VwGH 2007/20/0955

VwGH2007/20/095517.11.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak sowie den Hofrat MMag. Maislinger und die Hofrätin Mag. Rehak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde des W, vertreten durch Maga. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Kirchengasse 19, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 15. Mai 2007, Zl. 308.688-3/2E-XIII/66/07, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 und Zurückweisung eines Antrages, der Berufung aufschiebende Wirkung zuzuerkennen (weitere Partei: Bundesminister für Inneres),

Normen

32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 2005 §10;
AsylG 2005 §5;
EURallg;
EMRK Art8 Abs1;
EMRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;
32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 2005 §10;
AsylG 2005 §5;
EURallg;
EMRK Art8 Abs1;
EMRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

I. zu Recht erkannt:

Der angefochtene Bescheid wird insoweit, als damit die Berufung des Beschwerdeführers gegen den erstinstanzlichen Bescheid abgewiesen wurde, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

II. den Beschluss gefasst:

Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, stellte am 17. Oktober 2006 in der Slowakei einen Asylantrag. Am 12. November 2006 gelangte er in das Bundesgebiet und beantragte am 17. November 2006 internationalen Schutz.

Mit Bescheid vom 20. Dezember 2006 wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, stellte fest, dass gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c "der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates" die Slowakei für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.), wies den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 dorthin aus und erklärte "demzufolge" dessen Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Slowakei für zulässig (Spruchpunkt II.).

Auf Grund der dagegen erhobenen Berufung behob die belangte Behörde am 10. Jänner 2007 den erstinstanzlichen Bescheid gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005.

Mit Bescheid vom 20. April 2007 wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz neuerlich gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurück, stellte fest, dass gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c "der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates" die Slowakei für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.), wies den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 dorthin aus und erklärte "demzufolge" dessen Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Slowakei für zulässig (Spruchpunkt II.).

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die dagegen erhobene Berufung gemäß §§ 5, 10 AsylG 2005 ab und den Antrag des Beschwerdeführers, seiner Berufung aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, als unzulässig zurück. Zur Abweisung der Berufung führte die belangte Behörde unter anderem - mit näherer Begründung - aus, dass keine Verpflichtung der österreichischen Behörden bestanden habe, vom Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch zu machen.

In Bezug auf den in Österreich aufhältigen Bruder des Beschwerdeführers führte die belangte Behörde wörtlich Folgendes aus:

"Auch der Umstand, dass der Bruder des (Beschwerdeführers) in Österreich ist, stellt keine Verletzung des Art. 8 EMRK dar. Eine Verletzung des Familienlebens ist nicht gegeben, da der volljährige Bruder des volljährigen (Beschwerdeführers) nicht zur Familie im Sinne des Art. 8 EMRK gehört. Eine Verletzung des Privatlebens des (Beschwerdeführers) ist aber auch nicht gegeben. Wie wohl die Trennung von seinem Bruder einen Eingriff in das Privatleben des (Beschwerdeführers) darstellt, so ist dieser geringer, als das öffentliche Interesse an der Ausweisung des (Beschwerdeführers), das sich einerseits an der Durchsetzung der Ziele der Fremdenpolizei und des Zuwanderungswesens zu orientieren hat und andererseits sicherzustellen hat, dass ein entsprechender Dublin-Vollzug funktioniert (siehe etwa § 5 Abs. 3 AsylG). Darüber hinaus ist im Falle des (Beschwerdeführers), der keiner geregelten Arbeit nachgeht, mit einer erheblichen Belastung der Gebietskörperschaften zu rechnen, die das öffentliche Interesse an der Ausweisung noch stärker gewichten. Insgesamt gesehen liegt daher mangels Integration des seit November 2006 im Bundesgebiet befindlichen Asylwerbers keine Verletzung des Privatlebens im Sinne des Art. 8 EMRK vor, sodass die Ausweisung des (Beschwerdeführers), dem kein Aufenthaltsrecht außerhalb des Asylgesetzes zusteht, rechtlich zulässig ist."

Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Zu I.:

Die Beschwerde macht unter anderem geltend, dass der "Familienbegriff" in Art. 8 EMRK auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen umfasse, sofern diese eine gewisse Intensität aufweisen würden. Der Beschwerdeführer habe im Verfahren vor den Asylbehörden vorgebracht, dass er von seinem in Österreich lebenden Bruder abhängig sei. Sie seien gemeinsam vor Folter und Misshandlungen geflohen und nur sein Bruder sei in der Lage, nachzuvollziehen, was in ihm vorgehe. Als Folteropfer helfe ihm die Anwesenheit seines Bruders, welcher ihm auf Grund ihres besonderen Naheverhältnisses die nötige seelische Unterstützung leisten könne. Die Nähe seines Bruders sei bei einer posttraumatischen Belastungsstörung noch wichtiger, da diese für die Linderung der psychischen Leiden erforderlich sei. Die belangte Behörde habe nicht zu begründen vermocht, weshalb ein derart gravierender Eingriff in sein Privat- und Familienleben nicht schwerer wiegen sollte, als das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen.

Damit zeigt die Beschwerde eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auf.

Der Beschwerdeführer hat im Verfahren vor den Asylbehörden angegeben, in seiner Heimat während seiner Inhaftierung gefoltert worden zu sein. Er legte dazu verschiedene basierend auf einem Interview des Beschwerdeführers und seines Bruders erstellte Berichte vor, in welchen sie die erlittenen Misshandlungen detailliert schildern und woraus sich ergibt, dass der Bruder die dem Beschwerdeführer zugefügten Misshandlungen auch mitansehen musste. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass gerade angesichts der traumatisierenden Erlebnisse in der Heimat sein Bruder eine wichtige Bezugsperson für ihn sei und wichtig im Prozess der Stabilisierung seiner Verfassung; sein Bruder habe das gleiche Schicksal wie er selbst erlitten. Er sei Folteropfer und schwerst traumatisiert. Er brauche dringend die Nähe seines Bruders; ohne ihn könne er nicht überleben, denn nur dieser wisse, wie es um ihn bestellt sei.

Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 9. Juni 2006, B 1277/04, ausgeführt, dass eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen - auch nach der Rechtsprechung des EGMR - dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK falle, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. weiters etwa die hg. Erkenntnisse vom 26. Jänner 2006, Zlen. 2002/20/0423 und 2002/20/0235, vom 8. Juni 2006, Zl. 2003/01/0600, und vom 29. März 2007, Zlen. 2005/20/0040 bis 0042).

Die belangte Behörde ist im angefochtenen Bescheid hingegen davon ausgegangen, dass zwischen volljährigen Brüdern von vornherein kein Familienleben im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK bestehen könne und hat es ausgehend von dieser unrichtigen Rechtsansicht unterlassen, sich mit der vom Beschwerdeführer behaupteten besonders engen Beziehung zu seinem Bruder vor allem im Gefolge der (gemeinsam) durchlittenen Misshandlungen und auf Grund der psychischen Verfassung des Beschwerdeführers auseinander zu setzen.

Aus diesem Grund erweist sich auch die von der belangten Behörde - in Bezug auf den von ihr als gegeben angesehenen Eingriff in das nach Art. 8 EMRK geschützte Privatleben des Beschwerdeführers - vorgenommene Interessenabwägung als unzureichend. Die belangte Behörde hat keine Feststellungen zu den nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers für eine besonders enge Beziehung zu seinem Bruder sprechenden Umständen getroffen und es folglich unterlassen, diesen Aspekt bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen (vgl. dazu u.a. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 29. September 2007, B 328/07, in welchem die verschiedenen nach der Rechtsprechung des EGMR bei der Interessenabwägung zu beachtenden Kriterien dargestellt werden).

Damit lässt sich aber noch nicht abschließend beurteilen, ob die Asylbehörden vor allem unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK im gegenständlichen Fall von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch machen hätten müssen (vgl. zur grundrechtskonformen Interpretation des AsylG 2005 unter Bedachtnahme auf die Bestimmungen der EMRK im Allgemeinen etwa das hg. Erkenntnis vom 23. Jänner 2007, Zl. 2006/01/0949, mwN).

Der angefochtene Bescheid war daher im Umfang der Bestätigung des erstinstanzlichen Bescheides gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG Abstand genommen werden.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Zu II.:

Gemäß Art. 131 Abs. 3 B-VG und § 33a VwGG kann der Verwaltungsgerichtshof die Behandlung einer Beschwerde gegen einen Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates durch Beschluss ablehnen, wenn die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen wird, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Beschwerde wirft - soweit sie sich gegen die Zurückweisung des Antrages des Beschwerdeführers, der Berufung aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, richtet - keine für die Entscheidung dieses Falles maßgeblichen Rechtsfragen auf, denen im Sinne der zitierten Bestimmungen grundsätzliche Bedeutung zukäme. Gesichtspunkte, die dessen ungeachtet gegen eine Ablehnung der Beschwerdebehandlung sprechen würden, liegen nicht vor.

Der Verwaltungsgerichtshof hat daher beschlossen, die Behandlung der Beschwerde - soweit sie sich gegen die Zurückweisung des Antrages des Beschwerdeführers, der Berufung aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, richtet - abzulehnen.

Wien, am 17. November 2009

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