VwGH Ra 2020/21/0465

VwGHRa 2020/21/04655.3.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des G S G, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Jordangasse 7/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 1. Oktober 2020, W220 1255387‑5/10E, betreffend Zurückweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Begleitaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §58 Abs11 Z2
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z9
FrPolG 2005 §52 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs9
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210465.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein indischer Staatsangehöriger, kam im März 2001 nach Österreich und stellte danach mehrere erfolglos gebliebene Asylanträge bzw. Anträge auf internationalen Schutz. Der diesbezüglich letzte, am 12. August 2008 gestellte Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 1. September 2008 ‑ in Verbindung mit der (neuerlichen) Ausweisung des Revisionswerbers nach Indien ‑ wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 6. Oktober 2008 ab. Im Hinblick auf dieses Verfahren wurde die für den 14. August 2008 bereits organisierte Abschiebung des Revisionswerbers, für den von der indischen Botschaft die Ausstellung eines Heimreisezertifikates zugesagt worden war, nicht durchgeführt und der hierfür gebuchte Flug wieder storniert. In der Folge wurden von behördlicher Seite keine Abschiebeversuche mehr unternommen; die letzte Urgenz bezüglich der (neuerlichen) Ausstellung eines Heimreisezertifikates erfolgte im November 2009.

2 Der Revisionswerber führt mit einer österreichischen Staatsbürgerin, die er vor etwa siebzehn Jahren kennengelernt hatte, eine Lebensgemeinschaft. Dieser Beziehung entstammen insgesamt sechs Kinder (geboren 2004, 2007, 2012, 2013, 2019 und 2020), die alle die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. In Bezug auf die vier älteren Kinder hat der Revisionswerber die Vaterschaft ausdrücklich anerkannt. Jedenfalls seit Ende Jänner 2020 leben der Revisionswerber und seine Lebensgefährtin mit fünf Kindern ‑ das älteste Kind befindet sich bei einer Pflegefamilie ‑ im gemeinsamen Haushalt.

3 Am 2. April 2014 stellte der Revisionswerber einen Antrag auf Erteilung eines „Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK“ gemäß § 55 AsylG 2005. Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 7. September 2016 gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 zurück, weil der Revisionswerber dem mit Schreiben vom 16. Juni 2016 erteilten Verbesserungsauftrag insbesondere zur Vorlage eines gültigen Reisedokuments und einer beglaubigten Geburtsurkunde im Original nicht entsprochen hatte. Unter einem erließ das BFA gegen den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG und es stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig sei. Schließlich wurde noch gemäß § 55 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt.

4 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach einer am 17. September 2020 durchgeführten Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 1. Oktober 2020 als unbegründet ab. Unter einem sprach es gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig.

5 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:

6 Die Revision ist ‑ wie die weiteren Ausführungen zeigen ‑ entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG zulässig; sie ist auch berechtigt.

7 In der Revision wird nämlich im Ergebnis zu Recht geltend gemacht, dass das BVwG bei der von ihm gemäß § 9 BFA‑VG vorgenommenen Interessenabwägung maßgeblichen Gesichtspunkten des vorliegenden Falles nicht die gebotene Bedeutung zugebilligt hat.

8 Dazu zählt zunächst der besonders lange Zeitraum des Aufenthalts des Revisionswerbers in Österreich seit der Einreise im März 2001. Soweit das BVwG diesbezüglich aufgrund früherer Angaben des Revisionswerbers ‑ in der mündlichen Verhandlung behauptete er einen seit damals durchgehenden Aufenthalt in Österreich ‑ von möglichen Auslandsaufenthalten in den Jahren 2004 und 2006 von einigen Monaten ausging, fällt das jedenfalls angesichts der Gesamtdauer nicht entscheidend ins Gewicht. Das BVwG verweist in diesem Zusammenhang zwar auch noch auf Meldelücken, jedoch kommt Meldedaten für die Frage des tatsächlichen Aufenthalts lediglich Indizcharakter zu (vgl. etwa VwGH 16.5.2019, Ra 2018/21/0244, Rn. 8, mwN). Außerdem machte das BVwG dem Revisionswerber an anderer Stelle seines Erkenntnisses zum Vorwurf, in diesen Zeiträumen melderechtliche Vorschriften verletzt zu haben, was aber gerade einen Inlandsaufenthalt voraussetzt.

9 Das BVwG erachtete die Aufenthaltsdauer infolge der wiederholten Asylantragstellungen und der mehrfachen Erzwingung der Entlassung aus der Schubhaft durch Hungerstreik als relativiert. Dem ist allerdings zu entgegnen, dass der Revisionswerber jedenfalls seit April 2009 aktiv keine fremdenrechtlich verpönten Handlungen mehr setzte, um eine Verlängerung seines Aufenthalts zu erreichen. Angesichts dessen, dass ‑ so das BVwG ‑ „den Verwaltungsakten nicht zu entnehmen ist, dass es seitdem (gemeint: seit der letzten Urgenz in Bezug auf die Ausstellung eines Heimreisezertifikates im November 2009) jemals wieder Bemühungen seitens der Behörde gegeben hätte, den unrechtmäßigen Aufenthalt des Beschwerdeführers zu beenden“, hätte das BVwG aber für die Zeit danach ‑ bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses immerhin fast elf Jahre ‑ auch dem Bewusstsein des unsicheren Aufenthalts iSd § 9 Abs. 2 Z 8 FPG keine so große Bedeutung mehr beimessen dürfen. Das macht die Revision zu Recht geltend. Im Übrigen geht auch der Vorwurf des BVwG der (anfänglichen) Verwendung einer Aliasidentität und der Angabe eines abweichenden Geburtsdatums im Jahr 2006 ins Leere, weil diesbezüglich die Kausalität für eine maßgebliche Verlängerung des Aufenthalts des Revisionswerbers, für den im Jahr 2008 auch die ‑ das Feststehen der Identität voraussetzende ‑ Ausstellung eines Heimreisezertifikates erfolgen sollte und der bei der Antragstellung am 2. April 2014 die (auszugsweise) Kopie eines abgelaufenen Reisepasses und einer Geburtsurkunde anschloss, nicht dargelegt wurde. Vielmehr hätte das BVwG in diesem Zusammenhang auf den Tatbestand der Z 9 des § 9 Abs. 2 BFA-VG („Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist“) zugunsten des Revisionswerbers Bedacht nehmen müssen, weil das gegenständliche Verfahren bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ohne Verschulden des Revisionswerbers deutlich mehr als sechs Jahre, somit unangemessen lange, dauerte (vgl. etwa VwGH 27.4.2020, Ra 2020/21/0121, Rn. 9, und VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0114, Rn. 18). Schließlich wird bei dem Vorwurf des BVwG, der Revisionswerber habe seinen Angaben zufolge viele Jahre hindurch ohne entsprechende Bewilligung Beschäftigungen ausgeübt, außer Acht gelassen, dass insoweit nicht nur eine vergangenheitsbezogene, sondern in Bezug auf den zu erteilenden Aufenthaltstitel in erster Linie eine zukunftsorientierte Betrachtung anzustellen gewesen wäre (vgl. des Näheren VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282, Rn. 16, mwN, und darauf Bezug nehmend VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0159, Rn. 14).

10 Vor allem hätte das BVwG aber den familiären Bindungen des Revisionswerbers zu seiner langjährigen österreichischen Lebensgefährtin und zu seinen ebenfalls die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden minderjährigen Kindern, insoweit auch auch unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls (siehe zu diesem Aspekt die Judikaturnachweise in VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0235, Rn. 11, und daran anschließend VwGH 31.8.2017, Ro 2017/21/0012, Rn. 8, sowie darauf Bezug nehmend VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0114, Rn. 17; siehe dazu auch VfGH 28.11.2019, E 707/2019, Punkt II.3.1. bis 3.3. der Entscheidungsgründe), fallbezogen überragende Bedeutung beimessen müssen. Das macht die Revision im Ergebnis zutreffend geltend. Soweit das BVwG insofern ebenfalls eine Relativierung vornahm ‑ vor Jänner 2020 seien die Lebensgefährtin und die Kinder „lediglich selten und in geringfügigen Perioden“ an derselben Adresse wie der Revisionswerber gemeldet gewesen (siehe allerdings zur diesbezüglich eingeschränkten Aussagekraft der Meldedaten schon oben Rn. 8) ‑ und es daher die Auswirkungen der Aufenthaltsbeendigung als „abgeschwächt“ ansah, wird das insgesamt der im vorliegenden Fall gebotenen Berücksichtigung des Familienlebens nicht gerecht. Insbesondere verkennt das BVwG, dass eine mit der Nichterteilung des beantragten Aufenthaltstitels und dem Vollzug der demzufolge erlassenen Rückkehrentscheidung zwangsläufig verbundene Trennung des Revisionswerbers von seinen österreichischen Familienangehörigen nur bei Vorliegen eines besonders großen öffentlichen Interesses, etwa bei der Begehung von gravierenderen Straftaten, gerechtfertigt wäre. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich bereits wiederholt darauf verwiesen, dass ein Kind grundsätzlich Anspruch auf „verlässliche Kontakte“ zu beiden Elternteilen hat. Wird es durch die Rückkehrentscheidung gegen den Vater gezwungen, ohne diesen aufzuwachsen, so bedarf diese Konsequenz einer besonderen Rechtfertigung (vgl. des Näheren VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282, Rn. 18, mwN, und VwGH 30.4.2020, Ra 2019/21/0134, Rn. 20, sowie auf diese Erkenntnisse Bezug nehmend VwGH 16.7.2020, Ra 2020/18/0226, Rn. 8/9).

11 Für eine solche Rechtfertigung reichen die dafür vom BVwG ins Treffen geführten Umstände im vorliegenden Fall aus den oben angeführten Überlegungen nicht aus, woran selbstredend auch die vom BVwG noch einbezogene Verurteilung des Revisionswerbers vom März 2018 wegen der Begehung eines Urkundendeliktes zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von (nur) drei Monaten nichts ändern kann.

12 Demnach hätte das BVwG ‑ bezogen auf seinen Entscheidungszeitpunkt ‑ bei einer inhaltlichen Prüfung des am 2. April 2014 gestellten Antrags zum Ergebnis kommen müssen, dass dem Revisionswerber der beantragte Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 zu erteilen gewesen wäre, weil dies (im Sinne der genannten Bestimmung) gemäß § 9 Abs. 2 BFA‑VG zur Aufrechterhaltung des Privat‑ und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist. Demzufolge hätte das BVwG die aus formellen Gründen vom BFA mit Bescheid vom 7. September 2016 vorgenommene, auf § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 gegründete Zurückweisung des Antrags und die damit verbundene Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen nicht bestätigen dürfen (vgl. VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0177, Rn. 11, mit dem Hinweis auf VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0092 bis 0094, Rn. 14, mwN).

13 Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

14 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.

15 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 5. März 2021

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte