AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2019:L524.2148726.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER LL.B. über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Türkei, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.02.2017, Zl. 1047058600-140243655, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.04.2019, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 03.12.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der am 05.12.2014 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer an, er sei geschieden, Alevit und Kurde. Er stamme aus dem Dorf XXXX in XXXX , XXXX . In XXXX habe er von 1987 bis 1992 die Grundschule und von 1992 bis 1994 die Mittelschule besucht. In der Türkei würden noch seine Mutter, sein Sohn, zwei Schwestern und zwei Brüder leben. Ein weiterer Bruder sei verschollen und sein Vater sei bereits verstorben. In Österreich würden ein Bruder und eine Schwester leben. Der Beschwerdeführer habe die Türkei am 29.11.2014 verlassen und sei am 01.12.2014 schlepperunterstützt illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist.
Hinsichtlich seines Fluchtgrundes brachte er vor, er habe gemeinsam mit seinem Bruder im Juni 2013 an den "Gezi Demonstrationen" teilgenommen. Sie seien dabei zweimal festgenommen und mehrere Tage angehalten worden. Zu diesem Zeitpunkt hätten er und sein Bruder in Istanbul gewohnt und gearbeitet. Da es ständige Polizeibesuche in ihrer gemeinsamen Wohnung gegeben habe, seien sie im Juli 2013 nach XXXX zurückgekehrt. Am 08.10.2014 habe er mit seinem Bruder in XXXX an einer Demonstration für Kobane teilgenommen. Diese sei von der Polizei gestürmt worden und mehrere Personen, unter anderem der Beschwerdeführer und sein Bruder, seien festgenommen worden. Der Beschwerdeführer sei nach sechs Tagen freigelassen worden, sein Bruder aber nicht. Dieser sei seither verschollen. Der Beschwerdeführer sei in sein Dorf zurückgekehrt, habe aber immer Angst gehabt. Seine Freunde hätten ihm zur Ausreise aus der Türkei geraten, da alle vermutet hätten, dass er genauso enden würde wie sein Bruder.
2. Bei der ersten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 08.02.2016 gab der Beschwerdeführer an, dass er bis einen Monat vor der Ausreise mit seiner Mutter und einem Bruder in XXXX in XXXX in XXXX gelebt habe. Nachdem er dort Schwierigkeiten bekommen habe, habe er noch einen Monat in XXXX gelebt. Er habe fünf Jahre die Grundschule in XXXX und vier Jahre die Hauptschule in XXXX besucht, diese aber nicht abgeschlossen. Von 2000 bis 2002 habe er den Grundwehrdienst abgeleistet. Er habe auch verschiedene Arbeitsstellen gehabt, hauptsächlich aber in XXXX in einer Porzellanfabrik gearbeitet. Seine finanzielle Lage sei nach seiner Kündigung 2009 und der Scheidung nicht mehr so gut gewesen. Er habe einen minderjährigen Sohn, der bei seiner ehemaligen Ehegattin lebe. Am 29.11.2014 habe er die Türkei illegal verlassen und sei schlepperunterstützt nach Österreich gereist. Die Kosten für die Reise hätten 4.000 betragen.
Zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass er bei den Unruhen im Gezi-Park dabei gewesen sei und von der Polizei weiterhin verfolgt worden sei. Aus Angst sei er in sein Heimatdorf XXXX zurückgekehrt. Dort habe er aktiv an Demonstrationen wegen Kobane teilgenommen. Bei diesen Demonstrationen seien mehrere Personen verhaftet worden und sie hätten gehört, dass diese geschlagen und gefoltert worden seien. Auch sein Bruder und er seien verhaftet worden, wobei der Beschwerdeführer nach sechs und sein Bruder erst 20 Tage nach ihm freigelassen worden sei. Nachdem sie erfahren hätten, dass Leute in Gefangenschaft gefoltert und geschlagen würden und ihnen bei einer neuerlichen Inhaftierung dies auch passieren könnte, hätten sie sich entschlossen, nach Istanbul zu gehen, um von dort aus das Land zu verlassen. Über Befragung gab der Beschwerdeführer an, an den Demonstrationen im Gezi-Park für zehn Tage im Sommer 2013 aktiv teilgenommen zu haben. Dabei sei er zweimal festgenommen und mehrere Tage angehalten worden. Er sei bei der ersten Festnahme auch von der Polizei geschlagen worden. Nach der ersten Festnahme seien sein Bruder und er hauptsächlich in ihrer Wohnung in Istanbul geblieben. Die Polizei habe sie etwa eine Woche nach der ersten Haftentlassung ein weiteres Mal direkt von ihrer Wohnung festgenommen. Bei der zweiten Festnahme sei es zu einer bloßen Befragung und zu keinen weiteren Übergriffen gekommen. Etwa zwei Wochen nach der Entlassung seien sie noch in Istanbul geblieben und danach in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Danach hätten sein Bruder und er von Freunden einen Anruf bekommen, die sie zur Teilnahme an einer Demonstration in XXXX aufgefordert hätten. Es sei zu Ausschreitungen gekommen und der Beschwerdeführer sei für sechs Tage, sein Bruder für 20 Tage inhaftiert worden.
3. Bei der zweiten Einvernahme vor dem BFA am 15.02.2016 bestätigte der Beschwerdeführer zunächst die Richtigkeit seiner bisherigen Angaben. Über Aufforderung, die Ereignisse ab der Rückkehr in das Heimatdorf zu schildern, gab der Beschwerdeführer an, dass er nach seiner Rückkehr im Juli 2013 gearbeitet habe. Von Freunden habe er von einer Demonstration in XXXX erfahren. Rund um sein Dorf seien immer wieder fremde Personen gesichtet worden und in der Stadt XXXX seien an Häusern Schriftzüge mit IS-Parolen gefunden worden. Die Bevölkerung habe daher vermutet, dass die Fremden IS-Kämpfer seien. Der Beschwerdeführer und andere Personen seien davon ausgegangen, dass es sich bei den Fremden um IS-Spione handle, die herausfinden sollten, wo Kurden und Aleviten wohnen. Zur selben Zeit hätten in Kobane Unruhen begonnen. Mit dem Gedanken, dass dies auf ihr kurdisches Gebiet übergreifen könnte, habe er sich entschlossen, etwas dagegen zu unternehmen und an der Demonstration teilgenommen. Die Demonstration habe am 06.10.2013 begonnen und sei friedlich gewesen. Einige Zeit später habe die Polizei die Demonstration auflösen wollen, sie hätten aber weitergemacht und die Polizei habe Tränengas eingesetzt. Am 08.10.2013 seien sein Bruder und er von der Polizei verhaftet worden. Nach sechs Tagen sei der Beschwerdeführer freigelassen worden. Die Polizei habe gesagt, sie habe auch seinen Bruder entlassen habe, dieser sei jedoch nicht nach Hause gekommen. Der Beschwerdeführer habe daher befürchtet, dass sein Bruder eventuell erneut verhaftet worden sei. Deswegen habe er sich fünf Tage nach seiner Freilassung entschlossen, nach Istanbul zu gehen. Am 16.10.2013 sei er in Istanbul gewesen und am 29.10.2013 habe er die Türkei verlassen. Nach dem Vorhalt, dass seine zeitlichen Angaben mit seinen Angaben in der vorangegangenen Einvernahme nicht stimmig seien, erklärte der Beschwerdeführer, dass die Demonstration in Istanbul 2013 und jene in XXXX am 06.10.2014 gewesen sei. Dem Beschwerdeführer wurden auch die Angaben seines Bruders in dessen Asylverfahren vorgehalten, die mit den Angaben des Beschwerdeführers nicht übereinstimmen.
4. Mit Bescheid des BFA vom 13.02.2017, Zl. 1047058600-140243655 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer eine Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft gemacht habe. Es sei auch davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention drohe. Eine Interessenabwägung ergebe, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei. Auch die Abschiebung sei zulässig.
5. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde, in der im Wesentlichen Probleme mit dem Dolmetscher vorgebracht wurden. Die Widersprüche zu den Angaben seines Bruders wurden damit begründet, dass dieser schnell nervös werde und daher bei seiner Einvernahme "wohl irgendetwas" geredet hätte.
6. Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde am 17.04.2019 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, an der nur der Beschwerdeführer als Partei teilnahm. Die belangte Behörde entsandte keinen Vertreter. Dem Beschwerdeführer wurde die Gelegenheit eingeräumt, sein Fluchtvorbringen zu schildern. Bereits mit der Ladung zur Verhandlung wurden dem Beschwerdeführer Berichte zur Lage in der Türkei zur Kenntnis gebracht. Die Vertreterin des Beschwerdeführers gab dazu an, dass diese Berichte bestätigt würden. Der Beschwerdeführer selbst führte aus, wenn darin die Lage der Kurden und Aleviten geschildert werde, habe er keine Stellungnahme abzugeben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Kurden an und ist Alevit. Er besuchte fünf Jahre die Volksschule und vier Jahre die Mittelschule, welche er jedoch nicht abgeschlossen hat. Der Beschwerdeführer lebte bis zu seinem 17. Lebensjahr in der Stadt XXXX , die in der gleichnamigen Provinz im Osten der Türkei liegt. Danach lebte der Beschwerdeführer in XXXX , das in der gleichnamigen Provinz im Westen der Türkei liegt. Dort leistete der Beschwerdeführer seinen Wehrdienst und heiratete dort auch. Mittlerweile ist der Beschwerdeführer geschieden. Nach Absolvierung des Wehrdienstes lebte der Beschwerdeführer in XXXX , in der gleichnamigen Provinz im Westen der Türkei. Der Beschwerdeführer arbeitete dort im eigenen Lokal, das er ca. 2010 schloss und ging danach nach Istanbul. Dort arbeitete der Beschwerdeführer ca. ab dem Jahr 2011 in einem Eisenwarengeschäft und ca. 2012 in einem anderen Unternehmen.
Der Beschwerdeführer hat ein minderjähriges Kind mit seiner ehemaligen Ehegattin. Diese leben in der Türkei. Im Heimatort des Beschwerdeführers, XXXX , leben die Mutter, zwei Brüder, eine Schwester, ein Onkel mütterlicherseits und sein Cousin väterlicherseits. Eine weitere Schwester lebt in Ankara. Die Brüder des Beschwerdeführers sind berufstätig. Sein Vater ist bereits verstorben. Der Beschwerdeführer steht mit seinen Verwandten in Kontakt.
Es kann nicht festgestellt werden, wann der Beschwerdeführer die Türkei verließ. Er reiste schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 03.12.2014 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe, wonach er auf Grund seiner Teilnahme an Protesten in Istanbul sowie in XXXX insgesamt dreimal festgenommen worden sei und es bei den folgenden Anhaltungen zu Übergriffen gekommen sei, werden der Entscheidung mangels Glaubhaftigkeit nicht zugrunde gelegt.
Der Beschwerdeführer hat seit ca. März 2018 eine Freundin. Ein gemeinsamer Wohnsitz besteht nicht. Seine Freundin hat ein Kind, welches aber nicht der Beziehung mit dem Beschwerdeführer entstammt. Weiters leben noch ein Bruder und eine Schwester des Beschwerdeführers, sowie ein Onkel und mehrere Verwandte in Österreich. Der Beschwerdeführer steht in Kontakt zu diesen Verwandten bzw. besucht diese gelegentlich. Der Beschwerdeführer konnte den Besuch von Deutschkursen nicht nachweisen. Der Beschwerdeführer bezog bis Juni 2018 Leistungen aus der Grundversorgung. Er betreibt seit April 2018 gemeinsam mit seinem Bruder einen Imbiss in Österreich. Der Beschwerdeführer hat auch Freunde. Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten. Der Beschwerdeführer ist gesund.
Ein Bruder des Beschwerdeführers stellte im Februar 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.11.2105, L502 2111717-1/6E, gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, §§ 57 und 55, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.
Zur Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:
1. Neueste Ereignisse-Integrierte Kurzinformationen
KI vom 14.3.2019, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage
Infolge schwerer politischer und demokratischer Rückschritte in den letzten Jahren empfahl das Europäische Parlament (EP) am 13.3.2019 in einer Resolution die offizielle Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (EP 13.3.2019a). Das EP begrüßte zwar den Beschluss vom 19. Juli 2018 zur Aufhebung des Ausnahmezustands, bedauerte jedoch, dass im Juli 2018 neue Rechtsvorschriften verabschiedet wurden, insbesondere das Gesetz Nr.7145, mit denen viele der dem Präsidenten und der Exekutive im Rahmen des Ausnahmezustandes verliehenen Machtbefugnisse beibehalten wurden, und Präsident und Exekutive praktisch weiter wie bisher mittels der entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten und grundlegender Menschenrechte handeln können. Laut EP hat der lang andauernde Ausnahmezustand zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte geführt. Darüber hinaus würden viele der während des Ausnahmezustands geltenden Befugnisse von der Polizei und den lokalen Verwaltungen nach wie vor angewendet. Das EP zeigte sich beunruhigt angesichts der gravierenden Rückschritte in den Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens-und Eigentumsrechte. Dazu zählen auch Verhaftungen legitimer oppositioneller Stimmen, darunter Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Oppositionelle, nebst der Tatsache, dass sich über 50.000 Personen zumeist ohne schlüssige Beweise weiterhin in Haft befinden. Von den 152.000 Staatsbediensteten, die aufgrund der Notstandsdekrete entlassen wurden, haben 125.000 Einspruch bei der Sonderkommission erhoben. 81.000 Beschwerden sind dort noch immer anhängig, wobei die positiven Bescheide im Sinne einer Wiedereinstellung nur sieben Prozent ausmachen. Das EP zeigte sich zutiefst besorgt wegen der von mehreren Menschenrechtsorganisationen und dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geäußerten Vorwürfe, dass Gefangene misshandelt und gefoltert würden. Das EP sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen. Das EP verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind. Besorgnis herrschte angesichts der mangelnden Achtung der Religionsfreiheit, der fortgesetzten Diskriminierung religiöser Minderheiten und der aus religiösen Gründen verübten Gewalttaten. Besorgniserregend seien auch die Lage im Südosten der Türkei und die schwerwiegenden Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, übermäßiger Gewaltanwendung, Folter und der massiven Beschneidung des Rechts auf Meinungsfreiheit und politische Teilhabe (EP 13.3.2019b) Das türkische Außenministerium verlautbarte, dass es der Resolution keinen Wert beimesse, da sie einseitig, voreingenommen und unfair sei. Es sei u.a. bedenklich, dass der extreme rechte und linke Flügel, die das Europäische Parlament zu dominieren begännen, die Resolution in einen ausgrenzenden, diskriminierenden und populistischen Text verwandelt hätten, der nicht der Realität entspräche(TFM13.3.2019).
Quellen:
EP -Europäisches Parlament (Presseraum) (13.3.2019a): Parlament will EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen, http://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20190307IPR30746/parlamentwill-eu-beitrittsverhandlungen-mit-der-turkei-aussetzen ,Zugriff 14.3.2019
EP - European Parliament (13.3.2019b): 2018 Report on Turkey -European Parliament resolution of 13March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML TA P8TA-2019-0200 0 DOC PDF V0//EN, Zugriff 14.3.2019
TFM -Turkish Foreign Ministry (13.3.2019): No: 52, 13 March 2019, Press Release Regarding the European Parliament's Resolution Regarding 2018 Report on Turkey, http://www.mfa.gov.tr/no_52_-avrupa-parlamentosu-2018-turkiye-raporu-hk.en.mfa , 14.3.2019
KI vom 28.1.2019, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) zur Menschenrechtslage und der Situation der Opposition
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat am 24.1.2019 eine Resolution [Nr.2260] zur weiterhin besorgniserregenden Lage der Demokratie, sowie zur Verschlechterung der Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verabschiedet. Mit Sorge sieht PACE die Aufhebung der Immunität von über 154 Parlamentariern, wovon die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) unverhältnismäßig stark betroffen ist; die Auswirkungen der, während des Ausnahmezustandes zwischen Juli 2016 und Juli 2018 erlassenen Notstandsdekrete auf die Meinungs-, Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit, die Medien und die lokale Demokratie; die Verfassungsreformen von 2017; die übereilte Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts-und Parlamentswahlen im Juni 2018 und die, diesen unmittelbar vorausgegangene, Wahlrechtsreform. Die Meinungsfreiheit steht laut PACE vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 und 301des Strafgesetzbuches. In diesem Zusammenhang bringt die Versammlung ihre Besorgnis über die Inhaftierung von oppositionellen Parlamentariern, einschließlich des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas, zum Ausdruck. Laut PACE diente die wiederholte Haftverlängerung für Demirtas, gerade während der entscheidenden Kampagnen zum Verfassungsreferendum und den Präsidentschaftswahlen, dem Zweck den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Enttäuschend und besorgniserregend ist hierbei die Behauptung von Staatspräsident Erdogan, wonach die Türkei trotz der Verpflichtung, Gerichtsurteile gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention umzusetzen, im Fall von Herrn Demirtas nicht an das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sei, das dessen sofortige Freilassung eingemahnt hat. PACE ist daher der Ansicht, dass diese Entwicklungen in Summe die Fähigkeit der Oppositionspolitiker, ihre Rechte auszuüben und ihre demokratischen Rollen innerhalb und außerhalb des Parlaments zu erfüllen, zunehmend verringern, behindern oder untergraben. Zudem sind gemäß PACE die Rechte von Oppositionspolitikern auf lokaler Ebene eingeschränkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kurdenfrage, nämlich infolge des Austauschs von über 90 gewählten Bürgermeistern der HDP oder ihrer Schwesterpartei durch von der Regierung ernannte Treuhänder, unter Verstoß gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Dies habe das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei, ernsthaft beeinträchtigt. Die Situation der Oppositionspolitiker hat sich in einem Kontext verschlechtert, der durch kontinuierliche restriktive Maßnahmen der Behörden gekennzeichnet ist, um insbesondere Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Wissenschaftler und andere abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (PACE 24.1.2018).
Quellen:
PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp ? fileid=25425&lang=en,Zugriff28.1.2019
2. Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats-und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA3.8.2018).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, I der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs-und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments-und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher
Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC17.4.2018).
Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).
Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018).
Quellen:
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3. Sicherheitslage
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs-und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).
Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in denProvinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, XXXX und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).
1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren(EC 17.4.2018).
Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medienfallen (AA10.10.2018a).
Quellen:
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3.1. Gülen-oder Hizmet-Bewegung
Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GMo.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus.
In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).
Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).
Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Muinieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Muinieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal galten (CoE-CommDH 7.10.2016).
Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).
Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC17.4.2018).
Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).
Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes "ByLock" (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution -z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung "Zaman" oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT13.4.2017; vgl. taz.gazete 9.2.2018).
Ende November 2017 gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden (TM 27.11.2017). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018).
Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war(TM 30.5.2018).
Laut Innenminister Süleyman Soylu wurden zwischen Juli 2016 und April 2018 77.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert. 2017 wurden 20.478 Personen verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 weitere 2.706 Personen (SCF 28.4.2018). Türkische Staatsanwälte haben laut Justizministerium [Stand Juni 2018] seit dem Putsch gegen 203.518 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Demnach wird derzeit 83.722 Anhängern der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht und 16.195 befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt 34.926 Anhänger der Gülen-Bewegung wurden verurteilt, davon 12.617 zu Gefängnisstrafen, während der Rest gegen Kaution frei kam. Insgesamt wurden 13.992 Angeklagte von den Gerichten freigesprochen (SCF 20.6.2018). Mitte Juli 2018 gab Ömer Faruk Aydiner, stellvertretender Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, bekannt, dass bisher gegen 445.000 Personen Untersuchungen wegen ihrer Verbindungen zur Gülen-Bewegung durchgeführt wurden (TP 2.9.2018).
Präsident Erdogan hatte Ende September 2018 angekündigt, der türkische Geheimdienst werde "Überseeoperationen" gegen Unterstützer Gülens starten. Laut offiziellen Angaben wurden seit dem gescheiterten Putschversuch 80 türkische Staatsbürger in 18 Ländern festgenommen. So wurde z. B. am 28.4.2018 in Aserbaidschan die Ehefrau eines Geschäftsmanns entführt und nach Istanbul verschleppt. Im März 2018 entführten türkische Geheimagenten sechs Männer aus dem Kosovo und brachten sie in einem Privatjet in die Türkei (Standard 3.10.2018, vgl. NYT 5.4.2018).
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* VB -Verbindungsbeamter (VB) des BM.I für die Türkei (26.9.2018): Auskunft des VB perMail
3.2. Terroristische Gruppierungen: PKK - Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Ab Mitte der 1970er Jahre bildete sich eine breitere Front oppositioneller Kurden, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollten: mehr Freiheit und am Ende einen unabhängigen Staat. Als Hauptakteur kristallisierte sich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) heraus, die 1978 von Abdullah Öcalan gegründet worden war. Neben dem Kampf gegen den türkischen Nationalismus war sie auch stark marxistisch-leninistisch beeinflusst und machte das kapitalistische und imperialistische System verantwortlich für die Situation der Kurden. Nach dem Militärputsch von 1980 rief Öcalan 1984 den bewaffneten Kampf aus. Über kurdische Provinzen wurde der Ausnahmezustand verhängt, die Armee brannte ganze Dörfer nieder, deren Bewohner unter dem Verdacht standen, mit der PKK zu sympathisieren. Das wiederum verschaffte der PKK Zulauf (PW 21.1.2015). Heute teilen mindestens 80% der Kurden im Südosten der Türkei grundlegende Forderungen der PKK: Sie wollen Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen (SWP
10.9.2015).
Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei bzw. Aufstandsbewegung PKK war ursprünglich u.a. gegen die regionale Rückständigkeit im Südosten der Türkei gerichtet (inkl. des fortbestehenden kurdischen Feudalsystems) und verwandelte sich erst in den späten 1980er Jahren in einen Kampf um kulturelle Rechte, regionale Unabhängigkeit bzw. de facto Sezession. Gegenwärtig ist offiziell eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei das Ziel. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 forderte der Konflikt über 40.000 militärische und zivile Opfer. Die PKK ist in der Türkei verboten und wird auch von USA und EU als terroristische Organisation eingestuft. Sie agiert v.a. im Südosten der Türkei, in den Grenzregionen zu Iran und Syrien, sowie im Nord-Irak, wo ihr Rückzugsgebiet liegt (Kandilgebirge) (ÖB 10.2017).
1993 gab es das erste Waffenstillstandsangebot der PKK. Deren Führung verwarf in einer Erklärung das Ziel eines unabhängigen Kurdistans und strebte stattdessen kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung innerhalb der Türkei an. Doch die türkische Regierung war zu keinen Kompromissen bereit und verstärkte ihre Militäroffensive. Im Februar 1999 wurde Abdullah Öcalan festgenommen, was die Führung und Organisation der PKK empfindlich schwächte. Aus dem Gefängnis heraus warb er für eine friedliche Lösung des Konfliktes(PW 21.1.2015).
2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess" (keine offiziellen Verhandlungen), das hieß Direktgespräche des türkischen Nachrichtendienstes MIT mit PKK-Chef Öcalan, wobei HDP-Politiker als Vermittler fungierten. Der Erfolg der HDP bei den Juni-Wahlen 2015 führte zu Kontroversen zwischen der PKK und der HDP betreffend der Frage, wem dieser Erfolg geschuldet sei(ÖB10.2017).
Der von der PKK gegenüber dem türkischen Staat angebotene Gewaltverzicht wurde im Sommer 2015 zurückgenommen. Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos. Die türkische Regierung tat dies ihrerseits nach deutlich intensivierten Kampfhandlungen der PKK am 28.7.2015. Mitte August 2015 rief die PKK in zahlreichen Provinzen mit überwiegend kurdischer Bevölkerung die "Selbstverwaltung" aus, da sie nicht mehr bereit sei, die Autorität des türkischen Staates in diesen Gebieten anzuerkennen (BMI-D6.2016).
Türkische Sicherheitskräfte erklärten, allein zwischen Ende Juli und September 2015 mehr als 1.000 PKK-Kämpfer getötet zu haben. Aktionen der PKK sollen im selben Zeitraum mindestens 113 Sicherheitskräfte das Leben gekostet haben(bpb10.4.2018).
Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den süd-ostanatolischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit hielten zwar an, erreichten jedoch nicht die Intensität des Jahres 2016. Eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und dem türkischen Staat erscheint gegenwärtig unwahrscheinlich (BMIBH 7.2018). Die Regierung lehnt jegliche Verhandlungen mit der PKK bis zu deren völligen Entwaffnung ab (BBC 4.11.2016). Staatspräsident Erdogan verkündete, dass der Kampf gegen die PKK bis zum Jüngsten Tag fortgesetzt würde (HDN 9.6.2016).
Quellen:
* BMI-D -Bundesministerium des Innern (Deutschland) (6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.verfassungsschutz.de/de/download-manager/_vsbericht-2015.pdf ,Zugriff 22.2.2018
* BMIBH -Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz (7.2018): Verfassungsschutzbericht 2017, https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2017.pdf ,Zugriff 22.8.2018
* bpb-Bundeszentrale für politische Bildung (10.4.2018): Militärisch unlösbar -Die jüngste Eskalation im Konflikt zwischen Kurden und dem türkischen Staat, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/257585/militaerisch-unloesbar , Zugriff22.8.2018
* BBC News (4.11.2016): Who are Kurdistan Workers' Party (PKK) rebels? http://www.bbc.com/news/world-europe-20971100 , Zugirff 22.2.2018
* HDN -Hürriyet Daily News (9.6.2016): Turkish PM says 'nothing to discuss' withPKK after attacks, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-pm-says-nothing-to-discuss-with-pkk-after-attacks-.aspx?pageID=238&nID=100295&NewsCatID=338 , Zugriff 22.2.2018
* PW -Planet Wissen (21.1.2015): PKK: Terroristen oder Freiheitskämpfer? http://www.planet-wissen.de/kultur/voelker/kurden_volk_ohne_staat/pwiepkkterroristenoderfreiheitskaempfer100.html ,22.2.2018
* ÖB -Österreichische Botschaft -Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
* SWP -Stiftung Wissenschaft und Politik. Seufer, Günter (10.09.2015): Band zwischen Türken und Kurden droht zu zerreißen, http://www.swp-berlin.org/de/publikationen/kurz-gesagt/das-band-zwischen-tuerkenund-kurden-droht-zu-zerreissen.html ,Zugriff 22.2.2018
3.3. Terroristische Gruppierungen: TAK -Teyrêbazên Azadiya Kurdistan - (Freiheitsfalken Kurdistans)
Die Einschätzungen hinsichtlich der Eigenständigkeit der TAK divergieren beträchtlich. Während außerhalb der Türkei die TAK mitunter als eigenständige Organisation angesehen wird oder zumindest deren Stellung als unklar gilt, betrachten die türkischen Behörden die TAK als Teil der PKK. So es der PKK opportun scheint, werden laut türkischer Polizei Anschläge unter dem Namen TAK verübt (TNP o.D.; TRAC 2018). Sicherheitskreise sagen, die TAK agiere auf eigene Faust, dennoch habe die PKK die Gruppierung nie verstoßen. Es fällt auf, dass die TAK sich mit Angriffen zurückhielt, als PKK-Anführer Abdullah Öcalan 2013 einen Waffenstillstand im Konflikt mit den türkischen Sicherheitskräften verkündete. Außerdem bekennt sich die TAK noch heute zu Öcalan. Sicherheitsexperten halten es für denkbar, PKK und TAK hätten eine Arbeitsteilung vereinbart: Die TAK verübt schwere Anschläge, die PKK bleibt im Hintergrund und kann sich weiter als politischer Ansprechpartner präsentieren. Als der von Öcalan ausgerufene Waffenstillstand 2015 zusammenbrach, wurde auch die TAK wieder aktiv (Tagesspiegel 13.12.2016).
Die TAK gilt als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl unbekannt ist. Laut Personen, die der PKK nahestehen, operiert die TAK in isolierten Zwei-bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AM 29.2.2016).
Im Zuge der Eskalation des Kurdenkonflikts seit Sommer 2015 kam es am 23.12.2015 zu einem Anschlag der TAK auf den Istanbuler Flughafen "Sabiha Gökcen", bei dem eine Person ums Leben kam (TS 26.12.2015). In einer Erklärung kündigte die TAK den Beginn einer neuen Kampfinitiative an. Bislang hätte man aus Verantwortung und Loyalität gegenüber Öcalan auf Aktionen verzichtet. Aufgrund des totalen Krieges des AKP-Regimes gegen das kurdische Volk werde die TAK den Krieg auf die ganze Türkei ausweiten. Hierbei betonte die TAK ihre Unabhängigkeit von der PKK und anderen Organisationen, die sie angesichts der Vorgangsweise des türkischen Staates als zu humanistisch betrachtet (ANF 31.12.2015,vgl. AM 4.1.2016).
Am 17.2.2016 bekannte sich die TAK zu dem Anschlag auf einen Militärkonvoi in Ankara in unmittelbarer Nähe zum Hauptquartier der türkischen Streitkräfte, bei dem 29 Personen starben, dem weitere Anschläge am 13.3.2016 in Ankara am zentralen Kizilay-Platz mit 38 Toten sowie am 7.6.2016 auf einen Polizeibus in Istanbul mit zwölf Opfern folgten (SD 29.6.2016). Bei zwei Bombenexplosionen vor dem Besiktas-Fußballstadion und im nahen Maçka-Park wurden am 10.12.2016 über 40 Menschen getötet, die meisten von ihnen Polizisten (HDN 12.12.2016, vgl. Anadolu 12.12.2016). Mit den Anschlägen hat die TAK nach eigenen Angaben auf die Gefangenschaft des PKK-Anführers Abdullah Öcalan und die türkischen Militäroperationen vor allem im Südosten des Landes aufmerksam machen wollen (TS 11.12.2016; vgl. Rudaw 11.12.2016).
Die TAK übernahm die Verantwortung für einen Anschlag am 5.1.2017 in Izmir, der auf ein Gerichtsgebäude abzielte. Ein Polizist und ein Mitarbeiter des Gerichtsgebäudes wurden bei einer Schießerei getötet. Die Terroristen wurden von Polizisten bei einem Schusswechsel nach der Detonation einer Autobombe am Eingang des Gerichtsgebäudes getötet (DS 11.1.2017). [Ansonsten gab es seit Ende 2016keine nennenswerten Anschläge.] Die TAK, welche seit 2006 auf der EU-Liste der terroristischen Organisationen verzeichnet ist, kündigte am 6.6.2017 an, ihren Kampf in der Türkei zu intensivieren. So erklärte die TAK, alle Metropolen und Tourismusgebiete in der Türkei zu potenziellen Anschlagsgebieten (BMIBH7.2018, vgl. TAK21.1.2018).
Quellen:
* Anadolu Agency (12.12.2016): Death toll in Istanbul terror attack rises to 44, http://aa.com.tr/en/todays-headlines/death-toll-in-istanbul-terror-attack-rises-to44/703825 , Zugriff 22.8.2018
* AM - Al Monitor (29.2.2016): Who is TAK and why did it attack Ankara? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/02/turkey-outlawed-tak-will-notdeviate-line-of-ocalan.html Zugriff 22.8.2018 [Dzt. auf der Website nicht mehr abrufbar, jedoch im Quellenordner des LIB einsehbar]
* AM - Al Monitor (4.1.2016): Is Turkey heading to partition? http://www.almonitor.com/pulse/originals/2016/01/turkey-clashes-pkk-losing-kurdish-minds-andhearts.html , Zugriff 22.8.2018 [Dzt. auf der Website nicht mehr abrufbar, jedoch im Quellenordner des LIB einsehbar]
* ANF (Ajansa Nûçeyan a Firatê) News (31.12.2015): TAK: We aren't dependent on PKK, our actions will spread, http://anfenglish.com/kurdistan/tak-we-aren-tdependent-on-pkk-our-actions-will-spread ,Zugriff22.8.2018
* BMIBH -Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz (7.2018): Verfassungsschutzbericht 2017, https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2017.pdf ,Zugriff 22.8.2018
* DS - Daily Sabah (11.1.2017): PKK's suicide team TAK claims responsibility for the Izmir terror attack, https://www.dailysabah.com/war-on-terror/2017/01/11/pkks-suicide-team-tak-claims-responsibility-for-the-izmir-terror-attack ,Zugriff 22.8.2018
* HDN - Hürriyet Daily News (12.12.2016): Death toll rises to 44 in twin bombings in Istanbul, http://www.hurriyetdailynews.com/death-toll-rises-to-41-in-twin-bombings-inistanbul.aspx?pageID=238&nID=107176&NewsCatID=341 ,Zugriff 22.8.2018
* Rudaw (11.12.2016): TAK claims responsibility for Istanbul bombings, http://rudaw.net/english/middleeast/turkey/111220163 ,Zugriff22.8.2018
* SD - Süddeutsche Zeitung (29.6.2016): Chronologie des Terrors in der Türkei, http:// www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-der-terror-begann-in-suru-1.3316595 , Zugriff 22.8.2018
* TA - Tagesanzeiger (26.12.2015): Militante Kurden bekennen sich zu Explosion in Istanbul, https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/Militante-Kurden-bekennensich-zu-Explosion-in-Istanbul/story/18010565 , Zugriff22.8.2018
* TAK -TeyrêBazên Azadîya Kurdistan (21.1.2018): To The Press And The Public Opinion, http://www.teyrenbaz.net/EN_Bildiri.html ,Zugriff 22.8.2018
* Der Tagesspiegel (13.12.2016): Terror für Öcalan, https://www.pressreader.com/germany/der-tagesspiegel/20161213/281573765330887 ,Zugriff22.8.2018
* TNP - Turkish National Police (o.D.): PKK, Structure of the Terrorist Organization, https://www.egm.gov.tr/EN/Pages/pkk_structure_of_the_terrorist_organization.aspx , Zugriff22.8.2018
* TRAC -Terrorism Research & Analysis Consortium (2018): Kurdistan Freedom Hawks (TAK), https://www.trackingterrorism.org/group/kurdistan-freedom-hawks-tak , Zugriff22.8.2018
* TS - tagesschau.de (11.12.2016): Bekennerschreiben von PKK-Splittergruppe, http://www.tagesschau.de/ausland/istanbul-anschlag-139.html ,Zugriff 22.8.2018
3.4. Terroristische Gruppierungen: MLKP - Marksist Leninist Komünist Parti (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei)
Die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) ist 1994 im Wesentlichen durch die Vereinigung der TKPML-Hareketi und der "Türkischen Kommunistischen Arbeiterbewegung" (TKIH) in der Türkei gegründet worden. Ideologisch bekennt sie sich zum revolutionären Marxismus-Leninismus und strebt unter der Errichtung der "Diktatur des Proletariats" die Zerschlagung des türkischen Staatsgefüges und die Errichtung einer sozialistischen (kommunistischen) Gesellschaftsordnung in der Türkei an. Die MLKP sieht nach eigener Aussage: "Aktionen von revolutionärer Gruppen-und Massengewalt gegen die konterrevolutionäre Gewalt [als] gerechtfertigte und wirkungsvolle Mittel des politischen Kampfes"(BMIBH 7.2018, vgl. MLKP o.D.).
In jüngster Zeit lagen keine Meldungen über bewaffnete Aktionen der MLKP in der Türkei vor. Die MLKP schickt angeblich seit 2012 Freiwillige nach Syrien, um in den kurdisch dominierten Volksschutzeinheiten (YPG) zu kämpfen. MLKP-Kämpfer haben sich auch den Formationen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) angeschlossen, die im Nordirak zur Verteidigung der jesidischen Minderheit von Sinjar [Shingal] kämpften. Mitglieder der MLKP haben sich auf Seiten der kurdischen YPG an den Kämpfen gegen den sog. Islamischen Staat in Syrien beteiligt (revolvy o.D., vgl. ANF 26.6.2016).
Fallweise kommt es zu Verhaftungen von regierungskritischen Journalisten, denen eine Mitgliedschaft oder Unterstützung der MLKP vorgeworfen wird. So wurde im April 2018 der deutsch-türkische Journalist Adil Demirci wegen Mitgliedschaft in der MLKP verhaftet, begründet mit der Teilnahme Demircis an den Beerdigungen von drei Mitgliedern der MLKP in den Jahren 2013, 2014 und 2015. Die MLKP-Mitglieder waren Soldaten, die aufseiten der kurdischen Miliz YPG in Syrien gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft hatten (FR 20.4.2018). Dem 2017 verhafteten und mittlerweile freigekommenen deutsch-türkischen Journalisten, Deniz Yücel, wurde ebenfalls die Mitgliedschaft in der MLKP vorgeworfen (Der Westen 27.6.2018) ebenso wie der deutsch-türkischen Journalisten, Mesale Tolu, die 2017 zunächst festgenommen, und über die infolge ein Ausreiseverbot verhängt wurde, das im August 2018 aufgehoben wurde (SCF 20.8.2018).
Quellen:
* ANF News (26.6.2016): MLKP fighter Raperin Dicle falls during Manbij operation, https://anfenglish.com/kurdistan/mlkp-fighter-raperin-dicle-falls-during-manbij-operation ,Zugriff 22.8.2018
* BMIBH -Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz (7.2018): Verfassungsschutzbericht 2017, https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2017.pdf ,Zugriff 22.8.2018
* Der Westen (27.6.2018): Deutsche Sängerin in Türkei in Untersuchungshaft genommen, https://www.derwesten.de/politik/deutsche-saengerin-in-tuerkei-inuntersuchungshaft-genommen-id214700085.html ,Zugriff 22.8.2018)
* FR - Frankfurter Rundschau (20.4.2018): "Das ist unerträglich", http://www.fr.de/politik/u-haft-in-der-tuerkei-das-ist-unertraeglich-a-1490872 , Zugriff 22.8.2018
* MLKP - Marxistisch Leninistische Kommunistische Partei (o.D.): über uns http://mlkp.info/index.php?kategori=1037&Wer_wir_sind ,Zugriff22.8.2018
* revolvy (o.D.): Marxist-Leninist Communist Party (Turkey), https://www.revolvy.com/page/Marxist –Leninist-Communist-Party(Turkey),Zugriff 22.8.2018
* SCF - Stockholm Center for Freedom (20.8.2018): Turkish court lifts travel ban for Turkish-German journalist Mesale Tolu, https://stockholmcf.org/turkish-court-liftstravel-ban-for-german-journalist-mesale-tolu/ , Zugriff 22.8.2018
3.5. Terroristische Gruppierungen: DHKP-C -Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (RevolutionäreVolksbefreiungspartei-Front)
Die marxistisch-leninistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) spricht sich für eine revolutionäre Zerschlagung der bestehenden Staats-und Gesellschaftsordnung in der Türkei aus. Als Hauptfeinde betrachtet die DHKP-C die als "faschistisch" und "oligarchisch" bezeichnete Türkei und den "US-Imperialismus", der die Türkei in politischer, wirtschaftlicher und vor allem militärischer Hinsicht dominiere. Ihr Ziel, die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in der Türkei, ist laut Parteiprogramm der DHKP-C nicht durch Wahlen zu erreichen, sondern ausschließlich durch den "bewaffneten Volkskampf" unter der Führung der DHKP-C beziehungsweise ihres militärischen Arms, der "Revolutionären Volksbefreiungsfront" (DHKC). Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIBH7.2018).
Die DHKP-C hat ihre terroristischen Aktivitäten in der Türkei im Jahr 2017 zwar fortgesetzt, jedoch ging das Ausmaß im Vergleich zum Vorjahr erneut zurück. Die seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 weiterhin verschärfte Sicherheitslage in der Türkei und die damit verbundenen umfangreichen staatlichen Maßnahmen hatten unmittelbare Auswirkungen auf die DHKP-C, etwa durch die Festnahme von Mitgliedern (BMIBH 7.2018). So wurden im Jänner 2018 sieben mutmaßliche Mitglieder der DHKP-C in Istanbul verhaftet (Anadolu 9.1.2018). Zudem wurde Anfang 2017 bekannt, dass Mitglieder der DHKP-C bei einem Luftangriff des türkischen Militärs getötet wurden (BMIBH 7.2018).
Quellen:
* Anadolu (9.1.2018): Turkish police arrest 7 far-left terror suspects, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkish-police-arrest-7-far-left-terror-suspects/ 1025925, Zugriff21.8.2018
* BMIBH -Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz (7.2018): Verfassungsschutzbericht 2017, https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2017.pdf ,Zugriff 21.8.2018
4. Rechtsschutz/Justizwesen
Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar-und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK, bis 2017 "Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte", HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Im Februar 2014 wurden im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdogan Änderungen im Gesetz zur Reform des HSK vorgenommen. Sie führten zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenzen an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Rates ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers ist der Einfluss der Exekutive im HSK deutlich gestiegen. Seitdem kam es zu Hunderten von Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten. Im ersten Halbjahr 2015 wurde auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet. Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK zur Hälfte von Staatspräsident und Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen einer Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde von 22 auf 13 reduziert (AA 3.8.2018).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: Der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf-und Zivilgerichte), und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs-und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf-und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danistay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyusmazlik Mahkemesi). Die Staatssicherheitsgerichte (Devlet Güvenlik Mahkemeleri-DGM) wurden im Zuge der Reformen für die EU-Beitrittsverhandlungen 2004 abgeschafft und die laufenden Fälle an die Großen Strafkammern(Agir CezaMahkemeleri) abgegeben (ÖB10.2017).
Es gab einen schweren Rückschritt hinsichtlich der Funktionsfähigkeit des Justizwesens. Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz wurde ernsthaft untergraben, unter anderem durch die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der türkischen Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch 2016. Diese Entlassungen hatten eine abschreckende Wirkung auf die gesamte Justiz und bergen die Gefahr einer weitreichenden Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten in sich (EC17.4.2018, vgl. AI 22.2.2018).
Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, welche die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Im Gegenteil, Verfassungsänderungen in Bezug auf den Rat der Richter und Staatsanwälte haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Bedenken hinsichtlich des Fehlens objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und im Voraus festgelegter Kriterien für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten Rechnung zu tragen (EC 17.4.2018).
Obwohl Richter immer noch gelegentlich gegen die Interessen der Regierung entscheiden, hat die Ernennung Tausender neuer, der Regierung gegenüber loyaler Richter, die bei einem Urteil gegen die Exekutive in bedeutenden Gerichtsfällen mit potenziellen beruflichen Konsequenzen zu rechnen haben, die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei stark geschwächt. Gleiches gilt für die Auswirkungen der laufenden Säuberung insgesamt. Diese Entwicklung setzte zwar schon weit vor dem Putschversuch im Juli 2016 ein, verstärkte sich aber bis Ende 2017 angesichts der Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten. In hochkarätigen Fällen werden Richter und Gerichtsverfahren transferiert, so dass das Gericht der Position der Regierung wohlgesonnen ist. Eine langfristige Erosion der Garantie für ordnungsgemäße Verfahren hat sich im Ausnahmezustand beschleunigt. Antiterroranschuldigungen, die seit dem Putschversuch erhoben werden, beruhen oft auf sehr schwachen Indizienbeweisen, geheimen Zeugenaussagen oder einer sich ständig erweiternden Schuldvermutung durch die Festlegung neuer Verbindungspunkte. In vielen Fällen wurden Rechtsanwälte, die die Angeklagten wegen Terrorismusdelikten verteidigen, selbst verhaftet. Längere Untersuchungshaft ist zur Routine geworden(FH1.2018).
Insgesamt wurden seit dem Putschversuch über 4.000 Richter und Staatsanwälte aus ihren Ämtern entlassen, von denen 454 später vom HSK wieder in ihre Ämter eingesetzt wurden. Gegenwärtig gibt es über 4.000 Richter und Staatsanwälte, gegen die rechtliche Schritte eingeleitet wurden (Entlassung oder Suspendierung). Richter und Staatsanwälte, die sich in Untersuchungshaft befanden, blieben im Durchschnitt mehr als ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert(EC17.4.2018).
Die Vereinigung der Richter und Staatsanwälte (YARSAV), eine unabhängige Vereinigung der Mitglieder der Justiz in der Türkei, wurde nach dem Putschversuch aufgelöst und ihr Vorsitzender, Murat Arslan, sowie andere Mitglieder inhaftiert (PACE 15.12.2016, vgl. AM 9.11.2016). YARSAV gehörte zu den ersten, die auf internationaler Ebene über die Bedrohungen der Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei sprachen, und alsbald als einzige türkische Organisation der Internationalen Richtervereinigung sowie den "Europäischen Richtern für Demokratie und Freiheitsrechte" (MEDEL) beitrat. Obwohl YARSAV sich einst vehement gegen die Aufnahme von Gülen-Mitgliedern in die Justiz ausgesprochen hatte, wurde die Schließung von YARSAV mit der Nähe zur Gülen-Bewegung begründet (AM 9.11.2016).
Das Verfassungsgericht prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen(AA3.8.2018).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der PKK oder ihrem zivilen Arm KCK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten (AA 3.8.2018).
Die maximale Untersuchungshaftdauer beträgt bei herkömmlichen Delikten je nach Schwere bis zu drei Jahre. Bei terroristischen Straftaten beträgt die maximale Untersuchungshaftdauer sieben Jahre(ÖB10.2017).
Während des Ausnahmezustandes hat der Ministerrat mehr als 30 Dekrete erlassen, die nach der Verfassung "rechtskräftig" sind. Diese Notverordnungen betrafen die Einschränkung bestimmter bürgerlicher und politischer Rechte, der Ausweitung der Polizeibefugnisse und der Befugnisse der Staatsanwälte für Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen, die massiven Entlassungen von Beamten und die Schließung von Körperschaften sowie die Liquidation ihres Vermögens durch den Staat. Sie betreffen zudem Schlüsselrechte im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention, wie das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbeistand und das Recht auf Schutz des Eigentums. Sie enthalten Änderungen für andere wichtige Rechtsmaterien, die auch nach dem Ausnahmezustand Wirkung zeigen werden, insbesondere in Bezug auf Eigentumsrechte, lokale Behörden, öffentliche Verwaltung und Telekommunikation. Die Dekrete werfen ernsthafte Fragen die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen betreffend auf. Sie wurden vom Parlament nicht sorgfältig und wirksam geprüft und zudem verspätet verabschiedet. Folglich standen die Dekrete lange Zeit nicht der gerichtlichen Überprüfung offen, da die Verabschiedung durch das Parlament ein notwendiger Schritt vor jeder rechtlichen Anfechtung vor dem Verfassungsgericht ist. Keines der Dekrete war bisher Gegenstand einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes (EC 17.4.2018).
Ein am 9.12.2016 von den Verfassungsrechtsexperten des Europarates - der Venedig-Kommission - verabschiedetes Gutachten kommt zum Schluss, dass die türkischen Behörden zwar "mit einer gefährlichen bewaffneten Verschwörung" konfrontiert waren und "gute Gründe" hatten, den Ausnahmezustand auszurufen, doch dass die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen über das hinausgingen, was gemäß der türkischen Verfassung und dem Völkerrecht zulässig ist. Obwohl die Bestimmungen der türkischen Verfassung zur Ausrufung des Ausnahmezustands in Einklang mit den europäischen Normen zu stehen scheinen, übte die Regierung ihre Notstandsbefugnisse mithilfe einer Anlassgesetzgebung aus. Etwa die Massenentlassungen zehntausender Beamter auf der Grundlage von den Notdekreten beigefügten Listen, erwecken stark den Anschein von Willkür. Der Begriff der Verbindung (zur Gülen-Bewegung) ist zu vage definiert, und selbst wenn Mitglieder des Gülen-Netzwerks an dem gescheiterten Staatsstreich beteiligt waren, sollte dieser Umstand nicht dazu verwendet werden, gegen alle Personen vorzugehen, die in der Vergangenheit mit dem Netz irgendwie in Kontakt standen (CoE-VC 9.12.2016).
Die Verfassung sieht das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, obwohl Anwaltsverbände und Rechtsvereinigungen geltend machten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und Maßnahmen der Regierung durch Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährdet hätten. Richter können den Zugang von Rechtsanwälten zu den Akten der Angeklagten während der Strafverfolgungsphase einschränken. Zwar haben Angeklagte das Recht, bei der Verhandlung anwesend zu sein und rechtzeitig einen Anwalt hinzuzuziehen, doch stellten Beobachter fest, dass die Gerichte es insbesondere in hochkarätigen Fällen verabsäumen, den Angeklagten diese Rechte auch einzuräumen (USDOS 20.4.2018).
Die Regierung setzte auch ihre groß angelegte Entlassung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst fort. Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden insgesamt 115.158 Beamte, Richter und Staatsanwälte entlassen. Das breite Spektrum und der kollektive Charakter dieser Maßnahmen wirft ernsthafte Fragen im Hinblick auf die mangelnde Transparenz der Verwaltungsverfahren, die zur Entlassung aus dem öffentlichen Dienst führen, und die Unklarheit der Kriterien für die Bestimmung angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung und die persönliche Beteiligung am Putschversuch auf. Von den Entlassungen waren vor allem das Innen-und Bildungsministerium betroffen. Tausende von Polizeibeamten, Lehrern, Akademikern, Gesundheitspersonal und Angehörigen der Justiz Gehören zu denen, die aus dem Amt entfernt wurden (EC17.4.2018).
Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen, die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereinen und Firmen entgegenzunehmen (HDN 8.8.2017). Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund 70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden (bianet 7.8.2017, vgl. EC 17.4.2018). Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden (HDN 8.8.2017). Bis zur Einsetzung der Kommission wurden 3.604 Personen per Dekret wieder ins Amt eingesetzt, während weitere 36.000 Wiedereinsetzungen nach einem unklaren und undurchsichtigen Verwaltungsverfahren in verschiedenen Institutionen erfolgten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auch etwa 28.000 bei ihm eingegangene Beschwerden an die Berufungskommission weitergeleitet. Infolgedessen hat die Beschwerdekommission bis Anfang März 2018 insgesamt rund 107.000 Beschwerdeanträge erhalten. Die Urteilsverkündungen begannen im Dezember 2017. Bis Anfang März 2018 wurden insgesamt 6.400 Fälle untersucht, darunter 1.984 vorläufige Prüfungsentscheidungen zu Personen, die per Dekret wieder eingegliedert wurden. Die Beschwerdekommission hat über 4.400 Prüfungsentscheidungen getroffen. Von diesen waren 100 positiv und 4.316 wurden abgelehnt. Es bedarf laut Europäischer Kommission einer größeren Transparenz der Arbeit der Beschwerdekommission und einer klaren Begründung für ihre Entscheidungen auf der Basis einer individuellen Prüfung jeder Akte nach ihren eigenen Gesichtspunkten (EC 17.4.2018).
Am 24.12.2017 wurde das Notstandsdekret Nr. 696 veröffentlicht, welches u. a. die Straffreiheit von Zivilisten regelt, die während der Putschnacht vom 15. auf den 16.7.2016 Putschisten gewaltsam daran gehindert haben, die Regierung zu stürzen. Hierbei wurde Artikel 121 des Notstandsgesetz vom 11.9.2016 um den Zusatz "Zivilisten" ergänzt, die keinen Beamtenstatus besitzen. Das ältere Notstandsgesetz besagte, dass gegen Beamte die beim Putschversuch und in diesem Zusammenhang in nachfolgenden Terroraufständen Widerstand geleistet haben, juristisch nicht belangt werden können (Turkishpress 25.12.2017). Kritiker befürchten, dass dies in Zukunft einen Freifahrtschein für ungezügelte Gewalt und Misshandlungen gegen Oppositionelle bedeute und den Aktionen paramilitärischer Einheiten Vorschub leiste (FNS 31.12.2017; vgl. OHCHR 3.2018). Der türkische Justizminister bekräftigte, dass das Notstandsdekret keine Blanko-Amnestie sei und sich ausschließlich auf die Umstände während der Putschnacht und der Periode unmittelbar danach bezöge (Turkishpress 25.12.2017, vgl. FNS 31.12.2017).
288 Prozesse wurden landesweit wegen des Putschversuches durchgeführt, bei denen die Gerichte 180 Urteile gefällt haben. 636 Verdächtige erhielten eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe, während 888 zu lebenslangen und 653 zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und zwei Monaten bis zu 20 Jahren verurteilt wurden. In den Prozessen wegen des Putschversuches wurden 1.552 Verdächtige freigesprochen, und in 595 Fällen wurde eine sog. Nichtverfolgungsentscheidung getroffen (SCF 20.6.2018, HDN 7.6.2018). So verhängte ein Gericht in Izmir gegen 104 der 280 Angeklagten wegen "versuchten Umsturzes der Verfassungsordnung" sogenannte "verschärfte" lebenslange Haftstrafen. 21 weitere Angeklagte wurden zu zwanzigjährigen Haftstrafen wegen der versuchten Ermordung von Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan verurteilt. 31 Angeklagte müssen wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" für zehneinhalb Jahre in Haft. Alle Angeklagten seien frühere Angehörige des Militärs gewesen, darunter mehrere Generäle und ranghohe Offiziere (ZO21.5.2018).
Per Dekret wurde Staatspräsident Erdogan im August 2017 ermächtigt, ausländische Gefangene ohne Einschaltung der Justiz in deren Heimatländer abzuschieben oder gegen türkische Staatsbürger auszutauschen (HB 28.8.2017). Dies geschieht auf Antrag des Außenministers. Somit kann die Türkei festgehaltene Ausländer in diplomatischen Verhandlungen nützen (AM 30.8.2017).
Quellen:
* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
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* AM - Al Monitor (30.8.2017): Erdogan hastens executive presidency with new decree, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/08/turkey-emergency-decreeredesigns-vital-intstitutions.html , Zugriff 18.9.2018
* Bianet - BIA News Desk (7.8.2017): Constitutional Court Rejects 70,771 Applications Regarding State of Emergency, http://bianet.org/english/law/188906-constitutionalcourt-rejects-70-771-applications-regarding-state-of-emergency , Zugriff 18.9.2018
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* HDN -Hürriyet Daily News (7.6.2018): Over2,000 suspects given jail terms inTurkey coup trials: Ankara, http://www.hurriyetdailynews.com/over-2-000-suspects-given-jailterms-in-turkey-coup-trials-ankara-132964 ,21.9.2018
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5. Sicherheitsbehörden
Die Polizei übt ihre Tätigkeit in den Städten aus. Die Jandarma ist für die ländlichen Gebiete und Stadtrandgebiete zuständig und untersteht dem Innenminister. Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz. Der Einfluss der Polizei wird seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung sukzessive von der AKP zurückgedrängt (massenhafte Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst und Strafverfahren). Die politische Bedeutung des Militärs ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Auch das traditionelle Selbstverständnis der türkischen Armee als Hüterin der von Staatsgründer Kemal Atatürk begründeten Traditionen und Grundsätze, besonders des Laizismus und der Einheit der Nation (v. a. gegen kurdischen Separatismus), ist in Frage gestellt (AA 3.8.2018).
Am 9.7.2018 erließ Staatspräsident Erdogan ein Dekret, das die Kompetenzen der Armee neu ordnet. Der türkische Generalstab wurde dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der Oberste Militärrat wurde aufgelöst. Erdogan hat auch den Nationalen Sicherheitsrat und das Sekretariat für nationale Sicherheit der Türkei abgeschafft. Ihre Aufgaben werden vom Komitee für Sicherheit und Außenpolitik (Boardof Security and Foreign Policy) übernommen, einem von neun beratenden Gremien, die dem Staatspräsidenten unterstehen. Ebenfalls per Dekret wird der Verteidigungsminister nun zum wichtigsten Entscheidungsträger für die Sicherheit. Landstreitkräfte, Marine-und Luftwaffenkommandos wurden dem Verteidigungsminister unterstellt. Der Präsident kann bei Bedarf direkt mit den Kommandeuren der Streitkräfte verhandeln und Befehle erteilen, die ohne weitere Genehmigung durch ein anderes Büro umgesetzt werden sollen. Hiermit soll die Schwäche der Sicherheitskommando-Kontrolle während des Putschversuchs in Zukunft vermieden werden (AM 17.7.2018).
Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MIT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MIT-Agenten besitzen von nun an eine größere Immunität gegenüber dem Gesetz. Es sieht Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren für Personen vor, die Geheiminformation veröffentlichen (z.B. Journalist Can Dündar). Auch Personen, die dem MIT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Entscheidung, ob gegen den MIT-Vorsitzenden ermittelt werden darf, bedarf mit der Novelle April 2014 der Zustimmung des Staatspräsidenten. Seit September 2017 untersteht der türkische Nachrichtendienst MIT direkt dem Staatspräsidenten und nicht mehr dem Amt des Premierministers (ÖB 10.2017).
Das türkische Parlament verabschiedete am 27.3.2015 eine Änderung des Sicherheitsgesetzes, das terroristische Aktivitäten unterbinden soll. Dadurch wurden der Polizei weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv-und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen. Zudem werden die von der Regierung ernannten Provinzgouverneure ermächtigt, den Ausnahmezustand zu verhängen und der Polizei Instruktionen zu erteilen (NZZ 27.3.2015, vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Chefs der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Vor dem Putschversuch im Juli 2016 hatte die Türkei 271.564 Polizisten und 166.002 Gendarmerie-Offiziere (einschließlich Wehrpflichtige). Nach dem Putschversuch wurden mehr als 18.000 Polizei-und Gendarmerieoffiziere suspendiert und mehr als 11.500 entlassen, während mehr als 9.000 inhaftiert blieben (EC 9.11.2016). Anfang Jänner 2017 wurden weitere 2.687 Polizisten entlassen (Independent 7.1.2017). Die Regierung ordnete am 8.7.2018 im letzten Notstandsdekret vor der Aufhebung des Ausnahmezustandes die Entlassung von 18.632 Staatsangestellten an, darunter fast 9.000 Polizisten wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Terrororganisationen und Gruppen, die "gegen die nationale Sicherheit vorgehen", 3.077 Armeesoldaten, 1.949 Angehörige der Luftwaffe und 1.126 Angehörige der Seestreitkräfte (HDN 8.7.2018).
Quellen:
* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* AM - Al Monitor (17.7.2018): Erdogan makes major security changes as he starts new term, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/07/turkey--revampingnational-security-apparatus.html , Zugriff 18.9.2018
* Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package ,Zugriff 18.9.2018
* EC - European Commission (9.11.2016): Turkey 2016 Report [SWD (2016)366 final], http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf ,Zugriff18.9.2018
* FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehrbefugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html ,Zugriff18.9.2018
* HDN - Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkishmain-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx ? pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338,Zugriff 18.9.2018
* HDN -Hürriyet Daily News (8.7.2018): Over 18,500 Turkish public workers dismissed with new emergency state decree, http://www.hurriyetdailynews.com/over-18-500turkish-public-workers-dismissed-with-new-emergency-state-decree-134290 , Zugriff 18.9.2018
* Independent (7.1.2017): Turkey dismisses 6,000 police, civil servants and academics under emergency measures following coup, http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/turkey-sacks-workersemergency-measures-police-civil-servants-academics-a7514021.html ,18.9.2018
* NZZ - Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-dieschraube-an-1.18511712 , Zugriff 18.9.2018
* ÖB -Österreichische Botschaft -Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
6. Folter und unmenschliche Behandlung
Die Türkei ist Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2010 ratifiziert. Menschenrechtsinstitutionen in der Türkei geben an, dass Fälle von Folterungen in Ermittlungsverfahren wieder häufiger geworden sind. Folter bleibt in vielen Fällen straflos - wenngleich es ebenso Fälle gibt, in welchen Anklage erhoben wird und Verurteilungen erfolgen (ÖB10/2017).
Die deutliche Zunahme von Folter und anderen Formen der Misshandlung in amtlichen Haftanstalten während des Ausnahmezustands infolge des gescheiterten Militärputsches und während des Konflikts in Südost-und Ostanatolien nach Juli 2015, setzte sich auch 2017 fort, wenn auch in deutlich geringerem Maße als in den Wochen nach dem Putschversuch im Juli 2016 (IHD 6.4.2018, vgl. AI 22.2.2018, HRW 18.1.2018). Die gleiche Tendenz zeigt sich bei den Vorwürfen zu Folter und anderer Misshandlungen von Häftlingen und Festgenommenen auf der Basis des Ausnahmezustandes. Bei Demonstrationen wurde von Sicherheitskräften Gewalt die gegen Personen angewendet wurden, die ihr Demonstrations-und Versammlungsrecht ausübten, die das Ausmaß von Folter und anderer Misshandlung erreichte. Nach Angaben des Menschenrechtsverbandes (IHD) sind 2017 insgesamt 2.682 Menschen FolterundMisshandlung ausgesetztgewesen (IHD 6.4.2018).
Folter und Misshandlungen betreffen insbesondere Personen, die unter dem Anti-Terror-Gesetz festgehalten werden. Es gibt weit verbreitete Berichte, dass die Polizei Häftlinge geschlagen, misshandelt und mit Vergewaltigung bedroht, Drohungen gegen Anwälte ausgestoßen und sich bei medizinischen Untersuchungen eingemischt hat (HRW 18.1.2018). Es gibt keine funktionierende nationale Stelle zur Verhütung von Folter und Misshandlung, die ein Mandat zur Überprüfung von Hafteinrichtungen hat. Ebenso wenig sind Statistiken zur Untersuchung von Foltervorwürfen verfügbar. (AI 22.2.2018). Es gibt Berichte über nicht identifizierte Täter, die angeblich im Auftrag staatlicher Institutionen mindestens sechs Männer entführt und an geheimen Orten festgehalten haben sollen (HRW 18.1.2018).
Es gibt Vorwürfe von Folter und anderen Misshandlungen im Polizeigewahrsam seit Ende seines offiziellen Besuchs im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu zwingen andere zu belasten (Zu den Missbrauchsfällen gehören schwere Schläge, Elektroschocks, Übergießen mit eisigem Wasser, Schlafentzug, Drohungen, Beleidigungen und sexuelle Übergriffe (OHCHR 27.2.2018, vgl. OHCHR 3.2018). Die Regierungsstellen haben offenbar keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter, Berichten zufolge von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018). Der UN-Sonderberichterstatter vermutet, dass sich angesichts der Massenentlassungen innerhalb der Behörden Angst breit gemacht hat, sich gegen die Regierung zu stellen. Staatsanwälte untersuchen Foltervorwürfe nicht, um nicht selbst in Verdacht zugeraten(SRF1.3.2018).
Viele Häftlinge haben bei späteren Gerichtsauftritten erzwungene Geständnisse zurückgezogen. Zu den Tätern gehörten auch Mitglieder der Polizei, der Gendarmerie, der Militärpolizei und der Sicherheitskräfte. Tausende von unzensierten Bildern von Folterungen mutmaßlicher Putschverdächtiger unter erniedrigenden Umständen wurden nach dem Putsch vom Juli 2016 in den türkischen Medien und sozialen Netzwerken verbreitet, ebenso wie Aussagen, die zu Gewalt gegen Regierungsgegner anstachelten. OHCHR erhielt Berichte über Personen, die von Anti-Terror-Polizeieinheiten und Sicherheitskräften in improvisierten Haftanstalten wie Sportzentren und Krankenhäusern ohne Anklage festgehalten und misshandelt wurden (OHCHR 3.2018).
Quellen:
* AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 -The State of the World's Human Rights -Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425117.html ,Zugriff24.8.2018
* HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World report 2018 -Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1422518.html ,Zugriff24.8.2018
* IHD -Insan Haklari Dernegi (6.4.2018): 2017 BALANCE -SHEET OF HUMAN RIGHTS VIOLATIONS IN TURKEY -The year that Passed under State of Emergency, http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_report-2.pdf , Zugriff18.9.2018
* ÖB -Österreichische Botschaft -Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January -December 2017, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf ,Zugriff 24.8.2018
* OHCHR - Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (27.2.2018): Turkey: UN expert says deeply concerned by rise in torture allegations, http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=Berichten 22718&LangID=E,Zugriff 18.9.2018
* SRF - Schweizer Radio und Fernsehen (1.3.2018): Foltervorwürfe an Türkei Schläge, Elektroschocks, Eiswasser, sexuelle Übergriffe, https://www.srf.ch/news/international/foltervorwuerfe-an-tuerkei-schlaegeelektroschocks-eiswasser-sexuelle-uebergriffe ,Zugriff18.9.2018
7. Korruption
Korruption ist im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet. Öffentliche Aufträge und Bauprojekte sind besonders anfällig für Korruption, und es werden häufig Bestechungsgelder verlangt. Das türkische Strafgesetzbuch kriminalisiert verschiedene Formen korrupter Aktivitäten, darunter aktive und passive Bestechung, Korruptionsversuche, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch. Aber Anti-Korruptionsgesetze werden uneinheitlich durchgesetzt und die Anti-Korruptionsbehörden arbeiten ineffizient. Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen, und Unternehmen können mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen. Es besteht ein hohes Korruptionsrisiko im Umgang mit der türkischen Justiz. Bestechungsgelder und Zahlungen als Gegenleistung für günstige Gerichtsurteile werden von den Unternehmen als recht häufig bezeichnet. Etwa ein Drittel der Türken und Türkinnen empfinden Richter und Gerichtsvollzieher als korrupt. Politische Einmischung, langsame Verfahren und ein überlastetes Gerichtssystem stellen ein hohes Risiko für Korruption in der türkischen Justiz dar. Korruption in der türkischen Polizei ist ein mittelgradiges Risiko. Unternehmen geben an, dass sie die Polizei als nicht ausreichend zuverlässig empfinden (BACP6.2018).
Bei der Beseitigung der zahlreichen Lücken im türkischen Antikorruptionsrahmen sind keine Fortschritte zu verzeichnen. Korruption ist nach wie vor weit verbreitet und gibt Anlass zur Sorge. Laut Europäischer Kommission muss der rechtliche und institutionelle Rahmen weiter an internationale Standards angepasst werden, da weiterhin eine unangemessene Einflussnahme der Exekutive bei der Ermittlung und Verfolgung von High-Profile-Korruptionsfällen vorliegt. Die Erfolgsbilanz der Türkei bei Ermittlungen, Strafverfolgung und Verurteilung in Korruptionsfällen ist nach wie vor schlecht, insbesondere bei hochkarätigen Korruptionsfällen. Die korruptionsbezogenen Verurteilungen durch die Gerichte gingen von 5.497 im Jahr 2016 auf 3.889 im Jahr 2017 zurück. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben Urteile keine abschreckende Wirkung. Besonders anfällig für Korruption sind die Kommunalverwaltungen, Behörden, die für die Flächennutzung zuständig sind, das öffentliche Beschaffungswesen sowie die Bau-und Verkehrswirtschaft (EC 17.4.2018).
Es gibt nach wie vor keine ständige, funktionell unabhängige Anti-Korruptionsbehörde und auch keine ausreichende Koordination der verschiedenen Institutionen, die für die Prävention oder Korruptionsbekämpfung zuständig sind. Die Inspektionskommission des Premierministers koordiniert präventive Antikorruptionsmaßnahmen, ist aber nicht unabhängig und hat keine eigenständigen Untersuchungsbefugnisse. Anti-Korruptions-Aufklärungskampagnen wurden nicht regelmäßig durchgeführt, und die Auswirkungen bleiben begrenzt. Die Antikorruptionsstrategie und der Aktionsplan 2010-2014 haben die meisten ihrer ursprünglichen Ziele nicht erreicht. Die in dem 2016 angekündigten Aktionsplan für Transparenz und Korruptionsbekämpfung vorgesehenen Maßnahmen wurden noch nicht umgesetzt. Es gibt keine umfassende Politik zur Verhinderung von Korruption im privaten Sektor. Dem Land fehlt nach wie vor eine spezialisierte Staatsanwaltschaft, die Antikorruptionsuntersuchungen leitet. Es gibt auch wenige spezialisierte Gerichte. Der derzeitige Rechtsrahmen verhindert, dass Beamte, die als Gerichtspolizei tätig sind, wirksame Ermittlungen durchführen können, ohne dass die Exekutive einen unzulässigen Einflussausüben kann(EC17.4.2018).
Die Regierung hat Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte verfolgt, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Verfahren gegen Regierungsbeamte eingeleitet hatten, und behauptete, die Angeklagten hätten dies auf Geheiß der Gülen-Bewegung getan. Auch Journalisten, die der Veröffentlichung der Korruptionsvorwürfe beschuldigt werden, wurden strafrechtlich belangt. Kein hoher Regierungsbeamter sah sich einer Untersuchung wegen angeblicher Korruption gegenüber (USDOS 20.4.2018).
Korruption -einschließlich Geldwäsche, Bestechung und Absprachen bei der Vergabe von Regierungsaufträgen -bleibt ein großes Problem. Die seit dem Putschversuch 2016 durchgeführten Säuberungen haben die Möglichkeiten der Korruption angesichts der massiven Enteignung von Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) stark erhöht. Milliarden von Dollar an beschlagnahmten Vermögenswerten werden von staatlich bestellten Treuhändern verwaltet, was die engen Beziehungen zwischen der Regierung und befreundeten Unternehmen weiter verstärkt(FH1.2018).
Transparency International reihte die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 2017 auf Rang 81 von 180 untersuchten Ländern und Territorien (2016: Platz 75 von 176) (21.2.2018).
Quellen:
* BACP - GAN-Business Anti-Corruption Portal (6.2018): Turkey Country Profile, Business Corruption in Turkey, http://www.business-anti-corruption.com/country-profiles/europe-central-asia/turkey/snapshot.aspx ,Zugriff 23.8.2018
* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417turkey-report.pdf ,Zugriff 23.8.2018
* FH -Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2018 -Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1426448.html ,21.8.2018
* TI - Transparency International (21.2.2018): Corruption Perceptions Index 2016, http://www.transparency.org/country/TUR ,Zugriff 25.1.2017
* USDOS -US Department of State (13.4.2016): Country Report on Human Rights Practices 2015, http://www.ecoi.net/local_link/322542/462019_de.html , Zugriff 17.1.2017
* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 -Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 23.8.2018
8. Wehrdienst
Die türkische Armee (TSK) ist zu 50% eine Berufsarmee, ergänzt um 200.000 Wehrpflichtige. Jedes Jahr werden etwa 300.000 türkische Männer über 18 Jahren für zwölf Monate einberufen. Nach offiziellen Angaben haben 1,9 Millionen junge Männer wegen ihres Studiums den Wehrdienst aufgeschoben. Weitere drei Millionen haben aus verschiedenen anderen Gründen einen Aufschub beantragt. Rund 650.000 entziehen sich gesetzwidrig der Wehrpflicht (AM 4.7.2018).
Jeder männliche türkische Staatsangehörige unterliegt ab dem 20. Lebensjahr der Wehrpflicht. Das Wehrdienstalter beginnt am 1. Januar des Jahres, in dem der Betreffende das 19. Lebensjahr vollendet und endet am 1. Januar im Jahr des 41. Geburtstags. Diejenigen, die innerhalb dieser Zeit den Wehrdienst nicht abgeleistet haben, werden von der Wehrpflicht nicht befreit. Der Wehrdienst wird in den Streitkräften einschließlich der Jandarma abgeleistet. Söhne und Brüder von gefallenen Soldaten können vom Wehrdienst befreit werden (AA 3.8.2018).
Das Parlament hat am 26.7.2018 ein Gesetz ratifiziert, das es den Bürgern ermöglicht, die Dauer ihres Militärdienstes durch die Zahlung eines bestimmten Geldbetrages zu verkürzen. Das Gesetz ermöglicht es den Bürgern, ihren Militärdienst in nur 21 Tagen statt in fünfeinhalb oder zwölf Monaten zu absolvieren, wenn sie Hochschulabsolventen sind und Geld via Bankkonten an die Regierung zahlen. Nach dem Gesetz sind Bürger, die am oder vor dem 1. Januar 1994 geboren wurden, verpflichtet 21 Tage Militärdienst zu leisten, wenn sie 15.000 TL (ca. 2.000 Euro) zahlen (DS 26.7.2018). Fast 450.000 Personen [Stand 2.9.2018] haben sich in der Türkei für den kaufbaren, verkürzten Militärdienst beworben. Die Antragstellung begann am 3.8. und endet am 3.11.2018 (Anadolu 2.9.2018).
Mit der ebenfalls am 26. Juli 2018 erfolgten Gesetzesänderung gilt für den "Freikauf" von auf Dauer im Ausland lebenden türkischen Wehrpflichtigen nun folgendes: Die Gesamtsumme, die für den "Freikauf" festgelegt ist, beträgt 2.000 (Connection e.V. 27.07.2018, vgl. DS 26.7.2018). Er ist bis zur Vollendung des 38. Lebensalters zu zahlen, kann aber auch noch später gezahlt werden. Es besteht die Verpflichtung, eine vom türkischen Verteidigungsministerium angebotene Fernausbildung abzuleisten. Wie dies genau aussehen soll, ist bislang unklar (Connection e.V. 27.07.2018).
Transsexuelle, Transvestiten und Homosexuelle konnten unter der Bezeichnung "psycho-sexuelle Störungen" nach Vorsprache bei der Wehrdienstbehörde und Untersuchungen vom Militärdienst befreit werden. Im Gesundheitsgesetz der türkischen Streitkräfte vom 12.11.2015 wird Homosexualität wie folgt beschrieben: "Sexuelle Verhaltensweisen und Einstellungen, die im militärischen Umfeld die Harmonie und Funktionalität beeinträchtigen könnten." Homosexualität führte daher im Grundsatz zur Wehrdienstuntauglichkeit, die jedoch bis zum gescheiterten Putschversuch vom 15.7.2016 durch ärztliches Gutachten in Militärkrankenhäusern festgestellt werden musste. In Folge des gescheiterten Putschversuchs wurden alle militärischen Krankenhäuser geschlossen; das Personal wurde entweder verhaftet, entlassen oder in zivile Einrichtungen überführt (AA 3.8.2018).
Medienberichten zufolge erlitten einige Wehrpflichtige schwere Schikanen, körperliche Misshandlungen und Folterungen, die manchmal zu Selbstmordführten (USDOS 20.4.2018).
Quellen:
* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* Al Monitor (4.7.2018): Young Turks with enough cash seek to skip military service, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/07/turkey-paid-exemption-frommilitary-service-lobby-wins.html , 21.8.2018
* Anadolu Agency (2.9.2018): Turkey: Paid military service attracts 450,000 people, https://www.aa.com.tr/en/todays-headlines/turkey-paid-military-service-attracts-450000-people/1244447 ,Zugriff17.9.2018
* Connection e.V. (27.07.2018): Freikaufsregelung, Ausbürgerung, Ausmusterung und Asyl, https://de.connection-ev.org/article-1609 ,Zugriff 17.9.2018
* Daily Sabah (26.7.2018): Turkish parliament ratifies paid military exemption law, https://www.dailysabah.com/turkey/2018/07/26/turkish-parliament-ratifies-paidmilitary-exemption-law ,Zugriff17.9.2018
* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 -Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 14.8.2018
9. Allgemeine Menschenrechtslage
Vor dem Hintergrund des andauernden Ausnahmezustands kam es zu Menschenrechtsverletzungen. Abweichende Meinungen wurden rigoros unterdrückt, davon waren u. a. Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger betroffen. Es wurden weiterhin Fälle von Folter bekannt, doch in geringerer Zahl als in den Wochen nach dem Putschversuch vom Juli 2016. Die weitverbreitete Straflosigkeit verhindert die wirksame Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen, die von Angehörigen der Behörden verübt wurden. Es kam auch 2017 zu Menschenrechtsverstößen durch bewaffnete Gruppen; im Januar wurden zwei Anschläge verübt. Doch Bombenanschläge gegen die Bevölkerung, die in den Vorjahren regelmäßig stattfanden, gab es im Jahr 2017 nicht. Für die Lage der im Südostendes Landes vertriebenen Menschen wurde keine Lösung gefunden (AI22.2.2018).
Das Hochkommissariat der Vereinten Nationen (OHCHR) erhielt weiterhin Informationen über zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Missbräuche, die im Berichtszeitraum in der Südosttürkei im Rahmen der Sicherheitsoperationen seitens türkischer Organe begangen wurden. Die NGO "Human Rights Association" veröffentlichte Statistiken über solche Verletzungen, die angeblich im ersten Quartal 2017 in der ost-und südöstlichen Region Anatoliens stattgefunden haben. Demnach belief sich die Gesamtzahl der Verstöße auf 7.907, darunter 263 Vorfälle von Folterungen in Haft, und über 100 Vorfälle von Kriminalisierung von Personen für die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung (OHCHR 3.2018).
Die Notverordnungen haben insbesondere bestimmte bürgerliche und politische Rechte, einschließlich der Meinungs-und Versammlungsfreiheit sowie der Verfahrensrechte eingeschränkt. Die Zivilgesellschaft ist zunehmend unter Druck geraten, insbesondere angesichts einer großen Zahl von Verhaftungen von Aktivisten und der wiederholten Anwendung von Demonstrationsverboten. Auch in den Bereichen Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit, Verfahrens-und Eigentumsrechte gab es gravierende Rückschläge. Die Situation in Bezug auf die Verhütung von Folter und Misshandlung gibt weiterhin Anlass zu ernster Besorgnis. Seit September 2016 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in 163 (von 168) Fällen festgestellt, die sich hauptsächlich auf das Recht auf ein faires Verfahren, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Freiheit und Sicherheit bezogen (EC17.4.2018).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stimmte mit großer Mehrheit im April 2018 dafür, ein Verfahren gegen die Türkei zu eröffnen und das Land unter Beobachtung zu stellen. Die Wiederaufnahme des sogenannten Monitorings bedeutet, dass zwei Berichterstatter regelmäßig in die Türkei fahren, um die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in dem Land zu überprüfen (Zeit 25.4.2017). Die Versammlung beschloss das Monitoring solange durchzuführen, bis der ernsthaften Sorge um die Einhaltung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in einer zufriedenstellenden Art und Weise Rechnung getragen wird. Zudem warnte die PACE vor der Wiedereinführung der Todesstrafe, die mit der Mitgliedschaft der Türkei im Europarat unvereinbar ist (PACE 25.4.2017). Das türkische Außenministerium bezeichnete die Entscheidung als Schande, hinter der böswillige Kreise innerhalb der PACE stünden, beeinflusst von Islamo-und Xenophobie (DS 25.4.2017).
In einer Resolution Anfang Februar 2018 zur Menschenrechtslage erkennt das Europäische Parlament (EP) das Recht und die Pflicht der türkischen Regierung an, die Täter des Putschversuches vom 16.7.2016 vor Gericht zu stellen. Es hebt jedoch hervor, dass die gescheiterte Machtübernahme durch das Militär als Vorwand dafür herangezogen wird, die legitime und gewaltfreie Opposition noch stärker zu unterdrücken und die Medien und die Zivilgesellschaft durch unverhältnismäßige und unrechtmäßige Handlungen und Maßnahmen daran zu hindern, dass sie friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben. Die Lage in den Bereichen Grundrechte und Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei verschlechtert sich stetig und es mangelt der Justiz an Unabhängigkeit. Justiz und Verwaltung machen Gebrauch von willkürlichen Verhaftungen und Schikanen, um Zehntausende zu verfolgen. Deshalb fordert das EP die türkischen Staatsorgane nachdrücklich auf, all diejenigen umgehend und bedingungslos freizulassen, die nur inhaftiert wurden, weil sie ihrer rechtmäßigen Tätigkeit nachgegangen sind und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit ausgeübt haben, und die in Gewahrsam gehalten werden, obwohl keine eindeutigen Beweise für Straftaten vorliegen (EP 8.2.2018).
Die routinemäßige Verlängerung des Ausnahmezustands [am 18.7.2018 aufgehoben] hat zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gegen Hunderttausende von Menschen geführt -von willkürlichem Entzug des Rechts auf Arbeit und Bewegungsfreiheit, über Folter und andere Misshandlungen bis hin zu willkürlichen Verhaftungen und Verletzungen des Rechts auf Versammlungs-und Meinungsfreiheit (OHCHR 20.3.2018, vgl. ZO 20.3.2018).
Quellen:
* AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 -The State of the World's Human Rights -Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425117.html ,Zugriff20.8.2018
* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417turkey-report.pdf ,Zugriff 14.8.2018
* EP -Europäisches Parlament (8.2.2018): Die aktuelle Menschenrechtslage in der Türkei -Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Februar 2018 zur aktuellen Lage der Menschenrechte in der Türkei (2018/2527(RSP)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML TA P8TA-2018-0040 0 DOC PDF V0//DE, Zugriff 20.8.2018
* DS -Daily Sabah (25.4.2017): Turkey-EU relations hit historic low after controversial PACE decision, https://www.dailysabah.com/eu-affairs/2017/04/26/turkey-eurelations-hit-historic-low-after-controversial-pace-decision , Zugriff 20.8.2018
* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January -December 2017, März 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf ,Zugriff 20.9.2018
* OHCHR -The Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (20.3.2018): Turkey: UN report details extensive human rights violations during protracted state of emergency, http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx ? NewsID=22853&LangID=E,Zugriff 21.8.2018
* PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.4.2017): PACE reopens monitoring procedure in respect of Turkey, http://assembly.coe.int/nw/xml/News/News-View-EN.asp ? newsid=6603&lang=2&cat=8, Zugriff 20.8.2018
* ZO - Zeit Online (25.4.2017): Europarat eröffnet Verfahren gegen Türkei, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/verfassungsreferendum-tuerkei-europaratmenschenrechte-beobachtung , Zugriff 20.8.2018
* ZO -Zeit Online (20.3.2018): Gericht verurteilt Türkei wegen Inhaftierung zweier Journalisten, http://www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/europaeischer-gerichtshoffuer-menschenrechte-turkei-inhaftierte-journalisten-militaerputsch , Zugriff 21.8.2018
10. Meinungs-und Pressefreiheit/Internet
Der Geltungsbereich der im Rahmen der Notverordnungen erlassenen restriktiven Maßnahmen hat sich im Laufe der Zeit entgegen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf viele oppositionelle Stimmen in den Medien und in der Wissenschaft ausgedehnt. Die Meinungsfreiheit ist ernsthaft unter Druck geraten. Gesetzgebung und Praxis entsprechen nicht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Strafverfahren gegen Journalisten, Menschenrechtsanwälte, Schriftsteller oder Nutzer sozialer Medien, die Schließung zahlreicher Medien oder die Ernennung von Treuhändern durch die Regierung zu deren Verwaltung sind besorgniserregend. Diese beruhen meist auf einer selektiven und willkürlichen Anwendung des Gesetzes. Insbesondere die übermäßige Anwendung des Konzepts der terroristischen Propaganda bzw. der Unterstützung einer terroristischen Organisation, einschließlich von Aussagen, die eindeutig nicht zu Gewaltanwendung führen, und die Kombination mit einer übermäßigen Interpretation des Begriffes der Verleumdung haben die Türkei auf einen gefährlichen Weg gebracht. 150 Journalisten sind nach wie vor inhaftiert. Das Internetgesetz und die allgemeinen rechtlichen Rahmenbedingungen ermöglichen es der Exekutive weiterhin, Online-Inhalte ohne Gerichtsbeschluss aus unangemessen vielen Gründen zu sperren (EC 17.4.2018; CoE-CommDH 15.2.2017).
Das fortdauernde Muster von Verletzungen der Meinungsfreiheit aufgrund der geltenden Rechtsvorschriften und ihrer Auslegung durch die Gerichte erfüllen nicht die in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegten Normen. Die Türkei ist Gegenstand der höchsten Zahl von Urteilen des Gerichtshofs zu Artikel 10 der Konvention. Die Mehrzahl der Strafverfahren gegen Journalisten wurde auf der Grundlage unbegründeter Vorwürfe und ohne sachliche Beweise außer ihrer rein journalistischen Tätigkeit eingeleitet. Es besteht eine mangelnde Berücksichtigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung bei der Beurteilung durch das Gericht und überdies eine offensichtlich unplausible Einschätzung, wonach die Angeklagten zugleich sowohl Propaganda für die Gülen-Bewegung als auch für die Kurdische Arbeiterpartie (PKK) betrieben hätten, zwei Organisationen, die in Gegnerschaft zueinander stehen. Zudem fehlen sachliche Beweise, die irgendeinen Zusammenhang zwischen den Verdächtigen und diesen Organisationen herstellen, abgesehen von kritischen Zeitungsartikeln zu Fragen, die von öffentlichem Interesse sind. Maßnahmen, die mit Freiheitsentzug gegen Journalisten verbunden sind nicht nur ungerechtfertigt und unverhältnismäßig, sondern tragen auch zu einem Klima der Selbstzensur bei. Journalisten werden in den meisten Fällen auf der Grundlage fadenscheiniger Anschuldigungen und mit sehr wenig oder gar keinem Prima-Facie-Beweis festgenommen (CoE-CommDH 10.10.2017).
Viele türkische Bürgerinnen und Bürger äußern ihre Meinung weiterhin offen unter Freunden und Verwandten, inzwischen sind sie jedoch vorsichtiger gegenüber dem, was sie online veröffentlichen oder öffentlich sagen. Nicht jede regierungskritische Äußerung wird bestraft, aber die Willkür der Strafverfolgung, die oft zu Untersuchungshaft führt und das Risiko langer Haftstrafen birgt, schafft zunehmend eine Atmosphäre der Selbstzensur (FH 1.2018). In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko von zivil-oder strafrechtlichen Verfahren oder Ermittlungen einzugehen. Die Regierung beschränk auch Äußerungen von Einzelpersonen, die mit gewissen religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten sympathisieren. Viele, die zu sensiblen Themen schreiben oder sich äußern oder die Regierung kritisieren, riskieren behördliche Untersuchungen (USDOS20.4.2018).
Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Websites weiterhin funktionieren, sind sie einem enormen politischen Druck ausgesetzt und werden regelmäßig strafrechtlich verfolgt. Die Versuche der Regierung, Nachrichtenseiten und andere Online-Informationsquellen zu blockieren, wurden 2017 fortgesetzt (HRW 18.1.2018; RSF 2018). Die Mainstream-Medien, insbesondere das Fernsehen, spiegeln Regierungspositionen wider und bringen routinemäßig identische Schlagzeilen (FH 1.2018). Den meisten Zeitungen und Fernsehsendern fehlt es an Unabhängigkeit und sie fördern die politische Linie der Regierung (HRW 18.1.2018).
Die überwiegende Mehrheit der inhaftierten Journalisten werden Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung vorgeworfen. Zahlreiche Journalisten kehrten aus Angst vor Verhaftungen nicht in die Türkei zurück. Hunderte weitere blieben ohne Arbeit, nachdem die Regierung Medien geschlossen hatte (USDOS 20.4.2018).
Im Jahr 2017 begannen mehrere große, politisch motivierte Prozesse gegen Journalisten wegen terroristischer Anschuldigungen. Die Beweise bestanden aus schriftlichen Beiträgen und der Berichterstattung der Journalisten selbst, die nicht für Gewalt eintraten, sowie aus unbewiesenen Behauptungen über Verbindungen zu terroristischen Organisationen oder die Beteiligung am Putschversuch vom Juli 2016. Diese Verfahren wurden trotz des Fehlens glaubwürdiger Beweise fortgesetzt (HRW 18.1.2018). Journalisten sitzen mitunter mehr als ein Jahr bis zum Prozessbeginn im Gefängnis, und lange Gefängnisstrafen werden zur neuen Norm -in einigen Fällen werden Journalisten zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer Begnadigung verurteilt. Inhaftierten Journalisten und geschlossenen Medien wird jeder wirksame Rechtsweg verwehrt. Selbst Verfassungsgerichtsurteile werden nicht mehr automatisch umgesetzt. Die Türkei rutschte im World Press Freedom Index 2018 um zwei Plätze [1.Rang = bester Wert] nach unten und belegt Rang 157 von 180 Ländern (RSF 2018).
Die missbräuchliche Anwendung des Art. 299 hinsichtlich der Beleidigung des Staatspräsidenten führte zu einer unangemessenen Einschränkung der Meinungsfreiheit. Der türkische Außenminister rief Staatsbürger im Ausland dazu auf, entsprechende Fälle dem Präsidenten zu melden, damit im Ausland Klagen erhoben werden können (PACE 22.6.2016).
Dutzende türkische Social-Media-Nutzer, darunter auch Journalisten, wurden festgenommen, weil sie die Offensive der Türkei gegen die syrisch-kurdische Miliz YPG in Syrien kritisiert haben. Die türkische Internetbehörde überwacht Nutzer, die Inhalte teilen, welche die türkischen Truppen an der Front demoralisieren oder die einheimische Öffentlichkeit beeinflussen könnten. Das Büro des Premierministers erließ Zugangsverbote für solche Inhalte, und gegen Nutzer, die solche Beiträge teilten, wurden Untersuchungen eingeleitet (Ahval 26.1.2018, vgl. Standard 23.1.2018). Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte bereits am 21.1.2018 verkündet, dass jeder, der sich gegen die türkische Afrin-Offensive ausspricht, Terroristen unterstütze (DS 21.1.2018). Diesbezüglich Verdächtige würden wegen "Beleidigung von Amtsträgern", "Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit in der Öffentlichkeit", "Beleidigung des Präsidenten" oder "Propaganda für terroristische Vereinigungen" angeklagt (Anadolu 27.1.2018). Allein in den ersten zehn Tagen der am 20.1.2018 gestarteten "Operation Olivenzweig" wurden 311 Personen, darunter Journalisten, Politiker und Aktivisten, verhaftet, weil sie auf irgendeine Weise etwas Kritisches über den Militärschlag gesagt oder geschrieben hatten. Im Sprachgebrauch des Innenministeriums waren sie alle Terrorpropagandisten. 170 Autoren, Schauspieler, Hochschullehrer, Journalisten und ehemalige Politiker richteten gleich zu Beginn der Offensive einen offenen Brief an das Parlament, in dem sie zum Frieden aufriefen. Das machte sie zu Zielscheiben der Regierung. Die Zahl der Festgenommenen stieg nach amtlichen Angaben auf 786 (Die Welt 19.2.2018).
Angesichts des Währungsverfalls im August 2018 sprach Staatspräsident Erdogan von "Wirtschaftsterroristen", die der Türkei durch die Verbreitung falscher Berichte Schaden zufügen. Diese würden die volle Kraft des Gesetzes spüren. Laut Innenministerium wurden 346 Social-Media-Konten identifiziert [Stand 13.8.2018], die durch ihre Kommentare eine negative Wahrnehmung der türkischen Wirtschaft erzeugten. Das Ministerium kündigte nicht weiter definierte rechtliche Maßnahmen an. Die Staatsanwaltschaften von Istanbul und Ankara haben zudem Ermittlungen gegen Personen eingeleitet, die im Verdacht stehen, an Aktionen beteiligt zu sein, die die wirtschaftliche Sicherheit der Türkei bedrohen (Reuters 13.8.2018, vgl. WZ13.8.2018).
Quellen:
* Ahval (26.1.2018): Turkey asks Twitter, Facebook, YouTube to remove posts on Afrin op, https://ahvalnews.com/freedom-speech/turkey-asks-twitter-facebook-youtuberemove-posts-afrin-op ,Zugriff20.8.2018
* Anadolu Agency (27.1.2018): Turkey remands 16 for PYD/PKK promotion on social media, http://aa.com.tr/en/turkey/turkey-remands-16-for-pyd-pkk-promotion-on-social-media/1044501 ,Zugriff 20.8.2018
* CoE-CommDH -Council of Europe -Commissioner for Human Rights (10.10.2017): Third party intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights under Article 36, paragraph 3, of the European Convention on Human Rights [CommDH(2017)29], https://rm.coe.int/third-party-intervention-10-cases-v-turkey-onfreedom-of-expression-an/168075f48f , Zugriff 20.8.2018
* CommDH -Council of Europe / Commissioner for Human Rights (15.2.2017): Urgent measures are needed to restore freedom of expression in Turkey, http://www.coe.int/en/web/commissioner/-/urgent-measures-are-needed-to-restorefreedom-of-expression-in-turkey , Zugriff20.8.2018
* DS - Daily Sabah (21.1.2018): Anyone who opposes Turkey's Afrin op will be siding with terrorists: FM Çavusoglu, https://www.dailysabah.com/war-on-terror/2018/01/21/ anyone-who-opposes-turkeys-afrin-op-will-be-siding-with-terrorists-fm-cavusoglu, Zugriff 20.8.2018
* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417turkey-report.pdf ,Zugriff 14.8.2018
* FH -Freedom House 1.2018): Freedom in the World 2018 -Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1426448.html ,14.8.2018
* HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World report 2018 -Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1422518.html ,Zugriff14.8.2018
* PACE -Council of Europe -Parliamentary Assembly (22.6.2016b): The functioning of democratic institutions in Turkey [Resolution 2121 (2016), Provisional version], http://semantic-pace.net/tools/pdf.aspx?doc=aHR0cDovL2Fzc2VtYmx5LmNvZS5pbnQvbncveG1sL1hSZWYvWDJILURXLWV4dHIuYXNwP2ZpbGVpZD0yMjk1NyZsYW5nPUVO&xsl=aHR0cDovL3NlbWFudGljcGFjZS5uZXQvWHNsdC9QZGYvWFJlZi1XRC1BVC1YTUwyUERGLnhzbA==&xsltparams=ZmlsZWlkPTIyOTU3 ,Zugriff14.8.2018
* Reuters (13.8.2018): Erdogan vows action against 'economic terrorists' over lira plunge, https://www.reuters.com/article/us-turkey-currency-security/erdogan-vowsaction-against-economic-terrorists-over-lira-plunge-idUSKBN1KY1R9 , Zugriff 20.8.2018
* RSF - Reporters without Borders (2018): Turkey, https://rsf.org/en/turkey , Zugriff 20.8.2018
* Der Standard (23.1.2018): Feldzug gegen Kurden: Kein Platz für Kritiker bei Erdogans Krieg, https://derstandard.at/2000072760808/Kurdenmiliz-Tuerkische-Armee-bombardiert-Doerfer-in-Syrien?ref=rec ,Zugriff 20.8.2018
* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 -Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 14.8.2018
* Die Welt (19.2.2018). Jeder soll wissen, dass man nur auf eigene Gefahr seine Meinung sagt, https://www.welt.de/politik/ausland/article173749894/Verhaftungen-inTuerkei-Jeder-soll-wissen-dass-man-nur-auf-eigene-Gefahr-seine-Meinung-sagt.html , Zugriff14.8.2018
* WZ - Wiener Zeitung (13.8.2018): Erdogan lässt "Wirtschaftsterroristen" verfolgen, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/top_news/982569_In-der-Tuerkei-werdenMenschen-fuer-negative-Kommentare-ueber-die-wirtschaftliche-Lage-bestraft..html , Zugriff20.8.2013
11. Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit
Die türkische Verfassung garantiert Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit (AA 3.8.2018). Der Rechtsrahmen im Bereich der Versammlungsfreiheit entsprach bis zum Putschversuch 2016 im Großen und Ganzen den europäischen Standards (ÖB 10.2017). Bereits seit den regierungsfeindlichen Demonstrationen im Sommer 2013 wurde die Versammlungsfreiheit allmählich eingeschränkt. Nach dem Putschversuch ist sie noch weiter eingeschränkt worden (BTI 2018). Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind (AA 3.8.2018; vgl. FH 1.2018).
Während Pro-Regierungskundgebungen durchgeführt werden dürfen, werden z.B. die Feierlichkeiten zum 1. Mai von linken und Arbeitergruppen, Veranstaltungen sexueller Minderheiten, Proteste von Opfern der staatlichen Säuberungen und Versammlungen der Oppositionsparteien eingeschränkt. In der Praxis werden bei pro-kurdischen oder politischen Versammlungen des linken Spektrums regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen. Betroffen von Versammlungsverboten und Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind auch immer wieder Gewerkschaftsmitglieder. Die Behörden in Ankara verhängten Ende September 2017 ein pauschales Demonstrationsverbot, das später verlängert wurde und bis zum Jahresende 2017 in Kraft blieb (FH 1.2018; vgl. EC 17.4.2018). Auf Grundlage von während des Ausnahmezustandes eingeräumten Befugnissen (Ausweitung der Befugnisse von Gouverneuren, Sicherheitsbeamten, Staatsanwälten etc.) wurden Demonstrationen in einigen Provinzen und Bezirken völlig verboten (ÖB 10.2017; vgl. EC 17.4.2018). Im Dezember 2017 hob der Verfassungsgerichtshof auf Antrag einer Oppositionspartei mehrere Beschränkungen für Zusammenkünfte und Märsche auf (EC17.4.2018).
Die Organisation von Demonstrationen ist fast unmöglich geworden, da die Sicherheitskräfte regelmäßig massive Gewalt anwenden, um "illegale" Versammlungen zu verhindern (BTI 2018). Es gab eine erhöhte Anzahl von Strafen für Teilnehmer an nicht genehmigten Veranstaltungen, die ebenfalls abschreckend wirkten. Die unbefugte Abhaltung solcher Demonstrationen führte mitunter zu einer gewaltsamen Auflösung durch die Polizeikräfte (EC 17.4.2018). Fälle von massiver Gewalt seitens der Sicherheitskräfte, polizeilicher Ingewahrsamnahmen und strafrechtlichen Ermittlungen bei der Teilnahme an nicht genehmigten oder durch Auflösung unrechtmäßig werdenden Demonstrationen kommen nicht selten vor. Nicht genehmigte Versammlungen werden häufig unter Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken aufgelöst (AA 3.8.2018). Sicherheitsbeamte haben willkürliche und unverhältnismäßige Gewalt gegen Demonstranten angewendet, inklusive des Einsatzes von Wasserwerfern, Plastikkugeln und scharfer Munition (ÖB 10.2017).
Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015).
Mit Beendigung des Ausnahmezustandes im Juli 2018 trat ein neues Sicherheitsgesetz in Kraft. Demnach können Gouverneure die Bewegungsfreiheit von Personen für einen Zeitraum von 15 Tagen einschränken, die im Verdacht stehen, die öffentliche Ordnung an bestimmten Orten zu stören. Die Gouverneure können das Zusammentreffen von Personen an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten einzuschränken sowie Einzelpersonen verbieten, ihre auch lizenzierten Waffen oder Munition zu tragen oder zu transportieren. Sie werden befugt, außergewöhnliche Sicherheitsmaßnahmen zu verkünden. Im neuen Gesetz wird in einem vorläufigen Artikel, der dem türkischen Anti-Terror-Gesetz hinzugefügt wurde, die Haftdauer bei terroristischen Verbrechen auf 48 Stunden festgelegt, obwohl sie bei kollektiver Begehung auf vier Tage verlängert werden kann. Dieser Artikel hat eine Gültigkeit von drei Jahren ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens. Die Haftdauer kann bei Bedarf zweimal verlängert werden (TM 25.7.2018).
Eine UN-Expertengruppe hielten den türkischen Behörden im Juli 2017 vor, ständig Sicherheitsüberlegungen ins Treffen zu führen, um Dissens und Kritik ins Visier zu nehmen. Dies hat zur Folge, dass das Recht der Menschen auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt wird (OHCHR 14.7.2018).
Während das Gesetz die Vereinigungsfreiheit vorsieht, gibt es hier zunehmend Einschränkungen. Laut Gesetz müssen die Behörden zwar nicht über die Gründung einer Vereinigung informiert werden, doch müssen die Behörden im Voraus in Kenntnis gesetzt werden, wenn es zu einem Interagieren mit internationalen Organisationen kommt. Bei finanzieller Unterstützung aus dem Ausland muss den Behörden eine umfangreiche Dokumentation vorgelegt werden, was laut Verbänden und Vereinen eine Last für deren Wirken darstellt (USDOS 20.4.2018). Nach dem gescheiterten Militärputsch wurden mehrere Dekrete erlassen, die u. a. auch die Schließung von Vereinen vorsahen. Per Dekret wurden von den insgesamt 110.000 Vereinen in der Türkei 1.495 geschlossen (ÖB 10.2017; vgl. USDOS20.4.2018).
Quellen:
* AA -Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package ,Zugriff 18.9.2018
* BTI -Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 - Turkey Country Report, http://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/ BTI_2018_Turkey.pdf,Zugriff14.8.2018
* EC -European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkeyreport.pdf ,Zugriff 14.8.2018
* FH -Freedom House 1.2018): Freedom in the World 2018 -Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1426448.html ,13.8.2018
* HDN - Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkishmain-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx ? pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338,Zugriff 18.9.2018
* OHCHR -Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (14.7.2017): Turkey: UN experts seek release of all rights defenders as clampdown worsens, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx ? NewsID=21875&LangID=E,Zugriff 14.8.2018
* ÖB -Österreichische Botschaft -Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
* TM - Turkish Minute (25.7.2018): First post-OHAL anti-terrorism law approved by Turkish Parliament, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/first-post-ohal-antiterrorism-law-approved-by-turkish-parliament/ , Zugriff 18.9.2018
* USDOS -US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 -Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 14.8.2018
12. Haftbedingungen
Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. Dennoch gibt es - trotz Bemühungen der türkischen Behörden - Kritik an den Haftbedingungen: v.a. Hochsicherheitsgefängnisse (Typ F) weisen Mängel auf (ÖB 10.2017). In der Türkei gibt es zurzeit 386 Gefängnisse, darunter 17 sogenannte F-Typ-Gefängnisse für Häftlinge, die wegen Terrorismus oder organisiertem Verbrechen verurteilt wurden. In den vergangenen elf Jahren wurden insgesamt 207 Haftanstalten geschlossen. Bis 2018 wurden insgesamt 151 neue Gefängnisse eröffnet (AA 3.8.2018).
Überbelegung und die Verschlechterung der Haftbedingungen sind besorgniserregend. Die Zahl der Gefangenen ist auf 290 pro 100.000 Einwohner angewachsen, und die Zahl der Gefangenen liegt jetzt bei 234.673 (EC 17.4.2018). Im Juni 2017 gab es in der Türkei rund 225.000 Gefangene, die Kapazität der Haftanstalten lag bei rund 203.000. Mit Stand August 2017 befanden sich 2.767 Minderjährige zwischen zwölf und 18 Jahren in Haft (USDOS 20.4.2018). Nach Angaben des Justizministeriums waren im Sommer 2017 noch 668 Kinder mit ihren Müttern in türkischen Gefängnissen festgehalten (PPJ 18.10.2018). Der Anteil der Untersuchungshäftlinge betrug zu Jahresende 2017 43,1%. Von diesen hatten 79% noch kein laufendes Gerichtsverfahren (ICPS 2018).
In den Gefängnissen der Türkei gibt es zahlreiche Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte von Gefangenen und die Anwendung von Folter, Misshandlung und Einzelhaft als Disziplinarmaßnahmen. Es wird behauptet, dass kranken Insassen regelmäßig der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt wird. Die für die Überwachung der Haftbedingungen zuständigen staatlichen Kommissionen wurden nach dem Putschversuch 2016 aufgelöst oder bleiben weitgehend wirkungslos. Das Ergebnis ist, dass Gefängniswärter und -verwaltungen weitgehend unbeaufsichtigt arbeiten. Des weiteren wirkt sich der Mangel an Psychologen, Sozialarbeitern und Soziologen negativ auf die Rehabilitation von Häftlingen aus (EC 17.4.2018). Allerdings werden Gefängnisse auch von UN-Einrichtungen und dem "Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter" besucht (ÖB 10.2017). So berichtet etwa der UN-Sonderberichterstatter für Folter im Dezember 2016 zwar von Überbelegung, aber auch davon, dass die Haftbedingungen in den Gefängnissen in Ankara, Diyarbakir, Sanliurfa und Istanbul generell befriedigend sind (DW 2.12.2016).
Mindestens 22.000 Verhaftete oder Verurteilte müssen in den Haftanstalten auf dem Boden oder in Schichten schlafen. Laut Regierung werden Minderjährige, so vorhanden, in getrennten Gefängnissen untergebracht, andernfalls werden diese in gesonderten Abschnitten von Gefängnissen untergebracht. Untersuchungshäftlinge werden in denselben Einrichtungen wie verurteilte Häftlinge festgehalten (USDOS20.4.2018).
Fallweise untersuchen die Behörden glaubwürdige Vorwürfe von Missbrauch und unmenschlichen oder erniedrigenden Bedingungen in den Haftanstalten, veröffentlichen die Ergebnisse solcher Untersuchungen jedoch in der Regel nicht und ergriffen keine Maßnahmen, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Die Menschenrechtskommission des Parlaments und die Institution der Ombudsperson haben die Genehmigung, Gefängnisse, einschließlich Militärgefängnisse, ohne vorherige Genehmigung zu besuchen und zu inspizieren (USDOS20.4.2018).
Am 14.10.2016 erklärte der Generaldirektor der Gefängnisse und Haftanstalten vor dem Untersuchungsausschuss des türkischen Parlaments: Häftlinge werden nackt durchsucht; Foltervorwürfe werden als diskrete Fälle behandelt; die Treffen zwischen Häftling und Anwalt werden aufgezeichnet; Häftlinge dürfen sich keine Kleidung von außen besorgen, sondern sind gezwungen, sie aus dem Laden im Gefängnis zu kaufen; Selbstmorde sind unvermeidbar (PPJ 18.10.2018).
Quellen:
* AA -Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* EC -European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkeyreport.pdf ,Zugriff 18.7.2018
* DW -Deutsche Welle (2.12.2016): UN expert: Torture and abuse 'widespread' in Turkey following July coup bid, http://www.dw.com/en/un-expert-torture-and-abusewidespread-in-turkey-following-july-coup-bid/a-36623632 ,Zugriff 26.7.2018
* ICPS -International Centre for Prison Studies (2018): World Prison Brief http://www.prisonstudies.org/country/turkey ,Zugriff 19.7.2018
* ÖB -Österreichische Botschaft -Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
* PPJ -Platform for Peace and Justice (18.10.2017): In Prison 2017: A Comprehensive Report On The Prison Conditions In Turkey, http://www.platformpj.org/wp-content/uploads/IN-PRISON-2017.pdf ,Zugriff26.7.2018
* USDOS -US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 -Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 18.7.2018
13. Todesstrafe
Die Türkei ist Vertragspartei des Protokolls Nr. 13 der EMRK zur Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen. Die problematischste Situation besteht nach wie vor im Südosten des Landes angesichts der mangelnden Untersuchungen der gemeldeten Tötungen durch Sicherheitsorgane im Kontext von Sicherheitsoperationen und PKK-Angriffen. Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe wurden von Beamten -einschließlich des Präsidenten -Anfang 2017 gemacht(EC17.4.2018).
Anlässlich einer Konferenz zum 12. Welttag gegen die Todesstrafe (2014) unterzeichnete auch der türkische Außenminister den Appell zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe (WCADP 9.10.2014).
Quellen:
* EC -European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkeyreport.pdf ,Zugriff 18.7.2018
* WCADP -World Coalition Against the Death Penalty (9.10.2014): World Day - Dialogue should make death penalty "a sentence of the past" - foreign ministers, http://www.worldcoalition.org/foreign-ministers-declaration-world-day-against-deathpenalty.html , Zugriff18.7.2018
14. Religionsfreiheit
In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, 77,5% davon sind schätzungsweise Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Es gibt einen beträchtlichen Anteil an Aleviten. Die Aleviten-Stiftung geht von 25 bis 31% der Bevölkerung aus. Die schiitische Dschafari-Gemeinde schätzt ihre Anhängerschaft auf 4% der Einwohner. Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen bestehen nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römische Katholiken und 16.000 Juden. Darüber hinaus sind 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha'is. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.000 sind griechisch-orthodoxe Christen. Eine Umfrage legt nahe, dass ca. 2%derBevölkerung Atheisten sind (USDOS 29.5.2018).
Laut Verfassung ist die Türkei ein säkulärer Staat (USDOS 29.5.2018). Die individuelle Religionsfreiheit ist weitgehend gewährt; individuelle nicht-staatliche Repressionsmaßnahmen und staatliche Diskriminierungen (z. B. bei Anstellungen im öffentlichen Dienst) kommen vereinzelt vor (AA 3.8.2018). Übergriffe auf Aleviten oder nichtmuslimische Vertreter finden vereinzelt statt und werden mit unterschiedlicher Intensität verfolgt und geahndet. Es wird berichtet, dass die Zahl an tätlichen oder gar tödlichen Übergriffen aus religiösen Motiven rückläufig ist; auch in der öffentlichen Meinung werden solche Vorkommnisse breit verurteilt. Die Regierung ist bemüht, den Religionsdialog zu fördern; zu einer Änderung der Gesetzeslage hat dies jedoch nicht geführt (ÖB10.2017).
Das türkische Zivilrecht kennt keine explizite Anerkennung von Minderheiten. Begrenzte (Schutz-, nicht Freiheits-) Rechte religiöser Minderheiten gehen auf die "Stiftungen" (Vakif) nicht-muslimischer Minderheiten im Osmanischen Reich zurück; ein System, welches durch den Vertrag von Lausanne (1923) und die Einführung des Stiftungsgesetzes (Deklaration aus 1936) gestützt wurde. Derzeit gibt es insgesamt 161 solcher Stiftungen, das sind 75 griechische, 52 armenische, 18 jüdische, zehn syrisch-orthodoxe, drei chaldäische, zwei bulgarische, eine georgische und eine türkisch-orthodoxe (ÖB 10.2017). Die Türkei erkennt (nicht-muslimische) Minderheiten als Gruppen mit rechtlichem Sonderstatus grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen des Lausanner Vertrags an, der türkischen Staatsangehörigen, die nicht-muslimischen Minderheiten angehören, die gleichen gesellschaftlichen und politischen Rechte wie Muslimen garantiert. Weiterhin sichert er den nicht-muslimischen Minderheiten das Recht zur Gründung, Verwaltung und Kontrolle karitativer, religiöser und sozialer Institutionen und Schulen sowie anderer Einrichtungen zur Unterweisung und Erziehung zu. Nach offizieller türkischer Lesart beschränkt sich der Schutz allerdings auf drei Religionsgemeinschaften: die griechisch-orthodoxe, die armenisch-apostolische Kirche und die jüdische Gemeinschaft. Am 18.6.2013 entschied erstmals ein türkisches Gericht, dass auch aramäische (syrisch-orthodoxe) Türken und ihre Zusammenschlüsse von den Rechten des Lausanner Vertrages profitieren können (AA 3.8.2018).
Die Regierung bildet weiterhin sunnitische Geistliche aus, während sie andere religiöse Gruppen daran hindert, Geistliche innerhalb des Landes auszubilden. Das Gesetz verbietet Sufi-und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) und Logen (Cemaats), obwohl die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht anwendet (USDOS 29.5.2018).
Religiöse Fragen werden vom Direktorat für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) koordiniert und bestimmt. Das Mandat von Diyanet ist, den Glauben, die Ausübung und die moralischen Grundsätze des Islams zu fördern, mit dem primären Fokus auf den sunnitischen Islam (USDOS 29.5.2018). Kritiker behaupten, dass die regierende AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u. a. die Vergrößerung der Direktion für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und für regierungsfreundliche Predigten in Moscheen(FH1.2018).
Nicht-muslimische Minderheiten, auch die offiziell anerkannten, sehen sich mit erheblichen Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit konfrontiert. Eines der wichtigsten Probleme in diesem Zusammenhang besteht darin, dass aufgrund eines Mangels an theologischen Schulen kein Klerus ausgebildet werden kann (EC/DGJC 2016). Positiv ist allerdings die zunehmende Renovierung bzw. Neueröffnung von Kirchen (ÖB 10.2017).
Quellen:
* AA -Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* EC/DGJC -European Commission/ Directorate-General for Justice and Consumers, European Network of legal experts in gender equality and non-discrimination (2016): Country report: Non-discrimination -Turkey, http://www.equalitylaw.eu/downloads/3748-2016-tr-country-report-nd , Zugriff 17.7.2018
* FH -Freedom House 1.2018): Freedom in the World 2018 -Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1426448.html ,10.10.2018
* ÖB -Österreichische Botschaft -Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
* USDOS -US Department of State (29.5.2018): 2017 Report on International Religious Freedom -Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1436892.html , Zugriff 17.7.2018
14.1. Aleviten
Die Türkei hat weltweit den größten Anteil an Aleviten. Man geht von 15 bis 25 Millionen Aleviten aus. Vor allem die Provinzen XXXX , Elazig, Bingöl, Sivas, Erzincan, Malatya, Kaysereri, Adana und Tokat sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Die alevitische Religion weist viele unterschiedliche Einflüsse aus anderen Religionen - auch aus vorislamischer Zeit - auf. Außerdem ist das Alevitentum in seinen Vorstellungen recht heterogen. Ob Aleviten zum Islam gehören oder nicht, ist sowohl innerhalb der Aleviten als auch außerhalb der Glaubensgemeinschaft ein Streitthema (ÖIF Monographien 2013; vgl. MRG 6.2018). Politisch stehen die kurdischen Aleviten vor dem Dilemma, ob sie ihrer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft gegenüber loyal sein sollten. Einige kümmern sich mehr um die religiöse Solidarität mit den türkischen Aleviten als um die ethnische Solidarität mit den Kurden, zumal viele sunnitische Kurden sie missbilligen. Dies könnte zu neuen ethno-religiösen Konflikten führen (MRGI 6.2018).
Die offizielle Türkei erkennt das Alevitentum als kulturelles Phänomen, nicht aber als religiöses Bekenntnis, an (ÖB 10.2017). Ein wichtiger Meilenstein für die alevitische Gemeinschaft war im Dezember 2015 die Ankündigung einer Reihe von erweiterten Rechten für Aleviten, einschließlich der rechtlichen Anerkennung von Cemevis, ihren Gotteshäusern einem seit langem bestehenden Bereich der Diskriminierung (MRGI 6.2018).
Trotz dieser Fortschritte gibt es weiterhin Probleme. Immer wieder werden alevitische Häuser mit abfälligen oder türkisch-nationalistischen Parolen beschmiert. Im November 2017 brachten die alevitischen Gemeindeleiter ihre Besorgnis zum Ausdruck, als 13 Häuser in der östlichen Provinz Malatya mit roten Kreuzen beschmiert wurden. Und im selben Monat griff ein Mob ein Cem-Haus in Istanbul an und versuchte es in Brand zu setzen (MRGI 6.2018).
Die Aleviten bleiben im Land politisch marginalisiert, mit einer begrenzten Vertretung in offiziellen Machtpositionen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 und den anschließenden Aktionen der Regierung gegen ihre vermeintlichen Gegner wurden zahlreiche Journalisten inhaftiert und die Medien geschlossen, darunter die meisten, die über die alevitische Kultur berichteten (MRGI 6.2018). Außerdem wurden nach dem Putschversuch tausende Aleviten festgenommen oder verloren ihre Arbeit. Sie wurden von Staatspräsident Erdogan und der regierenden AK-Partei pauschal verdächtigt, mit dem Militär und mit den Putschisten sympathisiert zu haben. Die massive Verfolgung der Aleviten ist bis heute vor allem in der Provinz Dersim (türkisch: XXXX ), im alevitischen Kernland spürbar (Telepolis 10.8.2016; vgl. GI 18.1.2018). Auch alevitische Journalisten sind betroffen. TV10, der Fernsehsender "die Stimme der Aleviten", wurde im September 2016 geschlossen, angeblich wegen Bedrohung der nationalen Sicherheit und Zugehörigkeit zu einer Terrororganisation (GI 18.1.2018). Im Jänner 2018 wurden die Leiter des stillgelegten alevitischen Fernsehsenders TV10 wegen "Terrorismus" verhaftet (Ahval 19.1.2018). Ende Dezember 2016 wurde nach einer Entscheidung des türkischen Obersten Radio-und Fernsehrates (RTÜK) die Ausstrahlung des alevitischen Senders "Yol TV" wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten und der Huldigung terroristischer Organisationen eingestellt (TM 29.12.2016). Ende März 2018 ließen türkische Gerichte 16 Mitglieder des alevitischen "Pir Sultan Abdal" Kulturverbandes (PSAKD) verhaften. Die Mitglieder wurden beschuldigt, eine terroristische Organisation zu unterstützen (SCF 24.3.2018).
Die türkische Regierung betrachtet den Alevismus weiterhin als heterodoxe muslimische Sekte. Obwohl die alevitischen Gruppen in der Lage waren, neue Cemevis zu bauen, lehnte die Regierung weiterhin ab, ihren Bau finanziell zu unterstützen. Repräsentanten der Aleviten berichteten, dass die Zahl der 2.500 bis 3.000 Cemevis im Land nicht ausreicht, um die Nachfrage zu befriedigen Die Regierung erklärte hingegen, dass die von der Diyanet finanzierten Moscheen den Aleviten und allen Muslimen unabhängig von ihrer Religionsschule zur Verfügung stünden (USDOS 29.5.2018).
Quellen:
* Ahval (19.1.2018): Turkey detains executives of shut down Alevi TV station on 'terrorism' charges - newspaper, https://ahvalnews.com/press-freedom/turkey-detains-executivesshut-down-alevi-tv-station-terrorism-charges-newspaper ,Zugriff 17.7.2018
* EC/DGJC -European Commission/ Directorate-General for Justice and Consumers, European Network of legal experts in gender equality and non-discrimination (2016): Country report: Non-discrimination -Turkey, http://www.equalitylaw.eu/downloads/37482016-tr-country-report-nd , Zugriff17.7.2018
* GI -Gatestone Institute (18.1.2018): Persecution of Alevis in Turkey: Threats, Arbitrary Arrests, https://www.gatestoneinstitute.org/11744/turkey-alevis-persecution , Zugriff 17.7.2018
* ÖB -Österreichische Botschaft -Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
* ÖIF Monographien (2013): Die Aleviten. In: Taucher, W. et al, (Hg.): Glaubensrichtungen imIslam. Wien: ÖIF, S. 75-88.
* MRGI -Minority Rights Group International (6.2018): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey - Alevis, http://minorityrights.org/minorities/alevis/ , Zugriff 17.7.2018
* SCF -Stockholm Center for Freedom (24.3.2018): Turkey arrests 16 members of Alevi association in Turkey, https://stockholmcf.org/turkey-arrests-16-members-of-alawiteassociation-in-turkey/ ,Zugriff 17.7.2018
* Telepolis (10.8.2016): Die Aleviten in der Türkei stehen unter Generalverdacht, https://www.heise.de/tp/features/Die-Aleviten-in-der-Tuerkei-stehen-unterGeneralverdacht-3291449.html?seite=all , Zugriff 17.7.2018
* TM -Turkish Minute (29.12.2016): Turkey terminates broadcasting of Yol TV, https://www.turkishminute.com/2016/12/29/turkey-terminates-broadcasting-yol-tv/ , Zugriff 17.7.2018
* USDOS -US Department of State (29.5.2018): 2017 Report on International Religious Freedom -Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1436892.html ,Zugriff 17.7.2018
15. Ethnische Minderheiten
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei nicht-muslimischen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Azeris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS20.4.2018).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Kaukasier (6 Mio., davon 90% Tscherkessen), Roma (zwischen 500.000 und 6 Mio., je nach Quelle), Lasen (zwischen 750.000 und 1,5 Mio.) und andere Gruppen in kleiner und unbestimmter Anzahl (Araber, Bulgaren, Bosnier, Pomaken, Tataren und Albaner) (AA 3.8.2018). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihre Kampagnen zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis war dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.4.2018).
Was die kulturellen Rechte betrifft, so ist die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch im öffentlichen Dienst nicht gestattet (EC 17.4.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Zum Beispiel hat der von der Regierung ernannte Treuhänder [nach Ablöse des gewählten Bürgermeisters] des Edremit-Distrikts in der Provinz Van die Verwendung des Armenischen und Kurdischen abgeschafft. Die Behörden haben auch die Entfernung arabischer Aufschriften in bestimmten Gebieten angeordnet. Im April 2017 ordnete die Stadtverwaltung in Adana die Entfernung arabischsprachiger Schilder von Geschäftslokalen an, um "die türkische Sprache zu schützen". Obwohl Kurdisch offiziell in der privaten Bildung und im öffentlichen Diskurs erlaubt ist, hat die Regierung die Erlaubnis zum kurdischen Sprachunterricht nicht auf die öffentliche Bildung ausgeweitet (USDOS20.4.2018).
Die gesetzlichen Einschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in der Primar-und Sekundarstufe blieben bestehen. Optionale Kurse in Kurdisch wurden in öffentlichen staatlichen Schulen und Universitäten in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki weiterhin angeboten. Einige Universitätsdozenten der kurdischen Sprache und Literatur wurden im Januar 2017 durch eine Notverordnung entlassen, was den Mangel an qualifizierten Dozenten auf Kurdisch noch verstärkte. Nach Angaben zivilgesellschaftlicher Organisationen wurden zahlreiche Theater, Bibliotheken, Kultur-und Kunstzentren aufgrund dieses Dekrets geschlossen (EC 17.4.2018). Andere nationale oder ethnische Minderheiten, darunter Assyrer, Caferis, Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen, durften ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (ARC 21.11.2017). Weiterhin werden mit Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" Publikationsverbote ausgesprochen. Dies trifft - teilweise wiederholt - vor allem kurdische oder linke Zeitungen (AA3.8.2018).
Das gesamte Bildungssystem basiert auf dem Türkentum. Auf nicht-türkische Gruppen wird entweder kein Bezug genommen oder sie werden auf eine negative Weise dargestellt (MRGI 27.10.2015). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azinlik") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter" und "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Zwar werden Gespräche zwischen der Regierung und Vertretern von Minderheiten fortgesetzt. Trotzdem bleiben Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten ein ernstes Problem. Eine zivilgesellschaftliche Umfrage zu Hassreden in den Medien ergab, dass Artikel/Nachrichten, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten, im Berichtszeitraum zugenommen haben. Antisemitische Rhetorik in den Medien und von Beamten besteht weiterhin (EC17.4.2018).
Die türkische Regierung hat mehrere Male gegenüber dem UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung wiederholt, dass sie keine quantitativen oder qualitativen Daten in Bezug auf den ethnischen Hintergrund ihrer Bürger sammelt, speichert oder verwendet. Allerdings sammeln die Behörden in der Tat Daten zur ethnischen Herkunft der Bürger, zwar nicht für Rechtsverfahren oder zu Studienzwecken, aber zwecks Profilerstellung und Überwachung, insbesondere von Kurden und Roma (EC/DGJC2016).
Die nationale Strategie (2016-2021) und der Aktionsplan (2016-2018) für Roma-Bürger werden umgesetzt, aber der zuständige Ausschuss zur Überwachung und Bewertung der Strategie trat nur einmal zusammen. Es bedarf insbesondere der Zuteilung budgetärer Mittel zur Unterstützung des Aktionsplanes. Laut einer umfassenden Umfrage steigt das Bildungsniveau unter jungen Roma. Davon abgesehen, ist das allgemeine Bildungsniveau unter den Roma niedrig. Extreme Armut und ein Mangel an Gütern des täglichen Bedarfs sind in den Haushalten der Roma nach wie vor weit verbreitet. Die Gesamtbeschäftigungsquote ist mit 31% niedrig. Die Roma leben im Allgemeinen in sehr schlechten Wohnverhältnissen, oft ohne Grundversorgung und mit Segregation konfrontiert. Das Stadterneuerungsprojekt führte häufig dazu, dass Roma-Siedlungen abgerissen und Familien vertrieben wurden. Der Zugang zu öffentlichen Diensten ist für Roma, die keinen ständigen Wohnsitz haben, eine große Herausforderung (EC 17.4.2018).
Quellen:
* AA -Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* ARC -Asylum Research Consultancy (21.11.2017):Turkey Country Report - Update November 2017 [3rd edition], https://www.ecoi.net/en/file/local/1418404/1226_1511364755_5a1313bf4.pdf , Zugriff 10.7.2018
* bpb -Bundeszentrale für politische Bildung (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-imjahr-2017-2018#footnode12-12 , Zugriff11.7.2018
* EC -European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkeyreport.pdf , Zugriff 10.7.2018
* EC/DGJC -EuropeanCommission/Directorate-General for Justice and Consumers, EuropeanNetwork of legal experts in gender equality andnon-discrimination (2016): Country report:Non-discrimination -Turkey, http://www.equalitylaw.eu/downloads/3748-2016-tr-country-report-nd ,Zugriff 10.7.2018
* MRGI -Minority Rights GroupInternational (27.10.2015): Education system inTurkey criticised formarginalising ethnic,religious and linguistic minorities, http://minorityrights.org/2015/10/27/education-system-in-turkey-criticised-formarginalising-ethnic-religious-and-linguistic-minorities/ ,Zugriff10.7.2018
* MRGI -Minority Rights GroupInternational (2015): Discrimination Based onColour, Ethnic Origin, Language, Religion and Belief inTurkey's Education System, http://minorityrights.org/wp-content/uploads/2015/10/EN-turkiye-egitim-sistemindeayirimcilik-24-10-2015.pdf , Zugriff 10.7.2018
* MRGI -Minority Rights GroupInternational (6.2018):World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/ , Zugriff 10.7.2018
* USDOS -USDepartmentof State (20.4.2018): Country Report onHuman Rights Practices 2017 -Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html ,Zugriff 10.7.2018
15.1. Kurden
Die Kurden (ca. 20% der Bevölkerung) leben v.a. im Südosten des Landes sowie, bedingt durch Binnenmigration und Mischehen, in den südlich und westlich gelegenen Großstädten (Istanbul, Izmir, Antalya, Adana, Mersin, Gaziantep) (ÖB 10.2017). Mehr als 15 Millionen türkische Bürger haben einen kurdischen Hintergrund und sprechen einen der kurdischen Dialekte (USDOS 20.4.2018). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 3.8.2018). Einige Universitäten bieten Kurdisch-Kurse an, und zwei Universitäten haben Abteilungen für die Kurdische Sprache (USDOS 20.4.2018).
Die kurdischen Gemeinden waren überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt. Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien berichteten von zunehmenden Problemen bei der Ausübung der Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit (USDOS 20.4.2018). Hunderte von kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.4.2018; vgl. EC 17.4.2018). Durch eine sehr weite Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus wurden die Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der Kurdenfrage auseinandersetzen, zunehmend eingeschränkt (EC 17.4.2018). Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio-und Fernsehsender. Am 16.08.16 wurde z. B. die Tageszeitung "Özgür Gündem" per Gerichtsbeschluss geschlossen. Der Zeitung wird vorgeworfen, "Sprachrohr der PKK" zu sein (AA 3.8.2018; vgl. EFJ 30.10.2016). Im Jahr 2017 wurden kurdische Journalisten wegen Verbindungen zur bewaffneten kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wegen ihrer Berichterstattung verfolgt und inhaftiert. Dutzende von Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die sich an einer Solidaritätskampagne mit der inzwischen geschlossenen pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem beteiligten, wurden wegen terroristischer Propaganda verfolgt (HRW 18.1.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Die Verschlechterung der Sicherheitslage in der Region seit dem Zusammenbruch des Friedensprozesses im Jahr 2015 setzte sich fort und betraf im Jahr 2017 die städtischen Gebiete in geringerem Maße. Stattdessen waren ländliche Gebiete zusehends betroffen. Es gab keine Entwicklungen in Richtung der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses, der für eine friedliche und nachhaltige Lösung notwendig ist. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden zahlreiche kurdische Lokalpolitiker wegen angeblicher Verbindung zur PKK inhaftiert. Im Osten und Südosten gab es zahlreiche neue Festnahmen und Verhaftungen von gewählten Vertretern und Gemeindevertretern auf der Basis von Vorwürfen, terroristische Aktivitäten zu unterstützen. An deren Stelle wurden Regierungstreuhänder ernannt (EC 17.4.2018; vgl. AM12.3.2018, USDOS 20.4.2018).
Mehr als 90 Bürgermeister wurden durch von der Regierung ernannte Treuhänder ersetzt. 70 von ihnen befinden sich in Haft. Insgesamt wurden mehr als 10.000 Funktionäre und Mitglieder der pro-kurdischen HDP verhaftet (AM 12.3.2018; vgl. USDOS 20.4.2018).
Die pro-kurdische HDP schaffte bei den Wahlen im Juni 2018 den Wiedereinzug ins Parlament mit einem Stimmenanteil von 11,5% und 68 Abgeordneten, dies trotz der Tatsache, dass der Spitzenkandidat für die Präsidentschaft und acht weitere Abgeordnete des vormaligen Parlaments im Gefängnis saßen, und Wahlbeobachter der HDP schikaniert wurden (MME 25.6.2018). Während des Wahlkampfes bezeichnete der amtierende Präsident und Spitzenkandidat der AKP für die Präsidentschaftswahlen, Erdogan den HDP-Kandidaten Demirtas bei mehreren Wahlkampfauftritten als Terrorist (OSCE 25.6.2018). Bereits im Vorfeld des Verfassungsreferendums 2017 bezeichnete auch der damalige Regierungschef Yildirim die HDP als Terrorunterstützerin (HDN 7.2.2017).
Am 8.9.2016 suspendierte das Bildungsministerium mittels Dekret 11.285 kurdische Lehrer unter dem Vorwurf Unterstützer der PKK zu sein. Alle waren Mitglieder der linksorientierten Gewerkschaft für Bildung und Bildungswerktätige, Egitim Sen (AM 12.9.2016). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.8.2018).
Quellen:
* AA -Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* AM -Al Monitor (12.3.2018): Some 40 million Turks ruled by appointed, not elected, mayors, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/03/turkey-becoming-land-oftrustees.html ,Zugriff11.7.2018
* AM -Al Monitor (12.9.2016): Kurds become new target of Ankara's post-coup purges, https://www.newcoldwar.org/kurds-become-new-target-of-ankaras-post-coup-purges/ , Zugriff10.7.2018
* CB -Covcas Bulletin (22.9.2015): The revival of Turkey's 'lynching' culture, http://www.covcasbulletin.info/?p=1730 ,Zugriff 11.7.2018
* EC -European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkeyreport.pdf ,Zugriff 11.7.2018
* EFJ -European Federation of Journalists (30.10.2016): Turkish government shuts down 15 Kurdish media outlets, http://europeanjournalists.org/blog/2016/10/30/turkish-government-shuts-down-15kurdish-media-outlets/ ,Zugriff11.7.2018
* HDN -Hürriyet Daily News (7.2.2017): Main opposition in same boat as terrorsupporting HDP: PM Yildirim, http://www.hurriyetdailynews.com/main-opposition-insame-boat-as-terror-supporting-hdp-pm-yildirim-109443 ,Zugriff 11.7.2018
* HRW -Human Rights Watch (18.1.2018): World report 2018 -Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1422518.html ,Zugriff11.7.2018
* MME -Middle East Eye (25.6.2018) Turkey election: Erdogan wins, the opposition crashes - but don't write off the HDP, http://www.middleeasteye.net/columns/turkeyelection-erdogan-wins-akp-chp-opposition-crashes-dont-write-off-hdp-776290051 , Zugriff11.7.2018
* OSCE/ODIHR -Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671 ? download=true, Zugriff 26.6.2018
* USDOS -US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 -Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 11.7.2018
16. Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit im Land, Reisen ins Ausland, Auswanderung und Repatriierung werden gesetzlich garantiert, die Regierung schränkt diese Rechte allerdings ein. Die Verfassung besagt, dass die Reisefreiheit innerhalb des Landes nur durch einen Richter in Zusammenhang mit einer strafrechtlichen Untersuchung oder Verfolgung eingeschränkt werden kann. Die Regierung beschränkte Auslandsreisen für Zehntausende von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen wird. Die Bewegungsfreiheit ist auch im Osten und Südosten des Landes angesichts des Konfliktes zwischen Sicherheitskräften und der PKK sowie deren Unterstützer ein Problem. Beide Konfliktparteien errichten Kontrollpunkte und Straßensperren. Die Regierung schuf spezielle Sicherheitszonen und rief Ausgangssperre in mehreren Provinzen als Reaktion auf die PKK-Angriffe aus. Flüchtlinge, die den Status des bedingten Asyls haben sowie Syrer, denen sog. temporärer Schutz gewährt wurde, erfahren ebenfalls Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit. Flüchtlinge mit bedingtem Schutzstatus bedürfen einer Erlaubnis der örtlichen Behörden, um in andere als die ihnen zugewiesenen Städte reisen zu können. Syrern ist das Verlassen der auf ihrer Registrierungskartevermerkten Provinz ohne Genehmigung verboten (USDOS 20.4.2018).
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Seit dem Putschversuch verhängen türkische Behörden vermehrt Ausreiseverbote. Diese werden an allen Land-, See-und Luftgrenzübergängen überprüft. Die illegale Ein-und Ausreise ist strafbar (AA 3.8.2018).
Am 12.12.2017 verkündete der türkische Innenminister, Süleyman Soylu, dass seit dem Putschversuch 234.419 Pässe als Teil der Ermittlungen gegen die Gülen-Bewegung annulliert worden sind (TM 12.12.2017). Die Annullierung erfolgte mit dem Notverordnungsgesetz Nr.667 mit der Begründung, dass die entlassenen Angestellten des öffentlichen Sektors und andere Mitarbeiter eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen und sie eine Mitgliedschaft, Zugehörigkeit oder Verbindung zu terroristischen Organisationen haben. Per Dekret Nr.673 wurden die Pässe der Ehegatten der Betroffenen ebenfalls annulliert. Tausende Pässe wurden auch jenseits des Rechtsrahmens für ungültig erklärt, wo keinerlei vermeintliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen und somit eine Gefährdung der nationalen Sicherheit vorlagen (PPJ 10.3.2018). Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das türkische Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN25.7.2018; vgl. TM 25.7.2018).
Die türkische Regierung hat Anfang Jänner 2017 ein Dekret erlassen, dank dem sie im Ausland lebende Türken unter bestimmten Bedingungen die Staatsbürgerschaft entziehen kann. Die entsprechenden Notstandsdekrete gelten für Personen, die schwerer Straftaten (etwa Putschversuche, Gründung einer bewaffneten Organisation) beschuldigt werden und trotz Aufforderung nicht innerhalb von drei Monaten in ihre Heimat zurückkehren (ZO 7.1.2017).
Quellen:
* AA -Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* HDN -Hürriyet Daily News (5.1.2018): CHP leader vows to win Istanbul despite mayor row, http://www.hurriyetdailynews.com/chp-leader-vows-to-win-istanbul-despite-mayor-row-125306 ,Zugriff 9.7.2018
* HDN -Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155350-passports-135000 ,Zugriff 17.9.2018
* PPJ -Platform Peace and Justice (10.3.2018): Cancellations Of Turkish Passports And Prevention Of The Freedom Of Movement, http://www.platformpj.org/wp-content/uploads/Cancellation-of-Turkish-Passports.pdf ,Zugriff 9.7.2018
* TM -Turkish Minute (12.12.2017): Turkish interior minister: 55,665 jailed, 234,419 passports revoked over Gülen links, https://www.turkishminute.com/2017/12/12/turkish-interior-minister-55665-jailed-234419-passports-revoked-over-gulen-links/ , Zugriff 6.7.2018
* TM -Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictionsfrom-155350-passports/ , Zugriff 17.9.2018
* USDOS -US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 -Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 6.7.2018
* ZO -Zeit Online (7.1.2017): Kabinett kann Türken nun Staatsbürgerschaft entziehen, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-01/recep-tayyip-erdogan-tuerkeistaatsbuergerschaft-entzug-ausland ,Zugriff 9.7.2018
17. Binnenflüchtlinge(IDPs)
Zwischen 355.000 und 500.000 Menschen wurden seit Dezember 2015 aufgrund von Spannungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften vertrieben. Der humanitäre Zugang ist sehr begrenzt. Wiederkehrende Ausgangssperren und zerstörte Gebäude verhindern eine Rückkehr in die betroffenen Gebiete im Südosten (ACAPS 8.6.2018). Die Gesamtzahlen blieben zum Jahresende 2017 unklar (USDOS 20.4.2018). Das Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) zählte mit Ende 2017 unter Berufung auf diverse Quellen und unter Einbeziehung der bis dato nicht berücksichtigten Ortschaften Idil, Sirnak and Yüsekova sogar 1,113.000 Binnenflüchtlinge unter der Anmerkung, dass die Regierung 2017 humanitären Organisationen keinen vollständigen Zugang gewährte, um unabhängige und unparteiische Bewertungen der humanitären Lage bzw. der Schutzbedürfnisse der Binnenflüchtlinge vorzunehmen (IDMC 2018).
Einige Stadtteile des Bezirks Sur in Diyarbakir waren weiterhin für die Öffentlichkeit gesperrt. Nur einem geringen Prozentsatz der Binnenvertriebenen wurden neue Unterkünfte und eine umfassende Unterstützung angeboten, einschließlich Kompensationszahlungen. Die Enteignungen im Bezirk Sur durch die Regierung im Jahr 2016 bleibt eine offene rechtliche Frage. Eingebrachte Klagen gegen die Enteignung sind von den Verwaltungsgerichten zurückgewiesen worden (EC 17.4.2018). In Sur verloren die bereits während der Ausgangssperren vertriebenen Bewohner ein zweites Mal ihr Zuhause, als sie im Zuge des Sanierungsvorhabens des gesamten Stadtteils zwangsgeräumt wurden. Im Mai 2017 wurden Hunderte Bewohner von der Wasser-und Stromversorgung abgeschnitten, offenbar in dem Versuch, sie zum Auszug zu bewegen (AI 22.2.2018; vgl. SCF 25.8.2017).
Ein Abklingen der Zusammenstöße in den Städten und der Wiederaufbau der Regierung im Laufe des Jahres 2017 ermöglichten es einigen Binnenvertriebenen, in ihre Heimat zurückzukehren (USDOS 20.4.2018).
Die Situation der Binnenvertriebenen hat sich infolge der Gewalt im Südosten nur unwesentlich verbessert. Der Investitionsplan der Regierung für den Wiederaufbau geschädigter Gebiete im Südosten hat zum Bau von Tausenden von Wohnungen geführt, aber bisher haben nur wenige Binnenvertriebene eine Entschädigung erhalten (EC 17.4.2018). Das Gesetz erlaubt es Personen, die durch terroristische Handlungen, einschließlich derer der PKK oder der Sicherheitskräfte als Reaktion auf terroristische Handlungen, materielle Verluste erlitten haben, sich an die Schadensfeststellungskommissionen der Regierung zu wenden. Im Oktober 2017 berichtete die Regierung, dass sie 222,4 Millionen Lira (zum damaligen Zeitpunkt 60 Mio. US-Dollar) an mehr als 10.000 Opfer verteilt hatte (USDOS 20.4.2018). Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen aus der Südosttürkei hat die Regierung die finanzielle Entschädigung für zerstörte Wohnungen von der Unterzeichnung einer Erklärung der Eigentümer abhängig gemacht, wonach ihr Eigentum durch "terroristische Aktivitäten" [und nicht durch die Sicherheitskräfte] zerstört wurde. Familien, die Berichten zufolge gezwungen wurden, solche Erklärungen zu unterzeichnen, betrachteten dies als Versuch den Verlauf der Ereignisse von 2015 bis 2016 zu verfälschen, was zukünftige Bemühungen zur Feststellung der Verantwortlichen behindern könnte (OHCHR 2.2017).
Quellen:
* ACAPS (8.6.2018): Turkey - Displacement, https://www.acaps.org/country/turkey/crisis-analysis ,Zugriff5.7.2018
* AI -Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 -The State of the World's Human Rights -Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425117.html , Zugriff5.7.2018
* EC -European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417turkey-report.pdf ,Zugriff5.7.2018
* IDMC -Internal Displacement Monitoring Centre (2018): TURKEY -Global Report on Internal Displacement (GRID 2018) http://www.internal-displacement.org/sites/default/files/2018-05/GRID 2018 Figure Analysis - TURKEY.pdf,Zugriff 5.7.2018
* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (2.2017): Report on the human rights situation in South-East Turkey; July 2015 to December 2016, https://www.ecoi.net/en/file/local/1395175/1226_1489578695_ohchr-south-eastturkeyreport-10march2017.pdf ,5.7.2018
* SCF -Stockholm Center for Freedom (25.8.2017): Turkish police besiege World Heritage Site Sur, forcibly evict hundreds of Kurds, https://stockholmcf.org/turkishpolice-besiege-world-heritage-site-sur-forcibly-evict-hundreds-of-kurds/ , Zugriff 5.7.2018
* USDOS -US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 -Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 5.7.2018
18. Grundversorgung/Wirtschaft
Für die Türkei werden Marktturbulenzen, starke Währungsabwertungen und erhöhte Unsicherheiten erwartet, die Investitionen und die Konsumnachfrage belasten und eine deutliche negative Korrektur der Wachstumsaussichten rechtfertigen. In der Türkei führten die Besorgnis über die zugrunde liegenden Fundamentaldaten und die politischen Spannungen mit den Vereinigten Staaten zu einer starken Abwertung der Währung (27% zwischen Februar und Mitte September 2018) und sinkenden Vermögenswerten. Das Wachstum in der Türkei war 2017 und Anfang 2018 sehr stark, dürfte sich aber deutlich abschwächen. Das reale BIP-Wachstum wird für 2018 mit 3,5% prognostiziert, soll aber entgegen den positiven ursprünglichen Prognosen 2019 auf 0,4% sinken. Die türkische Wirtschaft ist nach wie vor sehr anfällig für plötzliche Veränderungen der Kapitalströme und geopolitischen Risiken (IMF8.10.2018).
Die Arbeitslosigkeit bleibt ein gravierendes Problem und verharrt trotz leichter Erholung bei knapp 11% (September 2017). Aus der jungen Bevölkerung drängen jährlich mehr als eine halbe Million Arbeitssuchende auf den Arbeitsmarkt, können dort aber nicht vollständig absorbiert werden. Die bereits hohe Jugendarbeitslosigkeit stieg 2017 gegenüber dem Vorjahr weiterhin an. Hinzu kommt das starke wirtschaftliche Gefälle zwischen strukturschwachen ländlichen Gebieten (etwa im Osten und Südosten) und den wirtschaftlich prosperierenden Metropolen. Auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen wandert die ländliche Bevölkerung daher weiterhin in die Städte und industriellen Zentren ab. Herausforderungen für den Arbeitsmarkt bleiben der weiterhin hohe Anteil der Schwarzarbeit und die niedrige Erwerbsquote von Frauen. Dabei bezieht der überwiegende Teil der in Industrie, Landwirtschaft und Handwerk erwerbstätigen Arbeiter und Arbeiterinnen weiterhin den offiziellen Mindestlohn. Er wurde für das Jahr 2017 auf 1.777,50 Lira brutto festgesetzt. Die Entwicklung der Realeinkommen hält mit der Wirtschaftsentwicklung nicht Schritt, so dass insbesondere die einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten empfindlich am Rande des Existenzminimums leben (AA 10 .2017c).
Das türkische Arbeitsrecht muss noch an die EU-Standards angepasst werden. Obwohl die nicht registrierte Beschäftigung auf 27,8% zurückgegangen ist, bestehen weiterhin große Unterschiede in Bezug auf Sektor, Beschäftigungsstatus und Geschlecht (BS2018).
Quellen:
* AA -Auswärtiges Amt (10.2017c): Wirtschaft, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/wirtschaft/ 01964#content_1, Zugriff 4.7.2018
* BS -Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 - Turkey Country Report, http://www.btiproject.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI_2018_Turkey.pdf , Zugriff4.7.2018
* IMF - International Monetary Found (8.10.2018): World Economic Outlook - Challenges to Steady Growth, https://www.imf.org/~/media/Files/Publications/WEO/2018/October/English/mainreport/Text.ashx?la=en ,Zugriff17.10.2018
18.1. Sozialbeihilfen/-versicherung
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294 über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, Gesetz über Organisation und Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardimlasma ve Dayanisma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (AA 3.8.2018).
Nach dem im April 2014 in Kraft getretenen Gesetz Nr. 6453 über Ausländer und internationalen Schutz haben auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 3.8.2018).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber verschiedene Programme für mittellose Familien, wie z.B. Sachspenden (Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien, etc.), Kindergeld (10-20 EUR pro Kind/pro Monat, nach Alter und Geschlecht gestaffelt, Mädchen bekommen etwas mehr), finanzielle Unterstützung für Schwangere (ca. 50 EUR pro Schwangerschaft), Wohnprogramme, Einkommen für Behinderte und Altersschwache (50-130 EUR/Monat nach Alter und Grad der Behinderung gestaffelt). Des Weiteren beziehen Witwen die sogenannte "Witwenunterstützung", die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (ca. 70% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch Max. 250 EUR/Monat) (ÖB 10.2017).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts-und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden (SGK 2016b).
Quellen:
* AA -Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* ÖB -Österreichische Botschaft -Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
* SGK -Sosyal Güvenlik Kurumu (Anstalt für Soziale Sicherheit) (2016a): Das Türkische Soziale Sicherheitssystem, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/de/detail/das_turkische ,Zugriff 4.7.2018
* SGK -Sosyal Güvenlik Kurumu (Anstalt für Soziale Sicherheit) (2016b): Financing of Social Security, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/social_security_system/social_security_system , Zugriff 4.7.2016
18.2. Arbeitslosenunterstützung
Alle Arbeitnehmer, einschließlich derer, die in der Landwirtschaft, im Forstwesen und im Bereich Dienstleistung tätig sind, sind unterstützungsberechtigt, wenn sie zuvor ein geregeltes Einkommen im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung erhalten haben. Selbständige sind nicht anspruchsberechtigt. Die durchschnittliche Arbeitslosenhilfe ist auf den Betrag des Mindestlohnes begrenzt. Benötigte Dokumente sind: ein entsprechender Antrag an das Direktorat des Türkischen Beschäftigungsbüros (ISKUR) innerhalb von 30 Tagen nach Verlust des Arbeitsplatzes, einschließlich schriftlicher Bestätigung vom Arbeitnehmer und der Personalausweis (IOM 12.2015). Der Arbeitnehmer muss die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken-und Mutterschutzversicherung (ÖB 10.2017).
Unterstützungsleistungen: 600 Tage Beitragszahlung ergeben 180 Tage Arbeitslosenhilfe; 900 Tage Beitragszahlung ergeben 240 Tage Arbeitslosenhilfe; 1.080 Tage Beitragszahlung ergeben 300 Tage Arbeitslosenhilfe (IOM 2017; vgl. ÖB 10.2017). Das zentrale Arbeitsamt nimmt Bewerbungen entgegen und bietet türkischen Staatsbürgern Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche an. Die Behörde verfügt über Filialen im ganzen Land. Weitere Informationen stehen hier zur Verfügung: www.iskur.gov.tr (IOM2017).
Quellen:
* IOM -International Organisation for Migration (12.2015): Länderinformationsblatt Türkei 2015
* IOM -International Organisation for Migration (2017): Country Fact Sheet Türkei 2017, http://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2017_T ürkei_DE.pdf, Zugriff4.7.2018
* ÖB -Österreichische Botschaft -Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
19. Medizinische Versorgung
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und postoperationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, aufgrund der staatlichen sanitären Zustände in den Spitälern und der Hygienestandards, die nicht dem westlichen Standard entsprechen. Dies gilt v.a. in staatlichen Spitälern in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten (ÖB 10.2017). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert -vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite -vor allem in ländlichen Provinzen -bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es 2016 1.510 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 217.771 Betten, davon ca. 58% in staatlicher Hand (AA 3.8.2018). Die Gesundheitsreform ist als Erfolg zu werten, da mittlerweile 90% der Bevölkerung eine Krankenversicherung haben, die Müttersterblichkeit bei Geburt um 70%, die Kindersterblichkeit um 2/3 gesunken ist, und dies von der Welt Bank als eine der größten Erfolgsgeschichten bezeichnet wird. Allerdings warnt die Welt Bank vor explodierenden Kosten. Zahlreiche Ärzte kritisieren die sinkende Qualität der Behandlungen (aufgrund der reduzierten Konsultationsdauer und der geringeren Ressourcen pro Patient) (ÖB 10.2017).
Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. Im Fall von Krebsbehandlungen kann nach aktuellen Medienberichten aufgrund des gesunkenen Wertes der türkischen Währung keine ausreichende Versorgung mit bestimmten Medikamenten aus dem Ausland gewährleistet werden; es handelt sich aber nicht um ein flächendeckendes Problem (AA 3.8.2018).
Auch durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen. Das neu eingeführte, seit 2011 flächendeckend etablierte Hausarztsystem ist von der Eigenanteil-Regelung ausgenommen. Nach und nach soll das Hausarztsystem die bisherigen Gesundheitsstationen (Saglik Ocagi) ablösen und zu einer dezentralen medizinischen Grundversorgung führen. Die Inanspruchnahme des Hausarztes ist freiwillig (AA3.8.2018).
Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der "Praxisgebühr" unentgeltlich. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es nach wie vor üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden (AA 3.8.2018). NGOs, die sich um Bedürftige kümmern, sind in der Türkei vereinzelt in den Großstädten vorhanden, können jedoch kaum die Grundbedürfnisse der Bedürftigen abdecken (ÖB 10.2017).
Um vom türkischen Gesundheits -und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Guvenlik Kurumu -SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Sobald man bei der SGK versichert ist, erhält man folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Beiträge sind einkommensabhängig (zwischen 65,88 TRY und 395,28 TRY) (IOM 2017). Die SGK refundiert auch die Kosten in privaten Hospitälern, sofern mit diesen ein Vertrag besteht. Die Kosten in privaten Krankenhäusern unterliegen, je nach Qualitätsstandards, gewissen, von der SGK vorgegebenen Grenzen. Die Kosten dürfen maximal 90% über denen von der SGK verrechneten liegen. Notfalldienste, Intensivmedizin, Verbrennungen, Krebstherapie, Neugeborenenversorgung, alle Transplantationen, Operationen bei angeborenen Anomalien, Hämodialyse und kardiovaskuläre Chirurgie sind von diesen zusätzlichen Zahlungen im privaten Sektor ausgenommen. Für die stationäre Versorgung kann das Privatkrankenhaus dem Patienten einen Zuschlag für Unterbringungsleistungen in Rechnung stellen (IBZ10.7.2015).
Die meisten Rückkehrer, die über keine Krankenversicherung verfügen und eine Aufenthaltserlaubnis besitzen und bereits mindestens ein Jahr in der Türkei leben, müssen monatlich in den Fond einzahlen. Dazu müssen sie im System registriert sein und mindestens 180 Tage Beitragszahlungen leisten. Rückkehrer werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Kinder gelten automatisch als versichert, sobald die Elternbeider SGK registriert sind (IOM 2017).
Der Mindestbetrag für die Grundversorgung - sofern keine Versicherung durch den Arbeitgeber bereits besteht - beträgt zwischen 6-12% des monatlichen Einkommens. Personen ohne ein reguläres Einkommen müssen ca. 15 EUR/Monat in die Krankenkasse einzahlen. Bei Nachweis über ein sehr geringes Einkommen (weniger als 150,-EUR/Monat) werden die Grundversorgungsbeiträge vom Staat übernommen(ÖB10.2017).
Die Einrichtungen sind auf Personen mit besonderen Bedürfnissen abgestimmt (Familien, Kinder, Senioren und erkrankte Menschen, Menschen mit psychischen Erkrankungen) sowie auf ökonomisch benachteiligte Menschen. Der Patient kann sich direkt an eine Apotheke (ECZANE) wenden, ohne vorher einen Anmeldevorgang durchlaufen zu müssen. Apotheken sind überall verfügbar. Für einige Medikamente benötigt man ein grünes bzw. ein rotes Rezept. Andere Medikamente können ohne Rezept gekauft werden(IOM2017).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Insgesamt standen 2016 zwölf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.400 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen von einigen Regionalkrankenhäusern (AA 3.8.2018). Insgesamt 32 therapeutische Zentren für Alkohol-und Drogenabhängige (AMATEM) befinden sich in Adana, Ankara (4), Antalya, Bursa (2), Denizli, Diyabakir, Edirne, Elazig, Eskisehir, Gaziantep, Istanbul (5), Izmir (3), Kayseri, Konya, Manisa, Mersin, Sakarya, Samsun, Tokat und Van (2) (AA 3.8.2018).
Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite, allerdings versorgt das Gesundheitsministerium derzeit alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphinen, auch können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten künftig in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittelerwerben (AA 3.8.2018).
Im Rahmen der häuslichen Krankenbetreuung sind in allen Landesteilen staatliche mobile Teams im Einsatz (bestehend meist aus Arzt, Krankenpfleger, Fahrer, ggf. Physiotherapeut etc.), die Kranke zu Hause betreuen. Etwa 15% der Bevölkerung profitiert von diesen Angeboten(AA3.8.2018).
Eine AIDS-Behandlung kann in allen Provinzen mit Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 3.8.2018).
Quellen:
* AA -Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* IBZ -Federal Public Service Home Affairs General Directorate Aliens' Office Belgium, MedCOI -Belgian Desk on Accessibility (10.7.2015): Country Fact Sheet Access to Healthcare: Turkey, Zugriff 4.7.2018
* IOM -International Organisation for Migration (2017): Country Fact Sheet Türkei 2017, http://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2017_T ürkei_DE.pdf, Zugriff2.7.2018
* ÖB -Österreichische Botschaft -Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
20. Behandlung nach Rückkehr
Türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen Gefahr polizeilicher oder justizieller Maßnahmen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen (AA 3.8.2018). Personen die für die PKK oder eine Vorfeldorganisation der PKK tätig waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Ähnliches gilt für andere Terrororganisationen (z.B. DHKP-C, türkische Hisbollah, Al-Qaida) (ÖB 10.2017). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische PYD bzw. die YPG als von der als terroristisch eingestuften PKK geschaffene Organisationen, welche mit der PKK hinsichtlich der Führungskader, der Organisationsstrukturen sowie der Strategie und Taktik verbunden sind (MFAo.D.).
Seit dem versuchten Militärputsch im Juni 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung sind, als Terroristen gesehen. Auf die sog. Mitglieder der "FETÖ" (Fetullah-Gülenistische Terrororganisation), die im Ausland leben, werden von der Türkei Einreiseverbote verhängt. Hierbei handelt es sich meistens um nicht-türkische Staatsbürger mit türkischem Ursprung (ÖB 10.2017). Die türkische Regierung hat im Nachgang zu dem Putschversuch 2016 zahlreiche ausländische Regierungen um Mithilfe bei der Ermittlung von Mitgliedern des sog. "Gülen-Netzwerkes" gebeten. Es ist wahrscheinlich, dass türkische Stellen Regierungsgegner und Gülen-Anhänger im Ausland ausspähen. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung zumindest als Propaganda für eine terroristische Organisation führen (AA 3.8.2018).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Es ist in den letzten Jahren jedoch kein Fall bekannt geworden, indem ein in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist(AA3.8.2018).
Rückkehrprobleme im Falle einer Asylantragstellung im Ausland sind keine bekannt. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraph 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB10.2017).
Türkischen Staatsangehörigen im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden ihre Pässe für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt, mit dem sie in die Türkei zurückkehren, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, aber auch Kurden und Journalisten (UKHO 2.2018).
Es gibt Vereine, welche von türkischen Rückkehrern gegründet wurden. Hier werden spezielle Programme angeboten, welche die Rückkehrer in Fragen wie Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen und zugleich eine Netzwerkplattform zur Verfügung stellen. Im Folgenden eine kleine Auswahl:
Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çigdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@linkturkey.com
Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://brueckeistanbul.com/
TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail. almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 10.2017).
Quellen:
* AA -Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* EP -European Parliament, Vice-President Mogherini on behalf of the Commission (23.6.2016): Answer given by Vice-President Mogherini on behalf of the Commission [E-000843/2016], http://www.europarl.europa.eu/sides/getAllAnswers.do ? reference=E-2016-000843&language=EN,Zugriff 27.1.2017
* MFA -Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs (o.D.): PKK, http://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa ,Zugriff2.7.2018
* ÖB -Österreichische Botschaft -Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
* UKHO -United Kindom Home Office (2.2018): Country Policy and Information Note Turkey: Gülenist movement, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/ attachment_data/file/682868/Turkey_-_Gulenists_-_CPIN_-_v2.0.pdf, Zugriff 2.7.2018
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zu seiner Herkunft, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, zu seiner Schulbildung und seiner beruflichen Tätigkeit in der Türkei, zu zu seiner Antragstellung zur Erlangung internationalen Schutzes ergeben sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers im gesamten Verfahren und den Verwaltungsakten.
Die Feststellungen zu den Deutschkenntnissen, der selbständigen Erwerbstätigkeit, dass er Freunde und Verwandte in Österreich hat und eine Beziehung führt, ergeben sich aus seinen eigenen Angaben sowie einem Firmenbuchauszug vom 08.05.2019.
Die Feststellungen zur strafrechtlichen Unbescholtenheit sowie zum Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung ergeben sich aus dem eingeholten Strafregisterauszug sowie dem GVS-Auszug, jeweils vom 17.04.2019.
Der Beschwerdeführer bringt als Fluchtgrund vor, an drei Demonstrationen teilgenommen und drei Mal inhaftiert worden zu sein, weswegen er schließlich die Türkei verlassen habe. Der Beschwerdeführer war aber nicht in der Lage, sein Fluchtvorbringen in den Einvernahmen vor dem BFA und der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht übereinstimmend zu schildern. Zudem widersprachen die Angaben des Beschwerdeführers den Angaben seines Bruders in dessen Asylverfahren. Dem Beschwerdeführer ist daher eine Glaubhaftmachung seiner Fluchtgründe nicht gelungen.
Hinsichtlich der vom Beschwerdeführer vorgebrachten Teilnahme an Demonstrationen in Istanbul ist darauf hinzuweisen, dass er keine konkreten Daten nennen konnte, wann er daran teilgenommen habe und nicht widerspruchsfrei angeben konnte, wie lange er teilgenommen habe. In der Erstbefragung sprach er davon, im "Juni 2013" daran teilgenommen zu haben (Seite 5 des Protokolls). In der ersten Einvernahme vor dem BFA meinte er, "im Sommer 2013" für "ca. zehn Tage" daran teilgenommen zu haben (Seite 5 des Protokolls der ersten Einvernahme). In der zweiten Einvernahme vor dem BFA gab er an, "Anfang 2013" teilgenommen zu haben. Das genaue Datum wisse er nicht mehr, aber er glaube, es sei "nach dem 10.06.2013" gewesen (Seite 4 des Protokolls der zweiten Einvernahme). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erklärte der Beschwerdeführer, "Anfang Juni 2013" an den Demonstrationen teilgenommen zu haben. Die Demonstrationen hätten "20 Tage" gedauert und er sei "jeden Tag dort" gewesen (Seite 8 des Verhandlungsprotokolls). Damit konnte der Beschwerdeführer nur vage angeben, wann diese Demonstrationen stattgefunden hätten. Hinsichtlich der Dauer seiner eigenen Teilnahme machte er zudem völlig widersprüchliche Angaben.
Der Beschwerdeführer gab in der Erstbefragung, den Einvernahmen vor dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht an, dass sowohl er als auch sein Bruder bei den Demonstrationen in Istanbul teilgenommen hätten (Seite 5 des Protokolls der Erstbefragung, Seite 6 des Protokolls der ersten Einvernahme, Seiten 3 und 4 der zweiten Einvernahme vor dem BFA, Seite 9 des Verhandlungsprotokolls). Während er aber in der Erstbefragung und den Einvernahmen vor dem BFA behauptete, dass er und sein Bruder zwei Mal anlässlich der Demonstrationen festgenommen worden wären (Seite 5 des Protokolls der Erstbefragung, Seite 6 des Protokolls der ersten Einvernahme und Seite 4 des Protokolls der zweiten Einvernahme), behauptete er vor dem Bundesverwaltungsgericht, sein Bruder sei nur einmal festgenommen worden, da sein Bruder "viel schlauer" als er sei (Seite 9 des Verhandlungsprotokolls). Auch diese unterschiedlichen Angaben sprechen nicht dafür, dass dies tatsächlich passiert ist.
Zu den Festnahmen in Istanbul gab er in der zweiten Einvernahme vor dem BFA an, dass er beide Male gemeinsam mit seinem Bruder inhaftiert worden sei. Das zweite Mal habe man sie direkt von zu Hause abgeholt (Seite 4 des Protokolls der zweiten Einvernahme). Auch schon in der ersten Einvernahme vor dem BFA sprach er ausdrücklich davon, dass er und sein Bruder beim zweiten Mal direkt in ihrer Wohnung festgenommen worden wären (Seite 6 des Protokolls der ersten Einvernahme). Umso mehr überrascht es nicht nur, dass der Beschwerdeführer vor dem Bundesverwaltungsgericht nur mehr von einer Festnahme des Bruders spricht, sondern auch, dass der Beschwerdeführer nicht angeben konnte, bei welcher der beiden Festnahmen des Beschwerdeführers auch sein Bruder festgenommen worden wäre. Auf diese Frage konnte er nur eine Vermutung äußern und meinte, er "glaube", sein Bruder sei bei der ersten Festnahme auch festgenommen worden (Seite 10 des Verhandlungsprotokolls). Zudem sprach der Beschwerdeführer vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht mehr davon, beim zweiten Mal zu Hause in seiner Wohnung festgenommen worden zu sein, sondern gab an, dass er zwei Mal auf dieselbe Art festgenommen worden sei. Beide Male sei er bei den Protesten festgenommen worden (Seiten 8 und 11 des Verhandlungsprotokolls). Hätte dies alles tatsächlich stattgefunden, müsste es dem Beschwerdeführer problemlos möglich sein, übereinstimmend anzugeben, wie oft sein Bruder festgenommen worden sei und wo er selbst und sein Bruder festgenommen worden wären. Da der Beschwerdeführer dazu nicht in der Lage war, ist es nicht glaubhaft, dass das von ihm Behauptete tatsächlich passiert ist.
Die Angaben des Beschwerdeführers waren außerdem mit den Angaben seines Bruders in dessen Asylverfahren nicht in Einklang zu bringen. Der Bruder gab nämlich nicht an, dass er an den Demonstrationen in Istanbul teilgenommen habe. Weder in seiner Erstbefragung noch in der Einvernahme vor dem BFA behauptete der Bruder des Beschwerdeführers, dass er an den Demonstrationen in Istanbul teilgenommen habe (OZ 7). Der Bruder behauptete in der Folge auch nicht, im Zuge der Demonstrationsteilnahme festgenommen worden zu sein. Er brachte zwar vor, dass er einmal in Istanbul zur Zeit der Gezi-Demonstrationen von der Polizei festgehalten worden sei, doch stünde diese Festnahme nicht in Zusammenhang mit einer (vom Bruder gar nicht behaupteten) Teilnahme an einer solchen Demonstration. Vielmehr erklärte der Bruder, dass er während der Demonstrationen im Juni 2013 in der Nähe des Gezi-Parks als Kellner gearbeitet habe. Als er einmal um Mitternacht auf dem Nachhauseweg gewesen sei, habe es Ausweiskontrollen gegeben. Ein Polizist habe auf dem Ausweis die Heimatprovinz des Bruders gelesen und daraufhin sei er zur Polizeistation mitgenommen und zwei Tage festgehalten worden. Danach sei er wieder freigelassen worden (Seite 5 des Protokolls der Erstbefragung des Bruders, OZ 7). Auch vor dem BFA wiederholte der Bruder des Beschwerdeführers, dass er in Istanbul bei einer Ausweiskontrolle mitgenommen worden sei. Widersprüchlich zu den Angaben in der Erstbefragung meinte er aber hier, er sei vier Tage bei der Polizei angehalten worden (Seite 4 des Protokolls der Einvernahme, OZ 7). Während der Beschwerdeführer also behauptete, sein Bruder und er selbst hätten an den Demonstrationen in Istanbul teilgenommen und seien dabei auch festgenommen worden, sprach der Bruder mit keinem Wort davon, an den Demonstrationen teilgenommen zu haben und auch seine Festnahme sei nicht wegen einer Demonstrationsteilnahme erfolgt. Der Beschwerdeführer machte nicht nur widersprüchliche Angaben, wie oft sein Bruder festgenommen worden sei. Seine Angaben widersprechen auch den Ausführungen des Bruders, der eine Teilnahme an den Demonstrationen nicht behauptete und auch einen anderen Grund für seine Festnahme vorbrachte.
Der Beschwerdeführer behauptete auch in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich, dass sein Bruder und er bei demselben Protest festgenommen worden wären. Auf den Vorhalt, dass sein Bruder angab, im Zuge einer Ausweiskontrolle festgenommen worden zu sein, meinte der Beschwerdeführer lapidar, sein Bruder habe es wahrscheinlich durcheinandergebracht (Seite 10 des Verhandlungsprotokolls). Zu überzeugen vermag dieser Erklärungsversuch nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Bruder eine Demonstrationsteilnahme nicht erwähnen und nur von einer Ausweiskontrolle sprechen sollte, wenn er - wie der Beschwerdeführer behauptet - an einer Demonstration teilgenommen hätte. Der Beschwerdeführer konnte daher die aufgetretenen Widersprüche zu den Angaben seines Bruders nicht aufklären.
Der Beschwerdeführer war überdies auch außer Stande, zu den näheren Umständen der beiden Festnahmen in Istanbul gleichbleibende Angaben zu tätigen. Wie bereits weiter oben ausgeführt, gab der Beschwerdeführer vor dem BFA an, in Istanbul einmal bei einer Demonstration und ein weiteres Mal direkt von zu Hause aus festgenommen worden zu sein (Seiten 5 und 6 des Protokolls der ersten Einvernahme). Demgegenüber gab der Beschwerdeführer vor dem Bundesverwaltungsgericht an, dass er beide Male bei den Demonstrationen festgenommen worden sei. Als die Polizei gekommen sei, hätten sie versucht wegzulaufen. Manchmal hätten sie diese Möglichkeit nicht gehabt und seien so zwei Mal festgenommen worden (Seite 8 des Verhandlungsprotokolls). Eklatant widersprüchlich sind die Schilderungen des Beschwerdeführers zur zweiten Festnahme in Istanbul. Um dies zu veranschaulichen, werden im Folgenden die entsprechenden Passagen aus dem Einvernahmeprotokoll vor dem BFA und dem Verhandlungsprotokoll zitiert. In der Einvernahme vor dem BFA gab der Beschwerdeführer an (Seite 7 des Protokolls der ersten Einvernahme):
"F: Wenn Sie sagen, dass Sie nach Ihrer ersten Verhaftung, die Wohnung nicht mehr verließen und anschließend in Ihr Heimatdorf zurückkehrten. Wann war Ihre zweite Verhaftung?
A: es war ca. eine Woche nach unserer Entlassung, wir wurden von den Polizisten direkt von der Wohnung verhaftet.
...
F: Erzählen sie bitte genau und detailliert von dem Tag an dem die Polizei zu Ihnen kam und Sie verhaftete?
A: Die Polizisten waren in Zivil, sie sagten es war etwas von der Einvernahme nicht klar, sie benötigen noch weitre Informationen von uns, wir sollen bitte mitkommen. Wir wurden im Revier noch einmal einvernommen, sie wollten weitere Informationen, warum wir bei der Demonstration mitmachten, ob wir eine Organisation angehören, nach unserer politischen Einstellung. Es war eine reine Befragung, wir wurden nicht misshandelt oder geschlagen. Wir waren drei Tage dort."
In der mündlichen Verhandlung gab der Beschwerdeführer an (Seiten 9 und 10 des Verhandlungsprotokolls):"R: Nach der zweiten Festnahme, was machten Sie danach?
BF: Beim zweiten Mal waren viele Leute. Wir haben an einem Protestmarsch teilgenommen. Wir sind über die Grenze unseres Gebietes (unseres Viertels) gegangen. Sie haben uns geschlagen und festgenommen.
R: Wie lief dies genau ab, als sie festgehalten wurden, sie wurden auch geschlagen. Wie lief dies genau ab!
BF: Beim letzten Marsch, woran ich teilgenommen habe, waren Viele Polizisten die vermummt waren, spezielle Anzüge hatten. Es gab gepanzerte Fahrzeuge. Es wurden Bomben geworfen, wo es überall vernebelt war. Wir konnten nichts sehen, wir wurden festgenommen. Wir hatten Tränen in den Augen.
R: Sie wurden dann wo anders hingebracht. Was passierte dort?
BF: Sie haben uns dann in ein Fahrzeug gebracht. Wir sind dann wo ausgestiegen. Wo wir hinkamen, wusste ich nicht. Wir wurden in einen Raum gebracht und dort wurden wir dann geschlagen.
R: Wie viele andere Leute waren noch dabei?
BF: Die Fahrzeuge waren nicht sehr groß. Wo ich war, waren es fünf Personen. Es gab viele Fahrzeuge. Viele Leute wurden festgenommen.
R: Passierte in diesem Raum wo sie festgehalten worden, noch etwas. Wurden Sie nur geschlagen?
BF: Sie haben uns mit Fußtritten und mit Ohrfeigen geschlagen. Dann wurden wir getrennt. Jeder wurde in einem Raum gebracht. Wir wurden dann gefragt, warum wir so etwas unternehmen. Als ich gesagt habe, dass ich gegen das diktatorische Regime bin, das akzeptiere ich nicht. Nachdem ich das gesagt habe, habe sie mich wieder geschlagen. Es waren auch Abgeordnete der HDP dort, die wurden auch geschlagen. Der Abgeordnete Sirri Skreya ÖNDER ist immer noch im Gefängnis."
Dem Beschwerdeführer wurden in der mündlichen Verhandlung seine widersprüchlichen Angaben zum Ort der zweiten Festnahme auch vorgehalten. Darauf behauptete er, er hätte nie gesagt, zu Hause festgenommen worden zu sein (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls). Diesbezüglich ist darauf zu verweisen, dass gemäß § 15 AVG, soweit nicht Einwendungen erhoben wurden, eine gemäß § 14 AVG aufgenommene Niederschrift über den Verlauf und den Gegenstand der betreffenden Amtshandlung vollen Beweis liefert, wobei der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des bezeugten Vorganges zulässig bleibt (vgl. VwGH 28.03.2019, Ra 2018/14/0381). Fallbezogen sind Einwendungen des Beschwerdeführers weder aktenkundig, noch wird behauptet, der Beschwerdeführer hätte Einwendungen im Sinn des § 14 Abs. 3 AVG erhoben (Seite 7 des Protokolls der ersten Einvernahme). Zudem bestätigte der Beschwerdeführer die Richtigkeit des Protokolls, indem er jede Seite des Protokolls unterschrieb. In der Beschwerde wird dann erstmals behauptet, dass der Dolmetscher falsche Angaben übersetzt hätte und Einvernahmeprotokoll nur ungenügend rückübersetzt habe, so dass der Beschwerdeführer keine Möglichkeit gehabt hätte, eventuelle Falschprotokollierungen auszubessern. In der Beschwerde bringt der Beschwerdeführer aber dann nicht vor, dass die Protokollierung, er sei beim zweiten Mal direkt von zu Hause aus festgenommen worden, falsch sei und er tatsächlich auch beim zweiten Mal bei dem Protest festgenommen worden wäre. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde der Beschwerdeführer zu dem Vorwurf der falschen Protokollierung auch befragt, doch konnte er hier nicht einmal angeben, bei welcher der beiden Einvernahmen es zu Problemen gekommen sei. Der Beschwerdeführer wurde in Traiskirchen von der (uniformierten) Polizei erstbefragt und die beiden Einvernahmen vor dem BFA erfolgten in St. Pölten, von nicht uniformierten Personen. Die Befragung zu den vom Beschwerdeführer behaupteten Problemen mit dem Dolmetscher gestaltete sich in der mündlichen Verhandlung wie folgt (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls):
"R: Sie haben erwähnt, dass es bei der zweiten Einvernahme Probleme gegeben hätte. Erklären Sie dies genauer!
BF: Wegen meiner Ausreise. Ich wusste nicht, an welchem Datum ich Istanbul verlassen habe. So habe ich es auch gesagt. Alle anderen Daten habe ich nicht gesagt, dass wurde einfach so hingeschrieben. Ich habe dies nicht akzeptiert.
R: Bei welcher Einvernahme war dies?
BF: Bei der Polizei. Nachgefragt gebe ich an, die erste Einvernahme in Traiskirchen. Ich meine damit die zweite Einvernahme, die ich hatte.
R: Es hat insgesamt drei Befragungen gegeben. Die erste war in Traiskirchen, die anderen zwei waren in St. Pölten. Bei welcher Einvernahme gab es die Schwierigkeiten?
BF: Ich glaube es war bei der Polizei in St. Pölten. Die waren uniformiert.
R: Können Sie sicher sagen, ob es in Traiskirchen oder in St. Pölten war?
BF: Ich glaube, ich hatte nur eine Einvernahme in St. Pölten hatte. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass ich zwei Mal in St. Pölten einvernommen wurde. Es war damals auch ein Dolmetscher dabei. Es könnte in der Kommunikation ein Fehler passiert sein."
Der Beschwerdeführer konnte nicht zweifelsfrei angeben, wo es die angeblichen Probleme mit dem Dolmetscher gegeben hätte. Darüber hinaus behauptete er auch nur, dass er die Datumsangaben nicht getätigt hätte, sondern diese "einfach so" hineingeschrieben worden seien. Der Beschwerdeführer behauptete auch hier nicht, dass es hinsichtlich des Orts der zweiten Festnahme zu einer falschen Protokollierung gekommen sei. Es sind daher keine Zweifel an der Richtigkeit des Protokolls der Einvernahme vor dem BFA entstanden. Der Beschwerdeführer zeigt mit seinem Vorbringen, etwas nicht gesagt zu haben, keine konkreten Gründe zur Entkräftung der Beweiskraft der Niederschrift der Einvernahmen vor dem BFA auf. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, dass der Beschwerdeführer vor dem BFA nicht nur behauptete, von zu Hause festgenommen worden zu sein, sondern auch eine Erklärung lieferte, woher die Polizei gewusst habe, wo er wohne, zumal er dort nicht gemeldet gewesen sei. Er hätte der Polizei nämlich bei der ersten Festnahme seine Adresse genannt (Seite 6 des Protokolls der ersten Einvernahme). Auch aus diesem Grund ist die Behauptung des Beschwerdeführers, er hätte nie gesagt, von zu Hause festgenommen worden zu sein, nicht glaubhaft.
Die Ausführungen des Beschwerdeführers, er sei nach der ersten Festnahme in Istanbul zu Hause gewesen und von dort dann ein zweites Mal festgenommen worden, wobei er der Polizei bei der ersten Festnahme seine Adresse genannt habe, mangelte es zudem an Plausibilität. Der Beschwerdeführer behauptete, nach der ersten Entlassung seien er und sein Bruder hauptsächlich zu Hause gewesen, weil sie Angst gehabt hätten. Sie seien auch ihrer Arbeit nicht mehr nachgegangen und hätten nur ihre Verwandten besucht (Seite 6 des Protokolls der ersten Einvernahme). Hätte der Beschwerdeführer tatsächlich bei der Polizei seine Adresse angegeben und Angst gehabt, ist es schlicht lebensfremd, dass er sich in einer Wohnung aufhält, von der die Polizei genau weiß, dass er dort lebt. Bei Vorliegen der behaupteten Angst, wäre es wesentlich lebensnaher, bei jenen Verwandten vorerst zu bleiben, die der Beschwerdeführer offenbar besucht hat. Auf die Frage in derselben Einvernahme vor dem BFA, weshalb er sich vor der Polizei in einer Wohnung versteckt, deren Adresse der Polizei bekannt ist, meinte der Beschwerdeführer nun, er hätte nach der ersten Entlassung geglaubt, von der Polizei nicht mehr verfolgt zu werden (Seite 7 des Protokolls der ersten Einvernahme). Wovor der Beschwerdeführer dann Angst gehabt hätte, wenn nicht vor der Polizei, bleibt mit dieser Erklärung dann aber gänzlich rätselhaft. In der zweiten Einvernahme vor dem BFA wurde der Beschwerdeführer damit konfrontiert, dass es widersprüchlich sei, einerseits Angst vor der Polizei zu haben, nicht mehr zu arbeiten und andererseits sich aber in jener Wohnung aufzuhalten, deren Adresse der Polizei bekannt ist. Hier meinte der Beschwerdeführer zunächst - wie bereits in der ersten Einvernahme - er und sein Bruder hätten nach der ersten Entlassung nicht mehr gedacht von der Polizei verfolgt zu werden, womit jedoch völlig unplausibel ist, wovor sie sich dann in der Wohnung versteckt hätten bzw. Angst gehabt hätten. Zudem gab er an, dass man in der Türkei entlassen werde, wenn man zwei Tage ohne Grund nicht zur Arbeit erscheine. Seinem Arbeitgeber sei von der Polizei mitgeteilt worden, dass er an der Gezi-Demonstration teilgenommen habe und deswegen sei er gekündigt worden. Wenig später behauptete er, er selbst habe in der Arbeit davon erzählt (Seite 4 des Protokolls der zweiten Einvernahme). Obwohl der Beschwerdeführer in der ersten Einvernahme behauptete, er sei nicht mehr zur Arbeit gegangen (Seite 6 des Protokolls der ersten Einvernahme), behauptete er nun widersprüchlich dazu in der zweiten Einvernahme, dass er doch "einige Zeit noch in der Arbeit" gewesen sei. Kurz darauf meinte er, er sei schon zwei Tage nach der Haftentlassung wieder in der Arbeit gewesen, wo er erklärt habe, warum er gefehlt hätte, woraufhin er gekündigt worden sei (Seite 4 des Protokolls der zweiten Einvernahme). Auch dieses häufige Abändern von Erklärungen spricht gegen einen Wahrheitsgehalt seiner Angaben.
Auch zur konkreten Dauer der beiden Festnahmen machte der Beschwerdeführer unterschiedliche Angaben. In der Erstbefragung gab er an, beim ersten Mal vier Tage und beim zweiten Mal drei Tage inhaftiert worden zu sein (Seite 5 des Protokolls der Erstbefragung). Dies wiederholte er auch in der ersten Einvernahme vor dem BFA (Seite 5 des Protokolls der ersten Einvernahme). In der mündlichen Verhandlung stellte es der Beschwerdeführer jedoch genau umgekehrt dar und meinte, beim ersten Mal drei Tage festgehalten worden zu sein (Seite 8 des Verhandlungsprotokolls). Der Beschwerdeführer erklärte in der mündlichen Verhandlung auch, dass sein Bruder und er beim selben Protest festgenommen worden seien. Sein Bruder sei nach zwei Tagen und der Beschwerdeführer nach drei Tagen freigelassen worden (Seite 10 des Verhandlungsprotokolls). Der Bruder gab jedoch - wie bereits erwähnt - an, nur im Zuge einer Ausweiskontrolle festgenommen und vier Tage lang festgehalten worden zu sein. In seiner Erstbefragung sprach der Bruder aber noch davon zwei Tage festgehalten worden zu. Seine widersprüchlichen Angaben konnte der Bruder nicht aufklären; er sprach auf Vorhalt von einem "Missverständnis" bzw. davon, er hätte wohl bei der Rückübersetzung nicht richtig zugehört (Seite 5 des Protokolls der Erstbefragung und Seiten 4 und 5 des Protokolls der Einvernahme des Bruders, OZ 7). Dem Beschwerdeführer wurden auch die Angaben seines Bruders zur Dauer seiner Festhaltung vorgehalten, worauf der Beschwerdeführer aber nur meinte, sein Bruder habe es wahrscheinlich durcheinandergebracht und einen anderen Protest in einer anderen Stadt gemeint habe, wo der Bruder vier Tage festgenommen worden sei (Seite 10 des Verhandlungsprotokolls). Dieser Erklärungsversuch überzeugt jedoch nicht, da der Bruder zwar einen Protest in einer namentlich genannten anderen Stadt vorbrachte, doch behauptete der Bruder, dass er dort 14 Tage festgehalten worden sei (Seite 4 des Protokolls der Einvernahme des Bruders, OZ 7). Eine Verwechslung, wie vom Beschwerdeführer behauptet, kann daher nicht vorliegen. Es wird daher davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer mit dieser Behauptung bloß versucht, seine widersprüchlichen Angaben aufzulösen.
Zu den beiden Verhaftungen in Istanbul gab der Beschwerdeführer vor dem BFA an, dass er bei der ersten Festnahme geschlagen worden sei. Bei der zweiten Verhaftung habe es sich um eine "reine Befragung" gehandelt, er und sein Bruder seien nicht misshandelt oder geschlagen worden (Seiten 6 und 7 des Protokolls der ersten Einvernahme). In gänzlichem Widerspruch dazu behauptete der Beschwerdeführer vor dem Bundesverwaltungsgericht, dass er bei beiden Festnahmen geschlagen worden sei (Seite 8 des Verhandlungsprotokolls). Hinsichtlich der zweiten Festnahme führte er sogar an, dass er Fußtritte und Ohrfeigen erhalten habe (Seite 10 des Verhandlungsprotokolls). Der Beschwerdeführer machte damit völlig gegensätzliche Angaben zu den Ereignissen bei der zweiten Festnahme, weshalb ihm eine Glaubhaftmachung nicht gelungen ist.
In der ersten Einvernahme vor dem BFA gab der Beschwerdeführer zudem an, er und sein Bruder seien nach der zweiten Haftentlassung noch weitere zwei Wochen in Istanbul geblieben, ehe sie sich entschlossen hätten, in ihr Heimatdorf zurückzukehren (Seite 7 des Protokolls der ersten Einvernahme). Damit war aber stark an der tatsächlichen Furcht vor einer Verfolgung auf Grund der angeblichen Festnahmen bzw. weiterer Polizeibesuche zu zweifeln, zumal nicht nachvollziehbar ist, warum der Beschwerdeführer weitere zwei Wochen an jenem Ort verbleibt, an dem er zwei Mal festgenommen worden sei. Daran vermochte auch bzw. gerade die Erklärung in der zweiten Einvernahme nichts zu ändern, wonach er und sein Bruder die Wohnung nicht gleich hätten verlassen können, da sie sie angemietet gehabt hätten und sie auch noch auf die Auszahlung ihres Lohnes gewartet hätten (Seite 5 des Protokolls der zweiten Einvernahme). Das Abwarten des Lohns bzw. die Auflösung des Mietvertrages spricht jedoch gerade gegen eine tatsächliche Angst vor Verfolgung, zumal zu erwarten ist, dass man diesfalls so schnell wie möglich abreist, um weiteren Verfolgungshandlungen zu entgehen. Auch angesichts dessen war am Wahrheitsgehalt seiner Ausführungen zu zweifeln.
Auffallend im Vorbringen des Beschwerdeführers war zudem, dass der Beschwerdeführer zwischen der Erstbefragung und den folgenden Einvernahmen sein Vorbringen einschränkte. So sprach er noch in der Erstbefragung neben den beiden Festnahmen davon, dass es in Istanbul zusätzlich "ständig" Polizeibesuche in seiner Wohnung gegeben habe (Seite 5 des Protokolls der Erstbefragung). Von ständigen Polizeibesuchen war vor dem BFA jedoch keine Rede mehr. Erst in der mündlichen Verhandlung sprach er, jedoch erst über konkrete Nachfrage, wieder von mehreren Durchsuchungen und Befragungen in der Wohnung in Istanbul (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls). Wäre dies jedoch tatsächlich passiert, muss davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer dies schon in den beiden Einvernahmen vor dem BFA erwähnt hätte und auch in der mündlichen Verhandlung von sich aus angegeben hätte. Da dies aber nicht der Fall ist, ist es nicht glaubhaft, dass das wirklich passiert ist.
Einen Teil seines Fluchtvorbringens bildete auch seine Teilnahme an einer Demonstration in seiner Heimatregion und eine daran anschließende Festnahme des Beschwerdeführers. Aber auch diesbezüglich war es dem Beschwerdeführer nicht möglich, dieses Vorbringen im gesamten Verfahren widerspruchsfrei zu schildern.
Dazu gab der Beschwerdeführer in der Erstbefragung an, er habe mit seinem Bruder am 08.10.2014 in XXXX -Zentrum an einer Demonstration für Kobane teilgenommen (Seite 5 des Protokolls der Erstbefragung). In der zweiten Einvernahme vor dem BFA gab er jedoch an, dass diese Demonstration am 06.10.2013 begonnen habe und der Beschwerdeführer sowie sein Bruder am 08.10.2013 von der Polizei verhaftet worden wären. Kurz darauf gab er an, dass er sich geirrt hätte und die Demonstration in XXXX am 06.10.2014 gewesen sei (Seite 3 des Protokolls der zweiten Einvernahme). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erklärte der Beschwerdeführer wiederum, dass der Protest wegen Kobane am 06.10.2013 gewesen sei und der Beschwerdeführer am 08.10.2013 daran teilgenommen habe. Verhaftet worden sei er am 09.10. am Abend (Seite 12 des Verhandlungsprotokolls).
In der mündlichen Verhandlung gab der Beschwerdeführer erstmals an, schon bei der Festnahme geschlagen worden zu sein und nicht erst im Rahmen der folgenden Anhaltung (Seite 12f des Verhandlungsprotokolls), was er vor dem BFA noch nicht behauptete, wo er nur angab, in ein Polizeiauto gezerrt worden zu sein (Seite 6 des Protokolls der zweiten Einvernahme). Abweichend zu den Angaben beim BFA, wonach er nach der Festnahme von der Polizei auf ein Revier gebracht worden sei (Seite 6 des Protokolls der zweiten Einvernahme), gab er in der mündlichen Verhandlung an, er sei von der Gendarmerie festgenommen worden und in ein Militärkommandogebäude gebracht worden, was neben der Widersprüchlichkeit zu seinen vorigen Angaben auch nicht plausibel war, zumal nicht nachvollziehbar ist, weshalb die Gendarmerie oder die Polizei den Beschwerdeführer in ein Militärkommandogebäude hätte verbringen sollen (Seite 13 des Verhandlungsprotokolls). Auch der Bruder des Beschwerdeführers gab in seiner Einvernahme vor dem BFA abweichend vom Beschwerdeführer an, dass sie zur Polizeizentrale in XXXX gebracht worden seien, ehe er in ein anderes Gebäude verlegt worden sei (Seite 6 des Protokolls der Einvernahme des Bruders, OZ 7). Auch mit diesen Angaben seines Bruders wurde der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung konfrontiert, doch konnte er keine überzeugende Erklärung abgeben. Er meinte nur, sein Bruder sehe alles als Polizei, weil er Angst vor der Polizei hätte (Seite 13 des Verhandlungsprotokolls).
Im Zuge der Demonstration in XXXX sei es zu Ausschreitungen gekommen und der Beschwerdeführer sei für sechs Tage von der Polizei inhaftiert worden, sein Bruder sei insgesamt 20 Tage inhaftiert gewesen (Seite 7 des Protokolls der ersten Einvernahme). Dies widerspricht jedoch seinen davor in derselben Einvernahme gemachten Angaben, wonach sein Bruder erst 20 Tage nach dem Beschwerdeführer freigelassen worden sei. Wenn der Beschwerdeführer nämlich selbst, wie er angibt, sechs Tage in Haft gewesen zu sein und sein Bruder "erst ca. 20 Tage" nach dem Beschwerdeführer freigelassen worden sei, wäre der Bruder somit 26 Tage in Haft gewesen (Seite 5 des Protokolls der ersten Einvernahme). Der Bruder selbst gab an, dass er nur 14 Tage in Haft gewesen sei (Seite 4 des Protokolls der Einvernahme des Bruders, OZ 7). Damit stimmen die Angaben des Beschwerdeführers mit jenen seines Bruder nicht überein. In der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer auch explizit danach befragt, wie lange sein Bruder festgehalten worden sei. Während der Beschwerdeführer vor dem BFA noch konkrete Zahlen nannte, behauptete er nun vor dem Bundesverwaltungsgericht, er könne nicht sagen, wie lange sein Bruder festgehalten worden (Seite 14 des Verhandlungsprotokolls). Auf Grund dieser Behauptung und der widersprüchlichen Angaben zur Inhaftierung des Bruders ist es nicht glaubhaft, dass dieses Vorbringen den Tatsachen entspricht.
Zur Anhaltung gab der Beschwerdeführer vor dem BFA an, dass er mit ca. 15 bis 20 Personen in einer Zelle gewesen sei. Sein Bruder sei nicht in derselben Zelle gewesen. Jeden Tag seien auch ein paar Leute hinausgebracht worden, er wisse aber nicht wohin (Seite 6 des Protokolls der zweiten Einvernahme). Vor dem Bundesverwaltungsgericht gab er an, dass er zuerst gemeinsam mit seinem Bruder in einem Raum festgehalten worden sei und sie danach getrennt worden wären (Seite 13 des Verhandlungsprotokolls). Damit machte der Beschwerdeführer unterschiedliche Angaben, ob er gemeinsam mit seinem Bruder in einer Zelle gewesen sei. Dazu in Widerspruch stehen die Angaben des Bruders. Dieser behauptete nämlich, dass er und sein Bruder getrennt voneinander in Einzelzellen gebracht worden seien. Von Gemeinschaftszellen sprach der Bruder nie (Seite 6 des Protokolls der Einvernahme des Bruders, OZ 7). Auf den Vorhalt der Angaben seines Bruders meinte der Beschwerdeführer, dass man seinen Bruder vielleicht woanders hingebracht habe (Seite 14 des Verhandlungsprotokolls). Der Bruder des Beschwerdeführers brachte zwar tatsächlich vor, weggebracht worden zu sein, doch sprach der Bruder nie von Gemeinschaftszellen. Der Beschwerdeführer konnte daher keine plausible Erklärung für die widersprüchlichen Angaben liefern.
Außerdem steigerte der Beschwerdeführer die Geschehnisse rund um die Festnahme in XXXX . In der ersten Einvernahme vor dem BFA gab er an, dass er gehört habe, dass bei den Demonstrationen wegen Kobane Personen geschlagen und gefoltert worden seien. Dass ihm und seinem Bruder dies auch passiert sei, gab er nicht an. Er sprach nur von einer Festnahme (Seite 5 des Protokolls der ersten Einvernahme). Dieses Vorbringen steigerte er bei seiner zweiten Einvernahme vor dem BFA dahingehend, dass er erstmals in Abweichung seiner bisherigen Angaben, wonach er lediglich von polizeilichen Übergriffen gegen andere festgenommene Demonstranten gehört habe, ausführte, er sei während dieser Anhaltung von der Polizei geschlagen worden (Seite 6 des Protokolls der zweiten Einvernahme). In der mündlichen Verhandlung gab er zu dieser Anhaltung an, dass sie "Erniedrigungen aller Art" erlebt hätten und geschlagen worden seien. Auf Nachfrage gab er an, dass er "erniedrigt, geschlagen und beschimpft" worden sei (Seiten 13 und 14 des Verhandlungsprotokolls). Sein Vorbringen vor dem BFA, dass er unter Tags befragt und nachts geschlagen worden sei, wiederholte er aber nicht. Die Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung zu den Ereignissen während dieser Anhaltung waren auffallend vage. Der Beschwerdeführer nannte keine konkreten Verletzungen und beschrieb auch die Art der Erniedrigungen nicht näher, wie es im Falle des Tatsachengehalts der diesbezüglichen Ausführungen zu erwarten wäre. Auf Grund dieser gesteigerten, unterschiedlichen und vagen Schilderungen ist es nicht glaubhaft, dass dies auch passiert ist.
Im Rahmen der zweiten Einvernahme vor dem BFA legte der Beschwerdeführer erstmals Details hinsichtlich seiner Motivation zur Teilnahme an der Demonstration in XXXX dar, die sich im Wesentlichen aber darin erschöpften, dass er angab, er habe an den Demonstrationen teilgenommen um zu verhindern, dass der IS die Stadt Kobane in "die Hände bekommt" und damit der Weg in kurdischen Gebiete offen gestanden wäre (Seite 3 des Protokolls der zweiten Einvernahme). Der Beschwerdeführer konnte nicht einmal diese grundlegende Motivation zur Teilnahme an den Protesten gleichbleibend angeben. Vor dem Bundesverwaltungsgericht gab er als Grund für seine Teilnahme an dem Protest an, dass sie gegen die Ermordung von Kurden demonstriert hätten. Es seien männliche Kinder umgebracht und Mädchen als Sklavinnen an reiche Leute verkauft worden. Der türkische Staat habe das befürwortet und deshalb seien sie auf die Straße gegangen (Seiten 12 und 14 des Verhandlungsprotokolls).
Auch zur Ausreise aus der Türkei machte der Beschwerdeführer unterschiedliche Angaben. So gab er in der ersten Einvernahme vor dem BFA an, dass sein Bruder und er sich nach ihrer Entlassung aus der Haft (im Anschluss an die Proteste in XXXX ) entschlossen hätten, nach Istanbul zu gehen und von dort aus das Land zu verlassen (Seite 5 des Protokolls der ersten Einvernahme). In der zweiten Einvernahme gab er dazu abweichend an, dass er alleine sich nach seiner Haftentlassung entschlossen habe, nach Istanbul abzusetzen und auszureisen, zumal sein Bruder zu diesem Zeitpunkt gar nicht zu Hause gewesen sei und der Beschwerdeführer befürchtet habe, der Bruder sei erneut verhaftet worden (Seite 3 des Protokolls der zweiten Einvernahme).
Weiters ergaben sich auch widersprüchliche Angaben zum Zeitpunkt der tatsächlichen Ausreise aus der Türkei. In der Erstbefragung gab der Beschwerdeführer an, am 29.11.2014 ausgereist zu sein (Seite 4 des Protokolls der Erstbefragung). In der ersten Einvernahme vor dem BFA gab er ebenso an, am 29.11.2014 ausgereist zu sein (Seite 4 des Protokolls der ersten Einvernahme). In der zweiten Einvernahme vor dem BFA behauptet er nun, am 29.10.2013 die Türkei verlassen zu haben, korrigierte aber sein Vorbringen auf Vorhalt und meinte dann, dass die Demonstration in XXXX im Oktober 2014 gewesen sei, was eine Ausreise nach diesem Zeitpunkt impliziert (Seite 3 des Protokolls der zweiten Einvernahme). In der Beschwerde führte der Beschwerdeführer aus, er hätte während der Einvernahme vor dem BFA nie ein konkretes Datum genannt und er könne sich nicht erklären, wie die genauen Datumsangaben in das Protokoll Eingang gefunden hätten. Auf Grund dieser Behauptung überrascht es dann doch, dass die Daten zur Ausreise in der Erstbefragung und der ersten Einvernahme vor dem BFA übereinstimmen. In der mündlichen Verhandlung behauptete der Beschwerdeführer auf Nachfrage, er hätte nicht gewusst, an welchem Datum er Istanbul verlassen habe und so hätte er das auch gesagt. In diesem Zusammenhang ist aber auf die weiter oben angeführten Erwägungen zu verweisen, wonach der Beschwerdeführer nicht einmal klar angeben konnte, bei welcher Einvernahme es zu Problemen mit dem Dolmetscher gekommen sei, weshalb letztlich keine Zweifel an der Richtigkeit der Protokolle entstanden sind. Abgesehen davon, konnte der Beschwerdeführer aber selbst in der mündlichen Verhandlung nicht übereinstimmend angeben, wann er die Türkei verlassen habe. Zunächst erklärte er, er habe im November 2014 die Türkei verlassen (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls). Gegen Ende der mündlichen Verhandlung behauptete er jedoch, dass er am 29.11.2013 aus der Türkei ausgereist sei. Auf den Vorhalt seiner zu Beginn der mündlichen Verhandlung getätigten Angaben, meinte er nur wenig überzeugend, dass er sich versprochen habe müsse (Seite 15 des Verhandlungsprotokolls). Dieses Unvermögen des Beschwerdeführers, gleichbleibend anzugeben, wann er die Türkei verlassen habe, lässt es zusammen mit seinen widersprüchlichen und vagen Angaben zu seinem Fluchtgrund nicht glaubhaft erscheinen, dass es die ausreisekausalen Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben. Auf Grund der widersprüchlichen Angaben in zeitlicher Hinsicht zu der Teilnahme an Demonstrationen konnte nicht festgestellt werden, wann der Beschwerdeführer aus der Türkei ausgereist ist. Es konnte daher auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer bereits 2013 in Österreich eingereist wäre.
Gegen Ende der mündlichen Verhandlung steigerte der Beschwerdeführer zudem abermals sein Vorbringen, indem er plötzlich erstmals darlegte, er habe nach der Festnahme in XXXX eine Hilfsaktion veranstaltet und versucht, für Kobane zu sammeln. Für Kinder seien Spielzeug und Decken gesammelt worden. Es sei dann zu einem IS-Selbstmordattentat gekommen, bei dem viele Menschen ums Leben gekommen seien (Seite 14 des Verhandlungsprotokolls). Außerdem stellte der Beschwerdeführer diese Umstände bloß unsubstantiiert und erstmals vor dem Bundesverwaltungsgericht in den Raum, was seinem bisherigen Aussageverhalten entspricht und die beachtliche Flexibilität, mit der er seine Angaben macht, weiter unterstreicht.
Der Beschwerdeführer legte in der mündlichen Verhandlung ein Schreiben eines türkischen Rechtsanwalts vor, der den Beschwerdeführer als seinen Mandanten bezeichnet. Darin wird geschilderte, dass der Beschwerdeführer "wegen der Operation in der Stadt" Angst gehabt hätte und das Land verlassen hätte. Ein Verwandter sei vor dem Strafgericht angeklagt und der Beschwerdeführer möchte daher nicht zurückkommen. Abgesehen davon, dass der Inhalt des Schreibens äußerst vage ist, ist diese "Bestätigung" seines Rechtsanwalts, welches zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung ausgestellt wurde, ist dies jedoch nicht geeignet, die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe zu untermauern. Der Beschwerdeführer brachte zu dem Schreiben befragt vor, dass es darin um einen Cousin gehe, der zu einer Haft verurteilt worden sei. Dies geht aus dem Schreiben nicht hervor; dort ist nur von einer Anklage, nicht jedoch von einer Verurteilung die Rede (Seite 16 des Verhandlungsprotokolls). Ein offizielles Dokument eines türkischen Gerichts, aus dem eine Verurteilung des Cousins hervorgeht, legte der Beschwerdeführer nicht vor. Einem Schreiben eines Rechtsanwalts kommt nicht die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde zu. Außerdem kann aus der bloßen Behauptung, dass ein Cousin verurteilt worden sei, ohne dass auf irgendeine Weise belegt wird, dass dieser tatsächlich verurteilt wurde und weshalb dieser verurteilt wurde, nicht abgeleitet werden, dass auch dem Beschwerdeführer eine Anklage oder Verurteilung drohen würde. Auch in Anbetracht des Umstands, dass der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen auf Grund der massiven Widersprüche gar nicht glaubhaft machen konnte, reicht das Schreiben eines türkischen Anwalts nicht aus, das Vorbringen des Beschwerdeführers glaubhaft erscheinen zu lassen.
Erst über Befragen brachte der Beschwerdeführer gegen Ende der mündlichen Verhandlung zudem erstmals vor, dass er in der Türkei nicht in Sicherheit leben könne, weil "die" schon angefangen hätten, Häuser kurdischer Aleviten mit Kreuzen zu kennzeichnen. Er vermute, dass demnächst ein Volksmassaker an kurdischen Aleviten veranstaltet werde. Zudem habe er keine Möglichkeit mehr in der Türkei zu leben, weil der Innenminister jedem der zurückkommt gedroht habe, er werde ihm zeigen, "wo Gott wohnt" (Seite 16 des Verhandlungsprotokolls). Zumal der Beschwerdeführer erstmals in der mündlichen Verhandlung und auch dort erst über Befragen Probleme im Hinblick auf seine alevitische Religionszugehörigkeit äußerte, war bereits aus diesem Grund stark daran zu zweifeln, dass der Beschwerdeführer Opfer individueller Verfolgung im Rückkehrfall sein wird. Es legt den Schluss nahe, dass der Beschwerdeführer geradezu nach immer neuen Gründen sucht, die seine Verfolgung im Herkunftsstaat belegen sollen, was ihm jedoch keineswegs gelang, zumal sich die auffallend hohe Frequenz mit der er sein Vorbringen steigert, jedenfalls negativ auf seine Glaubwürdigkeit auswirkt. Zudem stellte er dabei bloß vage eine Verfolgung in den Raum, die er nicht nur nicht mit seiner individuellen Situation in Verbindung setzen konnte, sondern die sich nicht mit den der Entscheidung zugrundeliegenden länderkundlichen Informationen deckt (siehe dazu auch die rechtliche Beurteilung). Denen zufolge beherbergt die Türkei nämlich den weltweit größten Anteil an alevitischen Religionsangehörigen, nämlich zwischen 15 und 25 Millionen Gläubigen, die sich unter anderem vor allem in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers befinden. Anhaltspunkte für deren geplante "Massakrierung" bestehen nicht. Hinsichtlich der Drohung des türkischen Innenministers ist neben dem Umstand, dass den länderkundlichen Informationen nichts Dahingehendes zu entnehmen war, festzuhalten, dass diese "Drohung" selbst im Falle ihres Zutreffens jedenfalls nicht geeignet ist um von asylrelevanter Verfolgungsgefahr im Rückkehrfall auszugehen.
Auf Grund der insgesamt aufgezeigten massiven Widersprüche in seinem zentralen Fluchtvorbringen, den dazu widersprüchlichen Angaben seines Bruders, den unplausiblen und vagen Angaben sowie des Aussageverhaltens des Beschwerdeführers, geht das Bundesverwaltungsgericht von der Unglaubhaftigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen und davon aus, dass das Fluchtvorbringen in Wahrheit nicht stattgefunden hat.
Die getroffenen Feststellungen zur Türkei beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Dieses beruht auf Berichten verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in der Türkei ergeben. Angesichts der Seriosität der darin angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Der Vertreter des Beschwerdeführers bestätigte die Länderberichte in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich und der Beschwerdeführer selbst erklärte, keine Stellungnahme abzugeben, wenn die Lage der Kurden und Aleviten in den Länderberichten wiedergegeben wird.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde:
1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids):
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Asylantrag gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist). Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.
Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."
Zentraler Aspekt des Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 23.07.1999, 99/20/0208; 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 17.09.2003, 2001/20/0177; 28.10.2009, 2006/01/0793) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).
Von mangelnder Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht - unter dem Fehlen einer solchen ist nicht "zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht" (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256) -, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichem Schutz einen - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law² [1996] 73; weiters VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 20.09.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120; 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat "nicht gewillt oder nicht in der Lage" sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203).
Da der Beschwerdeführer die behaupteten Fluchtgründe, wonach er auf Grund seiner Teilnahme an Protesten in Istanbul sowie in XXXX insgesamt dreimal festgenommen worden sei und es bei den folgenden Anhaltungen zu Übergriffen gekommen sei, nicht hat glaubhaft machen können, liegt die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl nicht vor, nämlich die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe.
Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung bzw. der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur alevitischen Glaubensgemeinschaft ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte und aktuellen Medienberichte die Situation für (alevitische) Kurden - abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche Anhängerschaft hinsichtlich des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden konnte - nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit oder alevitischer Glaubenszugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden.
Überdies muss das Vorbringen des Asylwerbers, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass Häuser von kurdischen Aleviten mit einem Kreuz gekennzeichnet würde. Dazu ist festzuhalten, dass sich aus dem Länderfeststellungen ergibt, dass alevitische Häuser mit abfälligen oder türkisch-nationalistischen Parolen beschmiert würden. Im November 2017 brachten die alevitischen Gemeindeleiter ihre Besorgnis zum Ausdruck, als 13 Häuser in der östlichen Provinz Malatya (das ist nicht die Herkunftsregion des Beschwerdeführers) mit roten Kreuzen beschmiert wurden. Und im selben Monat griff ein Mob ein Cem-Haus in Istanbul an und versuchte es in Brand zu setzen. Aktuelle Berichte, dass es auch derzeit zu solchen Vorkommnissen kommt, gibt es nicht. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, grundsätzlich der Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen wird (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069). Sofern der Beschwerdeführer daher vorbringt, dass Häuser von kurdischen Aleviten mit einem Kreuz gekennzeichnet würden, vermag daher eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht darzutun.
Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer keine Verfolgung aus in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht. Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen ebenso wie allfällige persönliche und wirtschaftliche Gründe keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar.
Es gibt bei Zugrundelegung des Gesamtvorbringens des Beschwerdeführers keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Türkei maßgeblich wahrscheinlich Gefahr laufen würde, einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).
Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (VwGH 21.11.1995, 95/20/0329 mwN).
Daher ist die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
2. Nichtzuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.
Mit dem Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, wollte der Gesetzgeber - wie in den Erläuterungen (RV 952 BlgNR 22. GP , 5) ausdrücklich angeführt wird - die Statusrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004), insbesondere mit dem neu geregelten "Antrag auf internationalen Schutz" deren gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben (vgl. RV 952 BlgNR 22. GP , 30f) umsetzen (vgl. VwGH 19.2.2009, 2008/01/0344).
Aus dem Wortlaut des § 8 Abs. 1 AsylG 2005, wonach einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten unter anderem dann zuzuerkennen ist, "wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Heimatstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK" bedeuten würde, ist dagegen (im Sinne der bisherigen Non-refoulement-Prüfung) ableitbar, dass für die Gewährung des subsidiären Schutzstatus bereits jegliche reale Gefahr (real risk) einer Verletzung von Art. 3 EMRK an sich, unabhängig von einer Verursachung von Akteuren oder einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt im Herkunftsstaat ausreicht.
Insofern hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben der Statusrichtlinie zur Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Sinne der dargelegten Auslegung der Bestimmung des Art. 15 lit. b der Statusrichtlinie iVm Art. 3 Statusrichtlinie entgegen der oben angeführten Rechtsprechung des EuGH und somit fehlerhaft umgesetzt.
Die unmittelbare Anwendung und den Vorrang von unionsrechtlichen Bestimmungen haben sowohl die Gerichte als auch die Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten zu beachten. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, in Anwendung des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der Zusammenarbeit das unmittelbar geltende Unionsrecht uneingeschränkt anzuwenden (vgl. etwa VwGH 22.6.2015, 2015/04/0002, mwN).
Es ist dem nationalen Gesetzgeber - auch unter Berufung auf Art. 3 der Statusrichtlinie - verboten, Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten, die einem Fremden den Status des subsidiär Schutzberechtigten unabhängig von einer Verursachung durch Akteure oder einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt im Herkunftsstaat zuerkennen.
Der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger nach Art. 3 EMRK nicht abgeschoben werden kann, bedeutet nicht, dass ihm subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Subsidiärer Schutz (nach Art. 15 lit. a und b der Statusrichtlinie) verlangt, dass der ernsthafte Schaden durch das Verhalten von Dritten (Akteuren) verursacht werden muss und dieser nicht bloß Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten im Herkunftsland ist.
Es widerspricht der Statusrichtlinie und es ist unionsrechtlich unzulässig, den in dieser Richtlinie vorgesehenen Schutz Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck dieses internationalen Schutzes aufweisen, etwa aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, die insbesondere auf Art. 3 EMRK gestützt sind.
Nach der Rechtsprechung des EuGH sind nach der Statusrichtlinie vom subsidiären Schutz nur Fälle realer Gefahr, einen auf ein Verhalten eines Akteurs iSd Art. 6 Statusrichtlinie zurückzuführenden ernsthaften Schaden iSd Art. 15 Statusrichtlinie zu erleiden (Art. 15 lit. a und b), sowie Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt (lit. c) umfasst. Nicht umfasst ist dagegen die reale Gefahr jeglicher etwa auf allgemeine Unzulänglichkeiten im Heimatland zurückzuführender Verletzung von Art. 3 EMRK (vgl. VwGH 06.11.2018, Ra 2018/01/0106).
Als ernsthafter Schaden gilt nach Art. 15 der Statusrichtlinie:
a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder
b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder
c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Für den vorliegenden Fall bedeutet dies:
Subsidiärer Schutz (nach Art. 15 lit. a und b der Statusrichtlinie) verlangt, dass der ernsthafte Schaden durch das Verhalten von Dritten (Akteuren) verursacht werden muss und dieser nicht bloß Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten im Herkunftsland ist.
Der Beschwerdeführer ist nicht durch die Todesstrafe bedroht.
Dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden.
Im gegenständlichen Fall ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen die vorgebrachte individuelle Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr glaubhaft zu machen und er gehört auch keiner Personengruppe mit speziellem Risikoprofil an, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergibt, der gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte.
Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz XXXX und er lebte einige Jahre vor seiner Ausreise in Istanbul. Betreffend die Sicherheitslage in XXXX ist mit Blick auf die individuelle Situation des Beschwerdeführers zunächst auf die Länderfeststellungen in gegenständlichem Erkenntnis zu verweisen, denen zufolge der nach dem Putschversuch vom 15.07.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.07.2018 aufgehoben wurde. Hinsichtlich der Herkunftsregion des Beschwerdeführers und seines letzten Aufenthaltsorts Istanbul sind den Feststellungen keine sicherheitsrelevanten Vorfälle zu entnehmen. Ein bewaffneter Konflikt iSd Art. 15 lit. c der Statusrichtlinie besteht in dieser Region nicht.
Es erscheint daher eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei nicht grundsätzlich ausgeschlossen und aufgrund der individuellen Situation des Beschwerdeführers insgesamt auch zumutbar. Für die hier zu erstellende Gefahrenprognose ist zunächst zu berücksichtigen, dass es dem Beschwerdeführer bis zu seiner Ausreise aus der Türkei möglich war, offenbar ohne größere Probleme in seiner Heimatregion und in Istanbul zu leben. Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen arbeitsfähigen Mann, bei welchem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Der Beschwerdeführer verfügt darüber hinaus über neun Jahre Schulbildung und ausreichend Berufserfahrung. Seinen eigenen Angaben zufolge lebt der Großteil seiner Familienangehörigen in der Türkei, in der Provinz XXXX . Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit aus Sicherheitsgründen waren seinen Angaben nicht zu entnehmen.
Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden.
Daher ist die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
3. Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte III. des angefochtenen Bescheids):
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wird.
Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
Es liegen keine Umstände vor, dass dem Beschwerdeführer allenfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) zu erteilen gewesen wäre, und wurde diesbezüglich auch nichts dargetan.
Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 ist, dass dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iSd Art. 8 EMRK geboten ist. Nur bei Vorliegen dieser Voraussetzung kommt ein Abspruch über einen Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 überhaupt in Betracht (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).
Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Türkei und somit kein begünstigter Drittstaatsangehöriger. Es kommt ihm auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher war gegenständlich gemäß § 52 Abs. 2 FPG grundsätzlich eine Rückkehrentscheidung vorgesehen.
Gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung jedoch nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens käme.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung - nunmehr Rückkehrentscheidung - nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
Unter der Schwelle des § 50 FPG kommt den Verhältnissen im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens Bedeutung zu, sodass etwa "Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder bei Sozialleistungen" in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen sind (vgl. VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119 unter Hinweis auf VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).
Bei der Interessenabwägung ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101) auch ein Vorbringen zu berücksichtigen, es werde eine durch die Rückkehr in den Heimatstaat wegen der dort herrschenden Verhältnisse bewirkte maßgebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Fremden, insbesondere die deutliche Verschlimmerung psychischer Probleme, eintreten (vgl. VwGH 11.10.2005, 2002/21/0132; 28.03.2006, 2004/21/0191; zur gebotenen Bedachtnahme auf die durch eine Trennung von Familienangehörigen bewirkten gesundheitlichen Folgen VwGH 21.04.2011, 2011/01/0093). Bei dieser Interessenabwägung ist unter dem Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG 2014 (Bindungen zum Heimatstaat) auch auf die Frage der Möglichkeiten zur Schaffung einer Existenzgrundlage bei einer Rückkehr dorthin Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 31.01.2013, 2012/23/0006).
Vom Prüfungsumfang des Begriffes des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Der Beschwerdeführer ist nicht verheiratet und führt keine Lebensgemeinschaft in Österreich. Ein schützenswertes Familienleben des Beschwerdeführers im Bundesgebiet im oben dargestellten Sinn liegt daher nicht vor. In Österreich leben ein Bruder, eine Schwester und ein Onkel mit ihren Familien. Auch zwischen Geschwistern kann ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegen. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 21.04.2011, 2011/01/0093). Der Beschwerdeführer lebt mit seinen Verwandten nicht in einem gemeinsamen Haushalt. Der Beschwerdeführer besucht seine Geschwister und hat Kontakt zu seinen Verwandten. Mit einem Bruder betreibt er einen Imbiss. Zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit, die über die üblichen Bindungen hinausgehen, sind jedoch nicht hervorgekommen (vgl. VfGH 09.06.2006, B 1277/04; VwGH 17.11.2009, 2007/20/0955). Ein schützenswertes Familienleben des Beschwerdeführers im Bundesgebiet im oben dargestellten Sinn liegt daher nicht vor. Die aufenthaltsbeendende Maßnahme könnte daher allenfalls lediglich in das Privatleben des Beschwerdeführers eingreifen.
Unter dem "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Außerdem ist nach der bisherigen Rechtsprechung auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).
Die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG stellt nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien dar, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist (vgl. etwa VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055 bis 0058). Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (vgl. VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0058; VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0070 unter Hinweis auf VwGH 21.01.2016, Ra 2015/22/0119; 10.05.2016, Ra 2015/22/0158; 15.03.2016, Ra 2016/19/0031).
Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen "kann" und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0058 unter Hinweis auf VwGH 28.1.2016, Ra 2015/21/0191, mwN).
Im vorliegenden Fall liegt eine derart "außergewöhnliche Konstellation" nicht vor:
Der Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich seit Dezember 2014, somit erst seit ca. viereinhalb Jahren, beruht auf einem Antrag auf internationalen Schutz, der sich als nicht berechtigt erwiesen hat und ist auch noch zu kurz, um seinem Interesse an einem Weiterverbleib im Bundesgebiet ein relevantes Gewicht zu verleihen. Es sind zudem keine besonderen zu Gunsten des Beschwerdeführers sprechenden integrativen Schritte erkennbar. Der Beschwerdeführer spricht laut seinen eigenen Angaben nur wenig Deutsch, er besucht keinen Deutschkurs. Der Beschwerdeführer hat Freunde. Der Beschwerdeführer ist derzeit in keinem Verein tätig.
Der Beschwerdeführer ist seit ca. April 2018 erwerbstätig und betreibt mit seinem Bruder einen Imbiss. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht hat, dass der Ausübung einer Beschäftigung sowie einer etwaigen Einstellungszusage oder Arbeitsplatzzusage eines Asylwerbers, der lediglich über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz und über keine Arbeitserlaubnis verfügt hat, keine wesentliche Bedeutung zukommt (VwGH 22.02.2011, 2010/18/0323 mit Hinweis auf VwGH 15.09.2010, 2007/18/0612 und 29.06.2010, 2010/18/0195 jeweils mwN).
Unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK muss nicht akzeptiert werden, dass der Fremde mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen (vgl. VwGH 28.02.2019, Ro 2018/01/0003 mwN).
Allerdings besteht allein dadurch noch keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" gesprochen werden kann und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste.
In Zusammenhang mit der geltend gemachten Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner Freundin ist vor allem zu berücksichtigen, dass das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Beschwerdeführer des unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, da sein Aufenthalt stets auf einen - wie sich im Verfahren zeigte - unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.02.2019, Ro 2018/01/0003 mwN).
Der Asylwerber kann während seines Asylverfahrens nicht darauf vertrauen, dass ein in dieser Zeit entstehendes Privat- bzw. Familienleben auch nach der Erledigung seines Asylantrages fortgesetzt werden kann. Die Rechte aus der GFK dürfen nicht dazu dienen, die Einwanderungsregeln zu umgehen (ÖJZ 2007/74, Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 EMRK, S 857 mwN).
Der Kontakt zu seiner Freundin kann jedenfalls durch gegenseitige Besuche aufrechterhalten werden (vgl. EGMR 11.04.2006, Fall USEINOV, Appl. 61.292/00). Dem Beschwerdeführer stünde es auch frei, seine Bindungen in Österreich durch briefliche, telefonische oder elektronische Kontakte aufrecht zu erhalten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es dem Beschwerdeführer nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen des FPG bzw. NAG wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren (vgl. ÖJZ 2007/74, Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 EMRK, S 861, mwN).
Insbesondere vor dem Hintergrund der erst relativ kurzen Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers im Bundesgebiet, kann von einer verfestigten und gelungenen Eingliederung des Beschwerdeführers in die österreichische Gesellschaft nicht ausgegangen werden. Hingegen hat der Beschwerdeführer den Großteil seines bisherigen Lebens in der Türkei verbracht, ist dort aufgewachsen und hat dort seine Sozialisation erfahren. Er spricht Türkisch und Kurdisch auf muttersprachlichem Niveau. Es ist daher nicht erkennbar, inwiefern sich der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr bei der Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft unüberwindbaren Hürden gegenübersehen könnte. Daher ist im Vergleich von einer deutlich stärkeren Bindung des Beschwerdeführers zur Türkei auszugehen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.02.2019, Ro 2019/01/0003, mwN).
Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers stellt der Judikatur folgend weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.01.1999, 98/18/0420).
Der Beschwerdeführer vermochte zum Entscheidungszeitpunkt daher keine entscheidungserheblichen integrativen Anknüpfungspunkte im österreichischen Bundesgebiet darzutun, welche zu einem Überwiegen der privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat führen könnten.
Es ist auch davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer Möglichkeiten zur Schaffung einer Existenzgrundlage im Falle einer Rückkehr hat. Bei dem Beschwerdeführer handelt es sich um einen arbeitsfähigen Mann, der über eine neunjährige Schulbildung und über mehrjährige Berufserfahrung in verschiedenen Branchen verfügt. Es kann daher die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden. Aus welchen Gründen der Beschwerdeführer als gesunder und arbeitsfähiger Mann bei einer Rückkehr in die Türkei nicht in der Lage sein sollte, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, ist nicht ersichtlich, zumal er auch über den kulturellen Hintergrund und die erforderlichen Sprachkenntnisse für die Türkei verfügt. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer in der Lage sein wird, in seinem Heimatland, dessen Sprache er spricht, in dem seine Geschwister und seine Mutter und weitere Verwandte leben, wo er auch Freunde haben wird, zu den er Kontakt aufnehmen kann, sich eine Existenzgrundlage aufzubauen.
Aufgrund der genannten Umstände überwiegen in einer Gesamtabwägung derzeit die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung die privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet. Insbesondere das Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Sinne eines geordneten Fremdenwesens wiegt in diesem Fall schwerer als die privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Weiterverbleib im Bundesgebiet. Durch die angeordnete Rückkehrentscheidung liegt eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vor. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG stellt sohin keine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iVm Art. 8 EMRK dar.
Mit der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (vgl. VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).
§ 50 FPG lautet:
"Verbot der Abschiebung
§ 50. (1) Die Abschiebung Fremder in einen Staat ist unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
(2) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).
(3) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht."
Es ist daher zu prüfen, ob die Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei zu einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder des Protokolls Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK führen würde oder die Rückkehr für sie als Zivilperson mit einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Der Beschwerdeführer ist nicht durch die Todesstrafe und auch nicht durch willkürliche Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bedroht.
Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich, Zl. 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zl. 44599/98; vgl. auch VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443). Unter "außergewöhnlichen Umständen" können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 09.07.2002, 2001/01/0164; 16.07.2003, 2003/01/0059). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung der Frage, ob die Abschiebung eines Fremden eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr ("real risk") - die bloße Möglichkeit genügt nicht - damit verbunden ist (VwGH 23.09.2004, 2001/21/0137). Unter Darstellung der maßgebenden persönlichen Verhältnisse des Fremden (insbesondere zu seinen finanziellen Möglichkeiten und zum familiären und sonstigen sozialen Umfeld) ist allenfalls weiter zu prüfen, ob ihm der Zugang zur notwendigen medizinischen Behandlung nicht nur grundsätzlich, sondern auch tatsächlich angesichts deren konkreter Kosten und der Erreichbarkeit ärztlicher Hilfsorganisationen möglich wäre (VwGH 23.09.2004, 2001/21/0137 unter Hinweis auf VwGH 17.12.2003, 2000/20/0208).
Nach dem festgestellten Sachverhalt besteht auch kein Hinweis auf "außergewöhnliche Umstände", welche eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei unzulässig machen könnten.
Unter "außergewöhnlichen Umständen" können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK bilden.
Der Beschwerdeführer ist aktuell nicht lebensbedrohlich erkrankt. Vor diesem Hintergrund ergeben sich somit keine Hinweise auf das Vorliegen von akut existenzbedrohenden Krankheitszuständen oder Hinweise auf eine unzumutbare Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Rückverbringung des Beschwerdeführers in die Türkei.
Die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei ist daher gemäß § 52 Abs. 9 FPG zulässig.
Die festgelegte Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich zwingend aus § 55 Abs. 2 erster Satz FPG. Dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Die eingeräumte Frist ist angemessen und es wurde diesbezüglich auch in der Beschwerdeschrift kein Vorbringen erstattet.
Daher ist die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Die Abweisung der Beschwerde stützt sich auf die zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den maßgeblichen Bestimmungen des AsylG und des FPG.
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