-Zeit bis zur Ausreise erfolgt seien (AS 805). Die Folter sei so schwer gewesen, dass er sie mit Worten nicht erklären könne.

 

Dieses Aussageverhalten des BF1 verstärkt jedoch den Eindruck der Unglaubwürdigkeit dieser Angaben. Der BF1 hat weder im ersten Asylverfahren, noch in den zwei Wiederaufnahmeverfahren und auch nicht in der Erstbefragung im gegenständlichen Asylverfahren gegen ihn ausgeübte Folter erwähnt. Auch wenn es nachvollziehbar ist, dass es schwerfällt über bestimmte Foltermethoden zu sprechen, erscheint es nicht nachvollziehbar, diese gänzlich unerwähnt zu lassen und keinen einzigen Hinweis auf erfolgte Folterungen (ohne nähere Details) zu erwähnten. Dazu, warum ihm dies im gegenständlichen Asylverfahren vor dem BFA plötzlich möglich war, äußerte sich der BF1 nicht. Die erst so spät im Verfahren vorgebrachten Folterungen erscheinen daher wenig glaubwürdig, zumal auch der Verwaltungsgerichtshof davon ausgeht, dass ein Asylwerber, wohl keine sich bietende Möglichkeit ungenützt verstreichen lässt, um alle Beweggründe, die ihn zum Verlassen des Heimatlandes bewogen haben, vorzubringen (VwGH 07.06.2000, 2000/01/0205). Es entstand dadurch vielmehr der Eindruck, dass der BF1 versuchte, Rückkehrbefürchtungen für seine Familienmitglieder zu behaupten, was ihm aufgrund des gesteigerten Vorbringens jedenfalls nicht gelungen ist. Die BF2-4 äußerten dahingehende Bedenken ebenfalls nicht substantiiert.

Angesichts dessen können auch die vom BF1 behaupteten Rückkehrbefürchtungen hinsichtlich tätlicher Übergriffe oder Folter nicht nachvollzogen bzw. keiner Glaubwürdigkeit zugeführt werden. Es kann vom BVwG daher nicht erkannt werden, dass gegen die BF2-4 im Zusammenhang mit dem gegen den BF1 geführten Strafverfahren wegen Beleidigung des Präsidenten ebenfalls Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden oder sonstige asylrelevante Verfolgungshandlungen (u. a. Folter) in der Türkei drohen.

 

In diesem Zusammenhang ist zudem festzuhalten, dass den Angaben des BF1 folgend seine Mutter und ein Bruder, weiterhin in der Türkei leben und ist insoweit anzumerken, dass seine Mutter lediglich einmal nach dem Aufenthaltsort des BF1 befrag wurde. Würden die türkischen Behörden tatsächlich Folterung von Familienangehörigen anwenden, um den BF1 zu schaden, wäre es naheliegen gegen die in der Türkei verbliebenen Familienmitglieder vorzugehen, was aber nicht der Fall ist.

 

Soweit in der Stellungnahme vom 29.03.2022 die Anträge gestellt wurden, im Wegen der Amtshilfe die Akte des XXXX respektive der XXXX zu Ermittlungszahl XXXX zum Nachweis, dass Ermittlungen gegen den BF1 wegen des Verbrechens der Propaganda einer terroristischen Vereinigung geführt werden, beizuschaffen sowie den Rechtsanwalt des BF1 in der Türkei im Wege der Telekomunikation einzuvernehmen, zum Nachweis der Richtigkeit des vom BF1 erstatteten Vorbringens sowie der Echtheit der vom BF1 in Vorlage gebrachten Behörden-/Gerichtsunterlagen aus der Türkei ist anzumerken, dass das BVwG angesichts der obigen Beweiswürdigung und der Angaben der BF1-4 unter Einbeziehung der vorgelegten Beweismittel, welche der Entscheidung zugrunde gelegt wurden, zur Auffassung gelangt, dass bereits ein "ausreichend ermittelter Sachverhalt" vorliegt, der weitere amtswegige Erhebungen nicht erforderlich macht (vgl. VwGH 03.05.2018, Ra 2018/19/0171; 25.02.2019, Ra 2019/19/0017; 19.03.2019, Ra 2018/01/0223; jeweils mwN; zur nicht beantragten Einvernahme eines Pastors vgl. auch VwGH 23.01.2019, Ra 2018/19/0453, mwN).

Zudem ist auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, dass eigenen hoheitlichen Ermittlungen der Asylbehörden im Herkunftsstaat grundsätzlich allgemeine Prinzipien des Völkerrechts entgegenstehen (vgl. VwGH 5.8.2019, Ra 2019/20/0307; vgl. näher zu Ermittlungen im Herkunftsstaat VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100 und 0101).

 

3. Rechtliche Beurteilung:

 

II.3.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter, Anzuwendendes Verfahrensrecht

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

 

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

 

Gegenständlich liegt somit mangels anderslautender gesetzlicher Anordnung in den anzuwendenden Gesetzen Einzelrichterzuständigkeit vor.

 

II.3.2. Verhandlung in Abwesenheit betreffend die BF3:

 

Gemäß § 45 Abs. 2 VwGVG ist festzuhalten, dass aufgrund der ordnungsgemäßen Ladung trotz Nichterscheinens der BF3 die Durchführung der Verhandlung in Abwesenheit des BF3 bzw. die Fällung eines Erkenntnisses zulässig ist. Unter Hinweis auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (26.5.1993, 93/03/0099, mwN) hat eine Partei für ihr Nichterscheinen zwingende Gründe darzutun, was seitens des BF3 nicht erfolgte. Vor diesem Hintergrund hinderte das Nichterscheinen der BF3 weder die Durchführung der Verhandlung noch die Fällung des Erkenntnisses.

 

Zu A)

 

II.3.2. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

 

II.3.2.1. Die hier maßgeblichen Bestimmungen des § 3 AsylG lauten:

„§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) …

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn

1.

dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder

2.

der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

  

...“

Gegenständlicher Antrag war nicht wegen Drittstaatsicherheit (§ 4 AsylG), des Schutzes in einem EWR-Staat oder der Schweiz (§ 4a AsylG) oder Zuständigkeit eines anderen Staates (§ 5 AsylG) zurückzuweisen. Ebenso liegen bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Asylausschlussgründe vor, weshalb der Antrag der BF inhaltlich zu prüfen ist.

 

Flüchtling im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

 

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380).

 

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262).Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194)

 

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Konvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes befindet.

 

II.3.2.2. Das gegen den BF1 eingeleiteten Strafverfahren wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten kann aus nachstehenden Erwägungen nicht zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten führen:

 

Art. 9 Abs. 2 lit. c der Statusrichtlinie zufolge kann unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention gelten. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die staatliche Strafverfolgung in der Regel keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn dar. Allerdings kann auch die Anwendung einer durch Gesetz für den Fall der Zuwiderhandlung angeordneten, jeden Bürger des Herkunftsstaates gleich treffenden Sanktion unter bestimmten Umständen als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention aus einem dort genannten Grund sein; etwa dann, wenn das den nationalen Normen zuwiderlaufende Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Um feststellen zu können, ob die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens des Asylwerbers einer Verfolgung gleichkommt, kommt es somit entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung und die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an (VwGH 20.12.2016, Ra 2016/01/0126; 27.05.2015, Ra 2014/18/0133).

 

Ausgangspunkt dafür ist das vom türkischen Gericht als erwiesen angenommenen tatsächliche Verhalten des BF1 und in der Folge die als verwirklicht angesehene Tatbestände und welche Sanktion dafür jeweils verhängt wurde.

 

Im gegenständlichen Beschwerdeverfahren ist in Anbetracht der vom BF1 vorgelegten Unterlagen der türkischen Strafverfolgungsbehörden davon auszugehen, dass gegen ihn ein Strafverfahren wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten eingeleitet wurde, es bis dato aber zu keiner Verurteilung gekommen ist.

 

Schon deshalb kann zum Entscheidungszeitpunkt nicht angenommen werden, dass der BF1 einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung ausgesetzt ist. Festgestellt werden konnte die Einleitung eines Strafverfahrens wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten und, dass dieses Verfahren in erster Instanz noch unerledigt anhängig ist.

 

Wie in der Beweiswürdigung bereits ausgeführt, ergab sich aufgrund der vorgelegten Unterlagen insgesamt auch das Bild, dass die konkret gegen den BF1 eingeleiteten Ermittlungs- und Strafverfahren unter Beachtung der wesentlichen Verfahrensgrundsätze durchgeführt wurden. Mit unverhältnismäßigen Mitteln geführte Strafverfolgung oder diskriminierende Ermittlungsschritte kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen.

 

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kann bereist angesichts des Umstandes, dass das gegen den BF1 geführte Strafverfahren zum Entscheidungszeitpunkt zu keiner gerichtlichen Bestrafung geführt hat, nicht von einem ungerechtfertigten Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des BF1 gesprochen werden. Die Erhebung einer Anklage und die Notwendigkeit, am Strafverfahren mitzuwirken, ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen, der eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen darstellt.

 

Die polizeilichen, staatsanwaltlichen und gerichtlichen Maßnahmen gegen den BF1 erfolgten im Rahmen der Strafrechtspflege und es stellt das Delikt, dessen Begehung der BF1 verdächtigt wird, auch eine gerichtlich strafbare Handlung dar, welche von den türkischen Behörden entsprechend des in der Türkei in Geltung stehenden Strafgesetzes zu ahnden ist. Behördliche Ermittlungen wegen strafbarer Verhaltensweisen können nicht als Verfolgung im Sinne der Konvention qualifiziert werden, insoweit die Strafverfolgung eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Allfällige polizeiliche, staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Maßnahmen gegen den BF1 stehen dem Vorbringen im gegenständlichen Antrag bzw. den vorgelegten Beweismitteln zufolge ausschließlich im Zusammenhang mit dem Verdacht der Begehung von strafbaren Handlungen.

 

Bei einer Beleidigung eines Staatsoberhauptes handelt es sich um ein kriminelles Delikt, aufgrund dessen es in rechtsstaatlichen Staaten regelmäßig zu einer strafrechtlichen Verfolgung kommen kann. Ein derartiges Delikt ist auch in anderen Mitgliedstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention mit Strafe bedroht (vgl. dazu §§ 115 und 117 österreichisches StGB, wonach die Beleidigung des Bundespräsidenten ein Offizialdelikt ist; ferner § 90 Abs. 1 deutsches StGB, wonach die Verunglimpfung des Bundespräsidenten mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft wird). Ein Einschreiten staatlicher Behörden ist in einem solchen Fall nicht als Verfolgung anzusehen, weil es sich hierbei um Schritte zur Aufklärung eines allgemein strafbaren Deliktes handelt, was keinem Konventionsgrund entspricht (VwGH 25.05.1994, Zl. 94/20/0053).

 

Aktuell können auch keine Hinweise erkannt werden, dass der BF1 in seinem Strafverfahren jedenfalls zur Gänze schuldig gesprochen und zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt würde. Eine verlässliche Prognose über den Ausgang des Strafverfahrens ist kaum möglich.

 

Unabhängig davon stellt das Strafverfahren gegen den BF1 per se eine staatliche Verfolgung in asylrelevanter Form ("persecution"), sondern ein strafrechtlich legitimiertes Vorgehen ("prosecution") dar.

 

Zwar ist der BF1 grundsätzlich als Schriftsteller und Autor mit (teilweise) kritischen politischen Texten gegenüber der türkischen Regierung bekannt, jedoch ergibt sich aus dem von ihm in Vorlage gebrachten Gerichtsakten der türkischen Strafverfolgungsorgane, dass das Strafverfahren in nachvollziehbarer Weise unter Zugrundelegung zahlreicher Beweismittel und Offenlegung der maßgebenden Verfahrensschritte erfolgte. Die bislang erfolgten Verfahrensschritte stellen sich nicht als willkürliche Handlungen dar, sondern als solche, die dem Schutz legitimer Interessen des Staates dienen sollten. Ohne eine Beurteilung der Schuld des Beschwerdeführers vorzunehmen, wobei hier festzuhalten ist, dass eine solche Beurteilung der türkischen Strafjustiz obliegt und ohne vollständige Kenntnis der Ergebnisse von noch durchzuführenden gerichtlichen Verfahrensschritte nicht möglich ist.

 

Es sind im gegenständlichen Verfahren - wie oben ausgeführt - auch keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür hervorgekommen, dass das Vorgehen der türkischen Strafverfolgungsbehörden aus dem Motiv heraus erfolgt, den BF1 für politische Aktivitäten oder aus anderen unsachlichen Motiven heraus bestrafen zu wollen. Die von ihm selbst vorgelegten Unterlagen lassen keine Unregelmäßigkeiten in der Verfahrensführung erkennen. Da das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, besteht außerdem die Möglichkeit, dass der BF1 freigesprochen wird und kein Ansatzpunkt für eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung verbleibt.

 

Eine Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Beleidigung des Präsidenten der Republik Türkei nach Art. 299 Abs. 1 des türkischen Strafgesetzbuches würde angesichts der Strafdrohung von einem Jahr bis zu vier Jahren Freiheitsentzug auch keine unverhältnismäßige Bestrafung darstellen.

 

Dem BF1 droht daher auch keine unverhältnismäßige Bestrafung, zumal beispielsweise § 90 des deutschen Strafgesetzbuches für ein vergleichbares Delikt eine Strafdrohung von drei Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug und § 115 des österreichischen Strafgesetzbuches für ein vergleichbares Delikt immerhin noch eine Strafdrohung von bis zu drei Monaten Freiheitsentzug vorsieht.

 

Zur Frage der Verhältnismäßigkeit der Strafdrohung wird im Rahmen des hier anzustellenden Vergleichs mit der in Österreich und Deutschland geltenden Rechtslage (§ 90 dt. StGB - Strafdrohung von drei Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug; § 115 StBG - Strafdrohung von bis zu drei Monaten Freiheitsentzug) in einer Zusammenschau mit dem rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des türkischen Staates, davon ausgegangen, dass die seitens des türkischen Staates festgesetzten Strafdrohungen nicht unverhältnismäßig sind.

 

Ausgehend davon kann es nicht als unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung angesehen werden, wenn in der Türkei die Beleidigung des Präsidenten der Republik Türkei grundsätzlich unter Strafe gestellt ist und derartige Aktivitäten als Straftaten geahndet werden.

 

Die Strafzumessung trifft ferner sämtliche türkischen Staatsbürger unterschiedslos und ist damit keine diskriminierende Maßnahme, sodass insgesamt von einem im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum gelegenen System gesprochen werden kann. Freiheitsstrafen können im Übrigen nur nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte dann in ein Spannungsverhältnis zu Art. 3 EMRK treten, wenn sie in keiner Relation zur Schuld des Täters und zum Unrechtsgehalt der Tat stehen (vgl. statt aller EGMR U 4.9.2014, Trabelsi gegen Belgien, Nr. 140/10). Der OGH hat diesbezüglich in seiner Entscheidung vom 09.09.2003, 14 Os 30/03, selbst eine Gesamthaftstrafe von 845 Jahren, die aufgrund des Kumulationsprinzips zustande kam und weit über der Obergrenze des im ausliefernden Staat vorgesehenen Strafrahmens liegt, aufgrund der Umstände der Tatbegehung nicht als unmenschlich oder erniedrigend im Sinn des Art 3 MRK angesehen.

 

Fragen des geeigneten Strafmaßes liegen der Rechtsprechung zufolge (EGMR U 17. 1. 2012, Vinter gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 66.069/09; U 17. 1. 2012, Harkins und Edwards gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9146/07, 32650/07; Grabenwarter/Pabel, EMRK5 § 20 Rz 30 f und 42 ff; Meyer-Ladewig, EMRK3 Art 3 Rz 57 und 62) auch außerhalb des Anwendungsbereichs der Konvention und es wird nach der Rechtsprechung des EGMR insoweit ein großer Beurteilungsspielraum der unterschiedlichen Strafrechtsordnungen in dieser kriminalpolitischen Frage akzeptiert, soweit nicht die Todesstrafe oder eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung drohen (siehe dazu im Detail OGH 16.05.2012, 14 Os 41/12d). Davon kann im gegenständlichen Fall keine Rede sein.

 

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der EGMR in seiner ständigen Rechtsprechung zu Art. 10 EMRK (in Zusammenhang mit Verurteilungen nach Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes Nummer 3713 in der Türkei) die Auffassung vertritt, dass Äußerungen, die nicht als Aufruf zu Gewalt, bewaffnetem Widerstand oder zur Rebellion und auch nicht als hate speech zu beurteilen sind, in der Regel Art. 10 EMRK unterliegen und dennoch erfolgte strafgerichtliche Verurteilungen in der Türkei somit in der Regel eine Verletzung von Art. 10 EMRK darstellen (EGMR U 09.07 2019, Selahattin Demirtaş gegen Türkei (3), Nr. 8732/11; U 19.11.2019, Nejdet Atalay gegen Türkei, Nr. 76224/12, und Yurtdaş und Söylemez gegen Türkei, Nr. 9662/10; U 07.05.2019, Polat gegen Türkei Nr. 64138/11, und Akyüz gegen Türkei, Nr. 63681/12). Die hier festgestellte Äußerung des Erstwiederaufnahmewerbers „ XXXX “ geht jedoch über eine von Art. 10 EMRK geschützte freie Meinungsäußerung hinaus, zumal der BF1 eindeutig nicht nur den Wunsch formuliert, dass XXXX . Die Verwendung des Wortes „ XXXX “ ist in diesem Kontext einerseits nicht als Meinungsäußerung anzusehen, sondern als eine die Person (ab)wertende Schmähung. Die Äußerung fällt schon deshalb nicht in den Schutzbereich von Art. 10 EMRK, da sie die öffentliche Herabsetzung einer Person im Wege der Gleichsetzung mit XXXX bezweckt und insoweit auf Intoleranz gegründet ist (vgl. dazu die Empfehlung R (97) 20 des Ministerkomitees des Europarates). Darüber hinaus ist die Äußerung als hate speech zu qualifizieren, zumal die XXXX nicht nur gutgeheißen, sondern als Wunsch formuliert wird. Die Äußerung steht somit im Wiederspruch zu Art. 1 EMRK (die Todesstrafe ist in der Türkei bekanntlich abgeschafft). Die Enunziation kann schließlich auch nicht als Satire aufgefasst werden. Art. 10 EMRK steht sohin mit einer (hypothetisch angenommenen) Strafverfolgung wegen der angeblichen Bezeichnung des XXXX , nicht entgegen.

 

Die Unabhängigkeit der türkischen Gerichte wird zwar seitens des BF1 kritisiert, allerdings betreffen diese Berichte im Wesentlichen die XXXX . Der BF1 und seine Familie verließen die Türkei zudem bereits am XXXX und sind demnach im Hinblick auf den versuchten Militärputsch im Jahr 2016 und die Gülen-Bewegung auch nicht als verdächtig anzusehen, weshalb keine dahingehenden Nachteile zu befürchten sind.

 

In Ermangelung dahingehender Anhaltspunkte kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt insgesamt daher nicht davon ausgegangen werden, dass der BF1 in unverhältnismäßiger oder diskriminierender Weise für seine Veröffentlichungen in den sozialen Medien schwerste unverhältnismäßige Strafverfolgung zu gewärtigen haben könnte.

 

Die vom BF1 im gegenständlichen Asylverfahren erstmals vorgebrachten weiteren Schilderungen, wonach er während früherer Festnahmen und Anhaltungen von türkischen Sicherheitsbeamten massiv gefoltert worden sei, waren nicht glaubhaft, weshalb die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, nämlich die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, diesbezüglich nicht vorliegt.

 

II.3.2.3. Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung der BF1-4 ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte die Situation für Kurden – abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche aktuelle Anhängerschaft hinsichtlich des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden konnte – nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein auf Grund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Darüber hinaus leben Familienangehörige der BF1-4 mit ebenfalls kurdischer Abstammung nach wie vor in der Türkei, insbesondere auch in den Provinz XXXX sowie XXXX , und kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, weshalb den BF1-4 auf Grund ihrer kurdischen Abstammung ein weiterer Aufenthalt in ihrem Herkunftsstaat unzumutbar sein soll, wohingegen beispielsweise die Mütter der BF1-2 Eltern sowie mehrere Geschwister der BF1 bzw. zwei Großmütter sowie Tanten und Onkel der BF3-4 nach wie vor dort ansässig sind. Von den Länderberichten entnehmbaren Repressalien, wie den Massenentlassungen im öffentlichen Dienst oder dem Vorgehen gegen kritische Journalisten oder Anhänger der Gülen-Bewegung in der Türkei, sind die BF1-4 nicht betroffen und ist insbesondere zur Tätigkeit des BF1 als Autor und Schriftsteller auf die diesbezüglichen Ausführungen in der Beweiswürdigung zu verweisen.

 

Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069). Sofern darauf hingewiesen wird, dass Kurden diskriminiert würden, ist festzuhalten, dass die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen wird (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069). Außerdem ist nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396 unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie)). Was Alltagsprobleme betrifft, so sind Benachteiligungen auf sozialem, wirtschaftlichem oder religiösem Gebiet für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft nur dann ausreichend, wenn sie eine solche Intensität erreichen, die einen weiteren Verbleib des Asylwerbers in seinem Heimatland unerträglich machen, wobei bei der Beurteilung dieser Frage ein objektiver Maßstab anzulegen ist (vgl. VwGH 22.06.1994, 93/01/0443). Die von den BF1-4 thematisierten allgemeinen Schwierigkeiten erfüllen dieses Kriterium nicht.

 

Nach den Länderfeststellungen löst allein der Umstand, dass eine Person (im Ausland) einen Asylantrag gestellt hat, bei der Rückkehr in die Türkei auch keine staatlichen Repressionen aus. Probleme von Rückkehrern – insbesondere nach einer illegalen Ausreise – infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraf 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Eine Person wird in Polizeigewahrsam genommen und verhört, wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist. Wenn auf Grund eines Eintrags festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise hingegen festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Nachteilige Folgen für den Fall einer Rückkehr nach einer illegalen Ausreise und einer erfolglosen Asylantragstellung sind den von der belangten Behörde herangezogenen umfassenden Länderfeststellungen hingegen nicht zu entnehmen. Eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung der BF1-4 wegen ihrer in Österreich gestellten Anträge auf internationalen Schutz liegt daher ebenfalls nicht vor.

 

II.3.2.4. Der BF4 gründete seinen Antrag auf internationalen Schutz auch darauf, dass er seinen bevorstehenden Militärdienst in der Türkei nicht ableisten wolle. Dies deshalb, weil er sich vom Wehrdienst distanzieren wolle und er als Kurde direkt im Kampfgebiet eingesetzt werden würde. Er sei generell gegen den Wehrdienst und wolle keine Waffe tragen. Er möge weder Kämpfe, Waffengewalt, noch Militär und sei gegen jede Art von Gewalt. Er wolle frei sei sein, was ihm währen des Wehrdienstes nicht möglich sei und wolle er niemanden das Leben nehmen müssen.

 

Dem BF4 ist es mit diesem Vorbingen jedoch nicht gelungen, in Bezug auf seine Wehrdienstpflicht, eine gezielt gegen ihn gerichtete, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende, asylrelevante Verfolgung etwa in Form von Misshandlungen oder Verwendungen im Rahmen der Ableistung des Militärdienstes oder des Strafvollzuges darzutun.

 

Auch von Amts wegen existieren keine aufzugreifenden Anhaltspunkte dafür, dass gerade der BF4 bei der Ableistung seines Militärdienstes oder der Abbüßung einer Haftstrafe wegen Wehrdienstverweigerung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit solchen Situationen ausgesetzt wäre.

 

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist Furcht vor Verfolgung im Fall der Wehrdienstverweigerung oder Desertion nur dann als asylrechtlich relevant anzusehen, wenn der Asylwerber hinsichtlich seiner Behandlung oder seines Einsatzes während dieses Militärdienstes im Vergleich zu Angehörigen anderer Volksgruppen in erheblicher, die Intensität einer Verfolgung erreichender Weise benachteiligt würde oder davon auszugehen sei, dass dem Asylwerber eine im Vergleich zu anderen Staatsbürgern härtere Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung drohe (verstärkter Senat des VwGH vom 29.06.1994, Slg Nr. 14.089/A; VwGH vom 21.08.2001, 98/01/0600). Bei der rechtlichen Beurteilung des zugrundeliegenden Sachverhaltes kommt es auf die Grundsätze an, die der Verwaltungsgerichtshof auf dem Boden der bestehenden Rechtslage insbesondere in dem Erkenntnis eines verstärkten Senates zur Zl. 93/01/0377 niedergelegt hat, wobei sich seine dabei zum Ausdruck kommende Rechtsansicht nur zum Teil mit der vom UNHCR (Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft) vertretenen Auffassung deckt (VwGH 20.12.1995, 95/01/0104). Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes entspricht der Entscheidungspraxis in Deutschland, welche aufgrund der notorisch bekannten Vergemeinschaftung nicht als gänzlich unbeachtlich angesehen werden kann (vgl. Übersicht zur deutschen und schweizerischen Rechtsprechung im Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 12.04.2010, E3 319.230).

 

Eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes bzw. wegen Desertion drohende, auch strenge Bestrafung wird in diesem Sinne grundsätzlich nicht als Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention angesehen (VwGH vom 30. November 1992, Zl. 92/01/0718; 21. April 1993, Zlen. 92/01/1121, 1122). Der Verwaltungsgerichtshof hat diese Auffassung auch in Fällen vertreten, in denen in den betroffenen Heimatstaaten Bürgerkrieg, Revolten oder bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen stattgefunden haben (vgl. VwGH 30. November 1992, Zl. 92/01/0789, betreffend Somalia, und Zl. 92/01/0718, betreffend Äthiopien, vom 8. April 1992, Zl. 92/01/0243, vom 16. Dezember 1992, Zl. 92/01/0734, und vom 17. Februar 1993, Zl. 92/01/0784, alle betreffend die frühere Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien).

 

Diesbezüglich ist festzuhalten, dass der BF4 auch nicht darzulegen vermochte, inwieweit er eine Gesinnung vertrete, die ihm eine Ableistung des Wehrdienstes unzumutbar mache. Das Vertreten einer allgemeinen pazifistischen Gesinnung und das Ablehnen von Gewalt und Waffen im Allgemeinen ist zu wenig, weil dies letztlich nichts anderes besagt, als dass der BF4 dem Grunde nach den Frieden bzw. friedliche Konfliktbereinigung dem Krieg vorzieht, wie dies die überwiegende Mehrzahl von Menschen und wohl auch ein überwiegender Teil von Grundwehrdienern vertritt (dazu bereits AsylGH 17.03.2009, E3 318.536-1/2008-7E; 17.02.2010, E1 312.233; in diesen Fällen hat der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde bereits mit Beschluss abgelehnt, VfGH 27.04.2009, U 1060/09-3; 26.04.2010, U 766/10-3). Der BF4 selbst hat weder in seiner Einvernahme vor dem BFA noch in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen erwähnt, sondern lediglich angegeben, dass er den Wehrdienst an sich, Kämpfe und Waffengewalt nicht möge und direkt im Kampfgebiet eingesetzt werden würde bzw. er niemanden das Leben nehmen wolle.

 

Darüber hinaus hat die Geltendmachung des Themas der "Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen" an sich schon keinerlei Einfluss auf gegenständliche Entscheidung, zumal der türkische Staat den Tatbestand "Wehrdienstentziehung" einheitlich nach dem Militärstrafgesetz ahndet und damit grundsätzlich zwischen der Gruppe "Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, welche den Militärdienst noch nicht angetreten haben" und jener der bloß "Wehrdienstflüchtigen" (Wehrpflichtige, die sich dem zukünftigen Antritt des Wehrdienstes in irgendeiner Weise entzogen haben) nicht unterscheidet (vgl. auch AsylGH vom 14.01.2010, E7 241.551-0/2008-18E). Dass es in der Türkei keinen Wehrersatzdienst gibt, stellt per se noch kein asylrelevantes Vorbringen im Sinne der GFK dar. So ist in Art. 4 Abs. 3 lit. b EMRK lediglich festgehalten, dass jede Dienstleistung militärischen Charakters, – oder im Falle der Verweigerung aus Gewissensgründen in Ländern, wo diese als berechtigt anerkannt ist, eine sonstige anstelle der militärischen Dienstpflicht tretende Dienstleistung – nicht als "Zwangs- oder Pflichtarbeit" gilt. Eine Verpflichtung zur Erlassung von Regelungen betreffend einem Ersatzdienst (Zivildienst) bzw. eine "Verpflichtung zur Anerkennung einer Verweigerung aus Gewissensgründen" gibt es somit grundsätzlich nicht für die Mitgliedstaaten (vgl. aber Wehrpflicht iZm Art. 9 EMRK).

 

Allein die Furcht vor Ableistung des Militärdienstes stellt somit grundsätzlich keinen Grund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dar; ebenso wenig wie eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes oder wegen Desertion drohende, auch strenge Bestrafung.

 

II.3.2.5. Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, war in der Folge davon auszugehen, dass eine asylrelevante Verfolgung der BF1-4 im gegebenen Fall nicht existent ist.

 

II.3.2.6. In einer Gesamtschau sämtlicher Umstände und mangels Vorliegens einer aktuellen Verfolgungsgefahr aus einem in der GFK angeführten Grund waren die Beschwerden der BF1-4 gegen die Spruchpunkt I. der erstinstanzlichen Bescheide abzuweisen.

 

II.3.3. Nichtzuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat

 

II.3.3.1. Die hier maßgeblichen Bestimmungen des § 8 AsylG lauten:

 

„§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,

1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2. […],

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht. […]“

Bereits § 8 AsylG 1997 beschränkte den Prüfungsrahmen auf den „Herkunftsstaat“ des Asylwerbers. Dies war dahingehend zu verstehen, dass damit derjenige Staat zu bezeichnen war, hinsichtlich dessen auch die Flüchtlingseigenschaft des Asylwerbers auf Grund seines Antrages zu prüfen ist (VwGH 22.4.1999, 98/20/0561; 20.5.1999, 98/20/0300). Diese Grundsätze sind auf die hier anzuwendende Rechtsmaterie insoweit zu übertragen, als dass auch hier der Prüfungsmaßstab hinsichtlich des Bestehens der Voraussetzungen, welche allenfalls zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führen, sich auf den Herkunftsstaat beschränkt.

 

Art. 2 EMRK lautet:

 

„(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. (2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt:

a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen;

b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern;

c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.“

Während durch das 6. ZPEMRK die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft wurde, erklärt das 13. ZPEMRK die Todesstrafe als vollständig abgeschafft.

Art. 3 EMRK lautet:

 

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

 

Folter bezeichnet jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind (Art. 1 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984).

 

Unter unmenschlicher Behandlung ist die vorsätzliche Verursachung intensiven Leides unterhalb der Stufe der Folter zu verstehen (Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht 10. Aufl. (2007), RZ 1394).

 

Unter einer erniedrigenden Behandlung ist die Zufügung einer Demütigung oder Entwürdigung von besonderem Grad zu verstehen (Näher Tomasovsky, FS Funk (2003) 579; Grabenwarter, Menschenrechtskonvention 134f).

 

Art. 3 EMRK enthält keinen Gesetzesvorbehalt und umfasst jede physische Person (auch Fremde), welche sich im Bundesgebiet aufhält.

Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Ausweisung (nunmehr Rückkehrentscheidung) eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Falle ihrer Ausweisung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).

Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (für viele: VfSlg 13.314; EGMR 7.7.1989, Soering, EuGRZ 1989, 314). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer zu berücksichtigen, auch wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein „ausreichend reales Risiko“ für eine Verletzung des Art. 3 EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes („high threshold“) dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (vgl. Karl Premissl in Migralex „Schutz vor Abschiebung von Traumatisierten in „Dublin-Verfahren““, derselbe in Migralex: „Abschiebeschutz von Traumatisieren“; EGMR: Ovidenko vs. Finnland; Hukic vs. Scheden, Karim, vs. Schweden, 4.7.2006, Appilic 24171/05, Goncharova & Alekseytev vs. Schweden, 3.5.2007, Appilic 31246/06.

 

Der EGMR geht weiters allgemein davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische od. sonst. unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen (vgl für mehrere. z. B. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“], oder auch Application no. 7702/04 by SALKIC and Others against Sweden oder S.C.C. against Sweden v. 15.2.2000, 46553 / 99).

 

Gemäß der Judikatur des EGMR muss ein BF die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darstellen (vgl. EKMR, Entsch. Vom 7.7.1987, Nr. 12877/87 – Kalema gg. Frankreich, DR 53, S. 254, 264). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus (vgl. EKMR, Entsch. Vom 12.3.1980, Nr. 8897/80: X u. Y gg. Vereinigtes Königreich), wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (vgl. EKMR, Entsch. Vom 17.10.1986, Nr. 12364/86: Kilic gg. Schweiz, DR 50, S. 280, 289). So führt der EGMR in stRsp aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller „Beweise“ zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt -so weit als möglich- Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (zB EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005)

 

Auch nach Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 26.6.1997, Zl. 95/18/1293, VwGH 17.7.1997, Zl. 97/18/0336). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre (VwGH 14.2.2002, 99/18/0199 ua), gesundheitliche (VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601) oder finanzielle (vgl VwGH 15.11.1994, 94/07/0099) Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann (vgl auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279).

 

Voraussetzung für das Vorliegen einer relevanten Bedrohung ist auch in diesem Fall, dass eine von staatlichen Stellen zumindest gebilligte oder nicht effektiv verhinderbare Bedrohung der relevanten Rechtsgüter vorliegt oder dass im Heimatstaat des Asylwerbers keine ausreichend funktionierende Ordnungsmacht (mehr) vorhanden ist und damit zu rechnen wäre, dass jeder dorthin abgeschobene Fremde mit erheblicher Wahrscheinlichkeit der in [nunmehr] § 8 Abs. 1 AsylG umschriebenen Gefahr unmittelbar ausgesetzt wäre (vgl. VwGH 26.6.1997, 95/21/0294).

 

Der VwGH geht davon aus, dass der BF vernünftiger Weise (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380) nicht damit rechnen muss, in dessen Herkunftsstaat (Abschiebestaat) mit einer über die bloße Möglichkeit (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262) hinausgehenden maßgeblichen Wahrscheinlichkeit von einer aktuellen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194) Gefahr betroffen zu sein. Wird dieses Wahrscheinlichkeitskalkül nicht erreicht, scheidet die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten somit aus.

 

II.3.3.2. Umgelegt auf den gegenständlichen Fall werden im Lichte der dargestellten nationalen und internationalen Rechtsprechung folgende Überlegungen angestellt:

 

Dass die BF1-4 im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnten, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde die BF1-4 somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.

 

Zuz den seitens des BF1 kritisierten Haftbedingungen in der Türkei ist Folgendes auszuführen:

 

Entsprechend der Feststellungen zu den Haftbedingungen ist nicht davon auszugehen, dass in der Türkei solch inadäquate Haftbedingungen vorlägen, die die Behandlung eines jeden türkischen Strafgefangenen oder auch jedes wegen Beleidigung des Präsidenten der Republik nach Artikel 299 des türkischen Strafgesetzbuchs Inhaftierten als Art. 3 EMRK widerstreitend erscheinen ließe. Derartiges wurde im Verfahren auch nicht hinreichend substantiiert vorgebracht. Der BF1 ist daher seiner Obliegenheit, die Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten, Angaben schlüssig darzustellen, nicht nachgekommen.

 

Der BF1 ist im Übrigen gesund, sodass keine Notwendigkeit einer medizinischen Versorgung besteht und diesbezügliche Defizite daher nicht von Relevanz sind. Den Feststellungen zufolge wurde die materielle Ausstattung der Haftanstalten in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem „Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter“ besucht.

 

Problematisch ist die Überbelegung, Folter und Misshandlung kommen nach wie vor in Haftanstalten und Gefängnissen vor. Es gab weiterhin Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft. Foltervorwürfe werden oftmals in Zusammenhang mit der Behandlung von Terrorverdächtigen erhoben.

 

Im gegebenen Zusammenhang ist festzuhalten, dass der BF1 weder Terrorverdächtiger ist, noch ihm eine Nähe zur PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê) oder der Bewegung des Fetullah Gülen angelastet wird. Das Bundesverwaltungsgericht kann im Kontext des Vorbringens des BF1 auch nicht erkennen, welche Akteure ein Interesse hegen sollten, ihn der Folter oder einer unmenschlichen Behandlung zu unterziehen, zumal der BF1 selbst keine dahingehenden glaubhaften Befürchtungen vorbrachte.

 

Es kann schließlich nicht davon ausgegangen werden, dass Folter und Misshandlung in den türkischen Haftanstalten eine dermaßen verbreitete Praxis wäre, dass die reale Gefahr bestünde, als nicht wegen Terrorvorwürfen oder einer Beteiligung am versuchten Militärputsch exponierter Insasse jedenfalls derartigen Praktiken unterzogen zu werden. Es wird keine solche Intensität an Übergriffen aufgezeigt, dass von der realen Gefahr auszugehen wäre, dass der BF1 von Folter und Misshandlung persönlich betroffen wäre.

 

Darüber hinaus wurden Maßnahmen gegen die Überbelegung der Gefängnisse eingeleitet (etwa der Neu- bzw. Ausbau der Haftanstalten) und ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal zweifelsfrei absehbar, in welchem Gefängnistyp er eine verhängte Strafe verbüßen würde. Auch wenn die Haftbedingungen in der Türkei sohin nicht immer als mit europäischen Standards vergleichbar angesehen werden, so war dennoch nicht davon auszugehen, dass der BF1 im Falle der Rückkehr alleine wegen der Haftbedingungen einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt wäre. Die Befürchtungen des BF1 basieren weitgehend auf Spekulation und sind nicht dazu geeignet, im Sinn der Rechtsprechung eine reale Gefahr aufzuzeigen. Ausgehend davon und in Anbetracht der vorstehenden Erwägungen kann das Bundesverwaltungsgericht somit nicht erkennen, dass dem Beschwerdeführer die reale Gefahr einer Verletzung von durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte auf Grund der Haftbedingungen in der Türkei droht. Anzumerken ist an dieser Stelle aber erneut, dass der BF1 bis dato nicht wegen Beleidigung des Präsidenten verurteilt wurde und der Ausgang des Verfahrens offen ist.

 

Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die BF1-4 als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

 

Die Sicherheitslage in der Türkei ist zwar als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder der PKK konfrontiert. Die BF1-4 haben diesbezüglich jedoch nicht dargetan, dass sie von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wären. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Artikels 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden entsprechend der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren.

 

Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstands zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) und ihren Ableger [TAK], des sogenannten Islamischen Staates und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C. Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015 und 2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau, was durch die festgestellten statistischen Angaben zu sicherheitsrelevanten Vorfällen und damit verbundenen Opfern erwiesen ist.

Die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak können sich den Feststellungen zufolge auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet, wobei an dieser Stelle festzuhalten ist, dass die Provinz XXXX , in welcher die BF1-4 vor der Ausreise jahrelang lebten, deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen aktuell regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der PKK stattfinden. Des Weiteren ist festzuhalten, dass der BF nicht vorbrachte, nach dem Wiederaufflammen des Konflikts zwischen dem türkischen Militär und den Guerilla-Einheiten der PKK im Sommer 2015 von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren betroffen gewesen zu sein. Eine individuelle Betroffenheit von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren im Rückkehrfall ist ebenso wenig zu befürchten, zumal jedenfalls ein Großteil der Familie des BF auch weiterhin problemlos in der Türkei lebt. Darüber hinaus hat der BF selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass er schon aufgrund seiner bloßen Präsenz in seiner Heimatregion mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wäre.

Im Hinblick auf den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee ist festzuhalten, dass der BF weder in diesen verwickelt ist, noch einer seither besonders gefährdeten Berufsgruppe angehört und auch nicht der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt wird.

 

Es kann auch nicht erkannt werden, dass den BF1-4 im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), haben doch die BF1-4 selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihnen im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und sie in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre.

 

Der BF1 ist ein arbeitsfähiger und anpassungsfähiger Erwachsener XXXX und Berufserfahrung als XXXX . Die BF2 hat in der Türkei die Grundschule abgeschlossen, in einem XXXX sowie zuletzt als XXXX gearbeitet. Die BF3-4 haben in der Türkei bis zum XXXX Lebensjahr (BF3) bzw. bis zum XXXX Lebensjahr (BF4) die Schule besucht und hat der BF4 in Österreich den Pflichtschulabschluss positiv absolviert. Die BF3-4 verfügen über keine Berufsausbildung, jedoch bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sie in der Türkei nicht in der Lage wären durch Gelegenheitsarbeiten ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sowohl die BF3 als auch der BF4 sind gesund, der türkischen Sprache mächtig und haben ihre Schulbildung zur Gänze (BF3) bzw. zum überwiegenden Teil (BF4) in der Türkei erhalten, weshalb eine Eingliederung in den türkischen Arbeitsmarkt möglich und auch zumutbar ist. Der BF1 bezieht bereits jetzt Einnahmen durch die Verkäufe seiner Bücher in der Türkei und ist nicht ersichtlich, weshalb dies in der Türkei nicht weiterhin möglich wäre. Mit diesem Einkommen bestreitet der BF1 aktuell auch den Lebensunterhalt der BF2, des BF4 und vor der Ausreise auch der BF3. Sollte die BF2 (anfänglich) aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht in der Lage sein, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, ist daher auch anzunehmen, dass der BF1 für sie sorgen wird können bzw. stünde es den BF3-4 auch frei Berufsausbildung zu absolvieren.

 

Es ist auch davon auszugehen, dass den BF1-4 zumindest in der Anfangszeit von ihren in der Türkei aufhältigen Verwandten Unterstützung (finanziell oder Zurverfügungstellung von Wohnraum) zu Teil werden kann. Die Mutter der BF2 lebt in XXXX und bezieht Witwenpension. Zudem halten sich in XXXX auch die Geschwister der BF2 auf. Die Mutter des BF1 lebt in einem Haus in XXXX und wohnt auch ein Bruder des BF1, welcher als XXXX arbeitet, in einem eigenen Haus in XXXX .

 

Darüber hinaus stehen den BF1-4 die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit (u. a. Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter) offen, da sie über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen. Entsprechend der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 3294 bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden etwa in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen, wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen, gewährt. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt demgemäß nicht vor.

 

Zum Gesundheitszustand der BF2:

 

Unbestritten ist, dass nach der allgemeinen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und Krankheiten, die auch im vorliegenden Fall maßgeblich ist, eine Überstellung in die Türkei nicht zulässig wäre, wenn durch die Überstellung eine existenzbedrohende Situation drohte.

 

Der VfGH fasste in seinem Erkenntnis vom 06.03.2008, Zl: B 2400/07-9 die aktuelle Rechtsprechung des EGMR zur Frage der Vereinbarkeit der Abschiebung Kranker in einen anderen Staat mit Art. 3 EMRK zusammen und verweist insbesondere auf D. v. the United Kingdom, EGMR 02.05.1997, Appl. 30.240/96, newsletter 1997,93; Bensaid, EGMR 06.02.2001, Appl. 44.599/98, newsletter 2001,26; Ndangoya, EGMR 22.06.2004, Appl. 17.868/03; Salkic and others, EGMR 29.06.2004, Appl. 7702/04; Ovdienko, EGMR 31.05.2005, Appl. 1383/04; Hukic, EGMR 29.09.2005, Appl. 17.416/05; EGMR Ayegh, 07.11.2006; Appl. 4701/05; EGMR Goncharova & Alekseytsev, 03.05.2007, Appl. 31.246/06.

 

Zusammenfassend führt der VfGH aus, das sich aus den erwähnten Entscheidungen des EGMR ergibt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist.

 

Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (Fall D. v. the United Kingdom).

 

Wie bereits erwähnt, geht der EGMR weiters davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische oder sonstige unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet und kann nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen {EGMR 02.05.1997 -146/1996/767/964 („St. Kitts-Fall“)}. Im Zusammenhang mit einer Erkrankung des Beschwerdeführers nahm der EGMR außerordentliche, ausnahmsweise vorliegende Umstände im „St. Kitts-Fall“ an. Im Mai 1997 hatte der EGMR die Abschiebung eines HIV-infizierten Drogenhändlers, welcher laut medizinischen Erkenntnissen auch in Großbritannien bei entsprechender Behandlung nur mehr ca. 8 – 14 Monate zu leben gehabt hätte und sich somit im fortgeschrittenen Krankheitsstadium befand, aus Großbritannien auf seine Heimatinsel St. Kitts/kleine Antillen (Karibik) als "unmenschliche Behandlung" im Sinne des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention angesehen. Die im zitierten Erkenntnis beschriebene außergewöhnliche, exzeptionelle Notlage (er hätte dort keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und Betreuung, nicht einmal zu einem Pflegebett gehabt hätte und wäre so qualvollst, einsam und in extremer Armut gestorben) die ihn dort erwarte, würde seine Lebenserwartung deutlich reduzieren und ihn psychischem und physischem Leiden aussetzen. Diese Abschiebung war daher in diesem Einzelfall unzulässig (EGMR 02.05.1997 -146/1996/767/964).

 

Auch der Umstand, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten im Zielland schlechter wären als im Aufenthaltsland, und allfälligerweise "erhebliche Kosten" verursachen, ist nicht ausschlaggebend (HUKIC gg. Schweden, 27.09.2005, Rs 17416/05).

 

Die BF2 leidet bzw. litt an den oben festgestellten psychischen Erkrankungen, wobei ihr psychischer Gesundheitszustand – unter anderem auch aufgrund des Absetzens von Medikamenten oder dem Abbruch der Psychotherapie - immer wieder Schwankungen unterliegt.

 

Zuletzt wurden bei der BF2 eine rezidivierende depressive Störung (gegenwärtig mittelgradige Episode), eine vordiagnostizierte Panikstörung, eine (choronifizierte, komplexe) posttraumatische Belastungsstörung, eine bipolar affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (Zustand nach dreimaligen Suizidversuchen), eine Agoraphobie mit Panikstörung und eine Binge Eating Störung diagnostiziert. Sie wird entsprechend ihres jeweiligen Gesundheitszustandes – mit Unterbrechungen - seit Jahren medikamentös, psychiatrisch sowie psychotherapeutisch behandelt.

 

Wie aus den Länderberichten hervorgeht, ist die medizinische Versorgung in der Türkei gewährleistet und hat jeder türkische Staatsbürger Zugang zum Gesundheitssystem. Die psychiatrischen Erkrankungen der BF2 sind in der Türkei – allenfalls mit einem Kostenbeitrag bei Medikamenten – behandelbar und liegen keine substanziierten Gründe vor, weshalb eine Behandlung der BF2 nicht zugänglich sein sollte. Dass eine adäquate Behandlung speziell durch XXXX – wie in seinem fachärztlichen Befundbericht aufgeführt – höchstwahrscheinlich zu einem größeren Erfolg führen würde, ist der oben zitierten Judikatur zufolge nicht ausschlaggebend (HUKIC gg. Schweden, 27.09.2005, Rs 17416/05).

 

In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass der EGMR es für eine Art. 3 EMRK-konforme Überstellung ausreicht, dass Behandlungsmöglichkeiten [für Traumatisierte] im Land der Überstellung verfügbar sind (vgl. Paramasothy v. Netherlands 10.11.2005; Ramadan Ahjeredine v. Netherlands, 10.11.2005, Ovidienko v. Finland 31.5.2005; Hukic v. Sweden, 27.9.2005), was im Herkunftsstaat hinsichtlich der von den Beschwerdeführern vorgebrachten Erkrankung offensichtlich der Fall ist (vgl. etwa die bereits erörterte Berichtslage zum Gesundheitswesen im Herkunftsstaat.) und führte der EGMR in Bezug auf jene Fälle, welche in welchen außergewöhnliche, exzeptionelle Umstände im Lichte des Art 3 EMRK (vgl. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“]) im Urteil Paposhvili v. Belgium (no. 41738/10, GC) vom 13 Dezember 2016 aus, dass der tatsächliche Zugang der Partei zu medizinischer Versorgung realistischer Weise erwartbar sein muss, wobei hier festzuhalten ist, dass bloß spekulative Erwägungen in Bezug auf den fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung auszublenden sind (Urteil des EGMR (Große Kammer) vom 27. Mai 2008, N. v. The United Kingdom, Nr. 26.565/05).

 

Im gegenständlichen Fall besteht im Lichte der Berichtslage kein Hinweis, dass die Beschwerdeführer vom Zugang zu medizinsicher Versorgung in der Türkei ausgeschlossen wären und bestehen auch keine Hinweise, dass die Erkrankungen der BF2 nicht behandelbar wären. Auch faktisch Hindernisse, welche das Fehlen eines Zugangs zur medizinischen Versorgung aus in der Person der BF2 gelegenen Umständen kamen nicht hervor.

 

Zu der von XXXX möglichen suizidalen Einengung für den Fall der Überstellung in die Türkei ist noch anzumerken, dass der EGMR hier auf die Entscheidung SALKIC and others against Sweden (Nr. 7702/04) hingewiesen hat, wo die Zulässigkeit der Abschiebung schwer traumatisierter und teilweise suizidale Tendenzen aufweisende Bosnier nach Bosnien und Herzegowina bejaht wurde, wobei hier wohl außer Streit gestellt werden kann, dass das bosnische Gesundheitssystem dem schwedischen qualitätsmäßig unterliegt.

 

Dass sich der Gesundheitszustand durch die Abschiebung verschlechtert ("mentaler Stress" ist nicht entscheidend), ist vom Antragsteller konkret nachzuweisen, bloße Spekulationen über die Möglichkeit sind nicht ausreichend. In der Beschwerdesache OVDIENKO gg. Finland vom 31.05.2005 (Nr. 1383/04), wurde die Abschiebung des Beschwerdeführers, der sich seit 2002 in psychiatrischer Behandlung befunden hat und der selbstmordgefährdet war, für zulässig erklärt; mentaler Stress durch eine Abschiebungsdrohung in die Ukraine war kein ausreichendes "real risk".

 

Auch Abschiebungen psychisch kranker Personen nach mehreren Jahren des Aufenthalts im Aufenthaltsstaat können in Einzelfällen aus öffentlichen Interessen zulässig sein (vgl. PARAMSOTHY gg. Niederlande, 10.11.2005, Rs 14492/05; mit diesem Judikat des EGMR wurde präzisiert, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach neunjährigem Aufenthalt in den Niederlanden, welcher unter posttraumatischem Stresssyndrom leidet und bereits einen Selbstmordversuch hinter sich hat, zulässig ist, da spezielle Programme für Behandlungen von traumatisierten Personen und verschiedene therapeutische Medizin in Sri Lanka verfügbar sind, auch wenn sie nicht denselben Standard haben sollten wie in den Niederlanden).[...]

 

In Bezug auf psychische Erkrankungen, wie zB schweren Depressionen und PTBS mit suizidaler Einengung, haben auch nachfolgende, sich ebenfalls aus der Rechtsprechung des EGMR ergebende, Überlegungen (vgl. auch VfGH v. 6. März 2008, B 2400/07 sowie Premiszl, Migralex 2/2008, 54ff, Schutz vor Abschiebung von Traumatisierten in "Dublin-Verfahren" mwN auf die Judikatur des EGMR) für eine Art 3-EMRK-konforme Entscheidung mit einzufließen:

 

Schwere psychische Erkrankungen erreichen solange nicht die erforderliche Gravität, als es nicht zumindest einmal zu einer Zwangseinweisung in eine geschlossene Psychiatrie gekommen ist. Sollte diese allerdings schon länger als ein Jahr zurückliegen und in der Zwischenzeit nichts Nennenswertes passiert sein, dürfte von keiner akuten Gefährdung mehr auszugehen sein. Die lediglich fallweise oder auch regelmäßige Inanspruchnahme von psychiatrischen oder psychotherapeutischen Leistungen einschließlich freiwilliger Aufenthalte in offenen Bereichen psychiatrischer Kliniken indizieren eine fehlende Gravität der Erkrankung. Mentaler Stress, der durch eine Abschiebungsentscheidung hervorgerufen wird, rechtfertigt nicht die Abstandnahme von der Effektuierung dieser Entscheidung.

 

Auch wenn eine akute Suizidalität besteht, ist ein Vertragsstaat nicht dazu verpflichtet, von der Durchführung der Abschiebung Abstand zu nehmen, wenn konkrete risikominimierende Maßnahmen getroffen werden, um einen Selbstmord zu verhindern. Die Zusicherung von Garantien, welche von der die Abschiebung durchführenden Polizei zu beachten sind (zB die Charterung eines eigenen, mit einem ärztlichen Team ausgestatteten Flugzeuges), reiche hierzu aus. Dies gilt auch für den Fall bereits mehrerer vorangegangener Suizidversuche.

 

Es liegt aktuell bei der BF2 keine lebensbedrohende Erkrankung vor, welche das Risiko bergen würde, im Falle der Rückkehr unter qualvollen Umständen in der Türkei zu sterben. Die psychischen Erkrankungen der BF2 sind in der Türkei behandelbar und benötigte Medikamente vorhanden. Die BF2 befand sich in Österreich auch nicht in stationärer oder ambulanter Behandlung infolge eines Suizidversuches. Ein Suizidversuch der BF2 wurde auch nie belegt, sondern von der BF2 XXXX bei XXXX und zuletzt bei XXXX im Zuge der psychiatrischen Anamnese nur auf solche hingewiesen. Sollte es zu einer Verschlechterung des psychischen Zustandes der BF2 kommen, so ist jedenfalls nicht anzunehmen, dass dieser unwiederbringlich oder derart gravierend ist, dass eine Abschiebung unzulässig zu erklären oder subsidiärer Schutz zu gewähren wäre.

 

Es ist jedenfalls davon auszugehen, dass Österreich in der Lage ist, im Rahmen aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausreichende medizinische Begleitmaßnahmen zu setzen (VwGH 25.4.2008, 2007/20/0720 bis 0723, VfGH v. 12.6.2010, Gz. U 613/10-10) und findet die BF2 in der Türkei auch ein familiäres Netz vor, welches ihr mental beistehen kann bzw. kann die BF2 sich wieder in psychiatrische Behandlung begeben.

 

Im vorliegenden Fall konnten somit seitens der BF2 keine akut existenzbedrohenden Krankheitszustände oder Hinweise einer unzumutbaren Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Überstellung in die Türkei belegt werden. Aus der Aktenlage sind keine Hinweise auf das Vorliegen (schwerer) Erkrankungen im Sinne des Artikel 3 EMRK ersichtlich.

 

Auch die derzeitige COVID-19 (sog. Corona-) Pandemie, ausgelöst durch das SARS-CoV-2-Virus, führt zu keiner Änderung der oben angeführten Erläuterungen zur Türkei.

 

Im Hinblick auf die Gefahr, dass sich die BF1-4 in der Türkei mit dem SARS-CoV-2-Virus infizieren bzw. dort von wegen der Krise herrschende Einschränkungen des Wirtschaftslebens und die daraus resultierende Versorgungslage betroffen sind, kann ein Rückkehrhindernis nur dann vorliegen, wenn die BF1-4 aufgrund der Bedingungen mit maßgeblichen Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsste, von einem unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalt betroffen zu sein. Bei der Beurteilung, ob dem Beschwerdeführer im Fall seiner Rückführung die reale Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung drohe, sind die in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien (vgl. VwGH 14.8.2019, Ra 2019/20/0347, mwN) zu beachten.

 

Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 12.6.2018, Ra 2018/20/0250, mwN).

 

Bei der Frage, ob im Fall der Rückführung eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK besteht, kommt es somit nicht darauf an, ob infolge von zur Verhinderung der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus gesetzten Maßnahmen sich die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellt, solange die Sicherung der existentiellen Grundbedürfnisse weiterhin als gegeben anzunehmen ist (vgl. VwGH 11.11.2020, Ra 2020/14/0390; VwGH 7.9.2020, Ra 2020/20/0314; VwGh 20.01.2021, Ra 2020/19/0334 jeweils mwN).

 

Eine derartige Extremgefahr kann für die BF1-4 im Falle seiner Rückkehr in die Türkei nicht angenommen werden. Es ist zum einen nicht ersichtlich, dass die BF1-4 ohne bestehende lebensbedrohende schwerwiegenden Erkrankungen in der Türkei gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert wären. Selbst bei Zugrundlegen der vom türkischen Staat getroffenen Maßnahmen zur medizinischen Versorgung besteht keine hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs der Erkrankung für die Personengruppe, welcher der BF angehört.

 

Des Weiteren ist die Versorgungslage für die Bevölkerung in der Türkei auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen nicht derart desolat, dass auch nur annähernd von einer allgemeinen Gefahrenlage gesprochen werden könnte.

 

Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor.

 

Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die BF1-4 somit nicht in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden.

 

Weder droht ihnen im Herkunftsstaat das reale Risiko einer Verletzung der oben genannten gewährleisteten Rechte, noch bestünde die Gefahr, der Todesstrafe unterzogen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen, sodass der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides zu Recht abgewiesen wurde.

 

II.3.4. Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels und Erlassung einer Rückkehrentscheidung

II.3.4.1. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.

 

Gemäß § 57 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:

1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

Der gegenständliche, nach unrechtmäßiger Einreise in Österreich gestellte, Antrag auf internationalen Schutz war abzuweisen. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt (ein sonstiger Aufenthaltstitel des drittstaatsangehörigen Fremden ist nicht ersichtlich und wurde auch nicht behauptet) im Bundesgebiet mehr vor und fällt der BF nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG.

 

Der Aufenthalt der BF1-4 ist nicht geduldet. Die BF1-4 sind nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch kein Opfer von Gewalt im obigen Sinn.

 

Es liegen folglich keine Umstände vor, dass den BF allenfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) zu erteilen gewesen wäre, und wurde diesbezüglich in der Beschwerde auch nichts dargetan.

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

 

II.3.4.2. Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG ist gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

 

Gemäß § 52 Abs. 3 FPG ist unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.

 

Gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen. Die Erlassung der Entscheidung ist zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Gemäß § 9 Abs 3 AsylG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind.

 

II.3.4.2.1. Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, wie hier der Rückkehrentscheidung, kann folglich ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.

 

Vom Begriff des 'Familienlebens' in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern zB auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt.

 

Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, welche miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Art. 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig.

 

Artikel 8 EMRK schützt das Privatleben umfassend und sichert dem Einzelnen einen Bereich,

innerhalb dessen er seine Persönlichkeit frei entfalten kann.

 

II.3.4.2. Die BF1-4 reisten im Juli 2015 erstmals nach Österreich und sind die BF1-2 und 4 seither ununterbrochen im Bundesgebiet aufhältig. Die BF3 hält sich seit XXXX in XXXX auf. In Österreich der BF1, 2 und 4 in einem gemeinsamen Haushalt. Die BF1-3 verfügt über keine nennenswerten Deutschkenntnisse. Der BF4 spricht auf einem guten Niveau die deutsche Sprache. Die BF1-4 sind bzw. waren in Österreich nie berufstätig und beziehen die BF1-2 Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber. Der BF4 hat bis XXXX Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber bezogen. Die BF1-4 sind keine Mitglieder in einem Verein und verfügen bzw. verfügten in Österreich über freundschaftliche und soziale Kontakte. Die BF1-4 sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.

 

II.3.4.3. Gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf das Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, welche in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, der Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Zweifellos handelt es sich sowohl beim BFA als auch beim ho. Gericht um öffentliche Behörden im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK und ist der Eingriff in § 10 AsylG gesetzlich vorgesehen.

 

Es ist in weiterer Folge zu prüfen, ob ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und/oder Familienlebens des BF im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Art. 8 EMRK gedeckt ist und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK, in verhältnismäßiger Weise verfolgt.

 

II.3.4.4. Im Einzelnen ergibt sich aus einer Zusammenschau der oben genannten Determinanten im Lichte der soeben zitierten Judikatur Folgendes:

 

Da die BF1-4 gleichermaßen von einer Rückkehrentscheidung betroffen sind, liegt auch insoweit kein Eingriff in das schützenswerte Familienleben vor (VwGH 19.12.2012, Zl. 2012/22/0221 mwN).

 

Da somit im gegenständlichen Fall ein ungerechtfertigter Eingriff in das Familienleben des Beschwerdeführers zu verneinen ist, bleibt zu prüfen, ob mit der Ausweisung ein Eingriff in deren Privatleben einhergeht.

 

Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, in ÖJZ 2007, 852 ff.). Eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration ist erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541). Nach der bisherigen Rechtsprechung ist auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).

 

Weiters ist darauf hinzuweisen, dass im Falle einer bloß auf die Stellung eines Asylantrags gestützten Aufenthalts in der Entscheidung des EGMR (N. gegen United Kingdom vom 27.05.2008, Nr. 26565/05) auch ein Aufenthalt in der Dauer von zehn Jahren nicht als allfälliger Hinderungsgrund gegen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme unter dem Aspekt einer Verletzung von Art. 8 EMRK thematisiert wurde.

 

In seiner davor erfolgten Entscheidung Nnyanzi gegen United Kingdom vom 08.04.2008 (Nr. 21878/06) kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass bei der vorzunehmenden Interessensabwägung zwischen dem Privatleben des Asylwerbers und dem staatlichen Interesse eine unterschiedliche Behandlung von Asylwerbern, denen der Aufenthalt bloß aufgrund ihres Status als Asylwerber zukommt, und Personen mit rechtmäßigem Aufenthalt gerechtfertigt sei, da der Aufenthalt eines Asylwerbers auch während eines jahrelangen Asylverfahrens nie sicher ist. So spricht der EGMR in dieser Entscheidung ausdrücklich davon, dass ein Asylweber nicht das garantierte Recht hat, in ein Land einzureisen und sich dort niederzulassen. Eine Abschiebung ist daher immer dann gerechtfertigt, wenn diese im Einklang mit dem Gesetz steht und auf einem in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten Grund beruht. Insbesondere ist nach Ansicht des EGMR das öffentliche Interesse jedes Staates an einer effektiven Einwanderungskontrolle jedenfalls höher als das Privatleben eines Asylwerbers; auch dann, wenn der Asylwerber im Aufnahmestaat ein Studium betreibt, sozial integriert ist und schon 10 Jahre im Aufnahmestaat lebte.

 

Die Aufenthaltsdauer der BF1, 2 und 4 in Österreich stellen grundsätzlich keine unerhebliche Aufenthaltsdauer dar.Die Relevanz der Aufenthaltsdauer ist erheblich dadurch gemindert, dass die BF1-4 nach ihrem ersten Asylverfahren, welche im XXXX abgeschlossen wurden, ihren Ausreiseverpflichtungen nicht nachgekommen sind, sie zwei Anträge auf Wiederaufnahme des ersten Asylverfahrens stellten, welchen nicht stattgegeben wurde und sie zum weiteren Aufenthalt ab dem XXXX (zweiter Asylantrag) lediglich aufgrund einer unbegründeten erneuten Asylantragstellung zum bloß vorläufigen Aufenthalt berechtigt sind, weshalb sie sich ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten. In Anbetracht des Umstandes, dass auch die gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz unbegründet sind, sie versuchten die Anträge jeweils mit einem nicht glaubhaften Sachverhalt zu begründen und die BF1-4 illegal in das Bundesgebiet von Österreich eingereist waren, sind gravierende öffentliche Interessen festzustellen, die für eine aufenthaltsbeendende Rückkehrentscheidung sprechen. Diese Interessen überwiegen in ihrer Gesamtheit das private und familiäre Interesse der BF1-4 am weiteren Verbleib, selbst wenn sie hier soziale Kontakte knüpften, der BF4 den Pflichtschulabschluss absolvierte und gute Deutschkenntnisse erwarb und die BF1, 2 und 3 ihr zukünftiges Leben hier gestalten wollen. Familiäre und private Interessen von Fremden am Verbleib im Gastland sind jedenfalls weniger stark zu gewichten, wenn diese während eines noch nicht abgeschlossenen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz begründet werden, da die Antragsteller zu diesem Zeitpunkt nicht von vornherein von einem positiven Ausgang des Verfahrens ausgehen konnten und ihr Status bis zum Abschluss des Verfahrens ungewiss ist. Auch nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bewirkt in Fällen, in denen das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die betroffenen Personen der Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten, eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nur unter ganz speziellen bzw. außergewöhnlichen Umständen ("in exceptional circumstances") eine Verletzung von Art. 8 EMRK (vgl. VwGH 29.4.2010, 2009/21/0055 mwN).

 

Die BF1-4 reisten im Juli 2015 in das Bundesgebiet ein und ergingen bereits am XXXX im ersten Asylverfahren die ersten abweisenden Bescheide des BFA. Die BF1-4 durften daher gemäß der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nach der erstinstanzlichen Abweisung ihrer Anträge auf internationalen Schutz bereits ca. zwei Jahre nach ihrer Einreise ihren zukünftigen Aufenthalt nicht mehr als gesichert betrachten und nicht mehr darauf vertrauen, in Zukunft in Österreich verbleiben zu können (vgl. VwGH 29.4.2010, 2010/21/0085).

 

In einer Gesamtschau können daher die gegenüber den BF1-4 bereits ergangenen, aber nicht befolgten rechtskräftigen asylbehördlichen Entscheidungen, im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung im Lichte der dargestellten Rechtsprechung des EGMR und des Verwaltungsgerichtshofes selbst unter Annahme einer erfolgten Integration nicht für das familiäre oder private Interesse der BF1-4 an einem Verbleib in Österreich ins Treffen geführt werden. Vielmehr erscheint unter diesem entscheidungserheblichen Gesichtspunkt der Eingriff in das Familien- und Privatleben der BF1-4 im öffentlichen Interesse zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele, insbesondere der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens, dringend geboten (VfGH vom 07.10.2009, U 2511, 2512/09-3; VwGH vom 21.01.2010, Zl. 2009/18/0429; VwGH vom 15.11.2005, Zl. 2003/18/0263).

 

Es ist auch darauf hinzuweisen, dass den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Normen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung - und damit eines von Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Interesses - ein hoher Stellenwert zukommt. Die BF1-4 stellten nach unrechtmäßiger Einreise zwei letztlich unberechtigte Anträge auf internationalen Schutz und blieben nach Abschluss des ersten Asylverfahrens unrechtmäßig in Österreich. Ihr Verhalten widerspricht sohin auch dem geltenden Einwanderungsregime und stellt eine relevante Störung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens dar (VwGH 22.1.2013, 2011/18/0012).

 

Die erlangte Integration ist in ihrem Stellenwert zu relativieren, wenn die integrationsbegründenden Umstände während eines Aufenthalts erworben wurden, der sich auf wiederholte, letztlich nicht berechtigte Asylanträge gründete. Die Integration erfolgte in einem Zeitraum, in dem sich die BF1-4 ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sein mussten.

 

Das persönliche Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann ein über zehnjähriger inländischer Aufenthalt den persönlichen Interessen eines Fremden am Verbleib im Bundesgebiet - unter Bedachtnahme auf die jeweils im Einzelfall zu beurteilenden Umstände - ein großes Gewicht verleihen bzw. eine auf einen unrechtmäßigen Aufenthalt gegründete aufenthaltsbeendende Maßnahme als unverhältnismäßig erscheinen lassen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, können solche aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ausnahmsweise auch nach einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen werden. Diese Rechtsprechung betraf allerdings nur Konstellationen, in denen sich aus dem Verhalten des Fremden - abgesehen vom unrechtmäßigen Verbleib in Österreich - sonst keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergab. Die "Zehn-Jahres-Grenze" spielte in der bisherigen Judikatur nur dann eine Rolle, wenn einem Fremden kein - massives - strafrechtliches Fehlverhalten vorzuwerfen war (VwGH 10.11.2015, Ro 2015/19/0001).

 

Die Aufenthaltsdauer der BF1, 2 und 4 erweist sich nicht als so außergewöhnlich, dass ihnen deshalb ein direkt aus Art. 8 MRK abgeleitetes Aufenthaltsrecht zugestanden werden müsste (VwGH 21.3.2013, 2011/23/0360).

 

Die BF1-3 verfügen zudem über keine nennenswerten Deutschkenntnisse. Lediglich der BF4 spricht auf gutem Niveau Deutsch. Die BF1-4 pflegen bzw. pflegten in Österreich soziale und freundschaftliche Kontakte. Ein Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Personen konnte anhand des Vorbringens der BF1-4 nicht erkannt werden. Soweit die BF1-4 über private Bindungen in Österreich verfügen, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass die BF1-4 hierdurch gezwungen werden, den Kontakt zu jenen Personen, die ihnen in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Es steht ihnen frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch kurzfristige Urlaubsaufenthalte) aufrecht zu erhalten. Auch der Verwaltungsgerichtshof führt zur sozialen Integration wie folgt aus: Das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich ist in seinem Gewicht gemindert, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung gehabt hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (vgl. VwGH 31.1.2013, 2011/23/0519).

 

Auch grundlegenden Kenntnissen der deutschen Sprache vermag vor dem Hintergrund, dass der Verwaltungsgerichtshof den Umstand, perfekt Deutsch zu sprechen, als kein über das übliche Maß hinausgehendes Integrationsmerkmal erachtete (vgl. VwGH 25.02.2010, 2010/18/0029), kein wesentliches Gewicht zukommen. In diesem Zusammenhang sei auch auf die höchstgerichtliche Judikatur verwiesen, wonach selbst die – hier bei weitem nicht vorhandenen - Umstände, dass selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).

 

Die BF 1-4 sind in Österreich auch nicht berufstätig und beziehen teilweise Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber.

 

Die Feststellung, wonach die BF1-4 strafrechtlich unbescholten sind, stellt laut Judikatur weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, Zahl 98/18/0420). Der VwGH geht davon aus, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält.

 

Darüber hinaus sind keine weiteren maßgeblichen Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass dem Recht auf Privatleben der BF1-4 in Österreich im Verhältnis zu den legitimen öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung eine überwiegende und damit vorrangige Bedeutung zukommen lassen würde. Der Besuch eines kurdischen Vereins stellt ebenfalls keine besondere Integration in die österreichische Gesellschaft dar. Vielmehr dienen solche Einrichtungen dazu, dass Fremde, wie die BF1-4, den Kontakt zu ihren Landsleuten erhalten bzw. ihre Kultur und Traditionen aus dem Herkunftsland in Österreich fortführen bzw. ausleben können.

 

Aufgrund dieser Erwägungen ist davon auszugehen, dass die Interessen der BF1-4 an einem Verbleib im Bundesgebiet gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein hoher Stellenwert zukommt, in den Hintergrund treten. Allein ein durch beharrliche Missachtung der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkter Aufenthalt kann nämlich keinen Rechtsanspruch aus Art. 8 EMRK bewirken. Eine andere Auffassung würde sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber sich rechtstreu Verhaltenden führen (VfGH 12.06.2010, U 613/10-10, vgl. idS VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007).

 

Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist daher davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts des BF im Bundesgebiet das persönliche Interesse des BF am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt.

 

Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen und in der Beschwerde nicht substantiiert vorgebracht worden, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.

 

II.3.5. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG ist mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

 

Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

 

Nach § 50 Abs. 2 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).

 

Nach § 50 Abs. 3 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

 

Im gegenständlichen Fall liegen im Hinblick auf die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen keine konkreten Anhaltspunkte vor, dass die Abschiebung in die Türkei unzulässig wäre. Derartiges wurde auch in der gegenständlichen Beschwerde nicht schlüssig dargelegt.

 

II.3.6. Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung entspricht § 55 Abs. 2 erster Satz FPG. Dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Es wird auf die bereits getroffenen Ausführungen zu den privaten und familiären Bindungen des BF und der Vorhersehbarkeit der Verpflichtung zum Verlassen des Bundesgebietes verwiesen. Die eingeräumte Frist erscheint angemessen und wurden diesbezüglich auch keinerlei Ausführungen im Beschwerdeverfahren getroffen.

 

Die Verhältnismäßigkeit der seitens der belangten Behörde getroffenen fremdenpolizeilichen Maßnahme ergibt sich aus dem Umstand, dass es sich hierbei um das gelindeste fremdenpolizeiliche Mittel handelt, welches zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet erschien.

 

II.3.7. Da alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung, für eine Abschiebung und die gesetzte Frist für die freiwillige Ausreise vorliegen, ist die Beschwerde gegen die betreffenden Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.

 

II.3.8. Aufgrund der oa. Ausführungen ist der belangten Behörde letztlich im Rahmen einer Gesamtschau jedenfalls beizupflichten, dass kein Sachverhalt hervorkam, welcher bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen den Schluss zuließe, dass der BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei dort mit der erforderlichen maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer Gefahr im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK bzw. § 8 Abs. 1 AsylG ausgesetzt wäre. Auch die Voraussetzungen für die getroffene Rückkehrentscheidung liegen vor.

 

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

 

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

 

Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das ho. Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des VwGH, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe und der Auslegung des Begriffs der Glaubhaftmachung, zum Flüchtlingsbegriff, der hier vertretenen Zurechnungstheorie und den Anforderungen an einen Staat und dessen Behörden um von dessen Willen und Fähigkeit, den auf seinem Territorium aufhältigen Menschen Schutz vor Übergriffen zu gewähren ausgehen zu können, dem Refoulementschutz bzw. zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben abgeht. Entsprechende einschlägige Judikatur wurde bereits zitiert.

 

Ebenso wird zu diesem Thema keine Rechtssache, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, erörtert. In Bezug auf die Spruchpunkte I und II des angefochtenen Bescheides liegt das Schwergewicht zudem in Fragen der Beweiswürdigung.

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