AsylG 2005 §3 Abs3 Z2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §6 Abs1 Z4
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs4 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z5
FPG §55
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:L507.2287290.1.01
Spruch:
L507 2287290-1/15EIM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Johann HABERSACK über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.01.2024, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.04.2024 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt IV. folgendermaßen zu lauten hat:
„IV. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 Z 4 FPG erlassen.“
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, wurde aufgrund einer strafgerichtlichen Verurteilung am 10.07.2023 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wegen der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme niederschriftlich einvernommen.
Dabei gab er im Wesentlichen an, dass er in Österreich Frau und Kinder habe. Seine Kinder würden besser Deutsch als Türkisch sprechen und sei er kurdischer Herkunft. Seine Familie stamme aus XXXX und sei in XXXX registriert. Sie hätten ständig Probleme wegen ihrer Herkunft. Es sei viel Druck auf sie ausgeübt worden, weshalb sie nach Österreich gekommen seien. Schon seine Großeltern seien aus diesem Grund aus der Türkei ausgereist. Fast seine ganze Familie lebe in Österreich. Nur seine Eltern seien in der Türkei.
2. Am 10.08.2023 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesbezüglich wurde der Beschwerdeführer am 10.08.2023 von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.
Im Rahmen dieser Befragung führte der Beschwerdeführer aus, dass er 2016 legal mit einem Visum nach Österreich gekommen sei und in der Folge einen Aufenthaltstitel erhalten habe. Er sei zum Arbeiten nach Österreich gekommen und habe im Rahmen einer Familienzusammenführung im Jahr 2018 seine Ehegattin und zwei Töchter nach Österreich geholt. Im Jahr 2021 sei er straffällig geworden und habe in Haft keinen Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels stellen können, weshalb er keinen Aufenthaltstitel mehr habe. Er habe einen Asylantrag gestellt, weil er bei seiner Familie in Österreich bleiben wolle. Außerdem sei er alevitischer Kurde und würde in der Türkei immer wieder von der Bevölkerung diskriminiert werden. Es habe mehrere Streitereien und Diskussionen aufgrund seiner ethnischen Wurzeln und seines Glaubens gegeben. Auch am Arbeitsplatz habe er sehr oft Probleme. In der Türkei sei sein Leben nicht sicher.
Am 07.11.2023 wurde der Beschwerdeführer vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei führte er aus, dass er über die „NAG-Schiene“ legal nach Österreich gekommen sei. Er habe in der Türkei immer schon Probleme gehabt, weil er alevitischer Kurde sei und weil es dort Rassismus gebe. Auch jetzt habe seine Familie in der Türkei dasselbe Problem. Das sei auch der Grund gewesen, weshalb sein Großvater mütterlicherseits und dessen Familie nach Österreich gekommen seien. Es gebe die „Idealistenstube“ und deren Gruppierungen. Sowohl der Beschwerdeführer, als auch sein Vater hätten von dieser Gruppierung Gewalttaten erlebt. Der Beschwerdeführer und sein Vater seien 2011 bei der Polizei gewesen und dort sogar als Beschuldigte herausgekommen. Diese Vorfälle seien in XXXX gewesen und hätten sie dann in eine andere Stadt ( XXXX ) ziehen müssen. Die Gruppierungen seien weder eine Behörde, noch ein Teil des Staates, stünden jedoch unter staatlichem Schutz. Seine Eltern hätten sie nach Österreich geschickt, damit sie der Gefahr dort nicht ausgesetzt seien. Es seien nicht die wirtschaftlichen Gründe gewesen, weshalb sie hierhergekommen seien. Er habe vor ein paar Tagen Fotos von seinen Eltern bekommen, wonach diese nach wie vor in einem Zelt leben würden. Alle anderen Erdbebenopfer hätten Container zum Wohnen bekommen. Die Türken würden sie bekommen, nicht aber die Aleviten und Kurden. Seine Eltern hätten vom Staat überhaupt keine Unterstützung erhalten. Es habe auch Todesdrohungen geben. Daraufhin hätten sie in eine andere Stadt ziehen müssen und hätten die Eltern den Beschwerdeführer und seine Geschwister nach Europa geschickt. Es seien auch andere Kurden und Aleviten betroffen gewesen, nicht nur der Beschwerdeführer und seine Familie. Sprechen habe er mit Kurdisch begonnen und in der Schule habe er Türkisch gelernt. Seit seiner Schulzeit habe es diese Diskriminierungen gegeben. Er sei von 2010 bis 2016 Mitglied der politischen Partei HDP gewesen. Er sei in Österreich zu den Vereinen gegangen, habe dort Zeit verbracht und sich mit den Menschen auf Kurdisch unterhalten. Politische Tätigkeiten habe er für diese Partei in Österreich nicht ausgeübt.
3. Mit Bescheid des BFA vom 17.01.2024, Zl. 613548606/231547805, wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 3 Z 2 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 und § 6 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 wurde einer Beschwerde gegen die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.).
Beweiswürdigend wurde vom BFA zusammenfassend ausgeführt, dass der Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft vorgebracht habe und er aufgrund seiner schwerwiegenden strafrechtlichen Verurteilung einen Asylausschlussgrund gesetzt habe, weshalb sein Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ohne weiterer Prüfung abzuweisen sei. Weiters wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer auch keine Gefahren drohen, die eine Gewährung subsidiären Schutzes rechtfertigen würden. Die Rückkehrentscheidung verletze nicht das Recht auf ein Privat- und Familienleben im Bundesgebiet und würden auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG nicht vorliegen.
Bezüglich der Verhängung eines Einreiseverbotes wurde ausgeführt, dass mit der Verurteilung des Beschwerdeführers die Tatbestandsvoraussetzungen des § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG erfüllt seien und aufgrund des Verhaltens des Beschwerdeführers davon auszugehen sei, dass er eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Eine Gefährlichkeitsprognose gehe zu Lasten des Beschwerdeführers. Die Erlassung eines auf zehn Jahre befristeten Einreiseverbotes sei daher angemessen.
4. Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 29.01.2024 zugestellt, wogegen mit Schreiben vom 23.02.2024 fristgerecht Beschwerde erhoben wurde. Zunächst wurde darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer vorgebracht habe, Sympathisant bzw. Anhänger der politischen Partei HDP zu sein. Dies stelle einen Aspekt der politischen Verfolgung dar, weshalb das BFA sich damit näher befassen hätte müssen. Der Beschwerdeführer gehöre auch der Volksgruppe der Kurden an, die Ermittlungen zur Verfolgung von Kurden in der Türkei seien jedoch zu wenig umfangreich. Wichtige Umstände seien sohin nicht ermittelt worden, weshalb die tatsächliche Verfolgungsgefahr nicht berücksichtigt worden sei. Das BFA habe sich mit jedem Beweismittel auseinanderzusetzen. Die Länderberichte müssten aktuell sein und sich mit der konkreten Situation des Beschwerdeführers auseinandersetzen. Aus dem aktuellen Länderinformationsblatt vom 29.06.2023 ergebe sich, dass Aleviten von einer systematischen Diskriminierung in Schulen und im öffentlichen Bereich betroffen seien. Weiters decke sich das Vorbringen des Beschwerdeführers mit den Länderfeststellungen des BFA sowie einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, wonach Kurden und einfache HDP Mitglieder staatlicher Verfolgung unterliegen würden. Die Lage für Mitglieder der HDP sei nach wie vor dramatisch. Es zeigen zahlreiche Länderberichte auf, dass Kurden nach wie vor verfolgt werden. Die Nicht-Feststellung des BFA zeige, dass die Länderberichte nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Im Übrigen könne sich eine asylrelevante Verfolgung auch aus Länderberichten ergeben (VfGH vom 13.03.2013, U 2375/12). Auch die Ermittlungen zum Familienleben des Beschwerdeführers seien mangelhaft und unzureichend. Der Beschwerdeführer habe ein inniges Verhältnis zu seiner Kernfamilie und lebe mit ihr im gemeinsamen Haushalt. Zum Beweis dafür, dass der Beschwerdeführer über ein ausgeprägtes Familienleben in Österreich verfüge, wurde der Beweisantrag gestellt, die Ehegattin und Tante des Beschwerdeführers zeugenschaftlich einzuvernehmen. Die Ausführungen in der Beweiswürdigung seien nicht ausreichend nachvollziehbar und würden Begründungsdefizite einen relevanten Verfahrensmangel darstellen. Beim Beschwerdeführer läge sowohl eine staatliche Verfolgung aufgrund seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit, als auch aus politischen Gründen vor. Wenn das BFA ausführt, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht asylrelevant sei, verkenne es daher die tatsächliche Rechtslage. Zum festgestellten Ausschlussgrund gemäß § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG wurde angemerkt, dass diese Klausel restriktiv auszulegen sei (VwGH Ra 2014/01/0154). Es bedürfe weiters einer ausreichenden Sachverhaltsfeststellung um beurteilen zu können, durch welches Verhalten der Asylwerber einen Ausschlussgrund erfüllt habe. Der Verwaltungsgerichtshof habe zudem betont, dass der Ausschlussgrund eine Abwägung zwischen der Verwerflichkeit der Tat, derer der Asylwerber verdächtigt werde, und seinen Schutzinteressen erfordere. Verwiesen wurde im Weiteren auf die unmittelbare anwendbare Bestimmung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 13.12.2011. Laut Art. 9 Abs. 1 b der RL könne eine Verfolgungshandlung im Sinne der GFK auch aus seiner Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen resultieren, die so gravierend seien, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Somit sei dem Beschwerdeführer internationaler Schutz aufgrund seiner politischen Gesinnung und der ethnischen Zugehörigkeit zu gewähren gewesen oder zumindest der Status des subsidiär Schutzberechtigten. Darüber hinaus sei der Eingriff in das Familienleben des Beschwerdeführers unverhältnismäßig und die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig zu erklären. Im Zusammenhang mit dem verhängten Einreiseverbot habe es das BFA unterlassen eine ordnungsgemäße und richtige Gefährlichkeitsprognose zu erstellen. Das BFA habe die Erlassung des Einreiseverbotes lediglich mit der rechtskräftigen Verurteilung des Beschwerdeführers gerechtfertigt.
5. Mit hg. Beschluss vom 28.02.2024, Zl. L507 2287290-1/5Z, wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 7 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
6. Am 04.04.2024 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. In dieser wurde dem Beschwerdeführer die Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen. Zudem wurden dem Beschwerdeführer die aktuellen Länderinformationen zur Türkei ausgehändigt und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme innerhalb einer Frist von zwei Wochen eingeräumt. Als Zeuginnen wurden die Ehegattin sowie die ältere Tochter des Beschwerdeführers befragt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Türkei, Alevit und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe. Er wurde in XXXX geboren und übersiedelte noch als Kleinkind mit seiner Familie nach XXXX , wo er acht Jahre die Grundschule und ein Jahr ein Lyzeum besuchte. Anschließend war der Beschwerdeführer als angelernter Schweißer und Automechaniker tätig.
Seinen Militärdienst hat der Beschwerdeführer in den Jahren 2014 und 2015 in XXXX und XXXX abgeleistet.
Im Jahr 2012 hat der Beschwerdeführer in der Türkei nach moslemischem Ritus und im Jahr 2018 standesamtlich geheiratet. Dieser Ehe entstammen zwei Töchter, welche 2013 bzw. 2015 in der Türkei geboren wurden.
Von 17.10.2016 bis 17.02.2017 verfügte der Beschwerdeführer über ein österreichisches Visum D zur Abholung eines Aufenthaltstitels.
Der Beschwerdeführer hält sich seit Oktober 2016 in Österreich auf und verfügte von 22.09.2016 bis 26.09.2021 über den Aufenthaltstitel Rot-Weiß-Rot-Karte plus.
Am 17.08.2021 und am 21.12.2023 stellte der Beschwerdeführer Anträge auf Verlängerung des Aufenthaltstitels Rot-Weiß-Rot-Karte plus. Bis dato wurde über diese Anträge von der zuständigen Niederlassungsbehörde nicht entschieden.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer war in Österreich von 04.01.2017 bis 29.03.2020 als Arbeiter und von 12.10.2020 bis 27.01.2021 als geringfügig beschäftigter Arbeiter tätig.
Von 21.10.2020 bis 27.10.2020, 29.10.2020 bis 10.11.2020, 13.11.2020 bis 10.01.2021 und von 13.01.2021 bis 16.01.2021 bezog der Beschwerdeführer Arbeitslosengeld. Aktuell wird der Beschwerdeführe von seinem Bruder und seiner Ehegattin finanziell unterstützt.
Im Jahr 2019 kamen die Ehegattin sowie die zwei Kinder des Beschwerdeführers im Rahmen einer Familienzusammenführung nach Österreich. Die Ehegattin und Töchter des Beschwerdeführers erhielten von 02.07.2019 bis 01.11.2019 ein Visum D zur Abholung eines Aufenthaltstitels. Seit 13.05.2019 verfügen die Ehegattin und Töchter des Beschwerdeführers über den Aufenthaltstitel Rot-Weiß-Rot Karte plus. Der Aufenthaltstitel der Ehegattin ist bis 05.11.2024 und die der Töchter sind bis 04.11.2025 gültig.
Die Ehegattin des Beschwerdeführers ist seit 09.12.2022 laufend als Angestellte und seit 01.03.2023 laufend als Arbeiterin tätig.
Am 10.11.2021 wurde der Beschwerdeführer vom Landesgericht XXXX wegen § 83 Abs. 1 StGB (Körperverletzung), §§ 205a Abs. 1 1. Fall, 205 a Abs. 1 3. Fall StGB (Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung), § 107 Abs. 1 StGB (gefährliche Drohung), § 201 Abs. 1 StGB (Vergewaltigung), §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 3 StGB (schwere Nötigung), § 15 StGB, § 105 Abs. 1 StGB (versuchte Nötigung) und § 125 StGB (Sachbeschädigung) zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Jahren verurteilt.
Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der Beschwerdeführer am 21.06.2020 eine Frau (mit der er eine außereheliche Beziehung führte) an der Brust packte, ihr ins Gesicht schlug, sie an den Haaren zog und mit dieser, nachdem sie durch die dargestellte Tat eingeschüchtert war, gegen ihren Willen den Beischlaf vorgenommen hat, indem er mit seinem Penis vaginal in sie eindrang. Dabei erlitt die Frau Blutunterlaufungen an der rechten Wange und um das rechte Auge sowie einen Kratzer im Bereich des linken Schlüsselbeins. Zwischen dem 21.07.2020 und Ende Juli 2020 hat der Beschwerdeführer diese Frau in zwei gesonderten Angriffen jeweils am Nacken gepackt, zu Boden gedrückt und ist sodann mit dem Penis anal in sie eingedrungen. Am 16.01.2021 hat der Beschwerdeführer versucht die Frau durch eine gefährliche Drohung zu einer Handlung, nämlich ihn in einem Park zu treffen, und zu einer Unterlassung, und zwar der Abstandnahme von einer Anzeigeerstattung an die Polizei, zu nötigen versucht, indem er sinngemäß äußerte, sonst würde er sie und ihre Familie umbringen und dieser Nacktfotos vom Opfer schicken. Zwischen Februar 2020 und 17.01.2021 hat der Beschwerdeführer die Frau wiederholt durch gefährliche Drohung zur Fortführung der Liebesbeziehung zu ihm, somit zu einer Handlung, die besonders wichtige Interessen von ihr verletzte, genötigt, indem er teils persönlich, teils telefonisch sinngemäß äußerte, er werde ihrer Familie, ihren Bekannten und Freunden ein Video schicken, welches sie beim Geschlechtsverkehr mit ihm zeige, sowie sie und ihre Familie umbringen, wenn sie ihn verlasse. In der Nacht von 16.01.2021 auf 17.01.2021 hat der Beschwerdeführer den PKW dieser Frau beschädigt, indem er gegen die Fahrzeugtüren trat, auf den Seitenspiegel schlug und den hinteren Scheibenwischer herausriss. Am 17.01.2021 hat der Beschwerdeführer diese Frau gewürgt und ihr mehrfach ins Gesicht geschlagen, wodurch sie Prellungen des linken Armes, Blutergüsse und Würgemale am Hals sowie einen Bluterguss auf dem Nasenrücken erlitt. Weiters hat er sie mit der Zufügung zumindest einer Verletzung am Körper bedroht, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzten, indem er äußerste, er habe ein Messer im Auto und werde sie an einen ruhigen Ort bringen, wo er ihr und sich die Kehle durchschneiden werde.
Bei der Strafbemessung wurde das Zusammentreffen mehrere Verbrechen mit mehreren Vergehen, die teilweise Tatbegehung für diesen wahrnehmbar vor dem zehnjährigen Sohn des Opfers und die teilweise Verwendung einer Waffe als erschwerend gewertet. Als mildernd wurden der bisher ordentliche Lebenswandel, die teilweise reumütige geständige Verantwortung und der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, gewertet.
Der Beschwerdeführer befand sich ab 17.01.2021 in Haft und wurde am 15.09.2023 bedingt (Probezeit fünf Jahre) unter Anordnung einer Bewährungshilfe aus der Haft entlassen.
Im März 2021 besuchte die Ehegattin den Beschwerdeführer erstmals im Gefängnis und folgten bis 29.08.2022 siebenunddreißig Besuche, was ca. zwei Besuchen im Monat entspricht. Bis zur Haftentlassung im September 2023, somit etwas mehr als ein Jahr, wurde der Beschwerdeführer von seiner Ehegattin nicht mehr besucht. Die Töchter haben den Beschwerdeführer in der Haft nie besucht.
Seit September 2023 wird der Beschwerdeführer im Rahmen der gerichtlich angeordneten Bewährungshilfe betreut und kommt den bei der Haftentlassung erteilten Weisungen nach. Seit 10.05.2023 nimmt der Beschwerdeführer an einem Trainingsprogramm zur Beendigung von gewalttätigem Verhalten in Paarbeziehungen und Unterstützung für Opfer teil.
Von 17.09.2019 bis 30.03.2023 bestand mit der Ehegattin und den Töchtern ein aufrecht gemeldeter gemeinsamer Wohnsitz. Seit 01.04.2023 besteht mit der Ehegattin und den zwei Töchter kein gemeinsamer Wohnsitz mehr.
Der Beschwerdeführer besucht seine Ehegattin und die Kinder regelmäßig oder unternimmt Ausflüge mit den Töchtern sowie der Ehegattin.
Die Töchter des Beschwerdeführers besuchen aktuell die dritte bzw. vierte Klasse der Volksschule und sprechen sowohl Türkisch als auch Deutsch.
Der Beschwerdeführer spricht auf einfachem Niveau die deutsche Sprache (VS 4). Die Ehegattin des Beschwerdeführers verfügt über keine nennenswerten Deutschkenntnisse. Mit den Kindern sprechen sowohl der Beschwerdeführer, als auch die Ehegattin des Beschwerdeführers Türkisch.
In der Türkei leben nach wie vor die Eltern, ein Bruder sowie mehrere Tanten und ein Onkel des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer steht mit seinen Verwandten in der Türkei in Kontakt und hat sich dort zuletzt im Jahr 2018 ca. zehn bis fünfzehn Tage aufgehalten.
Eine Schwester des Beschwerdeführers lebt in Deutschland.
In Österreich sind ein Bruder sowie mehrere Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins des Beschwerdeführers aufhältig. Mit diesen besteht kein gemeinsamer Wohnsitz.
Weiters leben in der Türkei die Schwiegereltern des Beschwerdeführers. Die Ehegattin des Beschwerdeführers steht mit ihren Eltern in der Türkei in Kontakt.
Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte ausgesetzt ist oder dass sonstige Gründe vorliegen, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.
1.2. Zur Lage in der Türkei wird festgestellt:
Sicherheitslage
Akteure der Sicherheitsbedrohung
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den Islamischen Staat (IS) (AA 20.5.2024, S. 4; vgl. USDOS 30.11.2023, Crisis 24 25.8.2023) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16; vgl. USDOS 30.11.2023, Crisis 24 25.8.2023) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 20.5.2024, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).
Höhepunkt der Terroranschläge und bewaffneter Aufstände 2015-2017
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2024, S. 32f.). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022b). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage und zum Thema Binnenflüchtlinge das Unterkapitel: Flüchtlinge / Binnenflüchtlinge (IDPs).
Aktuelle Entwicklungen und Lage
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (MBZ 18.3.2021, S. 12). Zwischen 2026 und 2023 stieg die Gewaltrate allmählich im gesamten Nordirak sowie in Nordsyrien an, wo sich die Eskalation zwischen den türkischen Sicherheitskräften, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), der syrischen Schwesterorganisation der PKK, verschärfte. Die Eskalation innerhalb der Türkei hingegen ging in diesem Zeitraum deutlich zurück (ICG 8.1.2024).
Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 8.11.2023, S. 50). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023a), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Bergregionen im Südosten des Landes (MBZ 2.3.2022, S. 13). Die Lage im Südosten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge und ist in der Grenzregion prekär, insbesondere nach den Erdbeben im Februar 2023. Die türkische Regierung hat zudem grenzüberschreitende Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und Syrien durchgeführt, und in den Grenzgebieten besteht ein Sicherheitsrisiko durch terroristische Angriffe der PKK (EC 8.11.2023, S. 4, 18). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK und der TAK, in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis 24 24.11.2022). Die Berichte der türkischen Behörden deuten zudem darauf hin, dass die Zahl der PKK-Kämpfer auf türkischem Boden zurückgegangen ist (MBZ 31.8.2023, S. 16).
Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Berichte, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat. Die PKK verübte weiterhin Anschläge auf Zivilisten; die Regierung bemühte sich weiterhin, solche Angriffe zu verhindern (USDOS 22.4.2024, S. 3, 24). Die Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 3.5.2024), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK mit Drohnenangriffen im Nordirak, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend auch im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten und von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), wo die Angriffe der Türkei im Oktober 2023 kritische Infrastrukturen beschädigten und die Wasser- und Stromversorgung von Millionen von Menschen unterbrachen. Die Türkei hält weiterhin Gebiete in Nordsyrien besetzt, wo ihre lokalen syrischen Vertreter ungestraft die Rechte der Zivilbevölkerung verletzen (HRW 11.1.2024). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 22.4.2024, S. 24). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 3.5.2024).
Zuletzt kam es im Dezember 2023 und Jänner 2024 zu einer Eskalation. - Am 12.1.2024 wurden bei einem Angriff der PKK auf eine türkische Militärbasis im Nordirak neun Soldaten getötet. Ende Dezember 2023 waren bei einer ähnlichen Aktion zwölf Armeeangehörige ums Leben gekommen. Die türkische Regierung berief umgehend einen Krisenstab ein und holte, wie stets in solchen Fällen, zu massiven Vergeltungsschlägen aus. Bis zum 17.1.2024 waren laut Verteidigungsministerium mehr als siebzig Ziele durch Luftangriffe zerstört worden. Die Türkei beschränkte ihre Vergeltungsaktionen nicht auf den kurdischen Nordirak, sondern griff auch Positionen der SDF sowie Infrastruktureinrichtungen im Nordosten Syriens an. Ankara betrachtet die SDF und vor allem deren wichtigste Einheit, die kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten (YPG), als Arm der PKK und somit als Staatsfeind (NZZ 18.1.2024; vgl. RND 14.1.2024).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2023 242 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 173 bewaffnete Kämpfer, 69 Angehörige der Sicherheitskräfte, jedoch keine Zivilisten (İHD/HRA 23.8.2024, S. 2). Das waren deutlich weniger als in der İHD-Zählung von 2022 als 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten den Tod fanden (İHD/HRA 27.9.2023b). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum Dezember 20.9.2024 7.119 (4.763 PKK-Kämpfer, 1.491 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.055], aber auch 304 Polizisten und 132 sogenannte Dorfschützer - 639 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen (ICG 20.9.2024).
Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 8.11.2023, S. 18). Hierzu bekräftigte das Europäische Parlament im September 2023 neuerlich (nach Juni 2022), "dass die Wiederaufnahme eines verlässlichen politischen Prozesses, bei dem alle relevanten Parteien und demokratischen Kräfte an einen Tisch gebracht werden, dringend erforderlich ist, um sie friedlich beizulegen; [und] fordert die neue türkische Regierung auf, sich durch die Förderung von Dialog und Aussöhnung in diese Richtung zu bewegen" (EP 13.9.2023, Pt. 16).
Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 13.9.2024; vgl. EDA 3.5.2024). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis 24 24.11.2022). Die Maßnahmen der Sicherheitskräfte gegen die PKK betreffen in unverhältnismäßiger Weise kurdische Gemeinschaften. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen. - Ausgangssperren und Verbote öffentlicher Versammlungen, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die Operationen gegen die PKK und die Militäroperation des Landes in Nordsyrien verhängt wurden, schränkten die Bewegungs- und Meinungsfreiheit ebenfalls ein. (USDOS 22.4.2024, S. 24, 42, 68).
2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AlMon 20.4.2022). Der damalige Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26.9.2022 das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, AN 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (AN 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AlMon 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AlMon 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (AnA 18.11.2022). Anfang Oktober 2023 kam es zu einem Bombenanschlag in Ankara. Ein Selbstmordattentäter hatte sich im Zentrum der Hauptstadt in die Luft gesprengt. Ein zweiter Täter wurde nach Angaben des Innenministeriums erschossen. Der Angriff richtete sich gegen den Sitz der Polizei und gegen das Innenministerium, die sich in einem Gebäudekomplex in der Nähe des Parlaments befinden. Bei einem Schusswechsel im Anschluss an die Explosion wurden zwei Polizisten leicht verletzt. Die PKK bekannte sich zu dem Anschlag (DW 1.10.2023b; vgl. Presse 4.10.2023). Nach dem Anschlag kam es zu landesweiten Polizei-Razzien in 64 Provinzen. Offiziellen Angaben zufolge wurden 928 Personen wegen illegalen Waffenbesitzes und 90 Personen wegen mutmaßlicher PKK-Mitgliederschaft verhaftet (AJ 3.10.2023). Die Zahl erhöhte sich hernach auf 145 (Alaraby 3.10.2023).
Das türkische Parlament stimmte im Oktober 2023 einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP), inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt, waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vgl. AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).
Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023
Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei für drei Monate in Kraft (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). - Dieser endete im Mai 2023 (JICA 23.8.2023). - Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).
Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind" (ANF 9.2.2023; vgl. FR24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023). - Die PKK verkündete, die neuen Angriffswellen der türkischen Sicherheitskräfte beklagend, Mitte Juni 2023 das Ende ihres einseitigen Waffenstillstands (SBN 14.6.2023; vgl. ANF 14.6.2023).
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SZ - Süddeutsche Zeitung (20.4.2022): Bombenanschlag in Bursa, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-anschlag-bursa-1.5569449 , Zugriff 15.1.2024
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Allgemeine Menschenrechtslage
Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38; vgl. EC 8.11.2023, S. 6, 38). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023, S. 1, 21; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38).
Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Es wurden keine Gesetzesänderungen verabschiedet, um die verbleibenden Elemente der Notstandsgesetze von 2016 aufzuheben (Stand November 2023). Die Weigerung der Türkei, bestimmte Urteile des EGMR umzusetzen, gibt der Europäischen Kommission Anlass zur Sorge hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Türkei hat das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Juli 2022, das im Rahmen des vom Ministerkomitee gegen die Türkei eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens erging, nicht umgesetzt, was darauf hindeutet, dass die Türkei sich von den Standards für Menschenrechte und Grundfreiheiten, die sie als Mitglied des Europarats unterzeichnet hat, entfernt hat. Die Umsetzung des im Jahr 2021 angenommenen Aktionsplans für Menschenrechte wurde zwar fortgesetzt, kritische Punkte wurden jedoch nicht angegangen. - Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 8.11.2023, S. 6, 28). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 20.5.2024, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).
Am Vorabend der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 verzeichnete die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, in einer Stellungnahme, eine Verschärfung des Drucks auf diese wichtigen Akteure der demokratischen Gesellschaft sowie eine Verschlechterung der Menschenrechtslage, insbesondere der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Die türkischen Behörden wurden aufgefordert, das feindselige Umfeld für Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, NGOs und Anwälte zu beenden und sie nicht länger durch administrative und gerichtliche Maßnahmen zum Schweigen zu bringen. Die öffentliche Verwendung hasserfüllter Rhetorik gegen Minderheiten, LGBTI-Personen und Migranten, auch durch hochrangige Beamte, hat laut Mijatović ein alarmierendes Ausmaß erreicht und die bestehende Polarisierung in der Gesellschaft verstärkt, in einem Umfeld, das bereits von zunehmender Gewalt und hasserfüllten Verbrechen gegen Angehörige dieser Gruppen geprägt ist (CoE-CommDH 5.5.2023).
Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören glaubwürdige Berichte über: Verschwindenlassen; Folter oder grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch die Regierung oder im Auftrag der Regierung; willkürliche Verhaftung oder Inhaftierung; schwerwiegende Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; politische Gefangene oder Inhaftierte; grenzüberschreitende Repressionen gegen Personen in einem anderen Land; schwerwiegende Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung und der Medienfreiheit, einschließlich Gewalt und Androhung von Gewalt gegen Journalisten, ungerechtfertigte Verhaftungen oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten, Zensur oder Durchsetzung oder Androhung der Durchsetzung von Gesetzen zur strafrechtlichen Verfolgung wegen Verleumdung, um die Meinungsäußerung einzuschränken; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; erhebliche Eingriffe in die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze hinsichtlich der Organisation, Finanzierung oder Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen und Organisationen der Zivilgesellschaft; Beschränkungen der Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit im Hoheitsgebiet eines Staates und des Rechts, das Land zu verlassen; Zurückweisung von Flüchtlingen in ein Land, in dem ihnen Folter oder Verfolgung drohen, einschließlich schwerwiegender Schäden wie Bedrohung des Lebens oder der Freiheit oder anderer Misshandlungen, die eine gesonderte Menschenrechtsverletzung darstellen würden; schwerwiegende staatliche Beschränkungen oder Schikanen gegenüber inländischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen; umfassende geschlechtsspezifische Gewalt, einschließlich häuslicher oder intimer Partnergewalt, sexueller Gewalt, Gewalt am Arbeitsplatz, Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung, weiblicher Genitalverstümmelung/-beschneidung, Femizid und anderer Formen solcher Gewalt; Gewaltverbrechen oder Gewaltandrohungen gegen Angehörige nationaler und ethnischer Gruppen, wie der kurdischen Minderheit, sowie Flüchtlinge; und Gewaltverbrechen oder Gewaltandrohungen gegen Mitglieder sexueller Minderheiten (LGBTQI+). Hinzukommen glaubwürdige Berichte über willkürliche oder unrechtmäßige Tötungen durch die Vertreter der Staatsmacht, so etwa durch Sicherheitskräfte, Polizei und Gefängniswärter. (USDOS 22.4.2024, S. 1-3; vgl. AI 28.3.2023, EEAS 29.5.2024, S. 23). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 22.4.2024, S. 2; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 39).
Zuletzt zeigte sich (nach Mai 2022) das Europäische Parlament im September 2023 "nach wie vor besorgt über die schwerwiegenden Einschränkungen der Grundfreiheiten – insbesondere der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, für die das Gezi-Verfahren symbolhaft ist – und die anhaltenden Angriffe auf die Grundrechte von Mitgliedern der Opposition, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Gewerkschaftern, Angehörigen von Minderheiten, Journalisten, Wissenschaftlern und Aktivisten der Zivilgesellschaft, unter anderem durch juristische und administrative Schikanen, willkürliche Anwendung von Anti-Terrorgesetzen, Stigmatisierung und Auflösung von Vereinigungen" (EP 13.9.2023, Pt. 10).
Mit Stand 31.8.2024 waren 24.200 (Nov. 2023: 23.750) Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 37,2 % (Nov. 2023: 33,2 %) aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 9.2024; vgl. ECHR 12.2023), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Im Jahr 2024 stellte der EGMR für das Jahr 2023 in 72 Fällen (von 78) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 17, betrafen das Recht auf ein faires Verfahren, gefolgt vom Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), dem Versammlung- und Vereinigungsrecht (16), dem Recht auf Familien- und Privatleben (15) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (10) (ECHR 1.2024).
Das Recht auf Leben
Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD/HRA 6.11.2022b, S. 9).
Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Mutmaßliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte im Südosten, insbesondere während der Ereignisse im Jahr 2015, wurden nicht wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 30f.). Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt, insbesondere im Südosten des Landes (EC 12.10.2022, S. 33).
Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022a).
Quellen
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Duvar - Duvar (8.7.2022a): Top Turkish court finds no rights violation in death of Cizre curfew victims, https://www.duvarenglish.com/top-turkish-court-finds-no-rights-violation-in-death-of-cizre-curfew-victims-news-61010 , Zugriff 9.2.2024
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EC - Europäische Kommission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=Türkiye Report 2022.pdf, Zugriff 31.10.2023
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Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten
Selbstverständnis des Staates in Bezug auf Religion
Die Türkei besitzt keine verfassungsrechtlich verankerte Staatsreligion. In der Verfassung wird Laizität als Grundprinzip postuliert. In seiner konkreten Ausgestaltung ist die Laizität darauf ausgerichtet, den Staat gegen direkte Übergriffe religiöser Autoritäten zu schützen. Gleichzeitig beansprucht der Staat jedoch das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens. Nach klassischem kemalistischen Verständnis ist die türkische Identität unmittelbar mit dem sunnitischen Islam verknüpft. Die Verfassung garantiert die Freiheit des Gewissens der religiösen Anschauungen und Überzeugungen und untersagt Diskriminierung sowie Missbrauch religiöser Gefühle oder Gegenstände, die der jeweiligen Religion als heilig gelten. Sie sieht grundsätzlich Religionsfreiheit vor, allerdings mit Einschränkung durch die "unteilbare Einheit" der türkischen Nation (BMZ/AA 22.11.2023, S. 151f.). Das heißt, das Land ist von einem Jahrhundert kemalistischer Tradition mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde. Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime und Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29).
Religionsdemografie
In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99 % der Bevölkerung muslimischen Glaubens, inklusive Aleviten. Aus den im Jahr 2021 veröffentlichten Meinungsumfragen des Forschungs- und Meinungsforschungsunternehmens KONDA Research and Consultancy geht hervor, dass sich etwa 88 % als sunnitische Muslime bezeichnen, 6 % als Nichtgläubige, 4 % als Aleviten und die restlichen 2 % sich der Kategorie "Sonstige" zuordnen. Die Aleviten-Stiftung geht jedoch davon aus, dass 25 bis 31 % der Bevölkerung Aleviten sind. 4 % der Muslime sind laut eigener Schätzung schiitische Jafari [Dschafari]. Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der armenisch-apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 12.000-16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen und ca. 10.000 Baha'i. Die Zahl der ostorthodoxen Christen ist im Laufe des Jahres 2023 deutlich auf über 200.000 gestiegen, was vor allem auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen ist, der zu einem Zustrom von schätzungsweise 154.000 Russen und 47.000 Ukrainern führte. Zur ostorthodoxen Bevölkerung gehören auch weniger als 2.500 ethnisch griechisch-orthodoxe Christen und eine kleine, unbestimmte Anzahl bulgarisch-orthodoxer und georgisch-orthodoxer Christen. Zu den anderen Gruppen gehören schätzungsweise 7.000 bis 10.000 Mitglieder protestantischer und evangelikaler christlicher Konfessionen; 5.000 Mitglieder der Zeugen Jehovas; schätzungsweise 2.000 bis 3.500 armenische Katholiken; weniger als 3.000 chaldäische Christen; und weniger als 1.000 Jesiden (USDOS 30.6.2024). Das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gibt unter Berufung auf offizielle türkische Stellen in seinem Bericht vom November 2023 etwas abweichende Zahlen bekannt. Demgemäß gelten über 98 % der türkischen Bevölkerung als Muslime. Die überwiegende Mehrheit sind Sunniten hanafitischer Rechtsschule (rund drei Viertel). Etwa 4 % der Muslime sind schiitisch. Aleviten machen Schätzungen zufolge 15 % aus. Ferner leben rund 60.000 armenisch-apostolische Christen in der Türkei, die meisten von ihnen in Istanbul. Die Zahl der Juden wird auf ca. 18.000 geschätzt (BMZ/AA 22.11.2023, S. 151).
Situation der Religionsgemeinschaften der Minderheiten
Die Freiheit der Religionsausübung wird allgemein geachtet. Die fehlende Rechtspersönlichkeit der nicht-muslimischen und alevitischen Gemeinschaften gibt jedoch weiterhin Anlass zu ernster Besorgnis seitens der Europäischen Kommission, insbesondere im Hinblick auf den fehlenden Rechtsstatus der Patriarchate, des Oberrabbinats, der Synagogen, der Kirchen und der Cem-Häuser (alevitische Gebetsstätten). Die Empfehlungen der Venedig-Kommission des Europarates zum Rechtsstatus der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften und zum Recht des griechisch-orthodoxen ökumenischen Patriarchats in Istanbul, den Titel "ökumenisch" zu führen, sind noch nicht umgesetzt worden und werden weiterhin angefochten (EC 8.11.2023, S. 32; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 33, USCIRF 5.2024, S. 70). Ebenso äußerte sich das Europäische Parlament im September 2023, indem es feststellte, "dass beim Schutz der Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten, einschließlich der Rechte der griechisch-orthodoxen Bevölkerung auf den Inseln Gökçeada (Imbros) und Bozcaada (Tenedos), keine nennenswerten Fortschritte zu verzeichnen sind" (EP 13.9.2023, Pt. 19).
Die Behörden mischen sich weiterhin laufend in die internen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften ein. So können in der Türkei keine Ausbildungsstätten für Priester eröffnet werden. Das griechisch-orthodoxe Halki-Seminar, beispielsweise, ist seit 1971 geschlossen. Die Priester müssen im Ausland ausgebildet werden. Auch bei der Wahl des armenischen Patriarchen im Jahr 2019 gab es Interventionen. - Zunächst blockierte die Regierung über Jahre hinweg alle Versuche der armenischen Gemeinde, eine Neuwahl eines Patriachen infolge der schweren Erkrankung des Amtsinhabers Mutafyan durchzuführen. Nach dessen Tod 2019 erließ das Innenministerium im September desselben Jahres eine Regelung, wonach nur Bischöfe des armenischen Patriarchats Istanbul als Kandidaten für das Amt zugelassen seien, wodurch in Frage kommende Kandidaten aus dem Ausland ausgeschlossen wurden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 33; USCIRF 5.2024, S. 70).
Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind ihrerseits nur armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Christen sowie Juden (USDOS 30.6.2024; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29f.). Nur diese kommen in den Genuss der in den Artikeln 37 bis 43 des Lausanner Vertrages verankerten Garantien, wobei selbst diese Bestimmungen nie vollständig umgesetzt worden sind. Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'i, Protestanten, Römisch-Katholische oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Das System der "vakıf" geht auf das Osmanische Reich zurück und wurde durch den Vertrag von Lausanne und diverse Stiftungsgesetze über die Zeit verfestigt. Derzeit gibt es 167 solcher Stiftungen, darunter 77 griechisch-orthodoxe, 54 armenisch-orthodoxe, 19 jüdische, zehn syrisch-orthodoxe, drei chaldäisch-katholische, zwei bulgarisch-orthodoxe und jeweils eine georgisch-orthodoxe und türkisch-orthodoxe (Stand: August 2022). Die Errichtung neuer cemaat vakıf ist rechtlich unmöglich. Die Registrierung als Verein oder Stiftung ist möglich, sofern das erklärte Ziel primär gemeinnütziger, erzieherischer oder kultureller Natur und nicht religiös ist. In Ermangelung einer Rechtsgrundlage vermochten diese vakıf seit 2013 ihre Stiftungsräte nicht zu erneuern, was zu Problemen in der Stiftungsleitung und zum Verlust von Eigentumsrechten führte. In der Praxis wurde dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 30; vgl. USCIRF 5.2023, S. 67, Bianet 12.4.2022). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethno-religiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgruppen können sich ebenfalls, wenn sie die verwaltungsrechtlichen Vorgaben erfüllen, als Stiftung oder als Verein organisieren (AA 20.5.2024 S. 10).
Andere islamische Strömungen neben dem sunnitischen Islam genießen zwar individuelle und – seit den 1990er-Jahren zunehmend auch – de facto kollektive Freiheiten. Sie werden allerdings aufgrund des kemalistischen Verständnisses einer "unteilbaren Einheit" der (sunnitisch-muslimischen) türkischen Nation weiterhin nicht als Religionsgemeinschaften anerkannt. Ihre Gebetshäuser sind nicht als solche anerkannt (BMZ/AA 22.11.2023, S. 153).
Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (tarikat) sowie Logen (tekke oder zaviye), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 30.6.2024; vgl. BMZ/AA 22.11.2023, S. 153). Die islamischen Bruderschaften werden in ihren wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten nicht pauschal behindert (BMZ/AA 22.11.2023, S. 153).
Individuelle Religionsfreiheit und Diskriminierung
In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt (NORHC 11.9.2020, S. 10). Das türkische Rechtssystem sieht kein Verbot der Konversion vor. Trotz dieser rechtlichen Garantien gefährdet das Bekenntnis zu einer anderen Religion oder Weltanschauung als derjenigen, die in der Familie, im sozialen Netzwerk und in der Gesellschaft akzeptiert wird, in der Praxis die Rechte des Einzelnen. Der Einzelne kann diskriminiert und strafrechtlich verfolgt werden, wenn er sich zu seinen religiösen oder philosophischen Ansichten äußert. Weit verbreitet ist auch die Besorgnis über die Gefahr der Diskriminierung aufgrund der eigenen Religion oder des eigenen Glaubens am Arbeitsplatz. Betroffene berichten häufig, dass sie sich gezwungen sehen, sich an "akzeptable Normen" zu halten. Praktizierende Muslime fürchten Diskriminierung an säkularen Arbeitsplätzen; nicht-sunnitische Muslime fürchten Diskriminierung an konservativen und einigen säkularen Arbeitsplätzen. Atheisten berichten, dass sie sich nicht wohl dabei fühlen, am Arbeitsplatz offen über ihre Identität als Atheisten zu sprechen, weil sie Angst vor Entlassung haben. Der daraus resultierende Druck zwingt die Menschen, ein Doppelleben zu führen. Eine Umfrage der Kadir Has Universität zur religiösen Toleranz im Jahr 2021 in 26 Städten hat ergeben, dass 57,3 % der Befragten keine Atheisten, 43,9 % keine Christen, 37,1 % keine Juden, 21,3 % keine Aleviten und 16,2 % keinen streng religiösen Menschen als Nachbarn haben möchten (NORHC 25.8.2022, S. 16).
Das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit schließt das Recht ein, die eigene Religion oder Weltanschauung zu verbreiten. Aktivitäten, die darauf abzielen, die eigene Religion zu verbreiten, werden allerdings oft mit Misstrauen betrachtet. Sie werden schnell als "missionarische Aktivitäten" bezeichnet und fallen als solche nicht in den Geltungsbereich des Rechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit (NHC-FBI 19.4.2022, S. 37). Obwohl es in der Türkei nicht verboten, zu missionieren, sieht der Staat eine Gefahr in Missionaren, nicht aus religiösen Gründen, sondern vielmehr aus nationalistischen Motiven. Der Staat fürchtet, Missionare würden vom Westen benutzt, um die Türkei zu unterwandern. Dies erklärt die Ausweisung zahlreicher protestantischer Priester in der jüngsten Vergangenheit (DlF 12.7.2020).
Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 20.5.2024, S. 10; vgl. BMZ/AA 22.11.2023) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 20.5.2024, S. 10).
Aleviten und Nicht-Muslime werden in Schulen und im öffentlichen Sektor systematisch diskriminiert (FH 29.2.2024, F4; vgl. AA 20.5.2024, S. 11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften nur in Einzelfällen im öffentlichen Dienst zu finden, in der Armee nicht. Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Und Mitte August 2022 erfolgte seine Ernennung zum Distriktgouverneur von Babadağ/Denizli. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. - Im türkischen Parlament zählen nach der Wahl vom Mai 2023 die regierende AKP und die Grüne Linkspartei - YSP, (als Nachfolgerin der Demokratische Partei der Völker - HDP) je einen christlichen Abgeordneten in ihren Reihen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 33).
Staatliches Vorgehen gegen Blasphemie und Verletzung religiöser Werte
Artikel 216 (3) des türkischen Strafgesetzbuchs (TCK) und seine Anwendung stellen eine wichtige Infragestellung des Rechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit, einschließlich des Rechts auf Nicht-Glauben, dar. Wer sich kritisch zu Religion oder Weltanschauung oder zu bestimmten Auslegungen, insbesondere des Islams, äußert, muss mit einer Anzeige rechnen und riskiert, nach dem Strafgesetzbuch verfolgt zu werden. Dies geschieht insbesondere unter Artikel 216 (3): öffentliche Herabwürdigung religiöser Werte eines Teils der Bevölkerung. Die Venedig-Kommission des Europarates bewertete in ihrer Stellungnahme von 2016 die Vereinbarkeit von Artikel 216 (3) mit internationalen Menschenrechtsnormen. In der Stellungnahme wurde auf die Empfehlung 1805 (2007) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zu Blasphemie, religiösen Beleidigungen und Hassreden gegen Personen aufgrund ihrer Religion verwiesen, in der es heißt, dass "das nationale Recht nur Äußerungen über religiöse Angelegenheiten bestrafen sollte, die die öffentliche Ordnung absichtlich und schwerwiegend stören und zu öffentlicher Gewalt aufrufen". Artikel 216 (3) "sollte nicht zur Bestrafung von Blasphemie angewandt werden, sondern auf Fälle religiöser Beleidigungen beschränkt werden, die die öffentliche Ordnung absichtlich und schwerwiegend stören und zu öffentlicher Gewalt aufrufen" (NORHC 25.8.2022, S. 17). In der Türkei gibt es eine starke Tendenz, Artikel 216 (3) nur im Zusammenhang mit dem Islam anzuwenden und nicht im Zusammenhang mit Beleidigung oder Hass gegen andere Religionen oder Glaubensrichtungen (NORHC 25.8.2022, S. 17; vgl. USCIRF 12.2022, S. 1f.).
Das Strafgesetzbuch verbietet nicht nur die "Erregung von Hass und Feindseligkeit", sondern stellt auch die öffentliche Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen unter Strafe. Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden (USDOS 30.6.2024; vgl. BMZ/AA 22.11.2023, S. 152). Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert. Die Störung des Gottesdienstes einer religiösen Gruppe wird mit ein bis drei Jahren, die Beschädigung religiösen Eigentums mit drei Monaten bis zu einem Jahr und die Zerstörung religiösen Eigentums mit ein bis vier Jahren Gefängnis bestraft. Da es illegal ist, Gottesdienste an Orten abzuhalten, die nicht als Gebetsstätten registriert sind, gelten diese gesetzlichen Verbote in der Praxis nur für anerkannte religiöse Gruppen (USDOS 30.6.2024). Das Strafgesetzbuch verbietet es überdies, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Darauf stehen Gefängnisstrafen von bis zu einem Jahr, im Falle einer Aufstachelung zur Missachtung des Gesetzes sogar von bis zu drei Jahren (USDOS 15.5.2023).
Die türkische Regierung stellt weiterhin Blasphemie oder "Beleidigung religiöser Werte" gemäß Artikel 216(3) des Strafgesetzbuches unter Strafe und erhebt solche Anklagen häufig, um gegen Kritik an der Regierung und gegen als beleidigend empfundene Äußerungen gegenüber dem Islam vorzugehen. Es wurden zahlreiche Einzelpersonen und Einrichtungen strafrechtlich verfolgt oder wegen Blasphemie angeklagt (USCIRF 5.2023, S. 66; vgl. USCIRF 5.2024, S. 70). Laut letztmaliger Statistik des Justizministeriums, welche noch den Artikel 216 getrennt auswies, wurden im Jahr 2020 insgesamt 317 Personen (296 Männer und 21 Frauen) gemäß Artikel 216 zu unterschiedlichen Strafen verurteilt. Zu einer Haftstrafe wurden 94, zu einer bedingten Haftstrafe 19 und zu einer Verwaltungsstrafe 45 verurteilt. (Der Rest viel auf andere Strafkategorien.) (MoJ - GDJR&S 2021, S. 109, 118, 127, 136; vgl. NORHC 25.8.2022, S. 17).
Die Türkei machte nicht nur vom entsprechenden Artikel des Strafgesetzbuchs Gebrauch, sondern gehört auch zu den Top-10-Ländern der Welt, in denen Fälle von angeblicher Blasphemie durch die Nutzung sozialer Medien verfolgt werden. Beispielsweise kündigte die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft 2022 eine Untersuchung gegen Spotify, einen schwedischen Musikstreamingdienst, an, nachdem Beschwerden eingegangen waren, dass die Namen bestimmter Playlists "religiöse Werte" und Staatsbeamte beleidigten. - Im Jänner 2022 machte die türkische Popsängerin Sezen Aksu Schlagzeilen, nachdem sie einen Clip eines fünf Jahre alten Liedes von sich auf YouTube geteilt hatte. Das Lied erregte in den sozialen Medien große Aufmerksamkeit und löste bei mehreren Regierungsvertretern Kritik aus, weil der Text die religiösen Figuren Adam und Eva als "ignorant" bezeichnete. Nach dem Freitagsgebet in jenem Monat warnte Präsident Erdoğan, ohne Aksu namentlich zu nennen, dass "niemand gegen seine Heiligkeit Adam sprechen darf. Wenn es sein muss, ist es unsere Pflicht, diese Zungen herauszureißen. Niemand kann gegen unsere Mutter Eva sprechen. Es ist unsere Pflicht, diejenigen, die gegen sie sprechen, auf ihren Platz zu verweisen." Regierungsnahe Juristen erstatteten gegen die Sängerin Anzeige, die staatliche Religionsbehörde Diyanet und die Rundfunkbehörde RTÜK griffen ebenfalls ein (USCIRF 12.2022, S. 3; vgl. NZZ 1.2.2022).
Dass es auch zu Haftstrafen kommen kann, zeigt das Beispiel vom Oktober 2023, als ein Mann wegen "Beleidigung der religiösen Werte eines Teils der Öffentlichkeit" zu 7 1/2 Monaten Gefängnis verurteilt, als er in den sozialen Medien ein Foto veröffentlichte, welches Alkohol in einer Moschee zeigte. Im selben Monat nahmen die Behörden drei 16-Jährige wegen Beleidigung religiöser Werte in den sozialen Medien fest. In einem Fall von behördlicher Zensur verbot ein Gericht im Februar die Koranübersetzung des Theologen İhsan Eliaçık, weil sie vermeintlich Elemente enthält, die im Hinblick auf die grundlegenden Eigenschaften des Islams zu beanstanden seien (USCIRF 5.2024, S. 70).
Die staatliche Religionsverwaltung und Religionspolitik
Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine durch die Verfassung eingerichtete staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird. Obwohl das Gesetz nicht vorschreibt, dass alle Mitglieder des Rates sunnitische Muslime sein müssen, ist dies in der Praxis der Fall (USDOS 30.6.2024). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).
Kritiker werfen der AKP vor, sunnitische Muslime zu bevorzugen, und verweisen auf die Umgestaltung des Bildungssystems, welches den islamischen Unterricht in säkularen Schulen begünstigt und den Aufstieg religiöser Schulen gefördert hat. Die AKP baute auch das Direktorat für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) aus und nutzte diese Institution als Kanal für politische Klientelpolitik. Neben anderen Funktionen nutzt die Partei das Direktorat, um regierungsfreundliche Predigten in Moscheen in der Türkei sowie in Ländern, in denen die türkische Diaspora präsent ist, zu verbreiten (FH 10.3.2023, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie Darwins Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (MBZ 31.10.2019). Das Kopftuch ist das einzige religiöse Symbol, das für Beamte oder Schüler in Grund-, Mittel- oder Oberschulen erlaubt ist. Andere religiöse Symbole wie die Kippa, das Kreuz oder der Zulfikar [Symbol von Schiiten, Aleviten und Alawiten] sind hingegen nicht erlaubt (NHC-FBI 19.4.2022, S. 39).
Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (MBZ 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht, wobei sich die Regierung auch weiterhin nicht an ein Urteil des EGMR aus dem Jahr 2013 gehalten hat, wonach der von der Regierung verordnete verpflichtende Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gegen die Bildungsfreiheit verstößt. Im Gegenteil. - Im August 2023 erließ die Regierung eine Verordnung, wonach Schüler der Mittelstufe (fünfte bis zehnte Klasse) wöchentlich zwei zusätzliche Stunden Religionsunterricht im sunnitischen Islam besuchen müssen. Die Lehrergewerkschaft Egitim-Sen bezeichnete diese Änderung als Verstoß gegen die Religions- und Gewissensfreiheit (USDOS 30.6.2024). Der grundsätzlich verpflichtende Religionsunterricht ist stark sunnitisch-hanafitisch geprägt und entspricht nicht pluralistischen Standards (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152). Das Verfassungsgericht entschied im April 2022, dass der obligatorische Religionsunterricht gegen die Religionsfreiheit verstößt, und bestätigte damit die beiden früheren Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), welcher die Türkei wegen des Prinzips und des Inhalts des obligatorischen Religionsunterrichts kritisiert hatte (AlMon 12.4.2022; vgl. BMZ/AA 22.11.2023, S. 152). Eine Umsetzung des Urteils ist bislang nicht erfolgt (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152). Das Bildungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen (BMZ 10.2020). Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr im Personalausweis (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152), wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung inklusive der Polizei einsehbar (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152; ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29). Atheisten, Agnostiker, Baha'i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 30.6.2024).
Religiöse Einstellungen der Bevölkerung
Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (MBZ 31.10.2019). Umfrageinstituten zufolge bezeichnen sich rund 2 % der türkischen Bevölkerung als atheistisch (BMZ/AA 22.11.2023, S. 151). In einer vom Ankara-Institut durchgeführten Studie mit dem Titel "Perception of Religiosity in Turkey" (Wahrnehmung der Religiosität in der Türkei) wurde festgestellt, dass 92,3 % der türkischen Bevölkerung sich als Muslime bezeichnen, während 6 % Atheisten (2,7 %) oder Deisten (3,2 %) sind. Die Mehrheit der Teilnehmer, 86 %, glaubt an die Existenz Gottes, und 62 % glauben an die Erfüllung religiöser Anforderungen. Diejenigen, die sich als religiös bezeichnen, machen 70 % aus (BNN 7.11.2023).
Religiöse Minderheiten als Ziele staatlicher und gesellschaftlicher Anfeindungen
Regierungsvertreter bedienen sich zunehmend einer Rhetorik, die auf religiöse Minderheiten abzielt oder diese ausgrenzt (USCIRF 5.2024, S. 70). Neben der Rhetorik gegen Minderheitengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt Anlass zur Sorge. Die Wortwahl hat sich seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7.10.2023 und dem darauffolgenden Militäreinsatz Israels in Gaza massiv verschärft. - Staatspräsident Erdoğan hat den Terrorangriff der Hamas als Freiheitskämpfer eingestuft. Ein anti-westliches, insbesondere gegen Europa gerichtetes Islamophobie-Narrativ dominiert den Diskurs. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begünstigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet. Letztere werden von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert, was implizit zu Gewalt und Aggression ermutigt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 31f.; vgl. BMZ 10.2020). Die Anfeindungen richten sich gegen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften und deren Gotteshäuser, zugehörige Einrichtungen, religiöse/spirituelle Führer und Mitglieder, und diese Straftaten bleiben zumal ungestraft. Die derzeitige Gesetzgebung ist unzureichend, um gegen Hassverbrechen vorzugehen. Die Straftaten werden weder ausreichend gemeldet noch von den Behörden ausreichend erfasst (NHC-FBI 19.4.2022, S. 37). Hierzu stellte das Europäische Parlament im Juni 2022 "mit Besorgnis fest, dass noch immer Hetze und Hassverbrechen gegen religiöse Minderheiten, hauptsächlich Aleviten, Christen und Juden, gemeldet werden und dass die einschlägigen Ermittlungen ergebnislos bleiben" (EP 7.6.2022, S. 13, Pt. 19). Im September forderte das EP "die staatlichen Stellen der Türkei auf, Fälle von Hetze gegen Minderheiten oder Vandalismus gegen religiöse Stätten wirksam zu untersuchen und die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen" (EP 13.9.2023, Pt. 9).
Antisemitische und antichristliche Ressentiments gehören nicht nur in der (regierungsnahen) Boulevardpresse und in sozialen Medien zum Standardrepertoire. Auch hochrangige Politiker bis in die Staatsspitze und Führung der Opposition greifen in ihren öffentlichen Äußerungen gelegentlich auf antisemitische bzw. antiarmenische Verschwörungstheorien zurück (BMZ/AA 22.11.2023, S. 154; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 90). Laut einem Bericht der armenischen Hrant-Dink-Stiftung über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, S. 68). Seit Oktober 2023 folgte ein alarmierender Anstieg des Antisemitismus (USCIRF 5.2024, S. 70).
Quellen
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Aleviten
Alevi ist die Bezeichnung für eine große Zahl von heterodoxen schiitischen Gemeinschaften mit unterschiedlichen Merkmalen. Damit bilden die Aleviten die größte religiöse Minderheit in der Türkei. Technisch gesehen fallen sie unter die schiitische Konfession des Islam, folgen aber einer grundlegend anderen Interpretation als die schiitischen Gemeinschaften in anderen Ländern. Sie unterscheiden sich auch erheblich in ihrer Praxis und Interpretation des Islam von der sunnitischen Mehrheit (MRG 6.2018a; vgl. BPB 14.9.2014). Während die meisten Aleviten ihren Glauben als eigenständige Religion betrachten, identifizieren sich einige als Schiiten oder Sunniten oder sehen ihre alevitische Identität überwiegend in einem kulturellen und nicht religiösen Rahmen. Aleviten sind meist säkular orientiert und unterstützen eine strikte Trennung von Religion und Politik (DFAT 10.9.2020, S. 24).
Die Zahl der Aleviten im Land ist umstritten. Schätzungen aus verschiedenen Quellen variieren beträchtlich, von etwa 10 % bis zu 40 % der Gesamtbevölkerung. Aktuelle Zahlen deuten auf eine Zahl von zehn bis 25 Millionen hin (USCIRF 5.2024, S. 71; vgl. MRG 6.2018a).
Aleviten werden nicht als religiöse Minderheit anerkannt und genießen daher keine Minderheitenrechte (BMZ/AA 22.11.2023, S. 151; vgl. GfbV o.D., USCIRF 5.2024, S. 70). Die türkische Regierung stuft das Alevitentum als eine Glaubensrichtung innerhalb des sunnitischen Islam ein, daher werden Aleviten in den Meldeämtern offiziell als "islamisch" gekennzeichnet (BMZ/AA 22.11.2023, S. 151; vgl. GfbV o.D.). Viele Aleviten sind auch Kurden. Die Schätzungen sind sehr unterschiedlich. Sie liegen zwischen einer halben und mehreren Millionen (DFAT 10.9.2020, S. 24). Einer anderen Quelle zufolge, welche von der Sprache ausgeht, sind ungefähr zwei Drittel türkischsprachig, das restliche Drittel spricht eine der beiden nordwestiranischen Sprachen Kurmanci [eine der Varianten des Kurdischen] und Zazaki [Anm.: gilt laut manchen Linguisten als eigene Sprache, getrennt vom Kurdischen] (BPB 14.9.2014). Kurdische Aleviten identifizieren sich primär eher als Aleviten (DFAT 10.9.2020, S. 24). Politisch stehen die kurdischen Aleviten vor dem Dilemma, ob sie ihrer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft gegenüber loyal sein sollen. Einige kümmern sich mehr um die religiöse Solidarität mit den türkischen Aleviten als um die ethnische Solidarität mit den Kurden, zumal viele sunnitische Kurden sie missbilligen (MRG 6.2018a). Während die Aleviten über die ganze Türkei verstreut sind, konzentrieren sich die alevitischen Kurden auf Zentral- und Ost-Anatolien, Istanbul und andere Großstädte. Tunceli (Dersim) [östliche Zentraltürkei] ist das Zentrum des alevitischen Glaubens. Seine Bevölkerung ist überwiegend (zu 95 %) alevitisch. Durchschnittliche Aleviten verhalten sich in der Gesellschaft in der Regel unauffällig und betonen ihre religiöse Identität nicht (DFAT 10.9.2020, S. 24).
Aleviten sind weitverbreiteter Diskriminierung ausgesetzt (USCIRF 5.2024, S. 70). Das Alevitentum wird offiziell weiterhin als heterodoxe muslimische "Sekte" oder kulturelle Gruppe behandelt, nicht jedoch als religiöses Bekenntnis anerkannt. Dies führt dazu, dass alevitische Gebetshäuser (Cemevis oder Cemevleri) in vielen Gemeinden nicht als Gotteshäuser anerkannt sind, und dies trotz anderslautender Urteile des Obersten Berufungsgerichtes (Kassationsgericht) vom November 2018 und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (USDOS 30.6.2024; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 34, AA 20.5.2024, S. 11). Infolgedessen stehen die Gebetshäuser nicht unter dem Schutz des türkischen Strafgesetzes (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 34). Führungspersönlichkeiten der Aleviten nannten die Anzahl der 2.500 bis 3.000 Gebetshäuser als unzureichend, um die Bedürfnisse der Gläubigen zu befriedigen. Die Regierung erklärte weiterhin, dass die vom Religionsamt Diyanet finanzierten sunnitischen Moscheen den Aleviten und allen Muslimen zur Verfügung stünden, unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung (USDOS 30.6.2024). Abweichend von der Regierungslinie, wurden den Aleviten vereinzelt auf lokaler Ebene Rechte und Unterstützung eingeräumt. In İzmir erhielten sieben Cemevis den Status einer Kultstätte. In Istanbul wurden kostenlose kommunale Dienstleistungen wie den anderen Religionsgemeinschaften auch den Gebetshäusern der Aleviten zugestanden (USDOS 12.5.2021).
Aleviten sind von einer systemischen Diskriminierung in Schulen und im öffentlichen Bereich betroffen (FH 29.2.2024, F4). Die Regierung hat den Aktionsplan betreffend die Entscheidungen des EGMR über Cem-Häuser und obligatorischen Religionsunterricht, der 2016 dem Ministerkomitee des Europarates vorgelegt worden war, bis heute nicht umgesetzt. Andererseits dürften inzwischen erste Schritte zur Umsetzung eines EGMR-Urteils aus 2016 hinsichtlich der Verletzung der Religionsfreiheit und des Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot gesetzt worden sein (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 34; vgl. AA 20.5.2024, S. 11). Im Laufe des Jahres (2023) äußerten sich einige alevitische Vertreter generell ablehnend gegenüber der Initiative von Präsident Erdoğan aus dem Jahr 2022 zur Schaffung eines "Alevitisch-Bektaschischen Kultur- und Cemevi-Präsidiums" innerhalb des Ministeriums für Kultur und Tourismus und dem darauf folgenden Erlass zur formellen Einrichtung der neuen Behörde. Der Erlass sieht die Förderung von Forschung und Konferenzen über die alevitische Kultur sowie die materielle und administrative Unterstützung der Cemevis vor, einschließlich der Finanzierung der Gehälter der Cemevi-Leiter und der Deckung der Betriebskosten (USDOS 30.6.2024), wofür, etwas für die Beleuchtungskosten, ein Antrag bei der Provinzdirektion für Kultur und Tourismus nötig ist (Duvar 21.4.2024). Einige Aleviten sahen in der Initiative einen Versuch, den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nachzukommen, aber auch als Versuch, die Aleviten an die sunnitisch-muslimische Hauptkultur zu assimilieren (USDOS 30.6.2024; vgl. İHD/HRA 19.12.2023, USCIRF 5.2024, S. 70) bzw. aus aktuellem Anlass vor den Wahlen Stimmen für die AKP zu gewinnen (USCIRF 5.2024, S. 70).
Am 9.11.2022 wurde durch Präsidialdekret ein Präsidium für Alevitische Kultur und Gebetshäuser im Ministerium für Kultur und Tourismus eingerichtet. Parallel dazu wurde am 8.11.2022 ein Gesetz zur Regulierung von alevitischen Cem-Häusern im türkischen Parlament beschlossen. Dagegen protestierten zahlreiche alevitische Verbände sowie CHP- und HDP-Abgeordnete. Hauptkritikpunkt war, dass die alevitische Hauptforderung, Cem-Häuser als Gebetsstätten anzuerkennen, nicht enthalten ist (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 34; vgl. (BMZ/AA 22.11.2023, S. 153). Alevitische Verbände sehen die Entwicklung außerdem teils sehr kritisch, da sie eine staatliche Kontrolle des Alevitentums befürchten (BMZ/AA 22.11.2023, S. 153).
Der nationale Lehrplan schreibt einen obligatorischen Religionsunterricht vor, und obwohl Aleviten (und nicht-muslimische Schüler) offiziell von diesen Kursen befreit sind, können sie sich in der Praxis nur schwer davon abmelden (FH 29.2.2024, D2). - Alevitische Eltern sind nach wie vor mit Problemen konfrontiert, wenn sie ihre Kinder vom sunnitischen Religionsunterricht abmelden wollen, da die Behörden die Aleviten nicht als religiöse Minderheit anerkennen (USCIRF 12.2022, S. 3). Ende September 2021 sah das Ministerkomitee des Europarates laut eigenen Angaben in der ungerechtfertigten und diskriminierenden Weigerung, den Glauben der alevitischen Gemeinschaft als Religion anzuerkennen, einen Grund, das Monitoring der Türkei fortzusetzen (CoE 15.6.2023, S. 2).
Als zweitgrößte religiöse Gruppe des Landes werden die Aleviten von Teilen der Mehrheitsgesellschaft als fremd und unzuverlässig angesehen (BMZ 10.2020). Hassreden und Hassverbrechen gegen Aleviten hielten an. Es gibt keine offiziellen Daten, aber der allgemeine Trend ist, dass Hassreden und Straftaten vor allem, nebst Syrer (häufig Flüchtlinge), Griechen, Armenier und Juden, auch gegen Aleviten gerichtet sind (EC 8.11.2023, S. 33).
Beispiele für Übergriffe
Aleviten sind weiterhin Ziel von Hassreden und Mobgewalt (FH 29.2.2024, D2). Im Jahr 2022 nahmen die gewalttätigen Übergriffe gegen alevitische Einrichtungen deutlich zu. Zwischen Juli und August 2022 wurden mindestens fünf alevitische NGOs und Gotteshäuser angegriffen und verwüstet (FH 10.3.2023, D2). Nebst Angriffen auf Cem-Häuser wurden auch alevitische Religionsführer attackiert (EC 8.11.2023, S. 32).
Am 30.7.2022, dem ersten Tag des für die Aleviten heiligen Monats Muharram, wurden in Ankara gleichzeitig Angriffe auf die alevitschen Gebetshäuser und Vereine Tuzluçayır Ana Fatma Djemevi, Ege Mahallesi Şah-ı Merdan Djemevi, Gökçebel Village Association sowie die turkmenisch-alevitische Bektashi-Stiftung verübt. Beim Angriff auf die Bektashi-Stiftung wurde eine Frau durch Messerstiche verletzt und in ein Krankenhaus gebracht. Die übrigen Einrichtungen wurden mit Steinen und Stühlen beworfen. Ein Verdächtiger wurde festgenommen (Duvar 31.7.2022; vgl. BAMF 8.8.2022, S. 10, USDOS 15.5.2023, (USCIRF 5.2023, S. 66). Am 5.8.2022 wurde Selami Sarıtaş, der Leiter der alevitischen Gemeinde Kartal-Cemevi, von zwei unbekannten Tätern vor seinem Wohnhaus in Istanbul körperlich angegriffen und verletzt (BAMF 8.8.2022, S. 11; vgl. HDN 8.8.2022, ÖB Ankara 28.12.2023, S. 34). Die Polizei reagierte mit der Aufstellung eines Spezialteams, um die Angreifer zu fassen (HDN 8.8.2022). Ein Cemevi und Häuser von Aleviten wurden im November 2022 mit Schimpfwörtern besprüht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 34). Das Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit den Angriffen vom Juli 2022 in Ankara wurde im Juli 2023 in erster Instanz abgeschlossen, wobei der Haupttäter wegen Beschädigung von Gebetsstätten und vorsätzlicher Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt wurde (EC 8.11.2023, S. 32).
Ein Teil der Aleviten bemüht sich um Anerkennung als eigene Konfession und Gleichstellung mit dem sunnitischen Islam. Das Thema Aleviten und Anerkennung ihrer Rechte bzw. Reformen zur Gleichstellung ihres Status verschwand seit dem Putschversuch 2016 gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 34). Allerdings wurden nach dem Putschversuch Tausende Aleviten festgenommen oder verloren ihre Arbeit. Sie wurden von Staatspräsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) pauschal verdächtigt, mit dem Militär und mit den Putschisten sympathisiert zu haben (Gatestone 18.1.2018).
Quellen
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Ethnische Minderheiten
Grundlegende Rechtslage
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolischen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Jafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 22.4.2024, S. 67). Allerdings wurden in den letzten Jahren Minderheiten in beschränktem Ausmaß kulturelle Rechte eingeräumt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Türkische Staatsangehörige nicht-türkischer Volksgruppenzugehörigkeit sind keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen. Ausweispapiere enthalten keine Aussage zur ethnischen Zugehörigkeit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35).
Demografie
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 20.5.2024, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRG 6.2018c).
Intoleranz, Diskriminierung, Hassreden
Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen. Das Maß an Vertrauen und Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten und Nicht-Muslimen hat abgenommen (BS 19.3.2024, S. 7, 17). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (BPB 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).
Hassreden gegen und Hassverbrechen an Angehörigen ethnischer und nationaler Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 8.11.2023, S. 43). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).
Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023, S. 87).
Bildung und Kultur
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt. Das Gesetz beschränkt den Gebrauch von anderen Sprachen als Türkisch in der Regierung und in öffentlichen Diensten (USDOS 22.4.2024, S. 67f.).
Im Bereich der kulturellen Rechte gab es keine Entwicklungen in der Gesetzgebung, welche die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch ermöglicht hätten. Die gesetzlichen Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Sekundarschulen blieben bestehen (EC 8.11.2023, S. 44). Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache gelehrt werden darf (EC 19.10.2021, S. 41). An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch und Tscherkessisch angeboten. Allerdings wirken die Mindestanzahl von zehn Schülern für einen Kurs sowie der Mangel oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen. Universitätsprogramme sind in Kurdisch, Zazaki, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch vorhanden. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten, insbesondere der Kurden, ausgewirkt (EC 8.11.2023, S. 44).
Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023; S. 36).
Quellen
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Kurden
Demografie und Selbstdefinition
Die kurdische Volksgruppe hat laut Schätzungen ca. 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung und lebt zum Großteil im Südosten des Landes sowie in den südlich und westlich gelegenen Großstädten Adana, Antalya, Gaziantep, Mersin, Istanbul und Izmir (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 47, UKHO 10.2023a, S. 6). Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20). Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Türkei, jedoch liegen keine Angaben über deren genaue Größe vor. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. - Erstens wird bei den türkischen Volkszählungen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen nicht erfasst. Zweitens verheimlichen einige Kurden ihre ethnische Zugehörigkeit, da sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer kurdischen Herkunft befürchten. Und drittens ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer zum kurdischen Teil der Bevölkerung gehört. So identifizieren sich Sprecher des Zazaki - einer Sprachvariante, die mit Kurmandji ("Kurdisch") verwandt ist - teils als Kurden und teils eben als eine völlig separate Bevölkerungsgruppe (MBZ 31.8.2023, S. 47).
Allgemeine Situation, politische Orientierung und Vertretung
Es gibt Belege für eine anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über rassistische Angriffe gegen Kurden (auch) im Jahr 2023. In einigen Fällen wurden diese Angriffe möglicherweise nicht ordnungsgemäß untersucht oder nicht als rassistisch erkannt (UKHO 10.2023a, S. 8f.). Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. UKHO 10.2023a, S. 8f.).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) [inzwischen in Partei für Gleichberechtigung und Demokratie der Völker - DEM-Partei umbenannt] (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 48). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Scharia eintritt. Zwar tritt sie wie die HDP für die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem ein, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (MBZ 31.10.2019). Die Unterstützung wiederholte sich auch angesichts der Präsidenten- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2023. - Bei den Parlamentswahlen 2023 zogen vier Abgeordnete der Hüda-Par über die Liste der AKP ins türkische Parlament ein. Möglich war das durch einen umfangreichen Deal mit Präsident Erdoğan. Für die vier sicheren Listenplätze erhielt dieser die Unterstützung der Hüda-Par bei den gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen (FR 19.5.2023; vgl. Duvar 9.6.2023). Die Hüda-Par gilt beispielsweise nicht nur als Gegnerin der Istanbuler Konvention, sondern generell der Frauenemanzipation. Die Frau ist für Hüda-Par in erster Linie Mutter. Die Partei möchte zudem außereheliche Beziehungen verbieten (FR 19.5.2023). Mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober 2023 stellte sich die Hüda-Par als Unterstützerin der HAMAS heraus, die in der EU, den USA und anderen Ländern, nicht jedoch in der Türkei, als Terrororganisation gilt. So empfing die Parlamentsfraktion der Hüda-Par bereits am 11.10.2023 eine Delegation der HAMAS unter Führung von Basam Naim im türkischen Parlament. Şehzade Demir, Abgeordneter der Hüda-Par, warf bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Israel nicht nur Kriegsverbrechen vor, sondern erklärte, dass "das zionistische Regime der gesamten islamischen Gemeinschaft und unseren heiligen Werten den Krieg erklärt" hätte (Duvar 12.10.2023). Zudem begrüßte Demir den HAMAS-Angriff vom 7.10.2023 und nannte Israel eine Terrororganisation, zu der alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen beendet werden sollten (FR 12.10.2023).
Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobanê-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (MBZ 31.10.2019).
Religiöse Orientierung
In religiöser Hinsicht sind die Kurden in der Türkei nicht einheitlich. Nach einer Schätzung sind siebzig Prozent der Kurden Sunniten, die restlichen dreißig Prozent sind Aleviten und Jesiden [eine verschwindend geringe Zahl] (MBZ 31.8.2023, S. 48; vgl. MRG 6.2018b). Die sunnitische Mehrheit unter den Kurden gehören allerdings in der Regel der Shafi'i-Schule und nicht der Hanafi-Schule wie die meisten ethnischen Türken an. Die türkischen Religionsbehörden betrachten beide Schulen als gleichwertig, und Anhänger der Shafi'i-Schule werden aus religiösen Gründen nicht unterschiedlich behandelt. Kurdische Aleviten verstehen sich eher als Aleviten denn als Kurden (DFAT 10.9.2020, S. 20, 24).
Allgemeine Einschätzungen zur Lage der Kurden durch die EU-Institutionen
Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich auch 2023 "besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Künstler, einschließlich Massenverhaftungen vor den Wahlen [2023] sowie über das laufende Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker". Überdies zeigte sich das EP "beunruhigt über die schwere und zunehmende Unterdrückung der kurdischen Gemeinschaft, insbesondere im Südosten des Landes, unter anderem durch die weitere Einschränkung der kulturellen Rechte und rechtliche Einschränkungen im Hinblick auf den Gebrauch der kurdischen Sprache als Unterrichtssprache im Bildungswesen" (EP 13.9.2023, Pt. 13, 16).
2022 zeigte sich das EP zudem "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 44).
Laut Europäischer Kommission dauern Hassverbrechen und Hassreden gegen Kurden an (EC 8.11.2023, S. 19). Auch das EP weist darauf hin, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 19.5.2021, S. 16f, Pt. 44).
Kurdische Zivilgesellschaft
Es gab mehrere Angriffe gegen ethnische Kurden, die nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen rassistisch motiviert waren. Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt (USDOS 22.4.2024, S. 69). Hunderte von kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023, S. 85) und die meisten blieben es auch (EC 8.11.2023, S. 18, 44). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass Letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete. Allerdings wurde das Urteil des Verfassungsgerichts (mit Stand November 2023) nicht umgesetzt (EC 8.11.2023, S. 18f.; vgl. CCRT 8.4.2021).
Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes mit der Kurdischen Arbeiterpartei - PKK
Dennoch wird der Krieg der Regierung gegen die PKK zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen. Die Behörden nehmen regelmäßig Massenverhaftungen in kurdisch dominierten Provinzen vor und beschuldigen die Verhafteten, die PKK zu unterstützen. Ende April 2023 nahm die Polizei in Diyarbakır und anderen Provinzen über 100 Personen fest, darunter Politiker, Rechtsanwälte und Journalisten (FH 29.2.2024, F4). Auch 2024 setzte sich dieses Vorgehen fort. - Am 16.1.2024 nahm die Polizei bei mehreren Razzien in 28 Provinzen insgesamt 165 Personen fest, darunter Mitglieder der pro-kurdischen Partei für Demokratie und Gleichheit (DEM-Partei), wegen mutmaßlicher Verbindungen zu terroristischen Organisationen. Das Innenministerium erklärte, die Festgenommenen seien wegen mutmaßlicher Unterstützung der PKK oder wegen der Verbreitung von PKK-Propaganda in den sozialen Medien festgenommen worden. Unter den Festgenommenen waren mehrere Mitglieder der sog. Peace Mothers, eine Gruppe von Aktivistinnen, die sich für eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen dem Staat und der PKK einsetzt, sowie Mitglieder der Jugend- und Frauennetzwerke der DEM-Partei (BAMF 30.6.2024, S. 1).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli (Dersim) blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 22.4.2024, S. 24, 68f.). Die Lage im Südosten bleibt besorgniserregend und wurde durch die Erdbeben im Februar 2023, von denen auch ein Teil der Region betroffen war, noch verschärft. Die Regierung setzte ihre inländischen und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen in Irak und Syrien fort, auch nach den Erdbeben. Die Sicherheitslage in den Grenzgebieten bleibt aufgrund der terroristischen Angriffe der PKK prekär (EC 8.11.2023, S. 18).
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 18). Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise betroffen. In einem Prozess in Diyarbakır gegen 18 kurdische Journalisten und Medienschaffende, die der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" beschuldigt wurden, verbrachten 15 von ihnen 13 Monate (seit Juni 2022) in Untersuchungshaft, bevor sie bei ihrer ersten Anhörung im Juli freigelassen wurden (HRW 11.1.2024; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). In einem Verfahren in Ankara gegen elf kurdische Journalisten verbrachten neun von ihnen sieben Monate in Untersuchungshaft, bevor sie im Mai 2023 bei ihrer ersten Anhörung freigelassen wurden (Die beiden Verfahren dauerten mit Stand Ende 2023 noch an.) (HRW 11.1.2024). Laut eigenen Angaben werden kurdische Journalisten schlicht wegen ihrer Berichte über die sich verschlimmernde Menschenrechtslage in den Kurdengebieten angeklagt (BIRN 8.12.2023).
Vom Vorwurf der Terrorismusunterstützung sind nebst pro-kurdischen politischen Parteien auch Vertreter kurdischer NGOs und Vereine betroffen. - So hat ein Gericht in Diyarbakır Narin Gezgör, ein Gründungsmitglied der "Rosa Frauenvereinigung", einer kurdischen Frauenrechtsgruppe, im September 2023 wegen Terrorismus zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Zu den gegen Gezgör vorgebrachten Beweisen gehörten ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung sowie ihre Medieninterviews und anonyme Zeugenaussagen, die sie belasteten (SCF 11.9.2023; vgl. ANF 11.9.2023).
Zur Verfolgung kurdischer Journalisten siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 20.5.2024, S. 8f.). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), am 1. Mai (WKI 3.5.2022) oder routinemäßig zum kurdischen Neujahrsfest Newroz. So wurden 2023 gemäß offiziellen Angaben 224 Personen in Istanbul anlässlich des Frühlingsfestes verhaftet (Duvar 20.3.2023). 2024 berichteten regierungstreue Medien, dass mindestens 75 Personen festgenommen wurden, weil sie laut lokalen Behörden bei einer Newroz-Feier in Istanbul terroristische Propaganda verbreitet haben sollen, u. a. in Form der Verteilung von Postern mit dem Bild Abdullah Öcalans oder des Skandierens "illegaler Slogans" (DS 18.3.2024). Im Zuge dessen ist auch eine AFP-Journalistin von der Polizei verhaftet worden. Laut ihren Angaben sei sie festgenommen und in einen Polizeiwagen gebracht worden, nachdem sie sich gegen eine Leibesvisitation gewehrt habe. Sie wurde bis zur Freilassung für sechs Stunden zusammen mit 14 weiteren Personen von der Polizei festgehalten. Sie und die anderen festgesetzten Personen seien von der Polizei beschimpft und bedroht worden. Zwei Journalisten der pro-kurdischen Nachrichtenseite Bianet, welche die Verhaftungen gefilmt hatten, berichteten, sie seien von der Polizei geschlagen und zu Boden geworfen worden (BAMF 25.3.2024).
Gewaltsame Übergriffe und behördliches Vorgehen
Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (MBZ 2.3.2022, S. 43; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 2). Im Juli 2021 veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021). Auch in den Jahren 2022 und 2023 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Dieser Trend setzte sich 2024 fort.
Beispiele 2023: Bilder von Fans des Fußballklubs Bursaspor, die Spieler von Amedspor aus Diyarbakır mit scharfen Gegenständen, leeren Patronenhülsen und Flaschen bewarfen und dabei rassistische Parolen riefen, schockierten das Land im März 2023. Ein kurdischer Jugendlicher, der es wagte, ein Amedspor-Transparent hochzuhalten, wurde von Bursaspor-Anhängern brutal zusammengeschlagen. Amedspor-Spieler gaben an, dass sie in den Umkleidekabinen von "privaten Sicherheitsleuten, Sicherheitsbeamten des Vereins, Vereinsmitarbeitern und Polizeibeamten" schikaniert wurden (AlMon 6.3.2023). Anfang April 2023 kam es zu einem gewaltsamen Übergriff auf drei Bauarbeiter im Bezirk Bodrum der Provinz Muğla, weil sie Kurdisch sprachen. Die Angreifer griffen die kurdischen Arbeiter mit einer Schrotflinte, einer Axt und Eisenstangen an und setzten danach ihre Drohungen mit WhatsApp-Nachrichten fort (Gercek 3.4.2023; vgl. TİHV/HRFT 3.4.2023). Am 2.5.2023 wurde der kurdische Straßensänger Cihan Aymaz in Istanbul von einem Mann erstochen, da er verweigerte, das Lied "Ölürem Türkiyem" ("Ich würde für meine Türkei sterben") sofort zu singen, und zudem regelmäßig kurdische Lieder sang (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. Bianet 4.5.2023). Die Istanbuler Polizei hat kurdische Jugendliche daran gehindert, Halay, einen traditionellen kurdischen Volkstanz, zu kurdischer Musik zu tanzen und vier von ihnen nach einem Gerangel festgenommen. Anschließend tauchte ein Video auf, das zeigt, wie die Polizei die Festgenommenen zwingt, osmanische Militärmusik zu hören, während sie mit gefesselten Händen auf dem Boden liegen (Duvar 22.5.2023). Das Sicherheitspersonal eines Flughafens in Provinz Trabzon griff am 16.12.2023 vier Bauarbeiter an, weil sie sich auf Kurdisch unterhielten. Ein Arbeiter sagte, dass nur drei Angreifer auf die Polizeiwache gebracht wurden, obwohl sie eigentlich von etwa 25 Personen attackiert wurden (Duvar 17.12.2023).
Beispiele 2024: Ein kurdischer Betreiber eines Cafés in Diyarbakır wurde Ende Mai 2024 verhaftet, nachdem er anlässlich des Tages der kurdischen Sprache (15. Mai) angekündigt hatte, seine Kunden künftig ausschließlich auf Kurdisch zu bedienen. Die Behörden werfen dem Gastronomen vor, durch sein Vorhaben terroristische Propaganda zu betreiben, ein diesbezügliches Strafverfahren wurde eingeleitet. Zuvor war der Cafébesitzer bereits in den sozialen Medien angefeindet worden (BAMF 3.6.2024, vgl. BIRN 30.5.2024).
Im Sommer 2024 wurden an mehreren Orten Hochzeitsgäste, die kurdische Lieder sangen und kurdische Tänze tanzten von der Polizei verhaftet bzw. wurde Anklage wegen "Verbreitung von Terrorismuspropaganda" erhoben. Dieses Verbrechen kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte schon zuvor entschieden, dass das Singen von Volksliedern oder das Vortragen von Gedichten, das Rufen allgemeiner Slogans, auch bei öffentlichen Versammlungen, oder der Verweis auf den 40-jährigen Aufstand der bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegen das türkische Militär rechtlich erlaubte Meinungsäußerungen darstellen. Denn der Inhalt der Lieder und Slogans auf den Hochzeitsfeiern und anderswo ruft weder zur Gewalt auf noch stellt er eine unmittelbare Gefahr für Personen dar, die eine strafrechtliche Verfolgung rechtfertigen könnte (HRW 15.8.2024). - Mehr als 30 Verhaftungen erfolgten im Juli in den Provinzen Istanbul, Aydın, Mersin, Ağrı, Siirt, Batman und Hakkâri. So wurden am 27.7.2024 Presseberichten zufolge insgesamt elf Personen verhaftet, die in Istanbul bei verschiedenen Hochzeiten laut eines Istanbuler Gerichts "Propaganda für terroristische Organisationen" betrieben haben sollen. In Hakkâri kam es am 28.7.2024 zu Razzien während Hochzeitsfeierlichkeiten, da auf jenen kurdische Lieder gespielt und dazu getanzt worden sei. Berichten zufolge sollen bei den Razzien eine nicht näher bekannte Anzahl an Musikern und Hochzeitsgästen ebenfalls unter dem Vorwurf der "Propaganda für eine terroristische Organisation" festgenommen worden sein. Am 5.8.2024 wurden fünf Personen festgenommen, da sie auf einer Hochzeit in der Provinz Osmaniye kurdischsprachige Lieder gesungen, den kurdischen Volkstanz "Halay" aufgeführt und die Hochzeitsfahrzeuge mit gelben und roten Luftschlangen geschmückt haben sollen. Unter den Festgenommenen waren auch die beiden Ko-Vorsitzenden der Partei für Gleichheit und Demokratie (DEM) des Bezirks Osmaniye (BAMF 12.8.2024, S. 7; vgl. Bianet 30.7.2024, MLSA 1.8.2024b). Am 10.8.2024 führte die Istanbuler Polizei eine Razzia bei einer Hochzeit im Stadtteil Esenyurt durch, bei der acht Personen festgenommen wurden, darunter die Gastgeber der Hochzeit und Musiker. Die Razzia wurde Berichten zufolge durch das Abspielen "politischer Lieder" ausgelöst. Fünf der acht Personen, die wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" angeklagt waren, wurden nach ihrer Aussage auf dem Polizeirevier Kıraç wieder freigelassen. Drei Musiker, die nach ihrer Aussage an die Staatsanwaltschaft verwiesen wurden, wurden mit dem Antrag auf Freilassung auf Bewährung an das Gericht verwiesen, welches infolge die Musiker auf Bewährung freiließ (Mezopotamya 12.8.2024; vgl.Bianet 12.8.2024).
Ende Juli 2024 kam es zu mutmaßlichen Festnahmen und Misshandlungen von sechs kurdischen Jugendlichen in der Stadt Yüksekova in der Provinz Hakkâri durch die Polizei. Die Jugendlichen seien laut ihrer eigenen Aussage festgenommen worden, da sie sich gegen die Verhaftung eines Freundes während einer Identitätskontrolle zur Wehr gesetzt hätten. Bei der Befragung der Jugendlichen in einem Polizeiauto seien sie laut ihrer Aussage schließlich von Polizisten wiederholt auf den Kopf geschlagen und beleidigt worden. Gemäß Presseberichten hätten sich am Tag der Festnahme die Familien und Anwälte der Jugendlichen beim lokalen Polizeipräsidium gemeldet. Dort sei ihnen jedoch gesagt worden, dass die Jugendlichen nicht dort wären und es auf dem Präsidium keine Bürger gäbe, die von Polizeieinheiten festgenommen worden wären (BAMF 19.8.2024, S. 10; vgl. SCF 2.8.2024).
Stellung der kurdischen Sprache im Bildungssystem
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 20.5.2024, S. 10), so auch als Unterrichtssprache (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Unterricht in kurdischer Sprache ist an öffentlichen Schulen seit 2012 und an privaten Einrichtungen seit 2014 möglich (als Wahlpflichtfach). Der Unterricht wird in der Praxis aufgrund faktischer Barrieren aber oftmals nicht angeboten (AA 20.5.2024). Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift, wobei die Kurdischkenntnisse vor allem in den Großstädten zurückgehen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Nur wenige politische Parteien haben muttersprachlichen Unterricht ausdrücklich in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirken sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus, und eine Reihe von Kunst- und Kulturgruppen in kurdischer Sprache wurden von den Treuhändern entlassen. Ein Dutzend Konzerte, Festivals und kulturelle Veranstaltungen wurden von den Gouvernements und Gemeinden mit der Begründung "Sicherheit und öffentliche Ordnung" verboten. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, Medien und zahlreiche Kunsträume blieben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016, was zu einer weiteren Beschneidung ihrer kulturellen Rechte beitrug (EC 8.11.2023; S. 44). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). 2023 hatte das Ministerium im Rahmen eines Programms mit dem Titel "Lebendige Sprachen und Dialekte" noch 50 Kurdischlehrer eingestellt. 2024 führte die Entscheidung des Bildungsministeriums, von 20.000 neuen Lehrerstellen nur zehn Stellen für Kurdischlehrer (sechs Lehrer für den Kurmanci-Dialekt und vier für Zazaki) zu vergeben, zu heftigen Reaktionen von Politikern und Organisationen der Zivilgesellschaft, die argumentieren, dass dadurch das Recht der Kurden auf Bildung in ihrer Muttersprache untergraben wird (SCF 9.5.2024; vgl. VOA 9.5.2024).
Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (MBZ 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AlMon 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der damals nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).
Verwendung des Kurdischen in den Medien, im Kulturbereich und Gefängnissen
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8; vgl. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Doğan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. - Der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AlMon 10.8.2022; vgl. ÖB Ankara 30.11.2021). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Sprachkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022). Und im Jänner 2023 teilte der Parlamentsabgeordnete der HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, mit, dass zwei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Hevra festgenommen wurden, weil sie auf Kurdisch auf einem vom HDP-Jugendrat organisierten Konzert in Darıca nahe Istanbul gesungen hatten (Duvar 23.1.2023).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021a). Ein Gefängnis in der türkischen Provinz Şırnak hat im August 2024 ein Verbot des Gebrauchs der kurdischen Sprache bei Telefongesprächen zwischen Insassen und ihren Familien verhängt (SCF 12.8.2024; vgl. TR724 12.8.2024).
Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April 2022 nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).
Laut manchen Medienberichten bzw. Vertreter kurdischer Kultur- und Sprachvereine kam es in der Vergangenheit sogar zu massiven Gewalttaten, vereinzelt mit Todesfolge, an Personen, die in der Öffentlichkeit Kurdisch sprachen, wobei die Behörden die Taten ignorierten bzw. nicht ahndeten (SCF 12.5.2021; vgl. DW 22.10.2019). So wurde 2018 beispielsweise ein Kurde namens Kadir Sakci in der Schwarzmeerprovinz Sakarya angeschossen und getötet. Sein 16-jähriger Sohn wurde schwer verletzt. Die beiden sprachen kurdisch, als sie angegriffen wurden. Ein weiterer Fall machte Schlagzeilen, kurz nachdem die Türkei ihre Offensive in Nordsyrien begonnen hatte. Sirin Tosun starb 2019 auf einer Intensivstation an den Verletzungen, die er Ende August desselben Jahres erlitten hatte, als er mit seiner Familie in Adapazari, ebenfalls in der Provinz Sakarya, Haselnüsse sammeln wollte. Sechs Personen schlugen und schossen auf ihn, weil er angeblich kurdisch sprach (DW 22.10.2019; vgl. Duvar 15.10.2019).
Amtlicher Verwendung des Kurdischen und dessen neuerliche Einschränkung
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020). Die vom Staat ernannten Treuhänder im Südosten änderten weiterhin die ursprünglichen (kurdischen) Straßennamen (EC 8.11.2023; S. 44). Im August 2024 sind in der Provinz Diyarbakır auf Anweisung des Gouverneursamtes zum wiederholten Male kurdischsprachige Verkehrsschilder entfernt worden. Das Innenministerium hatte zuvor eine Richtlinie erlassen, wonach alle Verkehrsschilder den von der türkischen Generaldirektion für Autobahnen (KGM) festgelegten Standards entsprechen müssten. Die KGM hatte die Entfernung der kurdischen Verkehrsschilder auf Anweisung des Ministeriums veranlasst, aber die Gemeinden hatten die Schilder zunächst in Van und anschließend in Diyarbakır, Batman und Mardin wieder aufgestellt. Die Schilder seien nun in Diyarbakır ein zweites Mal entfernt worden. Laut des stellvertretenden Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakır gebe es keine rechtlichen Hindernisse, die Gemeinden daran hindern, öffentliche Dienstleistungen in verschiedenen Sprachen anzubieten und außerdem gebe es seit 15 Jahren Warnschilder auf Kurdisch in Diyarbakır (BAMF 12.8.2024, S. 7f., vgl. Bianet 31.7.2024a, MLSA 1.8.2024b).
Die Verwendung bzw. Nennung der (ursprünglichen) kurdischen Namen für Städte und andere Orte kann zu Beleidigungen und Drohungen führen, wie das Beispiel einer Kurdischlehrerin aus Diyarbakır im November 2023 zeigte. Die Anwaltskammer von Şırnak verurteilte die Online-Schikanen gegen die Lehrerin sogar als Symptom für einen unterschwelligen Hass auf die kurdische Sprache. - Die Republik Türkei, die als Nationalstaat gegründet wurde und sich auf die vorherrschende türkische Identität stützt, änderte im Verlaufe der Zeit die Namen vieler Städte und Dörfer, deren frühere Bezeichnungen ihr kurdisches oder auch armenisches, georgisches, griechisches oder assyrisches Erbe widerspiegelten. Laut einer Studie aus dem Jahr 2011 wurden in den meisten südöstlichen Provinzen [Zentrum der kurdischen Bevölkerung] sogar mehr als 75 % der Namen geändert (SCF 10.11.2023).
2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).
Verwendung des Begriffes "Kurdistan"
Obwohl der einstige türkische Staatspräsident Abdullah Gül bei seinem historischen Besuch 2009 im Nachbarland Irak zum ersten Mal öffentlich das Wort "Kurdistan" in den Mund nahm, auch wenn er sich auf die irakische autonome Region bezog, galt dies damals als Tabubruch (FAZ 24.3.2009). Laut dem pro-kurdischen Internetportal Bianet lassen sich etliche Beispiele finden, wonach das Wort "Kurdistan" in der Türkei je nach der politischen Atmosphäre gesagt oder nicht gesagt werden kann. Das Wort "Kurdistan" zu sagen, kann eine Beleidigung sein oder auch nicht. Aber am gefährlichsten ist es immer, wenn Kurden "Kurdistan" sagen (Bianet 16.7.2019). - Während auch Erdoğan, damals Regierungschef, den Begriff anlässlich des Besuchs des Präsidenten der Kurdischen Region im Nordirak, Massoud Barzani, in Diyarbakır im Oktober 2013 verwendete (DW 19.11.2013), kam es kaum einen Monat später zu Spannungen im türkischen Parlament, weil in einem Bericht der pro-kurdischen BDP [Vorgängerpartei der HDP] zum Budgetentwurf der Regierung der Begriff "Kurdistan" zur Beschreibung der kurdischen Siedlungsgebiete in Ost- und Südostanatolien auftauchte. Die anderen Parteien im Parlament wandten sich gegen die Benutzung des Wortes, das bei türkischen Nationalisten als Ausdruck eines kurdischen Separatismus gilt. Während einer Debatte über den BDP-Bericht gingen Abgeordnete von BDP und ultra-nationalistischen MHP aufeinander los (Standard 10.12.2013). - Nach der parlamentarischen Geschäftsordnung können Abgeordnete wegen der Verwendung des Wortes "Kurdistan" oder anderer sensibler Begriffe im Plenum des Parlaments verwarnt oder vorübergehend aus dem Parlament ausgeschlossen werden. Die Behörden wendeten dieses Verfahren nicht einheitlich an (USDOS 22.4.2024, S. 28).
2019 sagte Binali Yıldırım, der AKP-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von İstanbul und ehemaliger Ministerpräsident, auf einer Kundgebung vor den Wahlen "Kurdistan", und als er darauf angesprochen wurde, antwortete er, dass das Wort Kurdistan jenes sei, welches Mustafa Kemal Atatürk für die Vertreter verwendet hatte, die während des Unabhängigkeitskampfes vor der Gründung der Republik aus dieser Region kamen. Für die "Vereinigung der Jugendbewegung Kurdistans" in Istanbul hingegen erklärte das Innenministerium, dass die Verwendung des Wortes "Kurdistan" ein Verstoß gegen Artikel 14 der Verfassung und Artikel 302 des türkischen Strafgesetzbuches sei. Es dürfe nicht im Namen einer Vereinigung verwendet werden. Es folgte eine Klage gegen den Verein (Bianet 16.7.2019). Und im Oktober 2021 verhaftete die Polizei in Siirt vorübergehend einen kurdischen Geschäftsmann, nachdem er während eines Streits mit einem nationalistischen Politiker seine Stadt als Teil von "Kurdistan" bezeichnet hatte. Ihm wurde vorgeworfen, Propaganda für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu machen (Rudaw 29.10.2021).
Die Auseinandersetzung hinsichtlich der Verwendung des Begriffes "Kurdistan" hat mittlerweile selbst den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erreicht. - Dieser entschied am 13.6.2023, dass die türkischen Behörden die Rechte des ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Volkspartei (HDP), Osman Baydemir, verletzt hatten, indem sie gegen ihn eine Strafe verhängten, weil er 2017 während einer Rede im Parlament den Begriff "Kurdistan" verwendet hatte. In seinem Urteil vom 13.6.2023 stellte der EGMR fest, dass Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über "Meinungsfreiheit" verletzt worden sei. Der EGMR verurteilte die Türkei zur Zahlung einer Entschädigung von fast 17.000 Euro an Baydemir (Duvar 13.6.2023; vgl. ECHR 13.6.2023).
Die Thematik bleibt allerdings aktuell. - So entschied das Verfassungsgericht zugunsten von Abdurrahim Kılıç, der zuvor wegen des Tragens eines T-Shirts mit dem Wort "Kurdistan" und dem Emblem der Mesopotamischen Sonne verurteilt worden war. Im Jahr 2016 verurteilte ihn das schwere Strafgericht Midyat wegen "terroristischer Propaganda" zu einer Geldstrafe von 7.300 Lira [Anm.: zum damaligen Kurs um die 2.200 Euro]. Infolge der Bestätigung des Urteils durch den Kassationsgerichtshof 2021 reichte Kılıç eine Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht ein. Am 12.6.2024 entschied das Verfassungsgericht, dass Kılıçs Recht auf freie Meinungsäußerung, das durch Artikel 26 der Verfassung geschützt ist, verletzt worden war. In seinem ausführlichen Urteil kritisierte das Gericht die mangelnde Begründung der Vorinstanz für die Verurteilung von Kılıç und stellte fest, dass in dem Urteil weder die Bedeutung der Symbole auf dem T-Shirt noch ihre angebliche Verbindung zu einer terroristischen Organisation erläutert wurde. Darüber hinaus wies das Gericht darauf hin, dass nicht bewertet wurde, inwiefern das Tragen des T-Shirts zu Gewalt aufrief oder die öffentliche Ordnung bedrohte (Bianet 31.7.2024b; vgl. IFE 2.8.2024, Duvar 30.7.2024).
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Bewegungsfreiheit
Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13; vgl., USDOS 22.4.2024 S. 41). So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 29.2.2024, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7; vgl. USDOS 22.4.2024 S. 42), obschon die Verfassung vorschreibt, dass nur Richter die Bewegungsfreiheit von Bürgern limitieren können, und auch nur in Verbindung mit einer strafrechtlichen Untersuchung bzw. Verfolgung (USDOS 22.4.2024 S. 42).
Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar. Die Ausreisekontrollen an türkischen Grenzübergängen sind in der Regel streng. Ein- und Ausreisedaten werden genauestens erfasst und die Reisenden in den entsprechenden Fahndungssystemen überprüft (AA 20.5.2024, S. 24f.).
Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, S. 27f.; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, S. 27). Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Und Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022). Vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Parlamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023). Im März 2024 weigerte sich das 22. Hoche Strafgericht von Ankara das Verfahren auszusetzen und so die Ausreisesperre gegen den Vize-Parlamentsprecher der DEM-Partei, Sırrı Süreyya Önder, aufzuheben, der zu jener Gruppe der 15 Parlamentarier gehörte, und dies trotz seiner parlamentarischen Immunität, und zwar wegen des laufenden Kobanê-Prozesses (Duvar 22.3.2024). Und im Juni 2024 zogen die Behörden die Pässe von neun Ko-Bürgermeistern aus Gemeinden mit kurdischer Mehrheit ein, darunter die Bürgermeisterin von Diyarbakır Serra Bucak, ohne dass ein Gerichtsbeschluss vorlag. Das Innenministerium verteidigte den Schritt mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung (Medya 24.6.2024; vgl. Rudaw 24.6.2024).
Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit Online 16.11.2023).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z. B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, S. 27f).
Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 22.4.2024, S. 42f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45).
Urteile des Verfassungsgerichtes im Sinne der Bewegungsfreiheit
Das türkische Verfassungsgericht hob Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung auf, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Das Verfassungsgericht entschied überdies Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Im Frühjahr 2024 erklärte das Verfassungsgericht, dass das gegen die Menschenrechtsaktivistin Nurcan Kaya verhängte internationale Reiseverbot ihre Meinungsfreiheit verletze. Nurcan Kaya wurde am Istanbuler Flughafen im Oktober 2019 festgenommen, als sie versuchte, an einer Sitzung der Vereinten Nationen teilzunehmen. Kaya wurde im Rahmen einer Untersuchung inhaftiert unter der Anschuldigung "Hass und Feindschaft unter den Menschen zu schüren", nachdem sie 2014 in einem Tweet geschrieben hatte: "Nicht nur die Kurden, sondern alle in Kobanê lebenden Völker leisten Widerstand." Während ihres Prozesses unterlag Kaya einer 1,5-monatigen gerichtlichen Kontrolle, die ein internationales Reiseverbot und die Beschlagnahme ihres Reisepasses beinhaltete. - Das Verfassungsgericht erkannte an, dass die gerichtlichen Maßnahmen Kayas Fähigkeit zur Teilnahme am öffentlichen Diskurs beeinträchtigten, und sprach Kaya 13.500 Lira (ca. 390 Euro mit 6.3.2024) als immateriellen Schadenersatz zu. Darüber hinaus kritisierte das Verfassungsgericht die Justiz dafür, dass sie vor der Verhängung des Reiseverbots keine weniger restriktiven Maßnahmen in Betracht gezogen und Berufungen gegen das Verbot aus „abstrakten Gründen“ abgelehnt hatte (Duvar 7.3.2024; vgl. MLSA 6.3.2024).
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Zeit Online - Zeit Online (16.11.2023): Ausreiseverbot: Mindestens 65 deutsche Staatsbürger dürfen die Türkei nicht verlassen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/tuerkei-deutsche-ausreiseverbot-terrorverdacht-erdogan-besuch-deutschland , Zugriff 18.1.2024
Grundversorgung / Wirtschaft
Das Wirtschaftswachstum könnte sich 2024 infolge der strafferen Geldpolitik laut Internationalem Währungsfonds auf 3,1 % abschwächen, verglichen mit rund 4,5 % im Jahr 2023 (GTAI 1.7.2024; vgl. WKO 4.2024). Getragen von privatem Verbrauch und Staatsausgaben haben Wahlkampfgeschenke, Lohn- und Pensionssteigerungen, Frühpensionierungen und günstige Kredite das Wachstum angetrieben. Die türkische Wirtschaft profitiert zudem davon, dass viele Unternehmen aus der EU in die Türkei ausweichen, um das verlorene Geschäft mit Russland bzw. der Ukraine auszugleichen (WKO 4.2024, S. 4). - Das Wachstum des BIP im Jahr 2023 war vor allem auf den robusten Anstieg des privaten Verbrauchs (real 12,8 %), der Investitionen (8,9 %) und der Staatsausgaben (5,2 %) zurückzuführen. Die Exporte hingegen schrumpften 2023 um 2,7 %, während die Importe mit 11,7 % kräftig zulegten und das Wachstum bremsten. Der Dienstleistungssektor wuchs um 4,8 % und der Bausektor um 7,8 % profitierend von den Wiederaufbaumaßnahmen nach dem Erdbeben (WB 9.4.2024).
Nach der gewonnenen Wahl im Mai 2023 vollzog Staatspräsident Erdoğan einen Kurswechsel hin zu einer restriktiven Geldpolitik, mit dem obersten Ziel, die horrende Inflation zu bekämpfen. - Im Mai 2024 lag sie bei 75 %. Die Niedrigzinspolitik der Vorjahre hat Spuren hinterlassen. Sie befeuerte die Inflation und den Abwertungsdruck auf die türkische Lira. Die Nettoreserven der Zentralbank sind gesunken, die Auslandsverschuldung und Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen ist hoch. Die bisherigen Entscheidungen lassen auf eine verlässlichere Wirtschafts- und Geldpolitik hoffen. Viele Unternehmen befürchten allerdings weitere Kehrtwenden Erdoğans. Für die künftige Wirtschaftsentwicklung wird es entscheidend sein, Vertrauen bei internationalen Investoren und der heimischen Wirtschaft zurückzugewinnen. Die Inflation hat die reale Kaufkraft der Haushalte geschmälert. Gehaltserhöhungen federn die Einbußen meist nur ab. Die Leitzinserhöhungen könnten mittelfristig den Konsum dämpfen. Noch treibt die Inflation den Konsum an, denn Sparen lohnt sich kaum. Die Bevölkerung flüchtet wegen der schwachen Lira in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien (GTAI 1.7.2024; vgl. WKO 4.2024, S. 5).
Inoffizielle Erhebungen ergeben teilweise um bis zu doppelt so hohe Inflationsraten. Zu den größten Preistreibern zählen derzeit die Sektoren Hotellerie und Gastronomie, Gesundheit, Lebensmittel, nicht-alkoholische Getränke und Transport (WKO 4.2024, S. 5).
Die offizielle saisonal bereinigte Arbeitslosenquote ist wieder leicht angestiegen. Betrug sie im November 2021 noch 11,1 %, sank sie im Oktober 2023 laut türkischem Statistikamt auf 8,6 % (TUIK 10.1.2024). Im Juni 2024 waren hingegen wieder 9,2 % arbeitslos. Die Frauenarbeitslosenquote (saisonbereinigt) betrug im Juni 2024 hingegen 12,4 %, verglichen mit 7,6 % bei den Männern (TUIK 12.8.2024).
Neben der hohen Jugendarbeitslosigkeit bleibt die Langzeitarbeitslosigkeit von 20,8 % ein Problem. Lag die Jugendarbeitslosigkeit (Altersgruppe 15-24) im Herbst 2023 noch bei von 17,2 % (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52), erhöhte sich diese auf 17,6 % im Juni 2024, wobei diese bei jungen Frauen gar bei 23,2 %, verglichen mit 14,8 % bei den jungen Männern, lag. - Die offizielle saisonbereinigte Erwerbsquote lag im Juni 2024 bei 49,3 %. Die Erwerbsquote war bei den Männern mit 66,9 % mehr als doppelt so hoch wie bei den Frauen mit lediglich 32,1 % (TUIK 12.8.2024).
Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine empirische Studie der Forschungsagentur KONDA vom Mai 2024 unter 930 Jugendlichen zwischen 15 und 29 (von insgesamt 3.147 Befragten aller Altersgruppen) ergab, dass fast 60 % der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren im Ausland leben wollen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. In der Altersgruppe der 25- bis 29-Jährigen ging dieser Anteil zwar leicht zurück, lag aber immer noch bei mehr als der Hälfte (Duvar 24.6.2024).
Armut und soziale Ungleichheit
Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).
Was die soziale Inklusion und den sozialen Schutz betrifft, so verfügt die Türkei laut Europäischer Kommission noch immer nicht über eine gezielte Strategie zur Armutsbekämpfung. Der anhaltende Preisanstieg hat das Armutsrisiko für Arbeitslose und Lohnempfänger in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter erhöht. Die Armutsquote erreichte 2022 14,4 % gegenüber 13,8 % im Jahr 2021. Die Quote der schweren materiellen Verarmung (severe-material-deprivation rate) erreichte im Jahr 2022 28,4 % (2021: 27,2 %). Die Kinderarmutsquote war im Jahr 2022 mit 41,6 % besonders hoch (EC 8.11.2023, S. 102). Der Gini-Koeffizient als Maß für die soziale Ungleichheit (Dieser schwankt zwischen 0, was theoretisch völlige Gleichheit, und 1, was völlige Ungleichheit bedeuten würde.) stieg auch 2023 nach Einberechnung der dämpfend wirkenden Sozialtransfers weiterhin an. Betrug er 2014 noch 0,391, stieg er 2023 auf den Höchstwert von 0,433 (TUIK 29.1.2024) [Anm.: In Österreich betrug laut Momentum Institut der Gini-Koeffizient nach Steuern und staatlichen Transferleistungen 2020 0,28].
Zu den bekannten Auswirkungen hoher Inflation gehört, dass die Schere zwischen niedrigen und hohen Einkommen weiter auseinandergeht. Von 2014 bis 2023 ist der Anteil der niedrigsten vier Einkommensgruppen (80 %) am Gesamteinkommen gesunken, während der Anteil der höchsten Einkommensgruppe von 45,9 auf 49,8 % gestiegen ist. Das bedeutet, dass die obersten 20 % fast die Hälfte des verfügbaren Einkommens besitzen. Während Haushalte in der niedrigsten Einkommensgruppe mehr als 36 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke aufwenden müssen, beträgt dieser Anteil in der höchsten Einkommensgruppe nur gut 14 %. Das bedeutet, dass die niedrigste Einkommensgruppe mit 78 % überdurchschnittliche von der Inflation betroffen ist. Betrachtet man den Zeitraum von zehn Jahren, so ist der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke in der niedrigsten Einkommensgruppe von 28,8 % in 2014 auf 36,6 % in 2023 angestiegen (FES 11.7.2024).
Die Armutsgrenze in der Türkei lag Ende Dezember 2023 laut Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) bei 47.000 Lira (rund 1.400 Euro). - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag Ende Dezember 2023 bei 14.431 Lira (rund 440 Euro) (Duvar 3.1.2024a). Die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KAMU-AR gab gegen Ende Jänner 2024 bereits eine weitere Steigerung an. - Demnach lag die Hungergrenze bei 17.442 und die Armutsgrenze bereits bei 48.559 Lira (TM 25.1.2024).
Laut Statistikamt erhöhten sich die Preise im Jänner 2024 im Vergleich zum Vorjahresmonat um durchschnittlich fast 65 %. Daraufhin wurde der Mindestlohns zu Beginn des Jahres 2024 auf rund 17.000 Lira (516 Euro) angehoben. Seit Januar 2023 hat sich der Mindestlohn damit verdoppelt (Zeit Online 5.2.2024). Anders als für 2023 schloss Staatspräsident Erdoğan eine zweite Anpassung im Jahr 2024 aus (Duvar 27.12.2023). Auch Arbeitsminister Vedat Işıkhan schloss im Juni 2024 eine Erhöhung des Mindestlohns für die zweite Hälfte des Jahres 2024 aus und blieb bei der Position der Regierung, dass häufige Lohnerhöhungen die Inflation verschärfen könnten. Die Gewerkschaften waren der Ansicht, dass die Lohnempfänger nicht unter den Folgen der hohen Inflation leiden dürfen und dass die Regierung andere Wege zur Eindämmung der Inflation suchen sollte, anstatt den Arbeitnehmern eine Lohnerhöhung vorzuenthalten (TM 15.7.2024).
Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betrugen Anfang 2023 die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern im Mittel 25.365 Lira (ca. 1.260 Euro), und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023). So lagen die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten für eine vierköpfige Familie in der Istanbul im Januar 2024 bei 53.000 Lira (rund 1.540 Euro) und damit etwa dreimal so hoch wie der Mindestlohn (17.002 Lira), was zudem einer Steigerung um über 80 % im Vergleich zum Vorjahr (2023) entsprach (Duvar 11.2.2024).
Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befand sich 2023 mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).
Die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen betrugen 2021 lediglich 10,8 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).
Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gewährleistet. Unterkünfte im unteren Preissegment sind Mangelware. Die Zahl der Obdachlosen steigt durch Flüchtlinge, Inflation und zuletzt durch das Erdbeben. Bis auf einige gemeinnützige Einrichtungen mit wenigen Plätzen gibt es keine staatlichen Obdachlosenunterkünfte (AA 20.5.2024, S. 21).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
Duvar - Duvar (24.6.2024): Some 56 pct of young people in Turkey want to live abroad if given opportunity, https://www.duvarenglish.com/some-56-pct-of-young-people-in-turkey-want-to-live-abroad-if-given-opportunity-news-64562 , Zugriff 27.8.2024
Duvar - Duvar (11.2.2024): Cost of living for a family of four exceeds 53,000 liras in Istanbul, https://www.duvarenglish.com/cost-of-living-for-a-family-of-four-exceeds-53000-liras-in-istanbul-news-63818 , Zugriff 28.8.2024
Duvar - Duvar (3.1.2024a): Turkey’s poverty threshold hits nearly three times of new minimum wage, https://www.duvarenglish.com/turkeys-poverty-threshold-hits-nearly-three-times-of-new-minimum-wage-news-63595 , Zugriff 31.1.2024
Duvar - Duvar (27.12.2023): Turkey increases minimum wage by 49 percent to $578, https://www.duvarenglish.com/turkey-increases-minimum-wage-by-49-percent-to-578-news-63558 , Zugriff 9.1.2024
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EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023
FES - Friedrich-Ebert-Stiftung (11.7.2024): AKP UND CHP IM DIALOG, https://turkey.fes.de/de/e/akp-und-chp-im-dialog.html , Zugriff 21.8.2024
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GCT - Greek City Times (8.6.2022): Malnutrition in Turkey explodes as Erdoğan escalates war rhetoric against Greece, https://greekcitytimes.com/2022/06/08/malnutrition-in-turkey-erdogan/ , Zugriff 8.11.2023
GTAI - Germany Trade and Invest (1.7.2024): Türkei erwartet schwächeres Wirtschaftswachstum, https://www.gtai.de/de/trade/tuerkei/wirtschaftsumfeld/tuerkei-erwartet-schwaecheres-wirtschaftswachstum-247908#toc-anchor--3 , Zugriff 22.8.2024
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Standard - Standard, Der (25.7.2022): Türkei lernt, mit Inflationsraten jenseits der 100 Prozent zu leben, https://www.derstandard.at/story/2000137723848/tuerkei-lernt-mit-inflationsraten-jenseits-der-100-prozent-zu-leben?ref=loginwall_articleredirect , Zugriff 9.1.2024
TM - Turkish Minute (15.7.2024): Turkeys poverty line nears $2,000, quadruple the minimum wage - Turkish Minute, https://turkishminute.com/2024/07/15/turkey-poverty-line-near-2000-quadruple-minimum-wage , Zugriff 28.8.2024
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WB - Weltbank (9.4.2024): Türkiye - Overview: Economy, https://www.worldbank.org/en/country/turkey/overview#3 , Zugriff 22.8.2024
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WKO - Wirtschaftskammer Österreich (10.3.2023): Mindestlohn ab 1.1.2023 um 55 % höher - Lebenshaltungskosten steigen weiter, http://web.archive.org/web/20230401112003/https:/www.wko.at/service/aussenwirtschaft/mindestlohn-ab-2023-55-prozent-hoeher.html , Zugriff 8.11.2023
Zeit Online - Zeit Online (5.2.2024): Wirtschaftskrise: Inflation in der Türkei steigt nach Mindestlohnerhöhung deutlich an, https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-02/tuerkei-wirtschaftskrise-inflation-mindestlohn-zentralbank , Zugriff 28.8.2024
Sozialbeihilfen / -versicherung
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 20.5.2024, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfı) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 20.5.2024, S. 21).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 46 Sozialunterstützungsleistungen, wobei der Anspruch an schwer zu erfüllende Bedingungen gekoppelt ist. - Hierzu zählen (alle mit Stand: November 2023): Sachspenden in Form von Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 türkische Lira (TL) für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von zwölf Monaten über monatlich 350 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 3.800 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 520 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Pensionen und Betreuungsgeld für Behinderte und ältere pflegebedürftige Personen: zwischen 1.200 TL und 1.800 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 5.089 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hatte 2023 monatlich Anspruch auf 2.250 TL aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt 23.308 TL, ansonsten 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SSA 9.2018).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt ,_B3richt_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf, Zugriff 6.11.2022 [Login erforderlich]
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
SGK - Anstalt für Soziale Sicherheit (Sosyal Güvenlik Kurumu) [Türkei] (2016): Universal Health Insurance, https://web.archive.org/web/20170103191505/http:/www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins , Zugriff 6.11.2023
SSA - Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 7.11.2023
Arbeitslosenunterstützung
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR o.D.; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51).
Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 7.2023; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53., İŞKUR o.D.). Zudem muss der Arbeitnehmer die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).
Für das Jahr 2024 gab das türkische Arbeitsamt an, dass das Mindest-Arbeitslosengeld 7.940 TL (ca. 242 Euro, Wechselkurs vom 10.1.2024) und das Maximum an Arbeitslosenunterstützung 15.880 TL (ca. 484 Euro) betragen wird. Hierbei gilt generell die Bestimmung, wonach das maximale Arbeitslosengeld 80 % des Brutto-Mindestlohns nicht überschreiten darf, welcher für 2024 mit 20.002 TL (ca. 610 Euro) festgesetzt wurde (İŞKUR o.D.).
Quellen
IOM - International Organization for Migration (7.2023): Länderinformationsblatt 2023, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2023_Türkiye_DE.pdf , Zugriff 23.8.2024
IOM - International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 7.11.2023
İŞKUR - Turkish Employment Agency (Türkiye İş Kurumu) [Turkey] (o.D.): Unemployment Benefit, https://www.iskur.gov.tr/en/job-seeker/unemployment-insurance/unemployment-benefit/ , Zugriff 10.1.2024
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
Medizinische Versorgung
Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54). Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. 10 Euro pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54; vgl. MPI-SRSP 3.2022), genauer, wenn das Haushaltseinkommen pro Person ein Drittel des Bruttomindestlohns unterschreitet (MPI-SRSP 3.2022). Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016).
Die Gesundheitsausgaben der Haushalte für Behandlungen, Arzneimittel usw. aus eigener Tasche erreichten im Jahr 2022 knapp über 112 Milliarden Lira, was einem Anstieg von 98,8 % gegenüber dem Vorjahr entsprach. Der Anteil der Gesundheitsausgaben der privaten Haushalte an den gesamten Gesundheitsausgaben lag 2022 bei 18,5 %, während dieser 2021 noch 15,9 % ausmachte (TUIK 7.12.2023).
Personen, die über eine Sozial- oder Krankenversicherung verfügen, können im Rahmen dieser Versicherung kostenlose Leistungen von Krankenhäusern in Anspruch nehmen. Die drei wichtigsten Organisationen in diesem Bereich sind:
Sozialversicherungsanstalt (SGK): für die Privatwirtschaft und die Arbeiter des öffentlichen Dienstes. Nach dem Gesetz haben alle Personen, die auf der Grundlage eines Dienstvertrags beschäftigt sind, Anspruch auf Sozialversicherung und Gesundheitsfürsorge.
Sozialversicherungsanstalt für Selbstständige (Bag-Kur): Diese Einrichtung deckt die Selbstständigen ab, die nicht unter das Sozialversicherungsgesetz (SGK) fallen. Dies sind Handwerker, Gewerbetreibende, Kleinunternehmer und Selbstständige in der Landwirtschaft.
Pensionsfonds für Beamte (Emekli Sandigi): Dies ist ein Pensionsfonds für Staatsbedienstete im Ruhestand, der auch eine Krankenversicherung umfasst (EUAA 8.4.2023).
GSS - Allgemeine Krankenversicherung
Für diejenigen, die nicht krankenversichert sind, wurde mit dem durch das Sozialversicherungs- und Allgemeine Krankenversicherungsgesetz allen türkischen Bürgern der Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglicht. Das GSS erfasst Personen, die gesetzlich pflichtversichert oder freiwillig versichert sind; Personen, die ein Einkommen oder eine Pension nach dem Gesetz Nr. 5510 über die soziale Sicherheit und die allgemeine Krankenversicherung beziehen; Bürger, deren Familieneinkommen pro Kopf weniger als ein Drittel des Mindestlohns beträgt; sowie türkische Staatsbürger, die nicht über eine allgemeine Krankenversicherung verfügen, oder Unterhaltsberechtigte ohne Einkommensermittlung, Kinder unter 18 Jahren, Personen, die Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld beziehen. - Der Antrag für die allgemeine Krankenversicherung wird bei den Sozialhilfe- und Solidaritätsstiftungen innerhalb der Verwaltungsgrenzen der Provinz oder des Bezirks gestellt, in der/dem der Wohnsitz der Person im adressbasierten Melderegister eingetragen ist. Was die Kosten betrifft, so beträgt die allgemeine Krankenversicherungsprämie für Personen, deren Einkommen über einem Drittel des Bruttomindestlohns liegt, 3 % dieses Bruttomindestlohns. Die Höhe der von den Versicherten im Jahr 2023 zu zahlenden allgemeinen Krankenversicherungsprämie beträgt rund 300 Lira pro Monat (EUAA 8.4.2023).
Selbstbehalt (Zuzahlungen)
Beim Selbstbehalt (i. e. Zuzahlung) handelt es sich um einen kleinen Betrag, der von den Bürgern gezahlt wird und der als Zuzahlung für Untersuchungen bezeichnet wird. Mit anderen Worten, die Zuzahlung bzw. Selbstbehalt bezieht sich auf die Gebühr, die Versicherte und Rentner oder ihre abhängigen Angehörigen für die Gesundheitsdienstleistungen zahlen, die sie von Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern, Hausärzten, Gesundheitszentren usw. erhalten. Die Zuzahlung wird für ambulante Untersuchungen erhoben, mit Ausnahme derjenigen, die bei primären Gesundheitsdienstleistern, d. h. bei Hausärzten, durchgeführt werden. Die Zuzahlung beträgt 6 Lira in öffentlichen Einrichtungen der sekundären Gesundheitsversorgung, 7 Lira in Ausbildungs- und Forschungskrankenhäusern des Gesundheitsministeriums, die gemeinsam mit Universitäten genutzt werden, und 8 Lira in Universitätskliniken. Zuzahlungen bzw. Selbstbehalte bei Medikamenten werden von der Apotheke bei der ersten Beantragung eines Rezepts erhoben. Im Falle einer ambulanten Behandlung sind die Sätze: 10 % der Arzneimittelkosten für Rentner und deren Angehörige, 20 % der Medikamentenkosten für andere Versicherte und deren Angehörige (EUAA 8.4.2023).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Private Versicherungen können, je nach Umfang und Deckung, hohe Behandlungskosten übernehmen. Innerhalb der SGK sind Impfungen, Laboruntersuchungen zur Diagnose, medizinische Untersuchungen, Geburtsvorbereitung und Behandlungen nach der Schwangerschaft sowie Notfallbehandlungen kostenlos. Der Beitrag für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenversicherung (GSS) hängt vom Einkommen des Leistungsempfängers ab - ab 150,12 Lira für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 7.2023). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SRSP 3.2021, S. 15).
Rückkehrende mit einer Aufenthaltserlaubnis, die dauerhaft (seit mindestens einem Jahr) in der Türkei leben und keine Krankenversicherung nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes haben, müssen eine monatliche Pflichtgebühr entrichten. Die Begünstigten müssen sich registrieren lassen und die Versicherungsprämie für mindestens 180 Tage im Voraus bezahlen, damit sie in den Genuss des Sozialversicherungssystems bzw. der Gesundheitsversorgung zu kommen. Die Versicherung tritt automatisch in Kraft, und die Begünstigten können das System auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch weitere sechs Monate in Anspruch nehmen. Die Versicherung muss mindestens 60 Tage vor der Diagnose abgeschlossen worden sein. - Rückkehrende können sich über Sozialversicherungsämter im ganzen Land anmelden (IOM 7.2023).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54). Trotzdem wurd das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren ausgebaut, vor allem in ländlichen Gegenden. 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt. Der grundsätzlichen Krankenversicherungspflicht unterliegen alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei. Für Bedürftige übernimmt der Staat die Krankenversicherungsbeiträge. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 20.5.2024, S. 21).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Ízmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, S. 22).
Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Mit Stand März 2021 waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SRSP 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SRSP 20.6.2020).
Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind (FNS 31.3.2022a). Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der İYİ‐Partei, Turhan CÖMEZ, Parlamentsabgeordneter und selbst Arzt gab im Juni 2024 gegenüber der Tageszeitung Sözcü bekannt, dass bereits 15.000 türkische Ärzte zum Arbeiten ins Ausland gegangen seien. Mitverantwortlich dafür seien neben dem Hauptanreiz einer besseren Entlohnung auch die schlechten Arbeitsbedingungen und die ständig präsenten verbalen und physischen Übergriffe auf das medizinische Personal (TM 19.6.2024). Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt fast 12.000 Fälle von Gewalt gegen medizinisches Fachpersonal, darunter auch mehrere mit tödlichem Ausgang (FNS 31.3.2022a).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Auswärtiges_Amt_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2022)_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich]
EUAA - European Union Agency for Asylum (8.4.2023): Medical Country of Origin Information [ACC 7765], https://medcoi.euaa.europa.eu/Source/Detail/23301 , Zugriff 3.11.2023 [Login erforderlich]
FNS - Friedrich Naumann Stiftung (31.3.2022a): Brain-Drain: Die Abwanderung türkischer Ärztinnen und Ärzte, https://www.freiheit.org/de/tuerkei/brain-drain-die-abwanderung-turkischer-aerztinnen-und-aerzte?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter 2021-12-08T17:03:25+01:00, Zugriff 6.11.2023
IOM - International Organization for Migration (7.2023): Länderinformationsblatt 2023, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2023_Türkiye_DE.pdf , Zugriff 23.8.2024
MPI-SRSP - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik (3.2022): Sozialrechtliche Entwicklungen in der Türkei, Berichtszeitraum: März 2021 – März 2022, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_3_2022_Turkey.pdf , Zugriff 6.11.2023
MPI-SRSP - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik (3.2021): Social Law Report No. 4/2021 - Sozialrechtliche Entwicklungen in der Türkei Berichtszeitraum: April 2020 – März 2021, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_4_2021__Türkei.pdf , Zugriff 6.11.2023
MPI-SRSP - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April 2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_Türkei__final.pdf , Zugriff 6.11.2023
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
SGK - Anstalt für Soziale Sicherheit (Sosyal Güvenlik Kurumu) [Türkei] (2016): Universal Health Insurance, https://web.archive.org/web/20170103191505/http:/www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins , Zugriff 6.11.2023
TM - Turkish Minute (19.6.2024): 15,000 doctors have left Turkey for better opportunities abroad: opposition MP - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2024/06/19/15000-doctors-have-left-turkey-for-better-opportunities-abroad-opposition-mp , Zugriff 24.7.2024
TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (7.12.2023): TÜIK Kurumsal, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Health-Expenditure-Statistics-2022-49676 , Zugriff 10.1.2024
Behandlung nach Rückkehr
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).
Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in bzw. für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen (AA 20.5.2024, S. 15f.), auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) (AA 28.7.2022, S. 15) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 20.5.2024, S. 15f.). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 10.1.2024). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (MBZ 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 10.1.2024). Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren sind auch im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien zu beobachten, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt z. B. in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben (AA 10.1.2024). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 10.1.2024).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13f.).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 50). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Eine Abfrage im Zentralen Personenstandsregister ist verpflichtend vorgeschrieben, insbesondere bei Rückübernahmen von türkischen Staatsangehörigen. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien und der Ukraine, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 57). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. MBZ 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (MBZ 18.3.2021, S. 71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB Istanbul 1.3.2023; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 20). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB Istanbul 1.3.2023).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: http://bruecke-istanbul.com/
TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf (DFAT 10.9.2020, S. 50).
Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Gegen Personen, die im Ausland für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurden, kann in der Türkei erneut ein Verfahren geführt werden (Art. 9). Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11/1). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben und Geldfälschung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51). Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S. 50).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat begangen wird: entweder gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE-VC 15.2.2016).
Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wird die illegale Ausreise aus der Türkei nicht als Straftat betrachtet. Infolgedessen müssten Personen, die unter diesen Umständen zurückkehren, wahrscheinlich nur mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 88).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (10.1.2024): Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962 , Zugriff 11.1.2024
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Auswärtiges_Amt_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2022)_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2020),_24.08.2020.pdf, Zugriff 8.9.2023 [Login erforderlich]
CoE-VC - Council of Europe - Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-en.pdf , Zugriff 11.1.2024
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023
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VB Istanbul - VB - Verbindungsbeamte des BMI in Ankara/Istanbul [Österreich] (1.3.2023): Auskunft des Büros des ÖB Militärattachés, Antwort per E-Mail
2. Beweiswürdigung:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
– Einsicht in den Akt des BFA;
– mündliche Verhandlung am 04.04.2024;
– Einsicht in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage in der Türkei;
– Einsicht in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden (siehe 2.2. und 2.3.).
2.1. Zum Verfahrensgang:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem Akteninhalt.
2.2. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen hinsichtlich der Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers sowie hinsichtlich seiner legalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet ergeben sich aus dem Akteninhalt und den dahingehend gleichlautenden Angaben des Beschwerdeführers.
Seitens des Beschwerdeführers wurde ihm Rahmen der Visa- und Aufenthaltstitelerteilung ein türkischer Reisepass (Nr. XXXX ) vorgelegt und kann auch aufgrund der diesbezüglich widerspruchsfreien und konsistenten Angaben die Identität wie angegeben festgestellt werden.
Die Feststellungen zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie zu den familiären und privaten Verhältnissen des Beschwerdeführers gründen sich auf dessen in diesen Punkten glaubwürdigen Angaben im Asylverfahren.
Dass der Beschwerdeführer auf einfachem Niveau die deutsche Sprache spricht, beruht auf den persönlichen Wahrnehmungen des erkennenden Richters in der mündlichen Verhandlung. Der Beschwerdeführer hat bisher auch keine Deutschkursbesuchsbestätigungen oder Deutschprüfungszeugnisse vorgelegt. Dass die Ehegattin des Beschwerdeführers über keine nennenswerten Deutschkenntnisse verfügt, ergibt sich ebenfalls aus den Wahrnehmungen des erkennenden Richters in der mündlichen Verhandlung und deren Angaben als Zeugin in der mündlichen Verhandlung, wonach sie einen begonnenen Deutschkurs nie beendet habe. Eine in deutscher Sprache gestellte Frage hat die Ehegattin des Beschwerdeführers nicht verstanden und wurde die Befragung in türkischer Sprache fortgesetzt. Die ebenfalls als Zeugin befragte Tochter des Beschwerdeführers gab in der mündlichen Verhandlung an, dass sie und ihre Schwester mit den Eltern Türkisch sprechen würden und die Geschwister untereinander Deutsch sprechen, was darauf schließen lässt, dass diese im Wegen des Schulbesuches die Deutsche Sprache altersentsprechend erlernt haben.
Die Feststellung zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beruht auf seinen dahingehenden Angaben vor dem BFA. Eine gesundheitliche Beeinträchtigung hat der Beschwerdeführer im Verfahren nicht vorgebracht.
Die strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers geht aus dem Strafregister der Republik Österreich und dem Urteil des XXXX vom 06.04.2022 hervor.
Dass der Beschwerdeführer über ein Visum D für Österreich zum Zeitpunkt der Einreise in Österreich im Oktober 2016 sowie in weiterer Folge über Aufenthaltstitel bis zum 26.09.2021 verfügte, ist dem Fremdeninformationssystem sowie einem Auszug aus dem „New Visa Information System“ vom 15.07.2023 zu entnehmen. Die Antragstellungen auf Verlängerung des Aufenthaltstitels am 17.08.2021 und am 21.12.2023 gehen ebenfalls dem Fremdeninformationssystem hervor. Dem Schreiben der XXXX vom 08.10.2024 ist zu entnehmen, dass über die Anträge auf Verlängerung des Aufenthaltstitels bis dato noch nicht entschieden wurde.
Dass die Ehegattin und die zwei Töchter des Beschwerdeführers im Jahr 2019 im Rahmen einer Familienzusammenführung nach Österreich kamen, Visa D für Österreich erhielten und über Aufenthaltstitel für Österreich verfügen, beruht auf dem Fremdeninformationssystem sowie dem zentralen Melderegister.
Die berufliche Tätigkeit des Beschwerdeführers, sein Bezug von Arbeitslosengeld und die Berufstätigkeit seiner Ehegattin in Österreich gehen aus der eingeholten Auskunft des Sozialversicherungsträgers hervor.
Die Haftdauer des Beschwerdeführers sowie die vorzeitige bedingte Entlassung aus der Haft geht aus der Bestätigung Justizanstalt XXXX vom 30.08.2023 und dem zentralen Melderegister hervor.
Die Besuche der Ehegattin im Gefängnis bzw., dass der Beschwerdeführer von seinen Töchtern im Gefängnis nicht besucht wurde, geht aus der Besucherliste der Justizanstalt XXXX vom 09.10.2023 hervor.
Dass der Beschwerdeführer seit September 2023 im Rahmen der gerichtlich angeordneten Bewährungshilfe betreut wird und den erteilten Weisungen nachkommt, geht aus dem Sozialbericht des Vereins Neustart (ohne Datum) und der Bestätigung des Vereins Neustart vom XXXX hervor. Die Teilnahme des Beschwerdeführers an einem Trainingsprogramm zur Beendigung von gewalttätigem Verhalten in Paarbeziehungen und Unterstützung für Opfer beruht auf dem Sozialbericht der Männerberatung (ohne Datum) sowie der Teilnahmebestätigung der Männerberatung vom XXXX .
Die Feststellungen zum Wohnsitz des Beschwerdeführers sind dem zentralen Melderegister sowie den Angaben des Beschwerdeführers, seiner Ehegattin und seiner älteren Tochter in der mündlichen Verhandlung zu entnehmen. Laut dem zentralen Melderegister besteht seit 01.04.2023 mit der Ehegattin und den Töchtern kein gemeinsamer Wohnsitz mehr. Die neue Wohnung der Ehegattin befindet sich einen ca. zehn minütigen Fußweg von der vormaligen Wohnung entfernt. Sowohl der Beschwerdeführer, als auch dessen Ehegattin geben an, dass entgegen der aufrechten Wohnsitzmeldungen an zwei verschiedenen Wohnadressen ein gemeinsamer Wohnsitz bestehe. Vor dem BFA erklärte der Beschwerdeführer dahingehend, dass er seit 2012 mit seiner Ehegattin zusammenlebe, insbesondere auch in Österreich. Während seines Haftaufenthaltes sei seine Ehegattin mit den Töchtern in eine größere Wohnung gezogen und lebe er dort jetzt auch mit seiner Familie zusammen. Umgemeldet habe er sich jedoch nicht, weil er nicht gewusst habe, ob er in Österreich bleiben könne oder nicht und er sich in einer unsicheren Situation befinde. Die Adresse der Wohnung seiner Ehegattin sei ihm nicht bekannt, liege aber nur hundert Meter von der alten Wohnung entfernt.
Die in der mündlichen Verhandlung als Zeugin befragte Ehegattin des Beschwerdeführers gab an, dass sie nach der Inhaftierung des Beschwerdeführers große Schwierigkeiten gehabt habe; der Beschwerdeführer nach der Haftentlassung aber keine Probleme gemacht habe. Trotz der zwei Wohnungen würden sie in ein und derselben Wohnung leben. Auf die Frage aus welchem Grund zwei Wohnungen bezahlt würden, erklärte die Ehegattin des Beschwerdeführers, dass sie nach der Inhaftierung des Beschwerdeführers in der Wohnung nur einen Ofen und zwei Kinder gehabt habe und deshalb die Wohnung aufgeben habe müssen. Nach der Haftentlassung habe der Beschwerdeführer keine Dokumente mehr gehabt, weshalb sie ihn nicht bei ihr in der Wohnung anmelden habe können. Der Beschwerdeführer werde von seinem Bruder und seiner Verwandtschaft unterstützt.
Die Tochter des Beschwerdeführers gab in der mündlichen Verhandlung an, dass sie ihren Vater jeden Tag zu Hause sehe und sie an den Wochenenden zu Spielplätzen in der Nähe des alten Hauses gehen würden. Manchmal würden sie Mikado oder Uno spielen. In den Ferien seien sie meistens nicht zu Hause, weil sie mit ihrem Vater unterwegs seien.
Seitens des Beschwerdeführers und seiner Ehegattin wird sohin vorgebracht, dass abweichend von den zwei Wohnsitzmeldungen ein gemeinsamer Wohnsitz vorliege und aufgrund fehlender Dokumente eine Ummeldung nicht möglich sei.
Von einem gemeinsamen Wohnsitz ist jedoch aufgrund mehrerer Indizien nicht auszugehen.
Die Ehegattin kam mit den beiden Töchtern im September 2019 nach Österreich. Trotz aufrechten Familienlebens ließ sich der Beschwerdeführer bereits ab Mai 2018 auf eine außereheliche Beziehung ein, in welcher es zur Begehung der oben dargestellten Straftaten kam, aufgrund der er letztlich strafgerichtlich verurteilt wurde und von 17.01.2021 bis 15.09.2023 in Haft war. Die Ehegattin besuchte den Beschwerdeführer zunächst noch ca. zwei Mal im Monat im Gefängnis, stellte die Besuche nach dem 29.08.2022 jedoch ein. Ca. dreieinhalb Monate bzw. sechs Monate später begann die Ehegattin des Beschwerdeführers zu arbeiten (zwei Arbeitsstellen) und ca. sieben Monate später zog die Ehegattin mit den Töchtern in eine neue Wohnung. Die Erklärung der Ehegattin des Beschwerdeführers, dass dies aufgrund nur eines Ofens und zwei Kindern erfolgt sei, ist nicht nachvollziehbar, zumal mit dem Beschwerdeführer vor seiner Inhaftierung noch eine Person mehr dort gewohnt hat und etwaige Ressourcen- oder Platzprobleme nicht akut gewesen sein konnten.
In einem Zeitraum von September 2022 bis März 2023 hat die Ehegattin sohin die Besuche im Gefängnis eingestellt, zwei Arbeitsstellen angenommen und mit ihren Töchtern eine neue Wohnung bezogen, ohne die alte Wohnung aufzugeben. Stattdessen blieb der Beschwerdeführer an dieser Adresse aufrecht gemeldet. Dass er nicht mehr über die für eine Wohnsitzummeldung notwendigen Dokumente verfügt, konnte er zudem nicht glaubwürdige darlegen bzw. hat er dies zu keinem Zeitpunkt nachvollziehbar erklärt. Alleine die Tatsache eines längeren Haftaufenthaltes erklärt jedenfalls nicht einen allfälligen Verlust seines Reisepasses, seiner Geburtsurkunde oder sonst notwendiger Dokumente, über die er offenbar verfügte, zumal er entsprechend des Auszuges aus dem zentralen Melderegister in Österreich bereits zweimal einen Wohnsitz angemeldet und einmal auch umgemeldet hat.
Es ist anzunehmen, dass sich die Ehegattin während der Haftzeit vom Beschwerdeführer emotional distanziert hat und folglich auch die Besuche eingestellt bzw. einen neuen Wohnsitz begründet hat. Nach der Haftentlassung wurde auch kein gemeinsamer Wohnsitz mehr aufgenommen, ansonsten der Beschwerdeführer eine Ummeldung des Wohnsitzes vorgenommen hätte. Es entbehrt auch jeder Plausibilität, weshalb Miete für eine Wohnung bezahlt werden solle, welche nicht bewohnt wird. Dies auch vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer aktuell nicht erwerbstätig und auf finanzielle Zuwendungen angewiesen ist.
Überzeugend und konstant wurde vom Beschwerdeführer, seiner Ehegattin und der älteren Tochter des Beschwerdeführers ausgeführt, dass aktuell regelmäßig Besuche stattfinden und der Kontakt durch die begangene Straftat und der darauffolgenden Inhaftierung lediglich unterbrochen war, jedoch nicht gänzlich abgebrochen ist.
Der Beschwerdeführer ist jedoch nicht in einem solchen Ausmaß im Alltag seiner Ehegattin und Töchter integriert, dass er den Arbeitgeber der Ehegattin oder die besuchten Schulen der Töchter zu benennen vermag. In der mündlichen Verhandlung führte der Beschwerdeführer auch aus, dass er die Töchter in die Schule bringe, sie dort wieder abhole und mit ihnen in den Park gehe, zumal er nicht mehr berufstätig sei wie früher.
Zusammengefasst ist sohin nicht von einem gemeinsamen Haushalt des Beschwerdeführers mit seiner Ehegattin und den Kindern auszugehen, jedoch finden regelmäßige Besuche und Unternehmungen statt.
Dass die Töchter des Beschwerdeführers aktuell die dritte bzw. vierte Klasse der Volksschule besuchen, beruht auf den konstanten und übereinstimmenden Angaben des Beschwerdeführers, seiner Ehegattin und seiner älteren Tochter.
2.3. Zum Vorbringen:
Zu den Umständen im Zusammenhang mit der Antragstellung auf internationalen Schutz ist vorweg Folgendes festzuhalten:
Der Beschwerdeführer wurde aufgrund der oben näher dargestellten Straftaten am 17.01.2021 festgenommen und in weiterer Folge am 10.11.2021 zu einer unbedingten Freiheitsstrafe (vier Jahre) verurteilt, wobei er bereits im September 2023 bedingt aus der Haft entlassen wurde. Der dem Beschwerdeführer zuletzt erteilte Aufenthaltstitel verlor mit 26.09.2021 seine Gültigkeit und war über die am 17.08.2021 und 21.12.2023 gestellten Anträge auf Verlängerung des Aufenthaltstitels noch nicht entschieden. Am 10.08.2023 – sohin ca. ein Monat vor seiner Haftentlassung – stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz, was bereits den Anschein erweckt, dass die Antragstellung zwecks Abwendung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme erfolgte.
Dieser Eindruck wird aber auch durch die weiteren Angaben des Beschwerdeführers bestätigt. Im Zuge der Erstbefragung verwies der Beschwerdeführer auf diese Umstände und vermeinte, dass er keinen Antrag auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels stellen habe können, weil er in Haft gewesen sei und er sohin keinen Aufenthaltstitel mehr habe. Zudem erklärte er, dass er im Jahr 2016 zum Arbeiten nach Österreich gekommen sei.
An erster Stelle für seine Antragstellung stehe jedoch seine Familie, welche in Österreich lebe. Er wolle sich nicht von ihr trennen. Darüber hinaus sei er alevitischer Kurde und sei in der Türkei von der Bevölkerung immer wieder diskriminiert worden. Es habe mehrere Streitereien und Diskussionen aufgrund seines Glaubens und seiner ethnischen Wurzeln gegeben. Zudem habe er am Arbeitsplatz sehr oft Probleme gehabt.
Im Falle einer Rückkehr fürchte er die Trennung von seiner Familie und wolle in der Türkei nicht diskriminiert werden.
Im Zuge einer Einvernahme vor dem BFA zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme am 10.07.2023 erklärte der Beschwerdeführer zuvor, dass er und seine Familie ständig Probleme wegen der Herkunft ( XXXX ) gehabt hätten. Es sei sehr viel Druck auf sie ausgeübt worden, weshalb er nach Österreich gekommen sei. Schon seine Großeltern seien aus diesem Grund ausgereist und lebe fast seine gesamte Familie in Österreich. Lediglich seine Eltern seien noch in der Türkei.
Am 07.11.2023 erfolgte vor dem BFA eine Einvernahme zum Asylverfahren und brachte der Beschwerdeführer vor, dass er aufgrund seines alevitischen Glaubens Probleme gehabt habe. Der Beschwerdeführer und sein Vater hätten durch idealistische Gruppierungen Gewalttaten erlebt und habe ihnen die Polizei nicht geholfen. Zudem hätten sie Todesdrohungen erhalten und von XXXX nach XXXX umziehen müssen. Die Eltern hätten ihn dann nach Österreich geschickt, um dieser Gefahr nicht ausgesetzt zu sein.
Bei näherer Betrachtung dieser Ausführungen fällt auf, dass der Beschwerdeführer von einer anfänglichen Antragstellung aufgrund des abgelaufenen Aufenthaltstitels bzw. der Angst vor einer Trennung von seiner Familie sowie Streitereien bzw. Diskussionen mit der türkischen Bevölkerung wegen seines Glaubens und seiner ethnischen Wurzeln hin zu ihm gegenüber ausgeführten Gewalttaten und Todesdrohungen durch Idealisten wechselte, was weitere Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit aufkommen lässt.
Die Erstbefragung hat primär zwar die ausführliche Erörterung der Fluchtgründe zum Ziel, eine derartige Steigerung kann dennoch nicht außer Betracht gelassen werden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es nicht generell unzulässig, sich auf eine Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der weiteren Einvernahme eines Asylwerbers zu stützen (vgl. VwGH 11.08.2020, Ra 2020/14/0347 mwN). Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG ist es weder der Behörde noch dem BVwG verwehrt, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten zwischen der Erstbefragung und späteren Angaben einzubeziehen. Es bedarf aber sorgsamer Abklärung und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind (vgl. VwGH 12.8.2019, Ra 2019/20/0366, mwN).
Dass es sich um konstruierte Antragsgründe handelt, ist aber auch angesichts dessen offenkundig, dass er selbst in der Erstbefragung noch ausführte, dass er 2016 aus wirtschaftlichen Gründen („zum Arbeiten“) nach Österreich gekommen sei. In der Einvernahme vor dem BFA erklärte der Beschwerdeführer und seine (damalige) Vertretung auch, dass der Beschwerdeführer davon ausgegangen sei, nicht in Österreich bleiben zu können, weil ihm gegenüber von Seiten des BFA der Eindruck erweckt worden sei, dass eine aufenthaltsbeendende Maßnahme bzw. ein Einreiseverbot in Erwägung gezogen worden seien. Die darauffolgende Frage, ob der Beschwerdeführer deshalb den Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, beantwortetet er mit „ja“.
In der mündlichen Verhandlung vermeinte der Beschwerdeführer ebenfalls, dass er einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, weil er bei seiner Familie bleien wolle. Auf den Vorhalt, dass dies kein Grund für einen Asylantrag darstelle, entgegnete der Beschwerdeführer, dass er mit seinem Anwalt darüber gesprochen habe, wie er in Österreich bleiben könne. Dieser habe ihn gefragt, wie er damals aus der Türkei hierhergekommen sei, woraufhin der Beschwerdeführer angegeben habe, dass er alevitischer Kurde sei und deshalb in der Türkei Schwierigkeiten gehabt habe.
Abgesehen davon, dass sich infolge des oben aufgezeigten Aussageverhaltens des Beschwerdeführers eine Asylantragstellung infolge des nicht verlängerten Aufenthaltstitels abzeichnet, ist auch aufgrund der in der mündlichen Verhandlung getätigten Angaben nicht davon auszugehen, dass er tatsächlich von den behaupteten Verfolgungshandlungen betroffen war.
Die in der Einvernahme vor dem BFA erstmals behaupteten Probleme mit idealistischen Gruppierungen, durch die der Beschwerdeführer und sein Vater Gewalt erlebt hätten, schilderte er in der mündlichen Verhandlung davon abweichend, indem er angab, dass es in der Türkei Auseinandersetzungen zwischen den Nationalisten bzw. MHP-Anhängern und den Kurden gegeben habe. Der Beschwerdeführer habe mehrmals an den Auseinandersetzungen teilgenommen. Konkret sei eine Auseinandersetzung so abgelaufen, dass die Nationalisten den Kurden gesagt hätten, dass sie nicht das Recht hätten in der Türkei zu leben und sie in ein anderes Land gehen sollten. Der Beschwerdeführer habe sich in solchen Situationen immer zurückgehalten, ansonsten sie ihm oder seiner Familie Schaden zufügen hätten können. Bevor es schlimmer geworden sei, habe seine Familie ihn nach Österreich geschickt. Bei solchen Auseinandersetzungen seien beispielsweise Nachbarn getötet worden, weshalb die Familie des Beschwerdeführers Angst gehabt habe.
Zusammengefasst schwenkte der Beschwerdeführer von einer unmittelbaren Betroffenheit von Gewalt um auf eine zurückhaltende Teilnahme an verbalen Auseinandersetzungen mit nationalistischen Gruppierungen bzw. einer nationalistischen Partei und sei die Ausreise nicht mehr aufgrund der erlebten Gewalttaten, sondern aufgrund einer Vermeidung möglicher Übergriffe erfolgt, was einen wesentlichen Unterschied darstellt.
Eine Steigerung seines Vorbringens bzw. Widersprüchlichkeiten sind aber auch in Bezug auf behauptete politischen Aktivitäten des Beschwerdeführers in der Türkei erkennbar.
Mit Schreiben vom 09.12.2022 beantwortete die (damalige) Vertretung des Beschwerdeführers einen Fragenkatalog des BFA in Bezug auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und wird darin unter anderem ausgeführt, dass er Mitglied seines legalen politischen Vereins in der Türkei gewesen sei, welcher nach österreichischen Verhältnissen als politische Partei angesehen werden könne. Dieser politische Verein unterstütze die kurdische Autonomie und sei der Beschwerdeführer wegen dieser Vereinsmitgliedschaft mit seinem Leben bedroht und mehrmals attackiert worden. Ein Schutz seines Lebens durch die türkischen Behörden sei nicht garantiert gewesen und sei Flucht bzw. Auswanderung die einzige Möglichkeit gewesen, sein Leben und seine Familie zu beschützen. Wie oben bereits dargestellt, hat der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem BFA zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme am 10.07.2023 lediglich ausgeführt, dass sie ständig Probleme wegen der Herkunft gehabt hätten. Probleme aufgrund der Mitgliedschaft in einem politischen Verein fanden zu diesem Zeitpunkt keine Erwähnung. Mit Schreiben vom 11.07.2023 erfolgte die schriftliche Antragstellung auf internationalen Schutz und wurde darin ausgeführt, dass eine allfällige Rückkehr in die Türkei wegen der kurdischen Herkunft und den politischen Aktivitäten des Beschwerdeführers in der Türkei unzumutbar bzw. unmöglich sei.
In der daraufhin folgenden Erstbefragung am 10.08.2023 ist auf die Frage nach den Antragsgründe jedoch wiederum keine Vereinsmitgliedschaft in einem politischen Verein erwähnt, sondern ausschließlich auf Streitereien und Diskussionen mit der Bevölkerung aufgrund seines Glaubens und seiner ethnischen Wurzeln verwiesen worden.
In der Einvernahme vor dem BFA am 07.11.2023 wurde der Beschwerdeführer konkret danach befragt, ob er Mitglied in einer Organisation oder eines Vereines sei, was er verneinte. Auch auf die Frage nach seinen Antragsgründen kam die Mitgliedschaft in einem politischen Verein nicht zur Sprache. Erst auf die im Verlauf der weiteren Einvernahme konkret gestellten Frage, ob er Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung in der Türkei war oder ist, antwortete der Beschwerdeführer, dass er von 2010 bis 2016 Mitglied bei der politischen Partei HDP gewesen sei und er bei den Wahlen immer diese Partei gewählt habe. Auch in der mündlichen Verhandlung gab der Beschwerdeführer an, dass er Mitglied der HDP gewesen sei und bestätigte ebenfalls, dass er jetzt kein Mitglied dieser Partei mehr sei.
Es steht sohin die Behauptung der Mitgliedschaft in einem politischen Verein der Mitgliedschaft in einer politischen Partei gegenüber bzw. wurde einmal auch angegeben, kein Mitglied eines Vereines oder in einer Organisation zu sein. Im Übrigen wurden seitens des Beschwerdeführers politische Aktivitäten nicht konstant als Antragsgründe benannt. Der Beschwerdeführer legte im Verfahren auch keine Nachweise für eine Mitgliedschaft in einem politischen Verein oder der HDP vor, und erklärte vor dem BFA, dass er seinen Mitgliedsausweis der HDP nicht nach Österreich mitgenommen habe. Wäre die Mitgliedschaft bei einer politischen Partei tatsächlich eine Ursache für behaupteten Verfolgungshandlungen, so ist es jedenfalls nicht nachvollziehbar, weshalb er einen diesbezüglichen Nachweis nicht vorgelegt hat. Bei tatsächlichem Zutreffen einer (früheren) Mitgliedschaft bei der HDP könnte vorausgesetzt werden, dass der Beschwerdeführer entsprechende Unterlagen, welche dieses Vorbringen belegen können, in Vorlage gebracht hätte, wie es auch von anderen Beschwerdeführern aus seinem Heimatland praktiziert wird und spricht dies – neben dem widersprüchlichen und nicht konsequenten Vorbringen - somit ebenfalls gegen die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers. Eine Mitgliedschaft des Beschwerdeführers bei einem politischen Verein oder einer politischen Partei sowie darauf gründende Verfolgungshandlungen in der Türkei, konnten von ihm daher ebenfalls nicht glaubhaft vorgebracht werden.
In Bezug auf den in der Beschwerde vom 21.02.2023 gestellten Beweisantrag (zum Vorliegen eines Familienlebens), die Tante des Beschwerdeführers einzuvernehmen, wird festgehalten, dass auf Basis des Standes des Ermittlungsverfahrens, insbesondere unter Berücksichtigung der Aussagen des Beschwerdeführers, seiner Ehegattin und der älteren Tochter bereits ein "ausreichend ermittelter Sachverhalt" vorliegt, der weitere amtswegige Erhebungen nicht erforderlich macht (vgl. VwGH 03.05.2018, Ra 2018/19/0171; 25.02.2019, Ra 2019/19/0017; 19.03.2019), weshalb dem Antrag auf zeugenschaftliche Einvernahme der Tante des Beschwerdeführers nicht nachzukommen war.
2.4. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Die allgemeinen Feststellungen resultieren aus den behördlicherseits erhobenen Fakten aufgrund vorliegender Länderdokumentationsunterlagen. Die Länderfeststellungen basieren auf mannigfaltigen Quellen, denen keine Voreingenommenheit unterstellt werden kann. Den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrunde gelegten Länderfeststellungen wurde nicht in qualifizierter Form entgegengetreten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
3.1. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
§ 1 BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.
3.2. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:
3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), droht.
Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht (Z 1) oder wenn der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat (Z 2).
3.2.2. Zum Vorliegen eines Asylausschlussgrundes:
Gemäß § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG ist ein Fremder von der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ausgeschlossen, wenn er von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden ist und wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet.
Gemäß § 6 Abs. 2 AsylG kann der Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ohne weitere Prüfung abgewiesen werden, wenn ein Ausschlussgrund nach Abs. 1 vorliegt. § 8 gilt.
Gemäß § 17 Abs. 1 StGB sind Verbrechen vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind. Alle anderen strafbaren Handlungen sind gemäß § 17 Abs. 2 StGB Vergehen. Mit der Einteilung in Verbrechen und Vergehen hat der Gesetzgeber in § 17 StGB eine grundsätzliche Unterscheidung der Straftaten, durch die das besondere Gewicht der als Verbrechen geltenden Straftaten ihrer Art nach betont werden soll, getroffen. Über die Bezeichnung dieser Straftaten hinaus – mit „Verbrechen“ wird schon rein sprachlich ein höherer Unwert konnotiert – bringt die Anknüpfung an ein Mindestmaß der Strafdrohung von mehr als dreijähriger oder lebenslanger Freiheitsstrafe sowie die Einschränkung auf Vorsatztaten zum Ausdruck, dass es sich um solche handelt, denen ein besonders hoher Unrechtsgehalt innewohnt (vgl. zB VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0116).
Art. 14 Abs. 4 lit. b StatusRL stellt darauf ab, dass der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.
Der EuGH setzte sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens mit den Voraussetzungen für eine Aberkennung des Status des Asylberechtigten auseinander und hielt in seinem Urteil vom 06.07.2023, C-663/21, insbesondere Folgendes fest:
Soll einem Flüchtling die Flüchtlingseigenschaft aberkannt werden, müssen kumulativ zunächst zwei Voraussetzungen vorliegen, nämlich zum einen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, und zum anderen, dass festgestellt wurde, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. Die Entscheidung muss außerdem verhältnismäßig sein. Dabei muss die bescheiderlassende Behörde die Gefahr, die von dem betreffenden Drittstaatsangehörigen für ein Grundinteresse der Allgemeinheit ausgeht, gegen die Rechte abwägen, die nach der Statusrichtlinie Flüchtlingen zu gewährleisten sind, um festzustellen, ob eine Aberkennung in einem angemessenen Verhältnis zu dieser Gefahr steht. Die zuständige Behörde ist jedoch nicht verpflichtet, im Rahmen dieser Abwägung Ausmaß und Art der Maßnahmen zu berücksichtigen, denen der Drittstaatsangehörige bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre.
Unter Berücksichtigung der nach diesem Urteil präzisierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 25.07.2023, Ra 2021/20/0246) gelten nunmehr folgende Kriterien für die Beurteilung nach § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG unter Bedachtnahme auf die unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 14 Abs. 4 lit. b StatusRL:
Der Fremde muss wegen eines Verbrechens im Sinn des § 17 StGB rechtskräftig verurteilt worden sein. Es muss sich bei der der Verurteilung zugrundeliegenden Straftat um eine solche handeln, die angesichts ihrer spezifischen Merkmale insofern eine außerordentliche Schwere aufweist, als sie zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen. Dazu gehören beispielsweise Tötungsdelikte, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung, Brandstiftung, Handel mit Suchtgiften und Suchtmitteln, bewaffneter Raub, die Verletzung des Rechtsgutes der sexuellen Integrität von Kindern und aus terroristischen Motiven begangene Straftaten.
Bei der Beurteilung, ob jene Straftat, derentwegen ein Drittstaatsangehöriger rechtskräftig verurteilt wurde, einen solchen außerordentlichen Schweregrad aufweist, sind sämtliche besondere Umstände des Einzelfalls einzubeziehen, insbesondere die für diese Straftat angedrohte und verhängte Strafe, die Art der Straftat, die erschwerenden und mildernden Umstände, die Art und das Ausmaß der durch diese Straftat verursachten Schäden sowie das Verfahren zur Ahndung der Straftat – etwa ob hinsichtlich eines Delikts auch bei geringerer Strafdrohung die Durchführung des Hauptverfahrens des Strafverfahrens einem Geschworenengericht (§ 31 Abs. 2 StPO) überantwortet ist – zu berücksichtigen. Da jene Straftat, für die der Fremde verurteilt wurde, für sich genommen den genannten Schweregrad aufweisen muss, ist es nicht statthaft, diesen Schweregrad durch die Kumulierung verschiedener Straftaten, von denen keine als solche eine besonders schwere Straftat darstellt, zu bejahen.
Bei der Beurteilung, ob der Fremde „wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet“, ist zu prüfen, ob der betreffende Fremde eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. Dabei kann – unter Beachtung der weiteren Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 (wie etwa, dass zwingend eine Verurteilung wegen eines Verbrechens im Sinn des § 17 StGB vorliegen muss) sowie der sonstigen Vorgaben des Art. 14 Abs. 4 lit. b StatusRL – auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum identen, in § 67 Abs. 1 zweiter Satz FPG enthaltenen Maßstab zurückgegriffen werden. Im Rahmen der Gefährdungsprognose ist aufgrund konkreter Feststellungen zu den maßgeblichen Umständen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Es ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftat und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Für eine nachvollziehbare Gefährdungsprognose ist es nicht ausreichend, wenn lediglich das Gericht, die Urteilsdaten, die maßgeblichen Strafbestimmungen und die verhängte Strafe angeführt werden. Je nach Lage des Einzelfalls wird es mitunter auch nicht ausreichend sein, die im Urteilstenor des Strafgerichts zum Ausdruck kommenden Tathandlungen wiederzugeben, sondern sich als notwendig darstellen, darüber hinausgehende Feststellungen zu treffen, um die Gefährdungsprognose in einer dem Gesetz entsprechenden Weise vornehmen zu können. Dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, ist aber von besonderer Bedeutung. Dies kann nach den Umständen der Begehung dieser Straftat dazu beitragen, das Bestehen einer tatsächlichen und erheblichen Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit zu belegen. Aus Vorstrafen des Fremden darf nicht automatisch geschlossen werden, dass das geforderte Maß der Gefahr vorliegt. Je später nach der rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat eine Entscheidung über das Vorliegen des Ausschlussgrundes getroffen wird, desto mehr sind bei der Prüfung, ob eine tatsächliche und erhebliche Gefahr zu demjenigen Zeitpunkt besteht, zu dem die Entscheidung getroffen wird, die Entwicklungen nach der Begehung einer solchen Straftat zu berücksichtigen.
Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit sind die durch das strafbare Verhalten gefährdeten Grundinteressen der Allgemeinheit abzuwägen mit den berechtigten, insbesondere grundrechtlich zu garantierenden Interessen des Drittstaatsangehörigen.
3.2.3. Das Bundesamt hat den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 3 Z 2 AsylG zu Recht abgewiesen, da ein Ausschlussgrund gemäß § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG vorliegt:
Der Beschwerdeführer wurde am 10.11.2021 vom Landesgericht XXXX wegen § 83 Abs. 1 StGB (Körperverletzung), §§ 205a Abs. 1 1. Fall, 205 a Abs. 1 3. Fall StGB (Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung), § 107 Abs. 1 StGB (gefährliche Drohung), § 201 Abs. 1 StGB (Vergewaltigung), §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 3 StGB (schwere Nötigung), § 15 StGB, § 105 Abs. 1 StGB (versuchte Nötigung) und § 125 StGB (Sachbeschädigung) zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Jahren verurteilt.
Dadurch hat der Beschwerdeführer zwei Verbrechen (Vergewaltigung und schwere Nötigung) im Sinne des § 17 StGB begangen.
Lediglich in gravierenden Fällen schwerer Verbrechen erweist sich bereits ohne umfassende Prüfung der einzelnen Tatumstände eine eindeutige Wertung als schweres Verbrechen mit negativer Zukunftsprognose als zulässig (vgl. VwGH 26.09.2022, Ro 2022/20/0001, mwN). Zu den Straftaten, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen gehören beispielsweise Tötungsdelikte, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung, Brandstiftung, Handel mit Suchtgiften und Suchtmitteln, bewaffneter Raub, die Verletzung des Rechtsgutes der sexuellen Integrität von Kindern und aus terroristischen Motiven begangene Straftaten (vgl. VwGH 25.07.2023, Ra 2021/20/0246, Rz 94). Als besonders schwer können nur Straftaten anzusehen sein, die objektiv besonders wichtige Rechtsgüter verletzen (vgl. etwa VwGH 29.08.2019, Ra 2018/19/0522, mwN).
In der Regierungsvorlage zum AsylG 2005, RV 952 BlgNR 22. GP , wurde zu § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 erläuternd – wenngleich nur demonstrativ – Folgendes ausgeführt:
„Die Z 3 und 4 des Abs. 1 entsprechen inhaltlich dem bisherigen § 13 Abs. 2 AsylG. Unter den Begriff ‚besonders schweres Verbrechen’ fallen nach Kälin, Grundriss des Asylverfahrens (1990), S 182 und 228 (ua. mit Hinweis auf den UNHCR) und Rohrböck, (Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (1999) Rz 455, mit weiteren Hinweisen auf die internationale Lehre), nach herrschender Lehre des Völkerrechts nur Straftaten, die objektiv besonders wichtige Rechtsgüter verletzen. Typischerweise schwere Verbrechen sind etwa Tötungsdelikte, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung, Brandstiftung, Drogenhandel, bewaffneter Raub und dergleichen (vgl. VwGH 10. 6.1999, 99/01/0288). Zu denken wäre aber auch – auf Grund der Gefährlichkeit und Verwerflichkeit an besondere Formen der Schlepperei, bei der es zu einer erheblichen Gefährdung, nicht unbedeutenden Verletzung oder gar Tötung oder während der es zu erheblichen – mit Folter vergleichbaren Eingriffen in die Rechte der Geschleppten kommt. Die aktuelle Judikatur in Österreich, wie in anderen Mitgliedstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention, verdeutlicht, dass der aus dem Jahre 1951 stammende Begriff des ‚besonders schweren Verbrechens’ des Art 33 Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention einer Anpassung an sich ändernde gesellschaftliche Normenvorstellungen zugänglich ist.“
Zum Vorliegen einer Straftat von außerordentlicher Schwere:
Die Vergewaltigung nach § 201 StGB wird vom VwGH explizit als Beispiel für besonders schwere Verbrechen aufzählt (vgl VwGH 25.07.2023, Ra 2021/20/0246). Dem geschützten Rechtsgut der sexuellen Integrität bzw. sexuellen Selbstbestimmung ist somit ein besonders hoher Stellenwert einzuräumen, was sich auch am Strafrahmen (zwei bis zehn Jahre) sowie der Mindeststrafe von zwei Jahren eindeutig erkennen lässt. Die „Art der Straftat“ als Sexualverbrechen weist somit eine außerordentliche Schwere auf und ist objektiv besonders schwerwiegend.
Das Verbrechen der schweren Nötigung findet in der oben zitierten Rechtsprechung zwar keine Erwähnung, jedoch ist davon auszugehen, dass eine schwere Nötigung iSd § 106 Abs. 1 Z 3 StGB, bei der gegenüber dem Opfer in einem Zeitraum von Februar 2020 und 17.01.2021 (fast ein Jahr lang!) wiederholt teils persönlich, teils telefonisch sinngemäß vom Beschwerdeführer geäußert wurde, dass er der Familie, den Bekannten und den Freunden des Opfers ein Video schicken werde, welches ihn beim Geschlechtsverkehr mit dem Opfer zeige, sowie das Opfer und seine Familie umbringe, wenn es ihn verlasse, abstrakt eine „schwere Straftat“ darstellt. Das vom Beschwerdeführer gesetzte strafrechtswidrige Verhalten ist daher insbesondere in Hinblick auf die lange Begehungsdauer von beinahe einem Jahr sowie die Tatsache, dass die von ihm genötigte Person in besonders wichtigen Interessen verletzt wurde, ebenfalls als besonders verwerflich anzusehen.
Die objektive Tatseite (also die objektiven Kriterien) – des zuvor dargestellten Tatbestands des Verbrechens – kann damit als erfüllt gesehen werden.
Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen hat, kommt es bei der Beurteilung, ob ein „besonders schweres Verbrechen“ vorliegt, nicht allein auf die Strafdrohung an. So genügt es demnach nicht, wenn ein abstrakt als „schwer“ einzustufendes Delikt verübt worden ist. Die Tat muss sich im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend erweisen, wobei unter anderem auf Milderungsgründe Bedacht zu nehmen ist. Bei der Beurteilung, ob ein „besonders schweres Verbrechen“ vorliegt, ist daher eine konkrete fallbezogene Prüfung vorzunehmen und sind insbesondere die Tatumstände zu berücksichtigen (vgl. VwGH 28.10.2021, Ra 2020/19/0317, VwGH 29.8.2019, Ra 2018/19/0522, mwN).
Zur subjektiven Tatseite ist auszuführen, dass der seit 2012 nach moslemischem Ritus verheiratete Beschwerdeführer ca. im Mai 2018 eine außereheliche Beziehung einging, diese in den folgenden Jahren fortführte, trotzdem seine Ehegattin im Jahr 2018 standesamtlich geheiratet und eine Familienzusammenführung initiiert hat, sodass seine Ehegattin und die beiden Töchter im Jahr 2019 nach Österreich kommen konnten, wobei er die außereheliche Beziehung deshalb nicht beendet hat.
Im Zeitraum von Februar 2020 bis 17.01.2021 setzte der Beschwerdeführer der Frau, mit der er eine außerehelichen Beziehung eingegangen ist, gegenüber ein mehrfach strafrechtswidriges Verhalten, indem er sie zwischen Februar 2020 und 17.01.2021 wiederholt durch gefährliche Drohung zur Fortführung der Liebesbeziehung genötigt hat, indem er teils persönlich, teils telefonisch sinngemäß äußerte, er werde ihrer Familie, ihren Bekannten und Freunden ein Video schicken, welches sie beim Geschlechtsverkehr mit ihm zeige, sowie die Frau und deren Familie umbringen.
Am 21.06.2020 packte der Beschwerdeführer sein Opfer an der Brust, schlug ihm ins Gesicht, zog es an den Haaren und drang im weiteren Verlauf mit seinem Penis vaginal in das Opfer sie. Zudem hat er die Frau im Zeitraum zwischen 22.07.2020 und Ende Juli 2020 in zwei gesonderten Angriffen jeweils am Nacken gepackt, zu Boden gedrückt und ist sodann mit seinem Penis anal in sie eingedrungen.
Wie oben ausgeführt hat der Beschwerdeführer vor und nach den Vergewaltigungen die Frau bereits durch gefährliche Drohung zur Fortführung der Beziehung genötigt und ihr am 16.01.2021 gedroht, ihre Familie umzubringen sowie dieser Nacktfotos vom Opfer zuschicken. Damit versuchte der Beschwerdeführer das Opfer zu einem Treffen im Park und zu einer Abstandnahmen von einer Anzeigeerstattung an die Polizei zu nötigen.
In der Nacht vom 16.01.2021 auf 17.01.2021 hat der Beschwerdeführer auch den PKW der Frau beschädigt, indem er gegen die Fahrzeugtüren trat, auf den Seitenspiegel schlug und den hinteren Scheibenwischer herausriss.
Am 17.01.2021 verletzte der Beschwerdeführer das Opfer am Körper, indem er es würgte und ihm mehrfach ins Gesicht schlug, wodurch es eine Prellung des linken Armes, Blutergüsse und Würgemale am Hals sowie einen Bluterguss auf dem Nasenrücken erlitt. Am selben Tag hat der Beschwerdeführer das Opfer auch mit der Zufügung zumindest einer Verletzung am Körper bedroht, um es in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er äußerte, er habe ein Messer im Auto und werde das Opfer an einen ruhigen Ort bringen, wo er ihm und sich die Kehle durchschneiden werde.
Der Beschwerdeführer wurde daraufhin zu einer unbedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Jahren verurteilt, wobei das Schöffengericht als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer Verbrechen mit mehreren Vergehen, die teilweise Tatbegehung für diesen wahrnehmbar vor dem zehnjährigen Sohn des Opfers und die teilweise Verwendung einer Waffe wertete. Als Milderungsgründe wurden der bisher ordentliche Lebenswandel, die teilweise reumütig geständige Verantwortung und der Umstand, dass es teilwiese beim Versuch geblieben ist, berücksichtigt.
In Anbetracht dessen, dass das Strafgericht eine (teil-)bedingte Strafnachsicht sowohl aus spezial- als auch aus generalpräventiven Erwägungen ablehnte und außer Zweifel steht, dass das vom Beschwerdeführer begangene Verbrechen der Vergewaltigung angesichts der beschriebenen Gewalteinwirkung und Verletzung der sexuellen Integrität sowie Selbstbestimmung des Opfers sowohl objektiv als auch subjektiv als außerordentlich schwerwiegend zu qualifizieren ist und ein Verhalten darstellt, das die Rechtsordnung gravierend beeinträchtigt, sind die als mildernd gewerteten Umstände auch nicht geeignet, ein besonders schweres Verbrechen zu verneinen. Das Berufungsgericht hielt zu den Strafbemessungsgründen insbesondere fest, dass aufgrund des anzuwendenden Strafrahmens von zwei bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe die vom Erstgericht gefundene Sanktion von vier Jahren in Anbetracht der Massivität der Taten und der Verletzung mehrerer Rechtsgüter spezial- und generalpräventiv geboten ist. Trotz des bislang tadellosen Lebenswandels des Beschwerdeführers würde eine geringere Strafe dem massiven Tatunwert nicht gerecht werden.
Bei einem Strafrahmen von zwei bis zu zehn Jahren (§ 201 Abs. 1 StGB) erweist sich die gegen den – zuvor unbescholtenen – Beschwerdeführer verhängte Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Jahren auch durchaus als beträchtlich.
Die Schwere des Verbrechens kommt insbesondere auch durch den langen Tatzeitraum zum Ausdruck, indem sich der Beschwerdeführer dem Opfer gegenüber nicht nur gewalttätig verhielt, sondern es durch beharrliche Drohungen dazu nötigte die Beziehung nicht zu beenden bzw. von einer Anzeigeerstattung der unter anderem verübten Vergewaltigungen Abstand zu nehmen. Der Beschwerdeführer setzte sich über den Willen des Opfers hinweg, beging die Taten teilwiese für den zehnjährigen Sohn des Opfers wahrnehmbar und teilweise unter Verwendung einer Waffe, was nicht nur die außerordentliche Schwere der verübten Straftaten dem Opfer gegenüber, sondern auch den Umstand erkennen lässt, dass er eine allfällige Traumatisierung des anwesenden Sohnes in Kauf nahm. Die Vergewaltigungen fanden zwischen Juni 2020 und Ende Juli 2020 statt und ist bekannt, dass die im Rahmen einer Vergewaltigung erlebten Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Verletzbarkeit das Sicherheitsbewusstsein in seinen Grundfesten erschüttert sowie zu erheblichen psychosozialen Folgeerscheinungen führen kann. Trotzdem musste das Opfer – neben einer Körperverletzung – weiter gefährliche Drohungen erdulden mit denen der Beschwerdeführer unter anderem die Fortführung der Liebesbeziehung bezwecken wollte. Auch die Art der Drohungen – Nacktfotos vom Opfer bzw. Videos vom Geschlechtsverkehr des Beschwerdeführers mit dem Opfer an Familie, Freunde und Bekannte zu verschicken – zeigt, dass der Beschwerdeführer äußerst perfide Mittel zur Erreichung seines Ziels einsetzte und sein gewalttätiges, einschüchterndes und bedrohliches Verhalten gegenüber dem Opfer erst mit seiner Festnahme und Inhaftierung am 17.01.2021 beendete.
Im Ergebnis ist daher die vom Beschwerdeführer begangene Straftat im Rahmen des zur Verfügung stehenden Beurteilungsspielraums (vgl. VwGH 30.12.2019, Ra 2019/18/0125) unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles als „besonders schweres Verbrechen“ im Sinne des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 bzw. als „besonders schwere Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 und 5 der Statusrichtlinie zu qualifizieren.
Zur Gefährdungsprognose:
In seinem Urteil vom 06.07.2023, C-8/22, betonte der EuGH, dass das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, nicht schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer „besonders schweren Straftat“ rechtskräftig verurteilt wurde. Der Gerichtshof stellte klar, dass eine Aberkennungs- bzw. Nicht-Zuerkennungsentscheidung nur erlassen werden darf, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und die Entscheidung verhältnismäßig ist.
Bei einer Gefährdungsprognose ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahingehend vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist; dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. dazu etwa VwGH 12.09.2023, Ra 2021/20/0449, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat ferner festgehalten, dass das Zeigen von Reue, das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses, aber auch der erfolgreiche Abschluss einer Drogenentzugstherapie maßgebliche Umstände sind, auf die in der im Rahmen der Gefährdungsprognose vorzunehmenden Gesamtbetrachtung Bedacht zu nehmen ist (vgl. VwGH 01.09.2022, Ra 2022/18/0200, unter Verweis auf VwGH 28.10.2021, Ra 2020/19/0317, und 29.08.2019, Ra 2018/19/0522).
Angesichts der vom Beschwerdeführer verwirklichten Straftaten steht außer Zweifel, dass er eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit darstellt. Die sexuelle Ausbeutung von Frauen zählt zu den in Art. 83 Abs. 1 Unterabsatz 2 AEUV angeführten Straftaten, die als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen und geeignet sind, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, sodass insbesondere die vorliegende Verurteilung wegen Vergewaltigung bereits aufgrund ihrer Art und Schwere ein gewichtiges Indiz für eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt und unter Berücksichtigung der konkret-individuellen Tatbegehung einen solchen Schluss auch zulässt (vgl. EuGH 22.05.2012, C 348/09, P. I. gegen Oberbürgermeisterin der Stadt Remscheid; sowie VwGH 07.03.2019, Ra 2019/21/0002; 03.07.2018, Ra 2018/21/0099; 24.10.2019, Ra 2019/21/0232).
Der Beschwerdeführer zeigt auch keine Reue bzw. generell keine Einsicht in die von ihm begangenen Straftaten und ist gerade dies nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes mitunter ein maßgeblicher Umstand, der im Rahmen der Gefährdungsprognose zu berücksichtigen ist. Auf die Frage vor dem BFA, ob er mittlerweile schuldeinsichtig sei, erklärte der Beschwerdeführer zwar „klar“ und führte weiter aus, dass er neben der Bewährungshilfe auch Psychologen aufsuche, um sich zu resozialisieren und einen Fehler an ihm durch fremde Hilfe in den Griff zu bekommen. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit seinen Taten, dem Opfer bzw. den Folgen für das Opfer (und dessen Sohn) erfolgte jedoch nicht und beließ es der Beschwerdeführer auch in der mündlichen Verhandlung auf die Frage, warum er im Gefängnis gewesen sei, dabei, dass er auf die Straftat sowie die verhängte Freiheitsstrafe verwies. Ausführungen zu einer Tat- und Schuldeinsicht sowie einem Unrechtsbewusstsein tätigte der Beschwerdeführer nicht.
Im Übrigen stellt die Verhinderung strafbarer Handlungen, insbesondere von Verbrechen gegen Leib und Leben bzw. die sexuelle Integrität, ein Grundinteresse der Gesellschaft dar. Insofern ist die Annahme gerechtfertigt, dass der Beschwerdeführer bei einem weiteren Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Die vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten machen insbesondere deutlich, dass er zu massiver Gewalttätigkeit im Stande ist. Die erhebliche Schwere des begangenen Verbrechens der Vergewaltigung, aber auch der schweren Nötigung lassen eine fehlende Verbindlichkeit gegenüber der Rechtsordnung deutlich erkennen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich – nach dem Vollzug einer Haftstrafe – in Freiheit wohlverhalten hat. Für die Annahme eines Wegfalls der aus dem bisherigen Fehlverhalten ableitbaren Gefährlichkeit eines Fremden ist somit in erster Linie das Verhalten in Freiheit maßgeblich. Dabei ist der Beobachtungszeitraum umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden in der Vergangenheit manifestiert hat (vgl. VwGH 15.02.2021, Ra 2021/17/0006, mwN).
Der Beschwerdeführer wurde am 15.09.2023 bedingt aus der Strafhaft entlassen, jedoch stellte die bedingte Entlassung nach zwei Dritteln der Strafe den Regelfall dar, wohingegen der Vollzug der gesamten Freiheitsstrafe auf (Ausnahme-)Fälle beschränkt sein soll (näher Jerabek/Ropper in Höpfel/Ratz, WK² StGB § 46 Rz 17).
Die aufgezeigte und aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes besonders verwerfliche Art der Begehung von besonders schweren Verbrechen lässt auch nicht auf ein positives Persönlichkeitsbild des Beschwerdeführers schließen. Die bedingte Entlassung liegt erst ca. ein Jahr zurück und befindet sich der Beschwerdeführer noch zu Beginn der Probezeit. Zur Entwicklungen nach der bedingten Entlassung wird zwar nicht verkannt, dass der Beschwerdeführer durchaus um eine positive Entwicklung seines Lebens bemüht ist. Er wird seit September 2023 vom Verein Neustart im Rahmen der gerichtlich angeordneten Bewährungshilfe betreut, hält auch regelmäßig Kontakt zu dieser und nimmt das Betreuungsangebot sehr gut an, indem er sich offen, kooperativ und bemüht zeigt, die Vereinbarungen einzuhalten. Zudem nimmt der Beschwerdeführer an einem Antigewalttraining/an einer Antigewalttherapie der Männerberatung in Erfüllung einer Weisung teil. Aber selbst unter positiver Berücksichtigung dieser Umstände ist nicht von einem Wegfall der vom Beschwerdeführer ausgehende erheblichen Gefährdung auszugehen. Die bereits erörterten Umstände der Tatbegehung, die dem Strafgericht zufolge von besonderer „Massivität“ gekennzeichnet waren, indizieren ein beträchtliches Abweichen vom Verhalten einer mit der Rechtsordnung konformen Person, sodass der Wohlverhaltenszeitraum von nur einem Jahr, eine Gewalttherapie/ein Antigewalttraining sowie das Einhalten der Bewährungsauflagen die durch die Anlasstat erkennbar gewordenen Gefahr nicht aufwiegen.
Ein derart kurzer Wohlverhaltenszeitraum in Verbindung mit der Einhaltung der Bewährungsauflagen bietet daher im gegenständlichen Fall keine hinreichend verlässliche Grundlage für eine positive Prognoseentscheidung.
Auch in Anbetracht des hohen Wertes der durch die Anlasstat beeinträchtigten Rechtsgüter ist ein valides Fundament unerlässlich und kann eine positive Prognoseentscheidung aufgrund der oben dargestellten Tatumstände nur nach einem längeren Wohlverhaltenszeitraum in Freiheit getroffen werden.
Es ist daher im Ergebnis zu prognostizieren, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet weiterhin eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit Österreichs darstellt.
3.2.4. Vor dem Hintergrund der Judikatur des EuGH (vgl. Urteil vom 06.07.2023, C-663/21) wäre in einem letzten Schritt eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, indem eine Abwägung zwischen der vom Fremden ausgehenden Gefahr gegen den Eingriff in jene Rechte, die ihm aufgrund seines Status aus der Statusrichtlinie zustehen, getroffen wird.
Da der Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten zuvor nicht innehatte und folglich keine damit einhergehenden Rechte verloren hat, ist im vorliegenden Fall – anders als im Aberkennungsverfahren, vgl. VwGH 25.07.2023, Ra 2021/20/0246 – eine zusätzliche Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht vorgesehen.
3.3. Zu Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides:
3.3.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 8 Abs. 1 AsylG ist gemäß Abs. 2 leg. cit. mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 AsylG oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 AsylG zu verbinden.
Gemäß Art. 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Die Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur EMRK betreffen die Abschaffung der Todesstrafe.
Unter „realer Gefahr“ ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen („a sufficiently real risk“) im Zielstaat zu verstehen (VwGH 19.02.2004, 99/20/0573; auch ErläutRV 952 BlgNR 22. GP zu § 8 AsylG 2005; siehe auch VwGH 21.05.2019, Ro 2019/19/0006 unter Verweis auf die stRsp des EGMR). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu fallen (vgl. VwGH 26.06.1997, 95/21/0294; 30.06.2011, 97/21/0560).
Liegt eine solche Gefahr vor und steht dem Fremden auch eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinn des § 11 AsylG nicht offen (§ 8 Abs. 3 AsylG), ist gemäß § 8 Abs. 1 AsylG dem Fremden grundsätzlich der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
3.3.2. Eine solche Gefahr kann sich auch aus in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründen ergeben. Nach § 6 Abs. 2 erster Satz AsylG kann nämlich, wenn ein Ausschlussgrund des § 6 Abs. 1 AsylG vorliegt, der Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ohne weitere Prüfung – also allein wegen des Bestehens des Ausschlussgrundes – abgewiesen werden. Gemäß § 6 Abs. 2 zweiter Satz AsylG gilt aber auch diesfalls § 8 AsylG, sodass bei der Beurteilung, ob eine Gefahr iSd § 8 Abs. 1 AsylG gegeben ist, auch jene – aufgrund des § 6 Abs. 2 AsylG bei der Abweisung des Begehrens auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten allenfalls ungeprüft gebliebenen – Gründe einzubeziehen sind, die der Fremde vorgebracht hat, um zu begründen, weshalb ihm seiner Ansicht nach (nicht nur der Status des subsidiär Schutzberechtigten, sondern sogar) der Status des Asylberechtigten zustehe (siehe auch das in § 50 Abs. 1 und Abs. 2 FPG statuierte Verbot der Abschiebung, das sowohl von § 3 Abs. 1 als auch von § 8 Abs. 1 AsylG erfasste Situationen betrifft).
3.3.3. Somit ist - unter Einbeziehung der vorgebrachten Asylantragsgründe - zu klären, ob im Falle der Rückführung des Fremden in seinen Herkunftsstaat Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde. Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger, noch zum Refoulementschutz nach der vorigen Rechtslage ergangenen, aber weiterhin gültigen Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer solchen Bedrohung glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende und durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (VwGH 23.02.1995, Zl. 95/18/0049; 05.04.1995, Zl. 95/18/0530; 04.04.1997, Zl. 95/18/1127; 26.06.1997, ZI. 95/18/1291; 02.08.2000, Zl. 98/21/0461). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214).
Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141). Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher nicht geeignet, die Feststellung nach dieser Gesetzesstelle zu tragen, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, die ihnen einen aktuellen Stellenwert geben (vgl. VwGH 14.10.1998, Zl. 98/01/0122; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).
Unter "realer Gefahr" ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen ("a sufficiently real risk") im Zielstaat zu verstehen (VwGH 19.02.2004, Zl. 99/20/0573; auch ErläutRV 952 BlgNR 22. GP zu § 8 AsylG 2005). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294; 25.01.2001, Zl. 2000/20/0438; 30.05.2001, Zl. 97/21/0560).
Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird – auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören –, der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen. Die Ansicht, eine Benachteiligung, die alle Bewohner des Staates in gleicher Weise zu erdulden hätten, könne nicht als Bedrohung im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 gewertet werden, trifft nicht zu (VwGH 25.11.1999, Zl. 99/20/0465; 08.06.2000, Zl. 99/20/0203; 17.09.2008, Zl. 2008/23/0588). Selbst wenn infolge von Bürgerkriegsverhältnissen letztlich offenbliebe, ob überhaupt noch eine Staatsgewalt bestünde, bliebe als Gegenstand der Entscheidung nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Frage, ob stichhaltige Gründe für eine Gefährdung des Fremden in diesem Sinne vorliegen (vgl. VwGH 08.06.2000, Zl. 99/20/0203).
Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (vgl. VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427; 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; siehe dazu vor allem auch EGMR 20.07.2010, N. gg. Schweden, Zl. 23505/09, Rz 52ff; 13.10.2011, Husseini gg. Schweden, Zl. 10611/09, Rz 81ff).
Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich, Zl. 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zl. 44599/98; vgl. auch VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443). Unter "außergewöhnlichen Umständen" können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm. § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443; 13.11.2001, Zl. 2000/01/0453; 09.07.2002, Zl. 2001/01/0164; 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung der Frage, ob die Abschiebung eines Fremden eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr ("real risk") – die bloße Möglichkeit genügt nicht – damit verbunden wären (VwGH 23.09.2004, Zl. 2001/21/0137).
3.3.4. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG nicht gegeben sind.
3.3.4.1. Wie sich aus der Beweiswürdigung ergibt, konnte der Beschwerdeführer die von ihm behaupteten asylrelevanten Antragsgründe aufgrund von Widersprüchlichkeiten und eines erheblich gesteigerten Vorbringens nicht glaubwürdig vorbringen, weshalb sich aus diesen Gründen keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK ableiten lässt.
Hinsichtlich der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zum alevitischen Glauben ist anzumerken, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte die Situation für Aleviten nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen alevitischen Glaubens in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Im Hinblick auf die Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur alevitischen Glaubensrichtung folgt aus den Länderberichten, dass eine Gruppenverfolgung von Aleviten in der Türkei aktuell nicht besteht. Dabei wird nicht verkannt, dass Aleviten in der Türkei generell Diskriminierungen und Benachteiligungen ausgesetzt sind. Diese erreichen jedoch im Allgemeinen nicht die Intensität von Verfolgungshandlungen. Es kann nicht erkannt werden, dass regelmäßig (Verfolgungsintensität erreichende) Maßnahmen zielgerichtet gegen die Angehörigen der alevitischen Glaubensrichtung gesetzt werden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an der Person des Beschwerdeführers haben sollten, wurden nicht glaubhaft vorgebracht. Darüber hinaus leben 20 bis 25 Millionen Aleviten, insbesondere auch die Eltern und ein Bruder des Beschwerdeführers (ebenfalls Aleviten) nach wie vor in der Heimatregion des Beschwerdeführers und ist nicht erkennbar, weshalb dem Beschwerdeführer auf Grund seines alevitischen Glaubens eine Rückkehr in seinem Herkunftsstaat unzumutbar sein soll, wohingegen seine Eltern nach wie vor dort ansässig sind. Soweit in den Länderberichten vereinzelte Übergriffe gegen Aleviten dargetan werden, erreichen diese nicht die für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten erforderliche maßgebliche Wahrscheinlichkeit, Opfer von Verfolgungshandlungen zu werden.
3.3.4.2. Auch hinsichtlich der kurdischen Abstammung des Beschwerdeführers ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte die Situation für Kurden – abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche aktuelle Anhängerschaft hinsichtlich des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden konnte – nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein auf Grund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Von den Länderberichten entnehmbaren Repressalien, wie den Massenentlassungen im öffentlichen Dienst oder dem Vorgehen gegen kritische Journalisten oder Anhänger der Gülen-Bewegung in der Türkei, ist der Beschwerdeführer darüber hinaus nicht betroffen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069). Wenn darauf hingewiesen wird, dass Kurden generell diskriminiert werden würden, ist festzuhalten, dass die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen wird (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069). Außerdem ist nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen [vgl. VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396 unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie)].
3.3.4.3. Eine Rückkehrgefährdung aufgrund der Sympathie des Beschwerdeführers für die politische Partei HDP ist ebenfalls nicht anzunehmen. Der Beschwerdeführer war weder Mitglied der HDP, noch wurde er für diese Partei in irgendeiner Weise tätig. Entsprechend der Länderberichte ist die HDP ungeachtet der Repressalien gegen ihre leitenden Repräsentanten, Parlamentarier und Kommunalpolitiker aktuell in der Türkei eine erlaubte politische Partei, die im türkischen Parlament und auch auf kommunaler Ebene vertreten ist. Die bloße Sympathie für die HDP oder das Wählen der HDP stellt demgemäß keine Straftat dar und ergibt sich aus den herangezogenen Quellen auch keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende individuelle Gefährdung oder drohende strafrechtliche Verfolgung alleine auf Grund des Wählens dieser Parteien. Die zitierten Quellen erwähnen weitgehend nur Festnahmen und Inhaftierungen von Parlamentsabgeordneten oder Lokalpolitikern und sind damit nicht geeignet, eine gegenwärtige individuelle und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende Verfolgung einfacher Sympathisanten der HDP in der Türkei darzutun.
3.3.4.4. Dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden.
Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
Die Türkei befindet sich unbestritten unter der Kontrolle der türkischen Sicherheitskräfte und ist nur eine geringe laufende, vom Islamischen Staat oder der PKK ausgehende Anschlagskriminalität zu verzeichnen. Die von der PKK ausgehende Anschlagskriminalität ist zudem vorrangig gegen türkische Sicherheitskräfte gerichtet. Im Hinblick auf den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder in diesen verwickelt ist, noch einer seither besonders gefährdeten Bevölkerungs- oder Berufsgruppe oder der Gülen-Bewegung angehört.
Zum anderen hat weder der Beschwerdeführer selbst ein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, noch kann aus den Feststellungen zur Lage in der Türkei abgeleitet werden, dass der Beschwerdeführer alleine schon aufgrund seiner bloßen Präsenz in seiner Heimatprovinz mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch Anschlagskriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wäre.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), hat doch der Beschwerdeführer selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihm im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und er in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre. Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen arbeitsfähigen Mann, bei welchem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Der Beschwerdeführer verfügt darüber hinaus über eine langjährige Schulbildung und hat Berufserfahrung als Schweißer und Automechaniker. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat grundsätzlich in der Lage sein wird, ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Ferner kann das Bundesverwaltungsgericht in Anbetracht des Aufenthaltes von Familienmitgliedern in der Türkei (Eltern und ein Bruder) nicht erkennen, weshalb gerade der Beschwerdeführer dort keine Existenzgrundlage vorfinden sollte. Aktuell wird der Beschwerdeführer unter anderem von seinem Bruder in Österreich finanziell unterstützt und ist nicht erkennbar, weshalb diese Unterstützung nicht auch weiterhin vom Ausland aus erbracht werden kann. Es kann auch angenommen werden, dass die Familie in der Türkei – zumindest in der Anfangszeit – den Beschwerdeführer finanziell oder durch die Zurverfügungstellung von Wohnraum unterstützten kann. Der Beschwerdeführer erklärte vor dem BFA zwar noch, dass seine Eltern vom Erdbeben betroffen gewesen seien und in einem Zelt leben würden, hat dies in der mündlichen Verhandlung jedoch nicht bestätigt und erklärt, dass seine Eltern mit seinem jüngsten Bruder in der Ortschaft XXXX leben würden. Darüber hinaus stehen dem Beschwerdeführer die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit (u. a. Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter) offen, da er über die türkische Staatsbürgerschaft verfügt. Entsprechend der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 3294 bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden etwa in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen, wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen, gewährt.
Das im Februar 2023 stattgefundene Erdbeben und die dabei entstandenen Schäden an Wohngebäuden und der Infrastruktur in der Heimatregion des Beschwerdeführers stehen einer Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei nicht entgegen. Es wurde vom Beschwerdeführer nicht konkret vorgebracht, dass es für ihn allein aus diesem Grund ausgeschlossen wäre, sich im Herkunftsstaat eine neue Existenzgrundlage zu schaffen und stünde es ihm auch offen, seinen Wohnsitz in einen anderen Landesteil der Türkei, etwa nach Istanbul, zu verlegen. Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen jungen Mann, welcher mobil und arbeitsfähig ist. Weder aus dem Vorbringen noch aus den sonstigen Ermittlungen ergeben sich irgendwelche Hinweise, dass er sich beispielsweise in Ankara, Istanbul oder Gaziantep nicht dauerhaft niederlassen könnte.
Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor.
Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (VwGH 22.4.2020, Ra 2020/18/0098, mwN).
Ein solches, konkretes Vorbringen wurde vom Beschwerdeführer nicht erstattet.
3.3.5. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 und verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
3.4. Zu den Spruchpunkten III. bis V. des angefochtenen Bescheides:
3.4.1. Gesetzliche Grundlagen:
Gemäß § 10 AsylG 2005 wird Folgendes normiert:
"§ 10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,
der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,
der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie in den Fällen der Z 1 bis 5 kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegt.
(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des § 58 Abs. 9 Z 1 bis 3 vorliegt."
Der mit "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" betitelte § 57 AsylG 2005 lautet wie folgt:
"§ 57. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:
wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht, zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Abs. 1 Z 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Abs. 3 und § 73 AVG gehemmt.
(3) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 2 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.
(4) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 3 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können."
Der mit "Schutz des Privat- und Familienlebens" betitelte § 9 BFA-VG lautet wie folgt:
"§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,4. der Grad der Integration,5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt. "
Gemäß § 58 AsylG wird wie folgt normiert:
"§ 58. (1) Das Bundesamt hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn
der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,
der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt,
einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird oder
ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt.
(2) Das Bundesamt hat einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG rechtskräftig auf Dauer für unzulässig erklärt wurde. § 73 AVG gilt.
(3) Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
(4) Das Bundesamt hat den von Amts wegen erteilten Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 oder 57 auszufolgen, wenn der Spruchpunkt (Abs. 3) im verfahrensabschließenden Bescheid in Rechtskraft erwachsen ist. Abs. 11 gilt.
(5) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 sowie auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 sind persönlich beim Bundesamt zu stellen. Soweit der Antragsteller nicht selbst handlungsfähig ist, hat den Antrag sein gesetzlicher Vertreter einzubringen.
(6) Im Antrag ist der angestrebte Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 bis 57 genau zu bezeichnen. Ergibt sich auf Grund des Antrages oder im Ermittlungsverfahren, dass der Drittstaatsangehörige für seinen beabsichtigten Aufenthaltszweck einen anderen Aufenthaltstitel benötigt, so ist er über diesen Umstand zu belehren; § 13 Abs. 3 AVG gilt.
(7) Wird einem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 stattgegeben, so ist dem Fremden der Aufenthaltstitel auszufolgen. Abs. 11 gilt.
(8) Wird ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 zurück- oder abgewiesen, so hat das Bundesamt darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
(9) Ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel nach diesem Hauptstück ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn der Drittstaatsangehörige
sich in einem Verfahren nach dem NAG befindet,
bereits über ein Aufenthaltsrecht nach diesem Bundesgesetz oder dem NAG verfügt oder
gemäß § 95 FPG über einen Lichtbildausweis für Träger von Privilegien und Immunitäten verfügt oder gemäß § 24 FPG zur Ausübung einer bloß vorübergehenden Erwerbstätigkeit berechtigt ist
soweit dieses Bundesgesetz nicht anderes bestimmt. Dies gilt auch im Falle des gleichzeitigen Stellens mehrerer Anträge.
(10) Anträge gemäß § 55 sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn gegen den Antragsteller eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig erlassen wurde und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG ein geänderter Sachverhalt, der eine ergänzende oder neue Abwägung gemäß Art. 8 EMRK erforderlich macht, nicht hervorgeht. Anträge gemäß §§ 56 und 57, die einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag (Folgeantrag) oder einer rechtskräftigen Entscheidung nachfolgen, sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn aus dem begründeten Antragsvorbringen ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.
(11) Kommt der Drittstaatsangehörige seiner allgemeinen Mitwirkungspflicht im erforderlichen Ausmaß, insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung und Überprüfung erkennungsdienstlicher Daten, nicht nach, ist
das Verfahren zur Ausfolgung des von Amts wegen zu erteilenden Aufenthaltstitels (Abs. 4) ohne weiteres einzustellen oder
der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückzuweisen.
Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren.
(12) Aufenthaltstitel dürfen Drittstaatsangehörigen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, nur persönlich ausgefolgt werden. Aufenthaltstitel für unmündige Minderjährige dürfen nur an deren gesetzlichen Vertreter ausgefolgt werden. Anlässlich der Ausfolgung ist der Drittstaatsangehörige nachweislich über die befristete Gültigkeitsdauer, die Unzulässigkeit eines Zweckwechsels, die Nichtverlängerbarkeit der Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 und 56 und die anschließende Möglichkeit einen Aufenthaltstitel nach dem NAG zu erlangen, zu belehren.
(13) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 begründen kein Aufenthalts- oder Bleiberecht. Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 stehen der Erlassung und Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht entgegen. Sie können daher in Verfahren nach dem 7. und 8. Hauptstück des FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten. Bei Anträgen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 hat das Bundesamt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über diesen Antrag jedoch mit der Durchführung der einer Rückkehrentscheidung umsetzenden Abschiebung zuzuwarten, wenn
ein Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung erst nach einer Antragstellung gemäß § 56 eingeleitet wurde und
die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 wahrscheinlich ist, wofür die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Z 1, 2 und 3 jedenfalls vorzuliegen haben."
Der mit "Rückkehrentscheidung" betitelte § 52 FPG lautet wie folgt:
"§ 52. (1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich
nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder
nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,
dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegt und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
(3) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs. 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels, Einreisetitels oder der erlaubten visumfreien Einreise entgegengestanden wäre,
ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG erteilt wurde, er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre im Bundesgebiet niedergelassen ist und während der Dauer eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 und 2 NAG) entgegensteht oder
das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde.
Werden der Behörde nach dem NAG Tatsachen bekannt, die eine Rückkehrentscheidung rechtfertigen, so ist diese verpflichtet dem Bundesamt diese unter Anschluss der relevanten Unterlagen mitzuteilen. Im Fall des Verlängerungsverfahrens gemäß § 24 NAG hat das Bundesamt nur all jene Umstände zu würdigen, die der Drittstaatsangehörige im Rahmen eines solchen Verfahrens bei der Behörde nach dem NAG bereits hätte nachweisen können und müssen.
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt – EU" verfügt, hat das Bundesamt eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.
(6) Ist ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates, hat er sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Dies hat der Drittstaatsangehörige nachzuweisen. Kommt er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 zu erlassen.
(7) Von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 ist abzusehen, wenn ein Fall des § 45 Abs. 1 vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll.
(8) Die Rückkehrentscheidung wird im Fall des § 16 Abs. 4 BFA-VG oder mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland gemäß unionsrechtlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 28 Abs. 2 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.
(9) Das Bundesamt hat mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
(10) Die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 kann auch über andere als in Abs. 9 festgestellte Staaten erfolgen.
(11) Der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung deren Unzulässigkeit gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festgestellt wurde, hindert nicht daran, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten gesetzt hat, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde."
3.4.2. Es liegen keine Umstände vor, dass dem Beschwerdeführer allenfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG zu erteilen gewesen wäre, und wurde diesbezüglich in der Beschwerde auch nichts vorgebracht.
3.4.3. Das BFA stützte die gegen den Beschwerdeführer erlassene Rückkehrentscheidung auf § 52 Abs. 2 Z 2 FPG.
Es übersieht dabei jedoch, dass dem Beschwerdeführer der Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot Karte plus“ mit Gültigkeit bis zum 26.09.2021 erteilt wurde und derzeit ein Verlängerungsverfahren vor der zuständigen Niederlassungsbehörde anhängig ist.
Gemäß § 24 Abs. 1 NAG sind Verlängerungsanträge vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels einzubringen; dies mit der Wirkung, dass sich der Antragsteller nach Stellung eines Verlängerungsantrages – unbeschadet der Bestimmungen nach dem FPG – bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag weiterhin rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Hingegen gelten nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels eingebrachte Anträge als Erstanträge. Der vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot-Karte-plus“ gestellte Antrag auf Verlängerung gilt demnach als "Verlängerungsantrag" im Sinne des § 24 Abs. 1 NAG und hat zur Folge, dass der Beschwerdeführer bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag ein Aufenthaltsrecht zukommt.
Die Anwendung des § 52 Abs. 2 Z 2 FPG würde allerdings voraussetzen, dass dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt.
Gegenständlich kommt daher eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 Z 4 FPG in Betracht, zumal die Gültigkeit des erteilten Aufenthaltstitels abgelaufen und ein Verlängerungsverfahren anhängig ist (VwGH 05.04.2022, Ra 2021/21/0316 mwN).
Gemäß § 52 Abs. 4 Z 4 FPG ist gegen einen rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels nachträglich ein Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 und 2 NAG) entgegensteht.
Ein Versagungsgrund iSd § 52 Abs. 4 Z 4 FPG liegt insbesondere dann vor, wenn der (weitere) Aufenthalt des Fremden gemäß § 11 Abs. 1 und 2 iVm Abs. 4 Z 4 NAG die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde (vgl. VwGH 05.04.2022, Ra 2021/21/0316).
Dementsprechend ist vor allem in Hinblick auf die hier relevante Bestimmung des § 11 Abs. 2 Z 1 NAG, wonach Aufenthaltstitel einem Fremden nur erteilt werden dürfen, wenn dessen Aufenthalt öffentlichen Interessen nicht widerstreitet, eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung zu erstellen.
Dabei ist in Hinblick auf die strafgerichtlichen Verurteilungen eine auf das diesen zu Grunde liegende Fehlverhalten gestützte Gefährdungsprognose zu treffen. Die damit erforderliche, auf den konkreten Fall abstellende individuelle Prognosebeurteilung ist jeweils anhand der Umstände des Einzelfalles vorzunehmen (vgl. VwGH 25.02.2020, Zl. 2007/21/0153).
Zum strafbaren Fehlverhalten des Beschwerdeführers und der sich daraus ergebenden Gefährdungsprognose ist – um Wiederholungen zu vermeiden – auf die Ausführungen oben unter 3.2.3. zu verweisen.
Der zu erfüllende Gefährdungsmaßstab ist aufgrund der schweren Straffälligkeit und dem Verhalten der Beschwerdeführer jedenfalls erfüllt und ist davon auszugehen, dass ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet den öffentlichen Interessen widerstreitet, somit ein Versagungsgrund für die Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels eingetreten ist, welcher zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung berechtigt.
3.4.4. Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.
Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer "Familie" voraussetzt. Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern bzw. von verheirateten Ehegatten, sondern auch andere nahe verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine hinreichende Intensität für die Annahme einer familiären Beziehung iSd. Art. 8 EMRK erreichen. Der EGMR unterscheidet in seiner Rechtsprechung nicht zwischen einer ehelichen Familie (sog. "legitimate family" bzw. "famille légitime") oder einer unehelichen Familie ("illegitimate family" bzw. "famille naturelle"), sondern stellt auf das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens ab (siehe EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 454; 18.12.1986, Johnston u.a., EuGRZ 1987, 313; 26.05.1994, Keegan, EuGRZ 1995, 113; 12.07.2001 [GK], K. u. T., Zl. 25702/94; 20.01.2009, Serife Yigit, Zl. 03976/05). Als Kriterien für die Beurteilung, ob eine Beziehung im Einzelfall einem Familienleben iSd. Art. 8 EMRK entspricht, kommen tatsächliche Anhaltspunkte in Frage, wie etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes, die Art und die Dauer der Beziehung sowie das Interesse und die Bindung der Partner aneinander, etwa durch gemeinsame Kinder, oder andere Umstände, wie etwa die Gewährung von Unterhaltsleistungen (EGMR 22.04.1997, X., Y. und Z., Zl. 21830/93; 22.12.2004, Merger u. Cros, Zl. 68864/01). So verlangt der EGMR auch das Vorliegen besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgeht (siehe Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 [2008] 197 ff.). In der bisherigen Spruchpraxis des EGMR wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Europäischen Kommission für Menschenrechte auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in zwei Erkenntnissen vom 29.09.2007, Zl. B 328/07 und Zl. B 1150/07, dargelegt hat, sind die Behörden stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art. 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In den zitierten Entscheidungen wurden vom VfGH auch unterschiedliche – in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) fallbezogen entwickelte – Kriterien aufgezeigt, die in jedem Einzelfall bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht:
die Aufenthaltsdauer, die vom EGMR an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft wird (EGMR 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 16.09.2004, Ghiban, Zl. 11103/03, NVwZ 2005, 1046), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80, 9473/81, 9474/81, EuGRZ 1985, 567; 20.06.2002, Al-Nashif, Zl. 50963/99, ÖJZ 2003, 344; 22.04.1997, X, Y und Z, Zl. 21830/93, ÖJZ 1998, 271) und dessen Intensität (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR 04.10.2001, Adam, Zl. 43359/98, EuGRZ 2002, 582; 09.10.2003, Slivenko, Zl. 48321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.06.2005, Sisojeva, Zl. 60654/00, EuGRZ 2006, 554; vgl. auch VwGH 05.07.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (vgl. zB EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 11.04.2006, Useinov, Zl. 61292/00), sowie auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 05.09.2000, Solomon, Zl. 44328/98; 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07).
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind die Staaten im Hinblick auf das internationale Recht und ihre vertraglichen Verpflichtungen befugt, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu überwachen (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80 ua, EuGRZ 1985, 567; 21.10.1997, Boujlifa, Zl. 25404/94; 18.10.2006, Üner, Zl. 46410/99; 23.06.2008 [GK], Maslov, 1638/03; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07). Die EMRK garantiert Ausländern kein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Einbürgerung in einem bestimmten Staat (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00).
In Ergänzung dazu verleiht weder die EMRK noch ihre Protokolle das Recht auf politisches Asyl (EGMR 30.10.1991, Vilvarajah ua., Zl. 13163/87 ua.; 17.12.1996, Ahmed, Zl. 25964/94; 28.02.2008 [GK] Saadi, Zl. 37201/06).
Hinsichtlich der Rechtfertigung eines Eingriffs in die nach Art. 8 EMRK garantierten Rechte muss der Staat ein Gleichgewicht zwischen den Interessen des Einzelnen und jenen der Gesellschaft schaffen, wobei er in beiden Fällen einen gewissen Ermessensspielraum hat. Art. 8 EMRK begründet keine generelle Verpflichtung für den Staat, Einwanderer in seinem Territorium zu akzeptieren und Familienzusammenführungen zuzulassen. Jedoch hängt in Fällen, die sowohl Familienleben als auch Einwanderung betreffen, die staatliche Verpflichtung, Familienangehörigen von ihm Staat Ansässigen Aufenthalt zu gewähren, von der jeweiligen Situation der Betroffenen und dem Allgemeininteresse ab. Von Bedeutung sind dabei das Ausmaß des Eingriffs in das Familienleben, der Umfang der Beziehungen zum Konventionsstaat, weiters ob im Ursprungsstaat unüberwindbare Hindernisse für das Familienleben bestehen, sowie ob Gründe der Einwanderungskontrolle oder Erwägungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung für eine Ausweisung sprechen. War ein Fortbestehen des Familienlebens im Gastland bereits bei dessen Begründung wegen des fremdenrechtlichen Status einer der betroffenen Personen ungewiss und dies den Familienmitgliedern bewusst, kann eine Ausweisung nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten (EGMR 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07, mwN; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09; 03.11.2011, Arvelo Aponte, Zl. 28770/05; 14.02.2012, Antwi u. a., Zl. 26940/10).
Die Ausweisung eines Fremden, dessen Aufenthalt lediglich auf Grund der Stellung von einem oder mehreren Asylanträgen oder Anträgen aus humanitären Gründen besteht, und der weder ein niedergelassener Migrant noch sonst zum Aufenthalt im Aufenthaltsstaat berechtigt ist, stellt in Abwägung zum berechtigten öffentlichen Interesse einer wirksamen Einwanderungskontrolle keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Privatleben dieses Fremden dar, wenn dessen diesbezüglichen Anträge abgelehnt werden, zumal der Aufenthaltsstatus eines solchen Fremden während der ganzen Zeit des Verfahrens als unsicher gilt (EGMR 08.04.2008, Nnyanzi, Zl. 21878/06).
Aufenthaltsbeendende Maßnahmen beeinträchtigt das Recht auf Privatsphäre eines Asylantragstellers dann in einem Maße, der sie als Eingriff erscheinen lässt, wenn über jemanden eine Ausweisung verhängt werden soll, der lange in einem Land lebt, eine Berufsausbildung absolviert, arbeitet und soziale Bindungen eingeht, ein Privatleben begründet, welches das Recht umfasst, Beziehungen zu anderen Menschen einschließlich solcher beruflicher und geschäftlicher Art zu begründen (Wiederin in Korinek/Holoubek, Bundesverfassungsrecht, 5. Lfg., 2002, Rz 52 zu Art 8 EMRK).
Nach der Rechtsprechung des EGMR (EGMR 08.04.2008, Nnyanzi v. the United Kingdom, 21878/06 bzgl. einer ugandischen Staatsangehörigen die 1998 einen Asylantrag im Vereinigten Königreich stellte) ist im Hinblick auf die Frage eines Eingriffes in das Privatleben maßgeblich zwischen niedergelassenen Zuwanderern, denen zumindest einmal ein Aufenthaltstitel erteilt wurde und Personen, die lediglich einen Asylantrag gestellt haben und deren Aufenthalt somit bis zur Entscheidung im Asylverfahren unsicher ist, zu unterscheiden (im Falle der Beschwerdeführerin Nnyanzi wurde die Abschiebung nicht als ein unverhältnismäßiger Eingriff in ihr Privatleben angesehen, da von einem grundsätzlichen Überwiegen des öffentlichen Interesses an einer effektiven Zuwanderungskontrolle ausgegangen wurde).
Nach der Rechtsprechung des EGMR (vgl. aktuell SISOJEVA u.a. gg. Lettland, 16.06.2005, Bsw. Nr. 60.654/00) garantiert die Konvention Ausländern kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat, unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (zB. eine Ausweisungsentscheidung) auch in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in einem Gastland zugebracht (wie im Fall SISOJEVA u.a. gg. Lettland) oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. dazu BAGHLI gg. Frankreich, 30.11.1999, Bsw. Nr. 34374/97; ebenso die Rsp. des Verfassungsgerichtshofes; vgl. dazu VfSlg 10.737/1985; VfSlg 13.660/1993).
Bei der vorzunehmenden Interessensabwägung ist zwar nicht ausschlaggebend, ob der Aufenthalt des Fremden zumindest vorübergehend rechtmäßig war (EGMR 16.09.2004, Ghiban / BRD; 07.10.2004, Dragan / BRD; 16.06.2005, Sisojeva u.a. / LV), bei der Abwägung jedoch in Betracht zu ziehen (vgl. VfGH 17.03.2005, G 78/04; EGMR 08.04.2008, Nnyazi / GB). Eine langjährige Integration ist zu relativieren, wenn der Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten, insbesondere etwa die Vortäuschung eines Asylgrundes (vgl VwGH 2.10.1996, 95/21/0169), zurückzuführen ist (VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168). Darüber hinaus sind auch noch Faktoren wie etwa Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, sowie der Grad der Integration welcher sich durch Intensität der Bindungen zu Verwandten und Freunden, Selbsterhaltungsfähigkeit, Schulausbildung bzw. Berufsausbildung, Teilnahme am sozialen Leben, Beschäftigung manifestiert, aber auch die Bindungen zum Herkunftsstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (VfGH 29.09.2007, B1150/07 unter Hinweis und Zitierung der EGMR-Judikatur).
Gemäß der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 07.10.2010, B 950/10 sind betreffend der Frage der Integration einer Familie in Österreich insbesondere die Aufenthaltsdauer der Familie in Österreich, ein mehrjährigen Schulbesuch von minderjährigen Kindern, gute Deutschkenntnisse und eine sehr gute gesellschaftliche Integration der gesamten Familie zu berücksichtigen.
Es ist weiters als wesentliches Merkmal zu berücksichtigen, wenn – anders als in Fällen, in denen die Integration auf einem nur durch Folgeanträge begründeten unsicheren Aufenthaltsstatus basierte (vgl. zB VfGH 12.6.2010, U614/10) – die Integration der Beschwerdeführer während eines einzigen Asylverfahrens (dessen Dauer im durch den Verfassungsgerichtshof entschiedenen Fall sieben Jahre betrug), welches nicht durch eine schuldhafte Verzögerung durch den Beschwerdeführer und seine Familie geprägt war, erfolgte.
Bei der Abwägung der betroffenen Rechtsgüter zur Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes ist immer auf die besonderen Umstände des Einzelfalls im Detail abzustellen. Eine Ausweisung hat daher immer dann zu unterbleiben, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
3.4.5. Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über Familienmitglieder in Form seiner hier befristet zum Aufenthalt berechtigten Ehefrau und den zwei gemeinsamen minderjährigen Töchtern. Zudem leben ein Bruder sowie mehrerer Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen im Bundesgebiet. Mit keinem dieser Verwandten besteht ein gemeinsamer Wohnsitz.
Der Beschwerdeführer ist mit seiner Ehegattin seit 2012 nach moslemischem Ritus verheiratet und kamen 2013 und 2015 die gemeinsamen Töchter in der Türkei zur Welt. Der Beschwerdeführer hat bereits im Oktober 2016 die Türkei alleine verlassen und sind die Ehegattin und die Kinder erst im September 2019 im Rahmen einer Familienzusammenführung nach Österreich gekommen. In der Zeit von Oktober 2016 bis September 2019 hat der Beschwerdeführer seine Ehegattin und die Töchter lediglich einmal im Jahr 2018 in der Türkei besucht, um alles für die Familienzusammenführung vorzubereiten, ansonsten bestand kein persönlicher Kontakt. Die Töchter des Beschwerdeführers waren bei seiner Ausreise nach Österreich ca. ein bzw. drei Jahre alt und haben sie ihren Vater in der Folge erst wieder ab September 2019 im Alter von ca. sechs bzw. vier Jahren wiedergesehen und an einem gemeinsamen Wohnsitz in Österreich gewohnt.
Als die Ehegattin und die Töchter nach Österreich kamen, hat der Beschwerdeführer bereits seit ca. Mai 2018 eine außereheliche Beziehung geführt, im Rahmen der es zu verschiedenen strafbaren Handlungen gekommen ist und welche erst im Jänner 2021 durch dessen Inhaftierung beendet wurden. Das heißt aber auch, dass seitens des Beschwerdeführers mit seiner Ehegattin und seinen Töchtern in Österreich lediglich ein gemeinsamer Wohnsitz von September 2019 bis Jänner 2021 (ca. vier Monate) bestanden hat, ehe er in Haft kam.
Während seines Haftaufenthaltes wurde der Beschwerdeführer zunächst noch ca. zweimal im Monat von seiner Ehegattin, nicht aber von seinen Töchtern besucht. Die Ehegattin war am 29.08.2022 jedoch letztmals im Gefängnis beim Beschwerdeführer zu Besuch und übersiedelte mit den Töchtern am 01.04.2023 in eine eigene Wohnung. Auch nach der Haftentlassung des Beschwerdeführers im September 2023 wurde – wie in der Beweiswürdigung näher ausgeführt – kein gemeinsamer Wohnsitz mehr aufgenommen bzw. kein gemeinsamer Haushalt mehr geführt. Der Kontakt zwischen dem Beschwerdeführer, seiner Ehegattin und den Kindern ist jedoch nicht abgebrochen, sondern finden aktuell regelmäßige Besuche und gemeinsame Unternehmungen statt.
Aktuell stellen die Ehegattin und Töchter durchaus relevante Bezugspersonen des Beschwerdeführers dar. Hierbei darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass der Beschwerdeführer fast drei Jahre lang eine außereheliche Beziehung führte. Von einem stabilen von Wertschätzung geprägtem Familienleben kann daher nicht ausgegangen werden, auch wenn die Ehegattin und ältere Tochter in der mündlichen Beschwerdeverhandlung bemüht waren, ein solches darzustellen. Das Beenden der Besuche im Gefängnis und der getrennte Wohnsitz sprechen jedenfalls eindeutig dagegen. Der Beschwerdeführer lebt zwar nicht bei seiner Ehegattin und den Töchtern, weil er einen eigenen Wohnsitz hat, kümmert sich aber um seine Kinder und unterstützt seine berufstätige Ehegattin bei der Kinderversorgung (zB in die Schule bringen und abholen). Seine Ehegattin hat aber schon während der Haft des Beschwerdeführers gezeigt, dass sie auch alleine dazu im Stande ist, die Kinder gut zu versorgen. Während der Haftzeit hat ausschließlich die Ehegattin des Beschwerdeführers die Versorgung, Pflege und Erziehung der Kinder wahrgenommen.
Dennoch liegt wohl ein im Sinne des Art. 8 EMRK grundsätzlich schützenswertes Familienleben vor.
Wenn man nun – in Anbetracht der aufrechten Ehe sowie des aktuell regelmäßigen Kontaktes des Beschwerdeführers zu seinen Töchtern und seiner Ehegattin – vom Bestehen eines Familienlebens des Beschwerdeführers iSd Art 8 EMRK ausgeht, so ist der diesbezügliche Eingriff durch die Ausweisung des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund der Gesetzeslage und insbesondere der Judikatur des EGMR zulässig:
An dieser Stelle ist zu betonen, dass der Beschwerdeführer durch sein schweres strafrechtswidriges Fehlverhalten eine Trennung von seiner in Österreich lebenden Ehegattin und seinen Töchtern sowie etwaigen weiteren privaten Anknüpfungspunkten bereits angesichts der damit verbundenen mehrjährigen Strafdrohungen bewusst in Kauf genommen hat. Insofern konnten ihn seine Ehegattin und Töchter nicht davon abhalten in Österreich strafbare Handlungen zu begehen. Die Eltern-Kind-Beziehung wurde auch durch seine strafgerichtliche Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe maßgeblich beeinträchtigt, sodass eine Beschränkung der Beziehung zu seinen Kindern nicht erst durch die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers erfolgen wird. Seinen Unterhaltsverpflichtungen kann er zudem durch Überweisungen aus dem Ausland nachkommen.
Vor diesem Hintergrund erweist sich die Schutzwürdigkeit seiner betreffenden Bindungen maßgeblich gemindert und hat der Verwaltungsgerichtshof klargestellt, dass schwerwiegende kriminelle Handlungen eine Aufenthaltsbeendigung selbst dann rechtfertigen können, wenn diese im Ergebnis zu einer Trennung von Familienangehörigen führt (vgl. VwGH vom 05.03.2021, Ra 2020/21/0465; 11.01.2021, Ra 2020/01/0295; 18.11.2020, Ra 2020/14/0113; 30.04.2020, Ra 2019/21/0134; 08.04.2020, Ra 2020/14/0108; 19.12.2019, Ra 2019/21/0282; 28.11.2019, Ra 2019/19/0359 und 0360; 24.09.2019, Ra 2019/20/0274)
Die Trennung von Familienangehörigen ist im gegenständlichen Fall aufgrund der schwerwiegenden Straffälligkeit und dem dadurch überwiegenden öffentlichen Interesse an einer Rückkehrentscheidung gerechtfertigt. Insbesondere schwerwiegende kriminelle Handlungen, aus denen sich eine vom Fremden ausgehende Gefährdung ergibt, können die Erlassung einer Rückkehrentscheidung daher auch dann tragen, wenn diese zu einer Trennung von Familienangehörigen führt (vgl VwGH 18.11.2020, Ra 2020/14/0113); VwGH 08.04.2020, Ra 2020/14/0108, sowie VwGH 28.11.2019, Ra 2019/19/0359 und 0360, jeweils betreffend die Trennung von Kindern).
Im Fall des Beschwerdeführers wurde sein Antrag auf internationalen Schutz abgewiesen, weil er einen Asylausschlussgrund setzte, indem er wegen besonders schwerwiegender Verbrechen (u a. Vergewaltigung) verurteilt wurde. Der Beschwerdeführer stellt daher aufgrund seiner schweren kriminellen Handlungen, der fehlenden Schuldeinsicht sowie des erst relativ kurzen Wohlverhaltens nach der Haftentlassung eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar und besteht demnach ein entsprechend hohes öffentliches Interesse an einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den Beschwerdeführer.
Sind auch Kinder von einer Ausweisung (des Vaters) betroffen, so haben die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (VwGH 07.03.2019, Ra 2018/21/0141 mwN). Im gegebenen Zusammenhang ist wesentlich, dass den Kindern des Beschwerdeführers die Mutter als wesentliche Bezugsperson verbleibt. Ihr Auskommen ist durch das Erwerbseinkommen der Mutter gesichert und eine materielle Unterstützung durch den Beschwerdeführer auch von der Türkei aus möglich. Die Kinder sind außerdem als rechtmäßig niedergelassene Drittstaatsangehörige im Wege des Sozialsystems jedenfalls in ihren Grundbedürfnissen abgesichert. Sie werden weiterhin die Schule besuchen und eine adäquate Beaufsichtigung und Betreuung durch die Kindesmutter erfahren. Der Ehegattin des Beschwerdeführers gelang es auch während der haftbedingten Abwesenheit des Beschwerdeführers und der derzeitigen Arbeitslosigkeit des Beschwerdeführers, die für die Lebenserhaltung erforderlichen Kosten aufzubringen und wurden im gegenständlichen Verfahren keine dahingehenden Schwierigkeiten bzw. zukunftsbezogenen Befürchtungen vorgebracht. Das Kindeswohl steht somit einer Rückkehrentscheidung unter dem Gesichtspunkt der Absicherung der Grundbedürfnisse der Kinder nicht entgegen. Die Ehegattin und die Kinder des Beschwerdeführers wären in Anbetracht der Sachlage und der daraus abzuleitenden gesicherten Existenzgrundlage in Österreich auch ohne Anwesenheit des Beschwerdeführers nicht dazu gezwungen, das Bundesgebiet bzw. das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen (siehe dazu etwa VwGH 17.04.2013, Zl. 2013/22/0062). Einer finanziellen Unterstützung der Familie durch den Beschwerdeführer von der Türkei aus steht darüber hinaus nichts entgegen.
Dem gegenüber hat ein Kind grundsätzlich Anspruch auf „verlässliche Kontakte“ zu beiden Elternteilen (vgl. VwGH 05.03.2021, Ra 2020/21/0465; 06.10.2020, Ra 2019/19/0332; 30.04.2020, Ra 2019/21/0134). Die Aufrechterhaltung des Kontaktes mittels moderner Kommunikationsmittel mit einem Kleinkind ist zwar nicht vertretbar (vgl. VwGH 06.10.2020, Ra 2019/19/0332; 30.04.2020, Ra 2019/21/0134; 22.08.2019, Ra 2019/21/0128), dem Beschwerdeführer ist es jedoch möglich und zumutbar den Kontakt zu den Töchtern, die bereits im Volksschulalter sind, durch Kommunikationsmittel aufrecht zu erhalten. Ihre wichtigste Bezugsperson – ihre Mutter – befindet sich im Bundesgebiet und würde demnach die Rückkehrentscheidung des Beschwerdeführers nicht unverhältnismäßig in ihr Kindeswohl oder in das Familienleben eingreifen. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass der Kontakt und die Beziehung zu seinen Töchtern durch regelmäßige Besuche in der Türkei aufrecht gehalten werden, indem die beiden Töchter mit ihrer Mutter, einer türkischen Staatsangehörigen, gemeinsam in die Türkei reisen.
Auch der EGMR verneinte zuletzt in dem Urteil (Loukili gegen die Niederlande, Nr. 57766/19) eine Verletzung von Art 8 EMRK. Darin prüfte der EGMR das Bestehen eines Familienlebens zu zwei minderjährigen Kindern des Beschwerdeführers und verwies auf die EGMR-Rechtsprechung zu langjährig aufhältigen, straffällig gewordenen Migranten sowie auf eine hier sorgfältige Prüfung der nationalen Behörden bzw. Gerichte sowie eine angemessene Interessenabwägung, wobei unter anderem auf die Einbeziehung der gesamten kriminellen Vergangenheit angesichts der zuletzt (milden) Freiheitsstrafe von fünf Monaten und die Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung des Kontaktes zu den minderjährigen Kindern hingewiesen wurde und als ausreichend erachtet wurde.
Bei der Abwägung der Interessen ist schließlich auch zu berücksichtigen, dass es dem Beschwerdeführer (nach dem Ablauf des Einreiseverbotes) nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren und einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet bei seiner Familie im Wege einer rechtmäßigen Einreise herbeizuführen. Es wird dadurch nur jener Zustand hergestellt, der bestünde, wenn er sich rechtmäßig hinsichtlich der Zuwanderung verhalten hätte und wird dadurch lediglich anderen Fremden gleichgestellt, welche ebenfalls gemäß dem Grundsatz der Auslandsantragsstellung ihren Antrag nach den fremdenpolizeilichen bzw. niederlassungsrechtlichen Bestimmungen vom Ausland aus stellen müssen und die Entscheidung der zuständigen österreichischen Behörde dort abzuwarten haben.
Ausgehend von den obigen Ausführungen erfährt das Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet im Sinn der zitierten Rechtsprechung eine wesentliche, die Interessenabwägung nachteilig beeinflussende Minderung und vermag bei einer Gesamtwürdigung das öffentliche Interesse an einer Außerlandesbringung nach Abschluss des asylrechtlichen Verfahrens und der Einhaltung der aufenthalts- und fremdenrechtlichen Bestimmungen nicht aufzuwiegen.
Außerdem ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach bei der Beurteilung, ob ein Eingriff nach Art. 8 EMRK zulässig ist, stets auch beachtet werden muss, ob eine Fortsetzung des gemeinsamen Familienlebens außerhalb des Bundesgebietes möglich ist (VwGH 11.06.2014, Zl. 2013/22/0166; 21.10.2010, Zl. 2008/01/0245; 21.01.2010, Zl. 2007/01/0703).
Im Verfahren ist nicht hervorgekommen, dass der Beschwerdeführer mit seiner Ehegattin und seinen Töchtern ein Familienleben nicht auch außerhalb Österreichs, beispielsweise in der Türkei, führen könnte. Die Ehegattin sowie die gemeinsamen Kinder sind türkische Staatsangehörige und lebten bis 2019 in der Türkei, sodass einer Einreise in die Türkei keine rechtlichen Hindernisse entgegenstehen. Sowohl die Ehegattin, als auch die Kinder sprechen die türkische Sprache und besteht jedenfalls bei der Ehegattin nach wie vor ein Bezug zur türkischen Kultur sowie generell zur Türkei. Vor Ort sind weiterhin die Eltern des Beschwerdeführers sowie die seiner Ehegattin aufhältig, welche zu ihrer Unterstützung zur Verfügung stehen, weshalb auch angesichts gewisser anfänglicher Umstellungsschwierigkeiten keine gravierenden praktischen Hindernisse auf Seiten seiner Ehegattin und Töchter festzustellen sind. Darüber hinaus sind auch keine Gründe ersichtlich, warum die Ehegattin nicht wie in Österreich auch in der Türkei einer Arbeit nachgehen und damit in der Türkei zum Familieneinkommen beitragen kann.
Die Töchter kamen im Alter von ein bzw. drei Jahren nach Österreich, besuchen hier die Volksschule und sprechen auf einem guten Niveau die deutsche Sprache, wobei – wie oben bereits ausgeführt – sie auch die türkische Sprache beherrschen und anzunehmen ist, dass sie die Kultur des Herkunftslandes durch die Eltern über den Zeitpunkt der Ausreise hinaus vermittelt bekamen. Die ältere Tochter vermeinte in der mündlichen Verhandlung, dass sie mit den Eltern in türkischer Sprache kommunizieren.
Aus der Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes deutet auch nichts darauf hin, dass es den Töchtern in Begleitung ihrer Eltern im Falle einer Rückkehr in die Türkei nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft zu integrieren – dies insbesondere aufgrund ihres noch jungen Alters. Die Töchter befinden sich gemäß der Judikatur der Höchstgerichte noch im anpassungsfähigen Alter, welches in der Rechtsprechung der Höchstgerichte zwischen sieben und elf Jahren angenommen wird (vgl. VfGH 07.10.2014, U 2459/2012 ua., sowie VwGH 19.09.2012, 2012/22/0143 ua.). Der Schulbesuch der Töchter in Österreich bildet zwar das vergleichsweise stärkste Interesse an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet. Bei beiden Kindern ist aufgrund der Kenntnisse der Muttersprache eine Fortsetzung des Schulbesuches in der Türkei jedoch möglich und nicht unzumutbar.
Es ist dem Beschwerdeführer und seiner Ehegattin daher auch insofern zumutbar, ihr Familienleben in der Türkei fortzusetzen und sind auch keine entgegenstehenden Gründe ersichtlich, dass das Familienleben nicht auch in der Türkei fortgesetzt werden könnte (vgl. hierzu VwGH 21.01.2010, 2007/01/0703 mit Hinweis auf die bei der individuellen Abwägung zu berücksichtigenden Kriterien entsprechend der Urteile des EGMR vom 24. November 2009, Omojudi gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 1820/08, Randnr. 41, sowie vom 12. Jänner 2010, A. W. Khan gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 47.486/06, Randnr. 39ff, beide mwH auf die maßgebliche Rechtsprechung des EGMR).
Somit ist davon auszugehen, dass es dem Beschwerdeführer sowie seiner Ehegattin auch zumutbar ist, dass das gemeinsame Familienleben in der Türkei weitergeführt wird. Die gemeinsamen Töchter sind im Alter von elf und neun Jahren jedenfalls noch anpassungsfähig und bedingt durch ihr Alter im sozialen Leben in Österreich auch noch keinesfalls derart integriert, dass aufgrund der gesondert zu prüfenden Integration von Kindern eine Ausweisung unzulässig erschiene.
Im Bundesgebiet befinden sich auch ein Bruder sowie mehrere Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer hat nicht vorgebracht, zu den genannten Verwandten in einem besonderen Naheverhältnis zu stehen, welches über das üblicherweise zwischen Verwandte dieser Art bestehende Verhältnis hinausgehen würde. Der Beschwerdeführer wohnt mit keinem dieser Verwandten in einem Haushalt. Er erhält zwar von seinem Bruder eine finanzielle Unterstützung, jedoch wurde kein Nahe- und Abhängigkeitsverhältnis vorgebracht, welches über die Zurverfügungstellung von finanzieller Unterstützung hinausgeht (VwGH vom 15.07.2019, Ra 2019/18/0233).
In Anbetracht dessen sowie der rezenten und massiven Straffälligkeit des Beschwerdeführers erweist sich die Trennung des Beschwerdeführers von seiner Ehegattin und seinen Kindern durch die gegenständliche Rückkehrentscheidung zusammenfassend als vertretbar und im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit als notwendig bzw. ist auch eine Fortsetzung des Familienlebens mit seiner Ehegattin und den Töchtern in der Türkei möglich und zumutbar.
Da somit im gegenständlichen Fall ein ungerechtfertigter Eingriff in das Familienleben des Beschwerdeführers zu verneinen ist, bleibt zu prüfen, ob mit der Ausweisung ein Eingriff in dessen Privatleben einhergeht.
Der Beschwerdeführer reiste im Oktober 2016 legal in das Bundesgebiet, verfügte bis 26.09.2021 über den Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte-plus“ und war in Österreich von 04.01.2017 bis 29.03.2020 als Arbeiter und von 12.10.2020 bis 27.01.2021 als geringfügig beschäftigter Arbeiter tätig. Von 21.10.2020 bis 27.10.2020, 29.10.2020 bis 10.11.2020, 13.11.2020 bis 10.01.2021 und von 13.01.2021 bis 16.01.2021 bezog der Beschwerdeführer Arbeitslosengeld. Aktuell wird der Beschwerdeführe von seinem Bruder und seiner Ehegattin finanziell unterstützt (VS 4). Am 10.11.2021 wurde der Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB (Körperverletzung), §§ 205a Abs. 1 1. Fall, 205 a Abs. 1 3. Fall StGB (Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung), § 107 Abs. 1 StGB (gefährliche Drohung), § 201 Abs. 1 StGB (Vergewaltigung), §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 3 StGB (schwere Nötigung), § 15 StGB, § 105 Abs. 1 StGB (versuchte Nötigung) und § 125 StGB (Sachbeschädigung) zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Jahren verurteilt.
Über die beantragte Verlängerung des Aufenthaltstitels wurde bis dato von der Niederlassungsbehörde noch nicht entschieden. Er stellte in der Folge einen Antrag auf internationalen Schutz und ist seither als Asylwerber vorläufig zum Aufenthalt berechtigt.
Das persönliche Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (VwGH 06.07.2021, Ra 2021/19/0200, mwN).
Es wird nicht verkannt, dass der VwGH die zur einer mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalten ergangene Rechtsprechung auch auf Fälle übertragen hat, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag (vgl. etwa VwGH 05.10.2023, Ra 2022/22/0029; VwGH 08.11.2018, Ra 2016/22/0120; VwGH 30.07.2014, 2013/22/0226; VwGH 09.09.2014, 2013/22/0247; jeweils zu einem ungefähr neuneinhalbjährigen Aufenthalt).
Der Beschwerdeführer hält sich jedoch erst seit ca. acht Jahren im Bundesgebiet auf, sodass die Rechtsprechung zu einer Aufenthaltsdauer von unter zehn Jahren nicht heranzuziehen war.
Weiters ist das Gewicht des ca. acht Jahre dauernden Aufenthalts des Beschwerdeführers in mehrfacher Hinsicht abgeschwächt.
Der Beschwerdeführer versuchte, eine aufenthaltsbeendende Maßnahme durch einen unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz zu legalisieren, konnte alleine durch die Stellung seines Asylantrags am 10.08.2023 jedoch nicht begründeter Weise von der Sicherung seines Aufenthalts ausgehen.
Dem Beschwerdeführer wurden jeweils befristete Aufenthaltstitel ausgestellt, weshalb er von Anfang an nicht damit rechnen durfte, dass ihm ein weiterer Aufenthalt im Bundesgebiet bewilligt wird (vgl. VwGH 21.01.2010, 2009/18/0258).
Aufgrund seiner strafgerichtlichen Verurteilung am 10.11.2021 musst der Beschwerdeführer vielmehr davon ausgehen, dass der am 17.08.2021 gestellte Antrag auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels nicht positiv beschieden wird und ihm nach seiner Haftentlassung eine aufenthaltsbeendende Maßnahme droht, sodass das Gewicht des faktischen Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet diesbezüglich bereits maßgeblich gemindert ist.
Den privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet ist fallgegenständlich auch sein straffälliges Verhalten entgegenzuhalten. Gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wird die für die Integration eines Fremden wesentliche soziale Komponente durch vom Fremden begangene Straftaten erheblich beeinträchtigt (vgl. etwa VwGH 30.01.2007, 2004/21/0045 mwH). Der Beschwerdeführer hat aufgrund der Straffälligkeit die bestehenden privaten Bezugspunkte hintangestellt und muss das in Österreich bestehende Privatleben iSd. Art 8 MRK daher eine Relativierung hinnehmen.
Der Beschwerdeführer verfügt weiters über keine nennenswerten Deutschkenntnisse und pflegt übliche soziale Kontakte. Diesbezüglich ist auf die höchstgerichtliche Judikatur zu verweisen, wonach selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).
Der Beschwerdeführer hat hierorts aktuell auch keine Anknüpfungspunkte in Form einer legalen Erwerbstätigkeit oder anderweitiger maßgeblicher wirtschaftlicher Interessen. Er war lediglich ca. drei Jahre als Arbeiter und nur ca. drei Monate als geringfügig beschäftigter Arbeiter tätig. Zuletzt bezog er von 21.10.2020 bis 27.10.2020, 29.10.2020 bis 10.11.2020, 13.11.2020 bis 10.01.2021 und von 13.01.2021 bis 16.01.2021 Arbeitslosengeld. Eine maßgebliche nachhaltige berufliche Integration ist daher nicht festzustellen.
Selbst die bestehenden privaten Anknüpfungspunkte vermochten den Beschwerdeführer nicht von der Delinquenz abzuhalten und hat dadurch seine kriminellen Interessen über jene der Gesellschaft gestellt.
Soweit der Beschwerdeführer über private Bindungen in Österreich verfügt, werden diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass der Beschwerdeführer hierdurch gezwungen wird, den Kontakt zu jenen Personen, die ihm in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Auch hier steht es ihm frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte gegebenenfalls auch in einem Drittstaat etc.) aufrecht zu erhalten.
Der Beschwerdeführer verbrachte andererseits den weitaus überwiegenden Teil seines Lebens in der Türkei. Er wurde dort sozialisiert, besuchte dort die Schule und war berufstätig. Der Beschwerdeführer war in der Türkei als Mechaniker erwerbstätig und halten sich in der Türkei nach wie vor die Eltern, sowie ein Bruder des Beschwerdeführers auf. Er spricht die Mehrheitssprache seiner Herkunftsregion auf muttersprachlichem Niveau und deutet daher nichts darauf hin, dass es dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.
Der sohin in Anbetracht der erst kurzen Zeit des Aufenthaltes in Österreich, der fehlenden beruflichen Integration sowie des mangelnden Spracherwerbs relativ schwachen Rechtsposition des Beschwerdeführers im Hinblick auf einen weiteren Verbleib in Österreich stehen die öffentlichen Interessen des Schutzes der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Form der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen, sowie des wirtschaftlichen Wohles des Landes gegenüber.
Im gegenständlichen Verfahren ist insgesamt keine unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer festzustellen, die den zuständigen Behörden zur Last zu legen wäre (vgl. hiezu auch VwGH 24.05.2016, Ro 2016/01/0001).
Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist die belangte Behörde daher zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet das persönliche Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt.
Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen und auch in der Beschwerde nicht substantiiert vorgebracht worden, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre. Die belangte Behörde ist des Weiteren auch nach Abwägung aller dargelegten persönlichen Umstände des Beschwerdeführers zu Recht davon ausgegangen, dass dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG von Amts wegen nicht zu erteilen ist. Schließlich sind im Hinblick auf die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid gemäß § 52 Abs. 9 iVm § 46 FPG getroffene Feststellung keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung in die Türkei unzulässig wäre.
3.4.6. Zum Einreiseverbot:
3.4.6.1. Gemäß § 53 Abs. 1 FPG kann vom Bundesamt mit Bescheid mit einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
Gemäß § 53 Abs. 3 FPG ist ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.
§ 53 Abs. 3 Z 5 lautet:
„5. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist“
3.4.6.2. Das BFA hat das gegenständliche Einreiseverbot aufgrund der Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer unbedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Jahren zurecht auf § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG gestützt und vor allem mit dem Umstand begründet, dass der Beschwerdeführer auf Grund der von ihm begangenen Straftaten und seines bisherigen Fehlverhaltens eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt sowie eine negative Gefährlichkeitsprognose vorliegt.
3.4.6.3. Wie bereits oben zum Vorliegen eines Asylausschlussgrundes im Einzelnen dargelegt, ist im vorliegenden Fall die Annahme gerechtfertigt, dass vom Beschwerdeführer eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 iVm. § 52 Abs. 5 FPG ausgeht. Dieser Umstand rechtfertigt auch die Erlassung eines Einreiseverbotes.
Der Beschwerdeführer hat durch sein die strafrechtlichen Rechtsnormen negierendes Verhalten seinen Unwillen, in Österreich geltende Grundinteressen der Gesellschaft zu achten, unter Beweis gestellt, weshalb eine für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgehenden Gefährdung gegeben ist. Die gegenständliche Begehung zweier Verbrechen (Vergewaltigung und schweren Nötigung) in Verbindung mit einer Körperverletzung, gefährlichen Drohung sowie Sachbeschädigung gegenüber seinem Opfer, eine Frau, mit der der Beschwerdeführer eine außereheliche Beziehung führte, über einen Zeitraum von fast einem Jahr, weist auf eine hohe kriminelle Energie sowie eine beachtliche Herabsetzung der inneren Hemmschwelle des Beschwerdeführers hin.
Bei einer Gesamtbetrachtung aller unter 3.2.3. aufgezeigten Umstände, des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes und in Ansehung der aufgrund des persönlichen Fehlverhaltens getroffenen Gefährdungsprognose kann eine Gefährdung von öffentlichen Interessen als gegeben angenommen werden.
Es kann dem BFA nicht entgegengetreten werden, wenn es im vorliegenden Fall von einer solch schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausging, welche die Anordnung eines Einreiseverbotes erforderlich macht, zumal diese Maßnahme angesichts der vorliegenden Schwere des Verstoßes gegen österreichische Rechtsnormen und des zum Ausdruck gekommenen persönlichen Fehlverhaltens zur Verwirklichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele unbedingt geboten erscheint.
Wie bereits näher ausgeführt, sind die privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers im Bundesgebiet nicht derart ausgeprägt, dass eine Abwägung nach § 9 BFA-VG zu seinen Gunsten ausschlägt. Ein Eingriff in das Familienleben ist aufgrund der Straffälligkeit gerechtfertigt bzw. der Ehegattin und den Töchtern auch eine Fortführung des Familienlebens in der Türkei möglich und zumutbar. Der Beschwerdeführer ist weder sprachlich noch sozial maßgeblich integriert. Besondere Kontakte oder Mitgliedschaften bzw. ein besonders schützenswertes Privatleben wurde nicht glaubhaft gemacht. Dass er ca. acht Jahre in Österreich lebt sowie seine Ehegattin, zwei Töchter und ein Bruder hier leben, wurde entsprechend berücksichtigt. Diese Umstände haben jedoch angesichts seines schwerwiegenden Fehlverhaltens, der negativen Zukunftsprognose und des großen öffentlichen Interesses an der Verhinderung von weiteren Sexualdelikten durch den Beschwerdeführer zurückzutreten.
Angesichts seines gravierenden Fehlverhaltens sind auch Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse, die infolge der Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat auftreten können, im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen und insgesamt an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit hinzunehmen (vgl. VwGH 15.3.2016, Ra 2015/21/0180).
In Gesamtbetrachtung ist folglich die Erlassung eines Einreiseverbotes gegen den Beschwerdeführe dem Grunde nach jedenfalls geboten.
3.4.6.4. Vor dem Hintergrund des an sich als schweren Verstoßes gegen die gesellschaftlichen Bestimmungen und der damit einhergehenden mehrjährigen Verurteilung zu wertende Verhalten des Beschwerdeführers sowie der negativen Zukunftsprognose, war die von der belangten Behörde ausgesprochene Befristung des Einreiseverbotes in der Höhe von zehn Jahren auch keiner Reduktion zugängig.
Das vom BFA angeordnete Einreiseverbot erweist sich somit dem Grunde und der Höhe nach als gerechtfertigt, weshalb eine Aufhebung des Einreiseverbotes nicht in Betracht kam.
3.5. Der angefochtene Bescheid erweist sich angesichts der vorstehenden Ausführungen daher als rechtsrichtig, sodass die dagegen erhobene Beschwerde als unbegründet abzuweisen war.
Zu Spruchteil B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.
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