BVwG L512 2271355-1

BVwGL512 2271355-115.9.2023

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:L512.2271355.1.00

 

Spruch:

 

L512 2271355-1/8E

L512 2271353-1/9E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marlene JUNGWIRT als Einzelrichterin über die Beschwerden von XXXX (BF1), geb. XXXX und XXXX (BF2), geb. XXXX , StA. Libanon, vertreten durch Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, vom XXXX (BF1) und XXXX (BF2), Zlen. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

 

A) Die Beschwerden gegen die angefochtenen Bescheide werden gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3, § 57 AsylG iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46, § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

 

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

 

 

Entscheidungsgründe:

 

I. Verfahrensgang:

 

I.1. Die Beschwerdeführer 1 und 2 (in weiterer Folge kurz als „BF1“ und „BF2“ bezeichnet), libanesische Staatsangehörige und Angehörige der sunnitischen Religionsgemeinschaft stellten am 22.07.2022 nach Rücküberstellung aus XXXX Anträge auf internationalen Schutz.

 

Die BF1 und BF2 sind Brüder.

 

I.2. Vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte der BF1 am 22.07.2022 zu seinen Ausreisegründen zusammengefasst vor, dass zwischen seiner und einer anderen Familie große Probleme wegen einer Stromerzeugungsmaschine entstanden seien. Aufgrund dessen habe es Auseinandersetzungen mit Schusswaffen gegeben. Bei einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben.

 

Der BF2 habe den Libanon verlassen, weil er Angst um sein Leben habe. Zwischen seiner und einer anderen Familie würden wegen einer Stromerzeugungsmaschine große Probleme herrschen. Bei einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben.

 

I.3. Vor einem Organwalter der belangten Behörde wurden die BF1-2 am 27.03.2022 bzw. 10.03.2022 zu Ihren Anträgen befragt.

 

Der BF2 brachte im Wesentlichen vor, dass es im Libanon Probleme mit dem Strom gebe. Es gebe Leute, die einen Stromgenerator hätten und würden manche Leute Geld dafür verlangen. Sein Vater und sein Bruder hätten so einen Generator gehabt und seien mehrere Leute bei ihnen angemeldet gewesen, die Strom von ihnen bekommen hätten. Es habe Leute gegeben, die nicht bezahlen hätten können. Sie hätten entschieden, dass diese Leute keinen Strom mehr erhalten. Ein Mann habe sie deshalb bedroht. Dieser Mann habe oft auf das geparkte Auto des BF2 geschossen. Er sei aber nie im Auto gewesen. Die Leute hätten den BF2 informiert, dass der Mann ihn suche. Dann hätten sie mit dem Vater entschieden, den Libanon zu verlassen.

 

Der BF1 brachte zusammengefasst vor, dass er dieselben Fluchtgründe wie sein Bruder habe. Er sei auch wegen dem Streit im Zusammenhang mit der Stromlieferung ausgereist. Sie hätten auf das Auto seines Bruders geschossen. Deshalb hätten sie entschieden alles zu verkaufen und den Libanon zu verlassen.

 

I.4. Die Anträge der BF1-2 auf internationalen Schutz wurden folglich mit im Spruch genannten Bescheiden der belangten Behörde gemäß § 3 Abs 1 AsylG abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Absatz 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Libanon nicht zugesprochen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF1-2 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Libanon gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist zur freiwilligen Ausreise im Ausmaß von vierzehn Tagen gewährt (Spruchpunkt VI.).

 

I.4.1. Im Rahmen der Beweiswürdigung erachtete die belangte Behörde das Vorbringen der BF1-2 aufgrund mehrere Ungereimtheiten und Widersprüche als unglaubwürdig.

 

I.4.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Libanon traf die belangte Behörde ausführliche, aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben.

 

I.4.3. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorkam. Es hätten sich weiters keine Hinweise auf einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar. Zudem sei die Abschiebung zulässig, da kein Sachverhalt im Sinne des § 50 Abs 1, 2 und 3 FPG vorliege. Eine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe in Höhe von 14 Tagen, da keine Gründe im Sinne des § 55 Abs 1a FPG vorliegen würden.

 

I.5. Gegen die Bescheide vom XXXX (BF2) und XXXX (BF1), Zlen. XXXX und XXXX , wurden mit in den Akten ersichtlichen Schriftsätzen innerhalb offener Frist vollumfänglich wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie wegen der Verletzung von Verfahrensvorschriften Beschwerden erhoben.

 

I.6. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte für den XXXX eine öffentliche mündliche Verhandlung an und übermittelte den BF1-2 aktuelle Länderinformationen für den Libanon.

 

I.6.1. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hatten die BF1-2 die Möglichkeit zu ihrer Integration, ihrem Fluchtvorbringen und ihrer Rückkehrsituation Stellung zu nehmen. Als Zeugin wurde die Lebensgefährtin des BF1 befragt.

 

I.7. Hinsichtlich des Verfahrensherganges im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

 

1. Feststellungen:

 

II.1.1. Der Beschwerdeführer

 

Die Identität des BF2 steht fest. Die Identität des BF1 steht nicht fest. Die BF1-2 sind libanesische Staatsangehörige, Angehöriger der sunnitischen Glaubensgemeinschaft, der Volksgruppe der Araber und stammen aus XXXX , wo sie gemeinsam mit den Eltern und einer Schwester – bis zu deren Heirat - in einer Mietwohnung gelebt haben. Die BF1-2 sind Brüder.

 

Der BF1 hat bis zur neunten Schulstufe die Schule besucht und von XXXX bis XXXX eine Ausbildung zum XXXX absolviert. Anschließend hat der BF1 auch XXXX gearbeitet. Zuletzt hat der BF1 bis XXXX als XXXX gearbeitet.

 

Der BF2 hat bis zur elften Schulstufe die Schule besucht, keinen Beruf erlernt und vom XXXX Lebensjahr bis zum XXXX Lebensjahr – teilweise noch neben der Schule - als angelernter XXXX gearbeitet. Vor der Ausreise war der BF2 in einem XXXX tätig.

 

Der Vater der BF1-2 ist als XXXX tätig. Die Mutter ist XXXX . Die Schwester ist verheiratet und wird deren Lebensunterhalt vom Ehegatten, welcher als XXXX tätig ist, finanziert. Onkeln, Tanten und Großeltern des BF leben im Libanon.

 

Die BF1-2 verfügen über bestehende familiäre Anknüpfungspunkte (Eltern, eine Schwester, mehrere Onkel und Tanten) im Herkunftsstaat und einer – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage.

 

Im XXXX reisten die BF1-2 legal mittels XXXX aus dem Libanon aus und im Juli 2022 – nach einer Rücküberstellung aus XXXX – ins österreichische Bundesgebiet ein. Seither halten sich die BF1-2 durchgehende in Österreich auf.

 

Die BF1-2 sind gesund und arbeitsfähig.

 

Der BF1 hat XXXX über Internet eine österreichischen Staatangehörige kennengelernt. Die beiden haben sich anfänglich fast jeden zweiten Tag getroffen und sind, nachdem die Lebensgefährtin des BF1 geschieden wurde, zusammengezogen. Der BF1 und seine Lebensgefährtin haben am XXXX nach islamischen Ritus geheiratet. Seit XXXX besteht mit der Lebensgefährtin des BF1 und ihren zwei Kindern aus einer früheren Beziehung ein gemeinsamer Wohnsitz. Seit XXXX wohnt auch der BF2 beim BF1. Die Lebenserhaltungskosten werden zwischen den BF1-2 und der Lebensgefährtin des BF1 aufgeteilt. Die BF1-2 verbringen mit der Lebensgefährtin des BF1 und deren Kinder deren Freizeit.

 

In Österreich leben keine weiteren Verwandten der BF1-2.

 

Bis XXXX (BF1) und bis XXXX (BF2) haben die BF1-2 Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber bezogen.

 

Der BF1 ist seit XXXX sowie der BF2 seit XXXX als XXXX tätig und verdienen sie sich damit ihren Lebensunterhalt.

 

Die BF1-2 besuchen einen Deutschkurs, haben bisher keine Deutschprüfungen abgelegt und sprechen auf einfachem Niveau die deutsche Sprache

 

Die BF1-2 sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.

II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Libanon

 

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Libanon werden folgende Feststellungen getroffen:

COVID-19

Laut einem Bericht des libanesischen Gesundheitsministerium (MoPH) zur Beobachtung von COVID-19-Infektionen im Libanon betrug die COVID-19 bedingte Belegung der Intensivstationen in der Woche vom 13.2.2023 bis zum 20.2.2023 13 %. Die lokale PCR-Positivitätsrate lag bei 8,4 %. 71,2 % der Bevölkerung haben laut offiziellen Daten mindestens eine COVID-19 Impfdosis erhalten (MoPH 20.2.2023). Das Gesundheitsministerium hat eine Hotline für Aufklärung und Fragen zu COVID-19 eingerichtet (MoPH 2023). Der Libanon hat im Januar 2021 eine elektronische Plattform für Bürger und Einwohner eingerichtet, die sich gegen COVID-19 impfen lassen wollen (AN 29.1.2021; vgl. MoPH 28.1.2021). Ähnlich wie in vielen anderen Ländern wurde eine App zur Ermittlung von Kontaktpersonen, „Ma3an“, entwickelt, um Menschen zu benachrichtigen, die möglicherweise mit COVID-19 in Kontakt gekommen sind. Auf kommunaler Ebene haben die lokalen Gemeinden die Aufgabe der Nachverfolgung von Fällen und der Verhängung von Quarantänen übernommen (RAND 6.5.2022).

 

Im Libanon traf die Pandemie mit der Wirtschaftskrise zusammen. Die Krankenhäuser befanden sich bereits in einer schwierigen Situation, was sich auf alle gesundheitsbezogenen Aspekte, auch auf COVID-19 Patienten, auswirkte. Unmittelbar nach Ausbruch der Pandemie wurde deutlich, dass private Krankenhäuser keine Abteilung für COVID-19 Patienten öffnen wollten, und der libanesische Staat war nicht in der Lage, sie dazu zu verpflichten, zumal die für die Gesundheitsversorgung bereitgestellten öffentlichen Gelder aufgebraucht waren und in der Vergangenheit nicht vollständig an diese Krankenhäuser gezahlt wurden. Es dauerte Wochen, bis einige private Krankenhäuser beschlossen, einige Abteilungen für COVID-19-Patienten zu öffnen (HBS 2.12.2022). Die COVID-19-Krise verschärfte auch die bereits bestehenden Ungleichheiten in den Bereichen Beschäftigung und Bildung und verringerte die Chancen für viele der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen (UNICEF 6.2022). Besonders schwerwiegende Auswirkungen hatte COVID-19 auf Flüchtlingsgemeinschaften, insbesondere auf Frauen und Mädchen, was durch die grundlegenden Hindernisse, mit denen sie konfrontiert sind, noch verstärkt wurde: Bewegungsfreiheit, Schutz, Zugang zu Gesundheitsdiensten und Beschäftigung. Auch über die Pandemie hinaus deuten Schätzungen von Hilfsstudien darauf hin, dass COVID-19 noch lange Zeit unverhältnismäßig starke Auswirkungen auf Flüchtlingsfrauen im Libanon haben wird, insbesondere auf diejenigen, die Gewalt ausgesetzt waren (HBS 2.12.2022).

Quellen:

1. AN - Arab News (29.1.2021): Lebanon launches online platform for vaccine registration, https://www.arabnews.com/node/1800166/middle-east , Zugriff 21.2.2023

- HBS - Heinrich Böll Stiftung – Beirut Office (2.12.2022): https://lb.boell.org/sites/default/files/2022-12/fqml-en-e.pdf , Zugriff 30.1.2023

- MoPH - Ministry of Public Health [Libanon] (20.2.2023): Monitoring of COVID-19 Infection In Lebanon – 20/2/2023, https://www.moph.gov.lb/en/Pages/127/43750/monitoring-of-covid-19 -, Zugriff 21.2.2023

- MoPH - Ministry of Public Health [Libanon] (2023): Novel Coronavirus 2019, https://www.moph.gov.lb/en/Pages/2/24870/novel-coronavirus-2019 -, Zugriff 21.2.2023

- MoPH - Ministry of Public Health [Libanon] (28.1.2021): COVID-19 Vaccine Platform (Presentation), https://www.moph.gov.lb/userfiles/files/Prevention/nCoV-%202019/Covid19_Vaccine_Process(2020)-1-1.pdf , Zugriff 21.2.2023

- RAND (6.5.2022): Lebanon: Challenges and Successes in COVID-19 Pandemic Response, https://www.rand.org/blog/2022/05/lebanon-challenges-and-successes-in-covid-19-pandemic.html , Zugriff 21.2.2023

- UNICEF - United Nations International Children's Emergency Fund (6.2022): Synthesis of the crisis impact on the Lebanese labour market and potential business, employment and training opportunities, https://www.unicef.org/lebanon/media/8726/file/ILO%20UNICEF%20Synthesis%20report%20EN%20.pdf , Zugriff 21.2.2023

 

Politische Lage

Der Libanon ist eine parlamentarische Demokratie nach konfessionellem Proporzsystem. Das politische System basiert auf der Verfassung von 1926, dem ungeschriebenen Nationalpakt von 1943 und dem im Gefolge der Ta’if-Verhandlungen am 30. September 1989 verabschiedeten „Dokument der Nationalen Versöhnung“ (AA 5.12.2022). Der Nationalpakt verteilt die Regierungsgewalt auf einen maronitischen christlichen Präsidenten, einen schiitischen Sprecher der Abgeordnetenkammer (Parlament) und einen sunnitischen Premierminister (USDOS 12.4.2022; vgl. FH 28.2.2022, AA 5.12.2023). Bei der im Abkommen von Ta’if vorgesehenen allmählichen Entkonfessionalisierung des politischen Systems gibt es keine Fortschritte (AA 5.12.2022). Die libanesische Elite ist nicht bereit, ein System abzuschaffen, das ihre Macht garantiert, oder sich der Kontrolle durch ein neues, demokratischeres und rechenschaftspflichtiges Parlament zu stellen (CH 11.8.2021).

 

Die 128 Abgeordnetensitze im Parlament werden nach einem detaillierten Schlüssel für die 18 anerkannten Religionsgemeinschaften je zur Hälfte von Christen (zwölf anerkannte christlicheKonfessionen) bzw. Muslimen (Sunniten, Schiiten, Drusen, Alawiten und Ismailiten) besetzt.Das libanesische System wird von der Zusammenarbeit der verschiedenen religiösen Gruppen getragen; daneben spielen Familien- und regionale Interessen eine große Rolle (AA 5.12.2023). Das komplizierte konfessionelle Proporzsystem, das Christen, Schiiten und Sunniten gleichermaßen Zugang zu Macht und Ämtern sichern soll, hat in den vergangenen Jahren zu einer vollständigen Blockade des politischen Prozesses geführt (WZ 15.1.2023). In der libanesischen Politik bestehen formelle und informelle Allianzen, allerdings häufig auch über die religiöse Kluft hinweg. Die „Allianz des 8. März“ ist eine Koalition, deren zwei führende Parteien schiitische Muslime (Hizbollah) und Christen (Freie Patriotische Bewegung) sind, die durch eine pro-syrische Agenda vereint sind. Ihnen gegenüber steht die „Allianz des 14. März“, eine anti-syrische Gruppe, die von sunnitischen Muslimen und christlichen Maroniten dominiert wird. Die ungewöhnliche und mangelhafte politische Struktur des Libanon ermöglicht es der Hizbollah, über die Allianz des 8. März enorme Macht und parlamentarische Kontrolle auszuüben, ohne selbst über eine hohe Anzahl von Sitzen im Parlament zu verfügen (CH 11.8.2021). Außerdem hat die Hizbollah im Laufe der Jahre eine mehrdimensionale Strategie verfolgt, die neben ihrem Militärapparat auch mehrere politische Mittel umfasst. Neben der Bildung eines politischen Gürtels aus nicht-schiitischen Verbündeten (Christen, Alawiten, Drusen und Sunniten) gehörte auch die massive Unterwanderung der öffentlichen Verwaltung und anderer Einrichtungen wie der allgemeinen Gewerkschaft und der Verkehrsgewerkschaft dazu (USIP 8.6.2022). Zumindest in ihren Hochburgen (Teile der Bekaa-Ebene, südliche Beiruter Vororte, Teilgebiete des Südens) stellt die Hizbollah auch weiterhin eine Art Staat im Staat dar und übernimmt dort die sozialen und politischen Aufgaben (AA 5.12.2022). In der Europäischen Union wird bislang lediglich der „militärische Arm“ der Hizbollah als Terrororganisation gelistet. Diese künstliche Unterscheidung zwischen einem militärischen und dem politischen Arm, die von der Hizbollah selbst negiert wird, ist international umstritten (ELNET 5.5.2021; vgl. ST 12.5.2021). Neben Deutschland, den USA, Kanada und den Niederlanden hat auch Großbritannien die Hizbollah als Ganzes verboten. In Österreich gilt für die Hizbollah – also auch für den politischen Arm – ein Symbole-Verwendungsverbot (ST 12.5.2021).

 

Die jüngsten Parlamentswahlen im Libanon fanden am 15.5.2022 statt (AA 5.12.2023). Die Wahlen waren die ersten seit einem landesweiten Aufstand im Jahr 2019 gegen eine politische Elite, die weithin als korrupt und ineffektiv gilt. Die Hizbollah und ihre verbündete Allianz gewannen 62 der 128 Sitze, und haben damit ihre Mehrheit im libanesischen Parlament verloren. Die Hizbollah behielt zwar ihre eigenen Sitze, aber die christliche Freie Patriotische Bewegung von Präsident Michel Aoun verlor an Unterstützung. Die „Lebanese Forces“, eine rivalisierende christliche Partei mit engen Beziehungen zu Saudi-Arabien, gewann 19 Sitze und damit 15 Sitze mehr als bei den letzten Wahlen im Jahr 2018 (BBC 17.5.2022). Kandidaten, die als Opposition zum Establishment gelten, haben 13 Sitze im Parlament gewonnen (OT 17.5.2022). Das zersplitterte Parlament war allerdings nicht in der Lage, einen neuen Präsidenten zu wählen, sodass nach dem Ende der Amtszeit von Michel Aoun im Oktober 2022 ein Vakuum entsteht. Michel Moawad, ein Anti-Hizbollah-Kandidat, hat in mehreren Wahlgängen die meisten Stimmen erhalten, aber keine Mehrheit. Die Abstimmung wird so lange fortgesetzt, bis jemand die Pattsituation durchbrechen kann. Da es keinen Präsidenten gibt, ist die Regierung von Premierminister Najib Mikati nur geschäftsführend tätig, was die anhaltende Wirtschaftskrise im Libanon noch verschärft, da die Währung einen neuen Rekordtiefstand erreicht hat (21Vote 21.2.2023).

 

Die Hizbollah und ihr wichtigster Verbündeter, die Amal-Bewegung von Nabih Berri, setzen sich für eine ausschließliche Vertretung der schiitischen Gemeinschaft ein, indem sie alle ihrer Gemeinschaft zugewiesenen Parlamentssitze und den gesamten Quotenanteil der Schiiten in jeder Regierung kontrollieren. Im System der Machtteilung im Libanon bedeutet dies, dass sie gegen jede Entscheidung ein Veto einlegen oder jede Sitzung des Parlaments oder der Regierung für ungültig erklären können, indem sie alle schiitischen Mitglieder auffordern, nicht teilzunehmen oder dagegen zu stimmen. Letztlich kann die Partei außerdem immer noch auf Einschüchterung und direkte Aktionen zurückgreifen und ihre bewaffneten Mitglieder mobilisieren, wenn die politischen Mittel nicht ausreichen (USIP 8.6.2022). Die wachsende wirtschaftliche Not und die Frustration über das politische System lösen im ganzen Land häufig weit verbreitete Proteste und zivile Unruhen aus, bei denen konkrete finanzielle und wirtschaftliche Maßnahmen zur Eindämmung der Krise gefordert werden (REACH 6.4.2022). Mehr als 200 Menschen protestierten Ende Januar 2023 vor dem libanesischen Justizpalast gegen die Versuche, die Ermittlungen im Zusammenhang mit der tödlichen Explosion im Beiruter Hafen im Jahr 2020 zu stoppen. Richter Tarek Bitar kündigte an, dass er die Ermittlungen zu der Explosion, bei der mehr als 220 Menschen ums Leben kamen, wieder aufnehmen werde, nachdem sie aufgrund von juristischen Auseinandersetzungen und politischem Druck auf höchster Ebene 13 Monate lang ausgesetzt worden waren (Reuters 26.1.2023). Im Oktober 2021 wurden bei einer Demonstration, zu der die Schiitische Amal und Hizbollah aufgerufen hatten, um die Absetzung des Richters Bitar zu fordern, sieben Menschen getötet und Dutzende verwundet (ToI 16.10.2021).

Quellen:

- 21Vote (21.2.2023): Ongoing Middle East Elections - Lebanon Indirect Presidential Election (by parliament): Continuing, https://21votes.com/middle-east-110/ , Zugriff 1.3.2023

- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon (Stand 7.10.2022),

https://www.ecoi.net/en/file/local/2083550/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Libanon_%28Stand_07.10.2022%29%2C_05.12.2022.pdf , Zugriff 1.2.2023

- BBC - British Broadcasting Corporation (17.5.2022): Lebanon election: Hezbollah and allies lose parliamentary majority, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-61463884 , Zugriff 1.3.2023

- CH - Chatham House (11.8.2021): Lebanon’s politics and politicians, https://www.chathamhouse.org/2021/08/lebanons-politics , Zugriff 28.2.2023

- ELNET (5.5.2021): Gemeinsam gegen Hisbollah – eine Bestandsaufnahme für Deutschland, Österreich und die Schweiz, https://elnet-deutschland.de/themen/politik/gemeinsam-gegen-hisbollah-eine-bestandsaufnahme-fuer-deutschland-oesterreich-und-die-schweiz/ , Zugriff 1.3.2023

- FH - Freedom House (3.6.2022): Freedom on the Net 2022 – Lebanon, https://freedomhouse.org/country/lebanon/freedom-net/2022 , Zugriff 8.2.2023

- OT - L’Orient Today (17.5.2022): Lebanon elects a new Parliament: A breakdown of divisions, winners and losers, https://today.lorientlejour.com/article/1299886/lebanon-elects-a-new-parliament.html , Zugriff 1.3.2023

- REACH - REACH Initiative (6.4.2022): Lebanon: 2021 Multi-Sector Needs Assessment - April 2022, https://reliefweb.int/report/lebanon/lebanon-2021-multi-sector-needs-assessment-april-2022 , Zugriff 23.1.2023

- Reuters (26.1.2023): Lebanese protest as fate of blast probe hangs in balance, https://www.reuters.com/world/middle-east/lebanese-protest-anger-over-efforts-hamstring-blast-probe-2023-01-26/ , Zugriff 1.3.2023

- ST - Der Standard (12.5.2021): Österreich verbietet sämtliche Hisbollah-Symbole, https://www.derstandard.at/story/2000126602629/oesterreich-verbietet-saemtliche-hisbollah-symbole , Zugriff 1.3.2023

- ToI - The Times of Israel (16.10.2021): A who’s who of the groups involved in Beirut violence that left 7 dead, https://www.timesofisrael.com/the-groups-involved-in-deadly-beirut-violence-that-left-7-dead/ , Zugriff 1.3.2023

- USIP - United States Institute of Peace (8.6.2022): Lebanon’s Election Offers Lessons for Now and the Future, https://www.usip.org/publications/2022/06/lebanons-election-offers-lessons-now-and-future , Zugriff 1.3.2023

- WZ - Wiener Zeitung (15.1.2023): Krisenstaat ohne Exit-Strategie, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2134289-Krisenstaat-ohne-Exit-Strategie.html , Zugriff 23.1.2023

 

Sicherheitslage

[Anm.: Für Informationen bzgl. der Sicherheitslage in den palästinensischen Flüchtlingslagern siehe Kapitel 20.2 „Palästinensische Flüchtlinge“]

Die allgemeine Sicherheitslage ist durch die Proteste und den wirtschaftlichen Abschwung unübersichtlicher geworden (AA 12.5.2022). Es kommt zu Demonstrationen, Straßenblockaden, Streiks und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen verschiedenen Gruppierungen sowie zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften. Dabei werden vereinzelt auch Schusswaffen eingesetzt (EDA 14.2.2023). Diebstähle, Schießereien und Zusammenstöße nehmen zu, da immer mehr Menschen verzweifelt versuchen, über die Runden zu kommen, was manchmal zu tödlichen Auseinandersetzungen führt. Die von den Banken eingeführten informellen Kapitalverkehrskontrollen für Einlagen haben dazu geführt, dass einige Menschen in verschiedenen Bankfilialen im ganzen Land Geiseln genommen haben, um an ihr Geld zu kommen. Die sich verschlechternde Sicherheitslage stellt eine besondere Herausforderung für die libanesischen Sicherheitskräfte dar, die ohnehin schon mit der Wirtschaftskrise zu kämpfen haben, durch die ihre Ressourcen schrumpfen und die Gehälter ihrer Mitarbeiter gekürzt werden (NL 27.9.2022).

 

Die libanesische schiitische Miliz Hizbollah kontrolliert den Zugang zu Teilen des Libanon und operiert innerhalb des Landes relativ ungestraft (CRS 11.1.2023). Ihr „militärischer Arm“ ist von der EU seit 2013 als terroristische Vereinigung gelistet. Die Hizbollah übernimmt zumindest in ihren Hochburgen (Teile der Bekaa-Ebene, südliche Beiruter Vororte, Teilgebiete des Südens) faktisch auch die Funktion einer Sicherheitsbehörde (AA 5.12.2023). Im Libanon präsent sind neben der Hizbollah auch andere Terrorgruppen wie die Abdallah Azzam Brigades, al-Aqsa Martyrs Brigade, Asbat al-Ansar, Hamas, an-Nusrah Front (Hay'at Tahrir ash-Sham), Palestine Liberation Front, Islamic Revolutionary Guard Corps/Qods Force, Islamic State of Iraq and ash-Sham (ISIS); PFLP-General Command; Popular Front for the Liberation of Palestine (CIA 14.2.2023).

 

Südlibanon

Viele Gebiete (Zonen) im gesamten Südlibanon gelten als Militärgelände der Hizbollah. Der Zugang zu diesen Gebieten ist untersagt. Die örtliche Zivilbevölkerung, die United Nations Interim Force in Lebanon (UNIFIL)-Truppen und sogar die libanesische Armee haben keinen Zugang zu diesen Gebieten. Einige der Gebiete befinden sich in unmittelbarer Nähe von Dörfern (Alma 16.6.2022). Entlang der Blauen Linie im Südlibanon kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen dem Libanon und Israel. Bei den grenzüberschreitenden Streitigkeiten zwischen beiden Seiten werfen die Libanesen Israel wiederholt vor, den libanesischen Luftraum und die Hoheitsgewässer zu verletzen. Im Oktober 2022 legten Libanon und Israel unter Vermittlung der USA nach zwei Jahren indirekter Verhandlungen ihre Seegrenze fest. Die beiden Länder befinden sich technisch gesehen immer noch im Kriegszustand und unterhalten keine diplomatischen Beziehungen, was jede Art von Kontakt zwischen libanesischen und israelischen Bürgern verbietet (AlM 23.1.2023).

Am 29.8.2022 nahmen Beamte des libanesischen Generaldirektorats für Sicherheit in Bint Jbeil mehrere Männer fest, die verdächtigt wurden, ISIS-Terroristen zu sein. Ihnen wurde vorgeworfen, in den Reihen von ISIS in Syrien zu kämpfen, illegal in den Libanon einzudringen und mit Drogen und Falschgeld zu handeln (ITIC 6.9.2022).

 

Nordlibanon

Es bestehen große Spannungen in der Region, die sich durch den Konflikt in Syrien und die Anwesenheit zahlreicher Flüchtlinge verschärft haben. Es sind bewaffnete Gruppierungen aktiv, und Grenzüberschreitungen durch Kämpfer sind häufig. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen der Armee und militanten Gruppierungen oder zwischen verschiedenen politisch-religiösen Gruppierungen, vor allem in und um Ersal, Ra’s Baalbek und Qaa. Die Gefahr von weiteren Anschlägen und einer Eskalation ist groß (EDA 14.2.2023). Die Schwächung der Streitkräfte hat ihre Fähigkeit eingeschränkt, schnell auf Notsituationen zu reagieren, einschließlich Zusammenstößen zwischen bewaffneten Gruppen im Nordlibanon. Einige Gemeinden und politische Parteien in Gebieten wie Keserwane und Matn (Gouvernement Berg-Libanon), die nördlich der Hauptstadt Beirut (Gouvernement Beirut) liegen, führen lokale Maßnahmen durch, um die steigende Kriminalität zu bekämpfen, wobei die Einwohner als Wächter fungieren und abwechselnde Schichten übernehmen. Ähnliche Maßnahmen gibt es bereits in den von der schiitischen Bewegung Hizbollah kontrollierten Gebieten in den Vororten der Hauptstadt (CR 18.10.2022).

 

Grenzgebiet zu Syrien

Der Konflikt in Syrien wirkt sich auf die Sicherheitslage entlang der Grenze aus. In der Nähe der syrischen Grenze ereigneten sich in der Vergangenheit wiederholt Kämpfe zwischen extremistischen Gruppierungen und den libanesischen Streitkräften (EDA 14.2.2023).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.1.2023): Libanon: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/libanon-node/libanonsicherheit/204048 , Zugriff 16.2.2023

- AlM - Al-Monitor (23.1.2023): Lebanon's army 'on alert' following border tension with Israel, https://www.al-monitor.com/originals/2023/01/lebanons-army-alert-following-border-tension-israel , Zugriff 16.2.2023

- Alma (16.6.2022): The Mapping of Hezbollah’s Military Areas in South Lebanon, https://israel-alma.org/2022/06/16/the-mapping-of-hezbollahs-military-areas-in-south-lebanon/ , Zugriff 16.2.2023

- CIA - Central Intelligence Agency [USA] (14.2.2023): The World Factbook, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/lebanon/#people-and-society , Zugriff 16.2.2023

- CR - Control Risks (18.10.2022): Economic crisis to continue to negatively affect Lebanon's security environment, https://www.controlrisks.com/our-thinking/insights/big-picture-series-economic-crisis-to-continue-to-negatively-affect-security-environment , Zugriff 16.2.2023

- CRS - Congressional Research Service (11.1.2023): Lebanese Hezbollah, https://crsreports.congress.gov/product/pdf/IF/IF10703 , Zugriff 16.2.2023

- EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (14.2.2023): Reisehinweise für Libanon, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-information/libanon/reisehinweise-libanon.html#edafd977b , Zugriff 16.2.2023

- ITIC - Meir Amit Intelligence and Terrorism Information Center (6.9.2022): Spotlight on Terrorism: Hezbollah, Lebanon and Spotlight on Terrorism: Hezbollah, Lebanon and Syria (August 21 – September 5, 2022), https://www.terrorism-info.org.il/en/spotlight-on-terrorism-hezbollah-lebanon-and-spotlight-on-terrorism-hezbollah-lebanon-and-syria-august-21-september-5-2022/ , Zugriff 16.2.2023

- NL - Now Lebanon (27.9.2022): Security situation in Lebanon worsens as economic crisis continues, https://nowlebanon.com/security-situation-in-lebanon-worsens-as-economic-crisis-continues/ , Zugriff 16.2.2023

 

Rechtsschutz / Justizwesen

Die Verfassungsinstitutionen, insbesondere Parlament, Regierung und Justizwesen, funktionieren im Prinzip nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, sind aber in ihrer tatsächlichen Arbeit nicht- verfassungsgemäßen politischen Einflussnahmen ausgesetzt. Neben den in mehrere Instanzen gegliederten und strukturell dem französischen Justizwesen angeglichenen Zivilgerichten existieren in Libanon konfessionelle Gerichtsbarkeiten, in deren Zuständigkeit die familienrechtlichen, bei den islamischen Religionsgemeinschaften auch die erbrechtlichen Verfahren, fallen (AA 5.12.2022). Nach der libanesischen Verfassung werden die Personenstandsgesetze von jeder einzelnen Glaubensgemeinschaft erlassen, wobei das Gewohnheitsrecht mit religiösen Grundsätzen kombiniert wird (AN 26.8.2022). Frauen werden nach wie vor durch 15 verschiedene glaubensbasierte Personenstandsgesetze diskriminiert. Zu den Diskriminierungen gehört die Ungleichbehandlung beim Zugang zu Scheidung, Sorgerecht, Erbschaft und Eigentumsrechten (HRW 12.1.2023). Im Libanon gibt es außerdem keine zivile Ehe (HRW 7.2.2023). Jede der großen Glaubensgemeinschaften hat ein anderes gesetzliches Heiratsalter (AN 26.8.2022). Eine Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis, die nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität diskriminiert, ist in Libanon nicht zu erkennen. Allgemeine kriminelle Delikte werden im Rahmen feststehender straf- bzw. strafprozessrechtlicher Vorschriften nach insgesamt weitgehend rechtsstaatlichen Prinzipien verfolgt und geahndet (AA 5.12.2022).

 

Die Rechtsprechung ist gemäß Verfassung unabhängig. Es kommt jedoch zu politischerEinflussnahme. Die Einhaltung der in der Verfassung garantierten richterlichen Unabhängigkeit ist in der praktischen Durchführung durch verbreitete Korruption, chronischen Richtermangel und politische Einflussnahme eingeschränkt. Auch die Gewaltenteilung wird in der Praxis nur eingeschränkt respektiert; insbesondere in politisch brisanten Ermittlungsverfahren kommt es zur Einflussnahme auf die Justiz (AA 5.12.2022). Diverse Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz haben die laufenden Ermittlungen in einigen hochkarätigen Strafsachen der letzten Zeit beeinträchtigt, wie z.B. die Untersuchung der Explosion im Hafen von Beirut und die Untersuchung der Rolle des Gouverneurs der libanesischen Zentralbank beim finanziellen Zusammenbruch des Landes. Diese Einmischung hat einmal mehr gezeigt, wie anfällig die libanesische Justiz für willkürliche, unzulässige oder ungerechtfertigte politische Einmischungen ist, was ihre anhaltenden Mängel und die insgesamt fehlende Unabhängigkeit des libanesischen Justizsystems widerspiegelt (ICJ 12.2022).

 

Das Rechtssystem unterscheidet im Strafrechtsbereich zwischen ordentlichen undMilitärgerichten. Delikte gegen die Staatssicherheit, gegen das Militär oder deren Angehörige unterliegen dem Militärstrafrecht (AA 5.12.2022). Das Militärgericht ist außerdem zuständig für Fälle, in denen Zivilpersonen des Waffenbesitzes und der Wehrdienstverweigerung beschuldigt werden (USDOS 12.4.2022). Dabei werden die Zuständigkeiten der Militärgerichtsbarkeit oft extensiv ausgelegt, vor allem beim Vorwurf des Terrorismus. Militärgerichte verurteilen auch zivile Angeklagte wegen terroristischer Delikte mit islamistischem Hintergrund in Schnellverfahren ohne ausreichenden Rechtsbeistand. Seit Jahren (allerdings ohne greifbare Fortschritte) wird erwogen, alle Militärverfahren, wenngleich unter Beibehaltung der prozeduralen Besonderheiten, ordentlichen Gerichten zu übertragen. Gegen Urteile des sogenannten Justizrates („Conseil de Justice“) kann kein Rechtsmittel eingelegt werden. Dieses mit fünf Richtern des Kassationsgerichtshofs besetzte Gericht urteilt auf Beschluss des Ministerrates in Strafverfahren, die die nationale Sicherheit betreffen (AA 5.12.2022). Andersrum können zwar auch zivile Gerichte gegen Militärangehörige vorgehen, doch werden diese Fälle häufig vom Militärgericht verhandelt, auch wenn es sich um Anklagen handelt, die nichts mit dem offiziellen Militärdienst zu tun haben. Menschenrechtsaktivisten äußern die Befürchtung, dass solche Verfahren zu Straffreiheit führen könnten (USDOS 12.4.2022).

 

Verwaltung und Justiz in den palästinensischen Flüchtlingslagern sind sehr unterschiedlich, wobei die meisten Lager unter der Kontrolle gemeinsamer palästinensischer Sicherheitskräfte stehen, die mehrere Fraktionen repräsentieren. Die palästinensischen Gruppen in den Flüchtlingslagern verfügen über ein autonomes Justizsystem, das für Außenstehende meist nicht transparent ist und sich der Kontrolle des Staates entzieht. So versuchen beispielsweise lokale Volkskomitees in den Lagern, Streitigkeiten durch informelle Vermittlungsmethoden zu lösen, übergeben aber gelegentlich Personen, die schwerwiegenderer Vergehen (z. B. Mord und Terrorismus) beschuldigt werden, den staatlichen Behörden zur Verhandlung (USDOS 12.4.2022).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon (Stand 7.10.2022),

https://www.ecoi.net/en/file/local/2083550/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Libanon_%28Stand_07.10.2022%29%2C_05.12.2022.pdf , Zugriff 3.2.2023

- AN - Arab News (26.8.2022): Early marriage blights lives of young girls in Lebanon’s marginalized communities, https://www.arabnews.com/node/2030696/middle-east , Zugriff 7.2.2023

- HRW - Human Rights Watch (7.2.2023): Lebanon Rejects Civil Marriages, Puts Children at Risk, https://www.hrw.org/news/2023/02/07/lebanon-rejects-civil-marriages-puts-children-risk , Zugriff 7.2.2023

- HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 – Lebanon, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085471.html , Zugriff 3.2.2023

- ICJ - International Commission of Jurists (12.2022): Lebanon: Upholding Judicial Independence Discussion and Recommendations on the Draft Law on the Independence of the Judiciary - An Advocacy Paper, https://icj2.wpenginepowered.com/wp-content/uploads/2022/12/LEBANON-Judicial-Independens-ENG-full.pdf , Zugriff 7.2.2023

- USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Lebanon, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071165.html , Zugriff 3.2.2023

 

Sicherheitsbehörden

Im Libanon gibt es drei große Sicherheitsbehörden: die Internal Security Forces (ISF), die General Security (GS) und die Generaldirektion für Staatssicherheit (GDSS). Diese Behörden haben unterschiedliche, sich jedoch manchmal überschneidende Aufgaben. Die ISF stellen die größte Sicherheitskraft (ISPI 2.8.2022). Sie sind die allgemein zuständige Polizei des Staates und gleichzeitig Hilfsorgan der Justiz (z.B. zum Führen des Kriminalregisters), sie werden durch einen sunnitischen General geleitet (AA 5.12.2022) und unterstehen dem (ebenfalls sunnitischen) Innenminister (USDOS 12.4.2022; vgl. AA 5.12.2022). Sie sind für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Stabilität zuständig, einschließlich des Schutzes von Eigentum und Personen sowie der Durchsetzung von Gesetzen und Vorschriften (ISPI 2.8.2022). Die demgegenüber schiitisch geprägte GS hat neben Fragen der Ein- und Ausreisekontrollen auch eine nachrichtendienstliche Funktion inne (AA 5.12.2022; vgl. ISPI 2.8.2022). Die GS untersteht ebenfalls dem Innenministerium (USDOS 12.4.2022). Die GDSS ist die kleinste Sicherheitsbehörde (ISPI 2.8.2022). Sie ist über den Obersten Verteidigungsrat dem Premierminister unterstellt und ist für die Untersuchung von Spionage und anderen Angelegenheiten der nationalen Sicherheit zuständig. Die parlamentarische Polizeitruppe (PPF) ist dem Parlamentspräsidenten unterstellt und hat die Aufgabe, die Räumlichkeiten des Parlaments und die Residenz des Parlamentspräsidenten zu schützen. Sowohl die ISF als auch die libanesischen Streitkräfte (LAF) stellen Einheiten für die PPF bereit (USDOS 12.4.2022). Die LAF, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die äußere Sicherheit zuständig, dürfen aber aus Gründen der nationalen Sicherheit Verdächtige festnehmen und inhaftieren (USDOS 12.4.2022). Anders als die anderen Sicherheitsinstitutionen gilt die Armee als parteipolitisch und konfessionell weitgehend neutral (trotz eines stets christlichen Oberbefehlshabers und zahlreicher christlicher Generäle) und genießt grundsätzlich hohes Ansehen in allen Bevölkerungsteilen (AA 5.12.2022).

 

Ein Polizeigesetz im engeren Sinne gibt es nicht. Dass die Institutionen einer bestimmten Konfession und ihrem politischen Lager zuzuordnen sind, beeinflusst teilweise spürbar die Zusammenarbeit untereinander (AA 5.12.2022). Berichten zufolge zwingt die anhaltende wirtschaftliche, politische und soziale Krise im Libanon die Bewohner dazu, ihre Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen, und es bilden sich Nachbarschaftswachen, die dort einspringen, wo die staatliche Sicherheit versagt hat (AlM 17.12.2022; vgl. Haaretz 29.11.2022). Die Auswirkungen der wirtschaftlichen Probleme des Landes auf die Sicherheitskräfte sind besonders besorgniserregend, da die grassierende Inflation die operativen Budgets der libanesischen Sicherheitsbehörden und die Gehälter ihrer Mitarbeiter entwertet hat. Die Moral hat sich verschlechtert, viele Mitarbeiter gehen einer Schwarzarbeit nach und eine wachsende Zahl desertiert. Die Fähigkeit des Staates, die Straßen zu kontrollieren, wird immer schwächer, vor allem in den Randgebieten, während die Kriminalitätsrate drastisch ansteigt. Immer mehr Bürger kaufen Schusswaffen auf dem Schwarzmarkt, um ihre Familien und ihr Eigentum zu schützen. Es bildet sich ein Mosaik lokaler Sicherheitsvorkehrungen, bei dem sich Gemeindepolizisten und Aktivisten politischer Parteien mit kommerziellen Anbietern und Freiwilligen aus der Bevölkerung zusammentun, um die Sicherheit in den Vierteln und Dörfern zu gewährleisten (ICG 27.1.2022). Dennoch erhalten die zivilen Behörden die Kontrolle über die Streitkräfte der Regierung und andere Sicherheitskräfte, obwohl palästinensische Sicherheits- und Milizkräfte, die Hizbollah und andere extremistische Elemente außerhalb der Leitung oder Kontrolle der Regierungsbeamten operieren. Die Sicherheitskräfte der Regierung sowie bewaffnete nichtstaatliche Akteure wie die Hizbollah setzen die Praxis der außergerichtlichen Verhaftung und Inhaftierung fort, einschließlich der Inhaftierung in Isolationshaft. NGOs berichten, dass Straflosigkeit ein erhebliches Problem bei den Sicherheitskräften, einschließlich der ISF, der LAF und der PPF, darstellt. Straflosigkeit ist auch ein Problem in Bezug auf die Handlungen bewaffneter nichtstaatlicher Akteure wie der Hizbollah. Auf Fotos und Videos wurden Personen, die der PPF angehören sollen, dabei gefilmt, wie sie während der Proteste im August 2020 mit scharfer Munition auf Demonstranten schossen (USDOS 12.4.2022).

 

Die staatlichen Institutionen haben in Teilen des Landes keinen uneingeschränkten Zugriff, bspw. in den palästinensischen Flüchtlingslagern (AA 5.12.2022). Die Flüchtlingslager waren für die libanesischen Behörden bekanntermaßen tabu (T961 19.1.2023). Auch in anderen Landesteilen schränkt die Existenz nicht-staatlicher Akteure die Zugriffsmöglichkeiten der Staatsorgane ein. Dies gilt insbesondere für die südlichen Vororte Beiruts und die schiitischen Siedlungsgebiete in der Bekaa-Ebene und im Süden des Landes, in denen die Hizbollah präsent ist und Druck auf staatliche Institutionen ausübt. So sind z.B. in diesen Gebieten polizeiliche Ermittlungen oder auch die Präsenz der libanesischen Armee nur eingeschränkt möglich (AA 5.12.2022).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon (Stand 7.10.2022),

https://www.ecoi.net/en/file/local/2083550/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Libanon_%28Stand_07.10.2022%29%2C_05.12.2022.pdf , Zugriff 7.2.2023

- AlM - Al Monitor (17.12.2022): As Lebanon unravels, Beirut neighborhood takes security into its own hands, https://www.al-monitor.com/originals/2022/12/lebanon-unravels-beirut-neighborhood-takes-security-its-own-hands , Zugriff 7.2.2023

- Haaretz (29.11.2022): Beirut ‘Neighborhood Watch’ Echoes Lebanon’s Troubled Past, https://www.haaretz.com/middle-east-news/2022-11-27/ty-article/beirut-neighborhood-watch-echoes-lebanons-troubled-past/00000184-b86c-db6f-a9ac-feed96bf0000 , Zugriff 7.2.2023

- ICG - International Crisis Group (27.1.2022): Lebanon: Fending Off Threats from Within and Without, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/east-mediterranean-mena/lebanon/lebanon-fending-threats-within-and-without , Zugriff 7.2.2023

- ISPI - Italian Institute for International Political Policy (2.8.2022): Lebanon: New Challenges to the Delivery of Security Assistance, http://www.ispionline.it/en/publication/lebanon-new-challenges-delivery-security-assistance-35928 , Zugriff 7.2.2023

- T961 - The 961 (19.1.2023): Murderer Who Escaped From Sweden Was Just Caught In Palestinian Refugee Camp In Lebanon, https://www.the961.com/murderer-escaped-sweden-caught-palestinian-refugee-camp-lebanon/ , Zugriff 9.2.2023

- USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Lebanon, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071165.html , Zugriff 7.2.2023

 

NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Im Libanon sind zahlreiche lokale und internationale, im öffentlichen Leben deutlich wahrnehmbare Menschenrechtsorganisationen tätig. Die große Mehrheit von ihnen kann grundsätzlich frei arbeiten. Allerdings beklagen auch sie, wie viele zivilgesellschaftliche Organisationen, einen abnehmenden Handlungsspielraum und mitunter ein Klima der Bedrohung seitens nicht-staatlicher Akteure (z.B. durch die Hizbollah) (AA 5.12.2022). NGOs müssen das in Grundzügen seit 1909 bestehende Vereinsgesetz und andere anwendbare Gesetze in Bezug auf Arbeit, Finanzen und Einwanderung einhalten. Auch ist eine Registrierung beim Innenministerium erforderlich, womit unter Umständen ein Genehmigungsverfahren verbunden ist. NGOs sehen sich manchmal bürokratischen Behinderungen oder Einschüchterungen durch die Sicherheitsdienste ausgesetzt, je nachdem, in welchem Bereich sie tätig sind oder welche Initiativen sie ergreifen (FH 24.2.2022). Rechtlich erschwert bleibt die Gründung von Organisationen für Ausländer; dies macht es palästinensischen und syrischen Flüchtlingen de facto unmöglich, unabhängig von libanesischen Partnern NGOs zur Verfolgung ihrer Interessen zu gründen. In der Praxis treten libanesische Staatsangehörige für palästinensische und syrische Flüchtlinge als Gründer und Organe auf (AA 12.5.2022).

 

Organisationen der Zivilgesellschaft und NGOs spielten unter anderem bei der Katastrophenbewältigung im Zusammenhang mit der Explosion im Hafen von Beirut im Jahr 2020 eine entscheidende Rolle, da sie kurzfristige Soforthilfe und humanitäre Hilfe leisten konnten. Sie leisten auch langfristige Hilfe, um die Menschen bei der Bewältigung der multidimensionalen Krise im Libanon zu unterstützen (ICNL 14.11.2022). Die libanesische Zivilgesellschaft hat demnach eine führende Rolle dabei gespielt, auf die Bedürfnisse der Gesellschaft zu reagieren und Lücken im öffentlichen Sektor zu schließen (RDPP 12.12.2022).

 

Versuche der Einschüchterung und Beeinflussung durch politische Institutionen oder nichtstaatliche Akteure haben während des Jahres 2022 zugenommen. Dabei werden z.B. NGOs, die internationale Unterstützung erhalten, teilweise als ausländische Agenten diffamiert (AA 5.12.2022). In Gebieten, die von der Hizbollah beherrscht werden, sind unabhängige NGOs Schikanen und Einschüchterungen ausgesetzt, einschließlich sozialem, politischem und finanziellem Druck. Berichten zufolge bezahlte die Hizbollah Jugendliche, die in „inakzeptablen“ NGOs arbeiteten, damit sie die Gruppen verließen (USDOS 12.4.2022)

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon (Stand 7.10.2022),

https://www.ecoi.net/en/file/local/2083550/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Libanon_%28Stand_07.10.2022%29%2C_05.12.2022.pdf , Zugriff 8.2.2023

- FH - Freedom House (24.2.2022): Freedom in the World 2022 – Lebanon, https://www.ecoi.net/en/document/2071882.html , Zugriff 8.2.2023

- ICNL - International Center for Not-For-Profit Law (14.11.2022): Lebanon, https://www.icnl.org/resources/civic-freedom-monitor/lebanon , Zugriff 30.1.2023

- RDPP - Region Development & Protection Programme [Lone Bildsøe Lassen, Ayla-Kristina Olesen Yurtaslan & Maisa Shquier (authors)] (12.12.2022): Localization of Aid in Jordan and Lebanon. A longitudinal qualitative study, https://rdpp-me.org/assets/RDPP%20Localization%20Study.pdf , Zugriff 1.2.2023

- USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Lebanon, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071165.html , Zugriff 8.2.2023

 

Bewegungsfreiheit

Das Gesetz gewährt Bewegungsfreiheit in Bezug auf Auslandsreisen, Emigration und Wiedereinbürgerung, und die Regierung respektierte grundsätzlich diese Rechte. Einschränkungen gibt es nur für Flüchtlinge und Asylsuchende, von denen die meisten aus Palästina, Syrien und dem Irak stammen (USDOS 12.4.2022) [Anm.: Für detaillierte Informationen wird auf das entsprechenden Kapitel 20 „IDPs und Flüchtlinge“ verwiesen]. Berichten zufolge werden im Libanon diskriminierende Ausgangssperren verhängt, die sich gegen ausländische oder syrische Staatsangehörige richten (MRG 31.1.2022; vgl. USDOS 12.4.2022). Während die Gemeinden ursprünglich Sicherheitsbedenken als Rechtfertigung für die Verhängung von Ausgangssperren für syrische Bürger anführten, insbesondere im Zusammenhang mit dem syrischen Bürgerkrieg und seinen Folgen im Libanon, lieferte die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie eine zusätzliche Rechtfertigung für die Einschränkung der Bewegungsfreiheit syrischer Bürger. Während der Pandemie wurde berichtet, dass mindestens 21 libanesische Gemeinden Beschränkungen für syrische Flüchtlinge eingeführt hatten, die nicht für libanesische Bürger gelten (MRG 31.1.2022).

 

Kontrollpunkte sind im Libanon weit verbreitet (AA 5.12.2022). Bewaffnete nichtstaatliche Akteure behindern oder verhindern die Bewegungsfreiheit in den von ihnen kontrollierten Gebieten. Bspw. kontrollieren Bewaffnete Hizbollah-Mitglieder den Zugang zu einigen von der Hizbollah kontrollierten Gebieten (USDOS 12.4.2022).

 

Libanon kann auf dem Landweg derzeit nur in Richtung Syrien verlassen werden. Aufgrund des besonderen Charakters der Beziehungen zwischen den beiden Staaten können libanesische Staatsangehörige mit Personalausweis über einen der sechs offiziellen Grenzübergänge problemlos nach Syrien ein- und ausreisen. Auch die „grüne Grenze“ zwischen Libanon und Syrien ist trotz einer gewissen Verbesserung der Grenzüberwachung nach wie vor durchlässig; die Grenze wurde allerdings seit Mitte 2011 in Teilbereichen auf syrischer Seite vermint. Die Demarkationslinie (Blaue Linie) zu Israel ist für den Grenzverkehr geschlossen und wird durch einen durchgehenden Grenzzaun/-mauer auf israelischer Seite befestigt (AA 5.12.2022).

 

Innerhalb der Familien übten die Männer mitunter eine beträchtliche Kontrolle über weibliche Verwandte aus, indem sie deren Aktivitäten außerhalb des Hauses oder deren Kontakt zu Freunden und Verwandten einschränkten (USDOS 12.4.2022). Verheiratete Frauen benötigen für die Ausstellung eines Reisepasses die Zustimmung des Ehemannes (AA 5.12.2022).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon (Stand 7.10.2022),

https://www.ecoi.net/en/file/local/2083550/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Libanon_%28Stand_07.10.2022%29%2C_05.12.2022.pdf , Zugriff 27.1.2023

- MRG - MENA Rights Group (31.1.2022): Joint report on the erosion of the non-refoulement principle in Lebanon since 2018, https://menarights.org/en/documents/joint-report-erosion-non-refoulement-principle-lebanon-2018 , Zugriff 27.1.2023

- USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Lebanon, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071165.html , Zugriff 27.1.2023

 

Grundversorgung und Wirtschaft

Der Libanon befindet sich seit drei Jahren in einer Wirtschafts- und Finanzkrise, die zu den schlimmsten der Welt zählt (WB 14.4.2022; vgl. NPR 5.6.2022). Die wirtschaftliche Situation hat sich seit Oktober 2019 immer weiter verschlechtert (EUI 12.1.2022; vgl. AA 5.12.2022). Mitten in dieser Krise forderte die Explosion im August 2021 im Hafen von Beirut mehr als 200 Tote, mehr als 6.500 Verletzte und 300.000 Obdachlose. Dieses verheerende Ereignis verschlimmerte die ohnehin schon katastrophale sozioökonomische Lage im Land (EUI 12.1.2022).

 

Die Währung des krisengeschüttelten Libanon, die einst einen Wert von 1.500 pro USD hatte, ist seit Ende 2019 auf Talfahrt und hat seitdem über 90 % ihres Wertes verloren (ABCNEWS 19.1.2023; vgl. TNN 19.1.2023, KAKE 20.1.2023). Die Finanzkrise hat drei Viertel der Bevölkerung in die Armut gestürzt, und Millionen von Menschen haben mit einer der höchsten Inflationsraten der Welt zu kämpfen (ABCNews 19.1.2023). Der drastische Verfall der Währung treibt die Inflation weiter in die Höhe, die sich seit Juli 2020 im dreistelligen Bereich bewegt. Die Inflation lag im Jahr 2021 bei durchschnittlich 150 % und in der ersten Hälfte des Jahres 2022 bei durchschnittlich 218 % und erreichte im Januar 2022 einen Höchststand von 240 % (im Vergleich zum Vorjahr). Der Inflationsdruck wurde durch den Anstieg der weltweiten Lebensmittelpreise seit Beginn des Ukraine-Kriegs noch verschärft. Die Inflation wirkt wie eine höchst regressive Steuer, die die Armen und Schwachen der libanesischen Gesellschaft unverhältnismäßig stark trifft, zumal Grunderzeugnisse, darunter Lebensmittel, die Haupttreiber der Gesamtinflation sind (WB 23.11.2022). Im Juni 2022 lag die Inflation bei Lebensmitteln bei 332 % (WB 23.11.2022; vgl. HRW 12.1.2023). Der Libanon zählt zu den weltweit am stärksten verschuldeten Staaten (WZ 4.11.2022). Die wirtschaftliche Schrumpfung und die Währungsabwertung tragen zu einer ohnehin schon unhaltbaren Schuldendynamik bei. Die öffentliche Verschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt erreicht den Prognosen zufolge im Jahr 2021 172,5 % und im Jahr 2022 180,7 % (WB 23.11.2022). Im Jahr 2020 trugen Auslandsüberweisungen in der Höhe von 6,63 Mrd. USD zu ungefähr 25,6 % des BIP im Libanon bei. Für Familien, die Gelder aus dem Ausland erhalten, machen die Überweisungen im Durchschnitt 40 % des gesamten Haushaltseinkommens aus und ermöglichen dadurch den Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, die sonst nur schwer leistbar wären (WKO 10.2022).

 

Am 4.4.2022 gab der stellvertretende Premierminister die Illiquidität des Libanon und der Libanesischen Zentralbank (Banque de Liban, BDL) bekannt, nachdem der Staat seine Schulden nicht begleichen konnte (WKO 10.2022). Der Zusammenbruch der Banken, der durch ausbleibende Investoren und nicht gedeckte Schulden ausgelöst wurde, hat für einen Großteil der Menschen gravierende Auswirkungen. Die Staatsanwaltschaft fror kurzerhand über Nacht sämtliche Guthaben von 20 Banken ein. Betroffen sind auch Fremdwährungen. Es werden im Höchstfall an Sparer nur wenige hundert Dollar pro Monat ausgezahlt. Die nie per Gesetz legalisierte Kapitalkontrolle betrifft alle Bürger, sofern diese noch nicht in die Armut abgerutscht sind (WZ 4.11.2022). Inmitten der sich verschärfenden und ausweitenden Bankenkrise im Libanon, hat die Frustration bei einigen Anlegern zu radikalen Maßnahmen geführt, als die Landeswährung auf dem Schwarzmarkt einen neuen Tiefstand gegenüber dem Dollar erreichte (WKO 10.2022). So kam es zu vermehrten Banküberfällen von verzweifelten Kunden, die ihre Geldeinlagen einforderten um ihre Ersparnisse gegen den Kursverfall zu retten (WKO 10.2022; vgl. WZ 4.11.2022; PC 27.12.2022). Infolgedessen erklärten die libanesischen Banken Mitte September 2022 einen Generalstreik und verlangten staatliche Maßnahmen, um ein sicheres Arbeitsumfeld zu gewährleisten. Nachdem für eine Woche sämtliche Banken geschlossen waren, hat der libanesische Bankenverband erklärt, dass die Banken in begrenzten Umfang für Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Krankenhäusern wieder geöffnet sind (WKO 10.2022). Manche Banken haben Betonmauern und Stacheldraht um ihre Gebäude gezogen, damit aufgebrachte Bürger sie nicht mehr stürmen können (WZ 9.1.2023).

 

Laut einer von der Staatendokumentation des BFA in Auftrag gegebenen Umfrage des Instituts Statistics Lebanon sind lediglich 34,84 % der in der Studie befragten Libanesen durchgehend erwerbstätig, während 17,74 % einer Gelegenheitsarbeit nachgehen (SL 2022). Steigende Arbeitslosigkeit, eine abwertende Landeswährung, eine explodierende Inflation und die Streichung von Subventionen haben es vielen Menschen erschwert, ihre Grundbedürfnisse zu decken (HRW 12.12.2022). Inzwischen wurden fast alle Subventionen auf Treibstoff, Nahrungsmittel und medizinische Güter abgebaut (AA 5.12.2022). Die Preise für Strom, Wasser und Gas sind in die Höhe geschnallt und stiegen zwischen Juni 2021 und Juni 2022 um 595 % (HRW 12.1.2023). Immer mehr Erwachsene lassen Mahlzeiten ausfallen oder können sich keine Medikamente leisten, gleichzeitig müssen immer mehr Kinder arbeiten gehen, um ihre Familien zu unterstützen. Erschwerend kommt hinzu, dass der anhaltende Krieg in der Ukraine die Preise für Grundnahrungsmittel und Energie weiter in die Höhe treibt. Vor dem Krieg bezog der Libanon 80 % der gesamten Weizeneinfuhren aus der Ukraine und 15 % aus Russland, wie aus libanesischen Zollangaben hervorgeht. Niedrige Einkommen und dreistellige Inflationsraten führen dazu, dass sich viele Menschen lebenswichtige Güter und Dienstleistungen nicht mehr leisten können (HRW 12.12.2022). Dreiviertel der Bevölkerung, insb. im Nord-Libanon (Region Akkar), in der nördlichen Bekaa-Ebene (insb. Region Hermel) sowie in Süd-Libanon, leben an oder unter der Armutsgrenze von ca. 4 USD pro Tag (AA 5.12.2022; vgl. ACAP 31.5.2022). 82 % der Bevölkerung leben in mehrdimensionaler Armut in Bezug auf das Einkommen und verschiedene Aspekte der Lebensbedingungen (ACAP 31.5.2022; vgl. UNESCWA 3.9.2021). Gefährdete Bevölkerungsgruppen, darunter vertriebene Syrer, palästinensische Flüchtlinge aus Syrien (PRS) und palästinensische Flüchtlinge im Libanon (PRL), sind besonders von einem starken Anstieg der Armut, Lücken in wichtigen Versorgungsketten und Einschränkungen beim Zugang zu Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung, Bildung und anderen grundlegenden Dienstleistungen betroffen (GoL & UN 1.2022; vgl. HRW 12.1.2023).

 

Rund zwei Millionen Menschen im Libanon, darunter 1,29 Millionen Libanesen und 700.000 syrische Flüchtlinge, sind derzeit von Ernährungsunsicherheit betroffen (UN 19.1.2023; vgl. KAKE 20.1.2023). Die erste integrierte Analyse der akuten Ernährungsunsicherheit im Libanon (Integrated Food Security Phase Classification, IPC) prognostiziert, dass sich die Situation zwischen Januar und April 2023 weiter verschlechtern wird. Der Analyse zufolge ist die akute Ernährungsunsicherheit der libanesischen Bevölkerung im Bezirk Akkar am höchsten, gefolgt von Baabda, Baalbek und Tripoli (UN 19.1.2023). Laut Human Rights Watch hat die Ernährungsunsicherheit ein alarmierendes Ausmaß erreicht, was dazu führt, dass viele Familien, darunter auch Kinder, regelmäßig hungern müssen (HRW 12.12.2022). Laut der Umfrage von Statistics Lebanon schaffen es lediglich 13,55 % der Befragten, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. Eine Mehrheit von 71,94 % der Befragten kann ihren Haushalt gerade noch mit ausreichend Lebensmitteln versorgen (36,13 %) oder kann dies kaum noch tun (35,81 %) (SL 2022).

 

Auch die Elektrizitätsversorgung im Libanon ist weiterhin unzureichend. Fast 34 % des Stroms geht durch „technische Verluste“ wie Netzausfälle und „nichttechnische Verluste“, einschließlich Diebstahl, verloren. Seit der Explosion am Beiruter Hafen hat sich im ganzen Land die Stromversorgung, allem voran durch die immer schlimmer werdende finanzielle Situation, extrem verschlechtert. Zuletzt führte der Mangel an Treibstoff in den wichtigsten Kraftwerken des Landes zu einem flächendeckenden Zusammenbruch des Stromnetzes (WKO 10.2022). Des Weiteren kann sich die libanesische Regierung den Brennstoff für die lokalen Kraftwerke nicht leisten. Somit kommt es zu Stromausfällen, welche bis zu 22 Stunden pro Tag dauern (WKO 10.2022; vgl. HRW 12.1.2023). Die meisten Haushalte besitzen trotz der nahezu täglichen Stromausfälle noch immer keinen Generator, bzw. kann die Hausgemeinschaft sich den Treibstoff für den Betrieb der Aggregate nicht mehr leisten (WZ 15.1.2023). Während die weit verbreiteten Stromausfälle alle Libanesen betreffen, hat die Krise die Ungleichheit im Land noch verschärft (HRW 12.1.2023).

 

Die Gespräche zwischen der libanesischen Regierung und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) haben zu einer Einigung über ein Unterstützungsprogramm im Wert von rund 3 Mrd. USD für die nächsten 46 Monate geführt. Ein finanzieller Sanierungsplan zum Schutz der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft wurde jedoch nicht aufgenommen (DW 19.1.2023). Der Libanon muss außerdem noch entscheidende Struktur- und Finanzreformen durchführen, die erforderlich sind, um 3 Mrd. USD an IWF-Hilfe freizusetzen (TNN 17.1.2023).

 

 

 

Versicherungsdienstleistungen

Das libanesische Sozialschutzsystem ist ein zweigeteiltes Modell, das eine Sozialversicherung für die Bessergestellten und Sozialhilfe für die extrem Armen vorsieht, während ein großer Teil der Menschen mit mittlerem oder niedrigem Einkommen ausgeschlossen ist. Die Sozialversicherung umfasst eine Reihe von beitragsabhängigen Programmen über den Nationalen Sozialversicherungsfonds (NSSF), die an eine formelle Beschäftigung in einem Arbeitsmarkt gebunden sind, der überwiegend informell ist, sodass viele keinen Anspruch auf das Programm haben (HRW 12.12.2022). Laut einer Studie der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) können lediglich 22,2 % der Beschäftigungsverhältnisse in der Stichprobe als formell bezeichnet werden, während 67,4 % aller Beschäftigten im informellen Sektor tätig sind. Syrer und Palästinenser weisen mit 95 % bzw. 93,9 % einen extrem hohen Anteil an informeller Beschäftigung auf (ILO 12.8.2021). Für arme Libanesen besteht bislang nur ein rudimentäres System der sozialen Sicherung in Form des nationalen Armutsprogramms (NPTP) (AA 5.12.2022). Trotz des alarmierenden Ausmaßes der Ernährungsunsicherheit ist die Abdeckung gering: Nach eigenen Angaben des Programms profitieren 3,5 % der Bevölkerung von dem Programm (HRW 12.12.2022). Anderen Angaben zufolge erhalten derzeit lediglich 63.993 Familien Nahrungsmittelhilfe in Höhe von 20 USD pro Kopf/pro Monat im Rahmen des NPTP. Die Unterstützung macht ca. 2/3 Drittel des im August 2022 festgelegten Survival Minimum Expenditure Basket (SMEB) aus. Die Anzahl der Haushalte soll bis Januar 2023 auf 75.000 erhöht werden (AA 5.12.2022). Während der Covid-19-Pandemie initiierte die Regierung außerdem das Programm Emergency Social Safety Net (ESSN), das mit einem Weltbankdarlehen in Höhe von 246 Millionen USD für drei Jahre finanziert wurde, um den Schutz und die Bereitstellung von Sozialleistungen für extrem arme Haushalte auszuweiten. Die Einführung des Programms begann im März 2022 mit dem Ziel, bis 2025 786.000 Personen, etwa 11,6 % der Bevölkerung, mit Bargeld zu unterstützen (HRW 12.12.2022). Die Einführung eines weiteren sozialen Sicherungsprogramms „ratio card“-System der Regierung für etwa 500.000 Haushalte wurde 2021 angekündigt, aber bislang nicht umgesetzt. Es existiert zudem weder eine allgemeine Arbeitslosen- noch eine Rentenversicherung. Wesentliches Element sozialer Sicherung ist die Familie, daneben karitative und religiöse Einrichtungen (immer nur für die jeweilige Religionsgruppe) (AA 5.12.2022).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon (Stand 7.10.2022),

https://www.ecoi.net/en/file/local/2083550/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Libanon_%28Stand_07.10.2022%29%2C_05.12.2022.pdf , Zugriff 23.1.2023

- ABCNews (19.1.2023): Lebanese pound hits new low as political deadlock persists, https://abcnews.go.com/International/wireStory/lebanese-pound-hits-time-low-deadlock-persists-96527522 , Zugriff 20.1.2023

- ACAP - The Assessment Capacities Project (31.5.2022): https://www.acaps.org/sites/acaps/files/products/files/20220531_acaps_briefing_note_lebanon_impact_of_crisis_on_children.pdf , Zugriff 20.1.2023

- DW - Deutsche Welle (19.1.2023): Lebanon's middle class vanishes as economy collapses, https://www.dw.com/en/lebanons-middle-class-vanishes-as-economy-collapses/a-64442064 , Zugriff 23.1.2023

- EUI - European Union Institute (12.1.2022): Lebanon: How the Post War’s Political Economy Led to the Current Economic and Social Crisis, https://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/73856/QM-01-22-031-EN-N.pdf , Zugriff 20.1.2023

- GoL & UN - Government of Lebanon and the United Nations [Lebanon] (1.2022): Lebanon Crisis Response Plan 2022-2023, https://www.3rpsyriacrisis.org/wp-content/uploads/2022/06/LCRP-2022_FINAL.pdf , Zugriff 23.1.2023

- HRW - Human Rights Watch (12.12.2022): Lebanon: Rising Poverty, Hunger Amid Economic Crisis, https://www.hrw.org/news/2022/12/12/lebanon-rising-poverty-hunger-amid-economic-crisis , Zugriff 23.1.2023

- ILO - International Labour Organization (12.8.2021): Assessing Informality and Vulnerability among Disadvantaged Groups in Lebanon: A Survey of Lebanese, and Syrian and Palestinian Refugees, https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---arabstates/---ro-beirut/documents/publication/wcms_816649.pdf , Zugriff 23.1.2023

- KAKE (20.1.2023): Lebanon to restore UN payments 'immediately' after losing voting rights in General Assembly, https://www.kake.com/story/48197739/lebanon-to-restore-un-payments-immediately-after-losing-voting-rights-in-general-assembly , Zugriff 23.1.2023

- NPR - National Public Radio (5.6.2022): Lebanon's hospitals are running out of medicine and staff in ongoing economic crisis, https://www.npr.org/sections/goatsandsoda/2022/06/05/1102214169/lebanons-hospitals-are-running-out-of-medicine-and-staff-in-ongoing-economic-cri , Zugriff 20.1.2023

- PC - Purlitzer Center (27.12.2022): My Money or Your Life: The Bank Robbers of Beirut, https://pulitzercenter.org/stories/my-money-or-your-life-bank-robbers-beirut , Zugriff 23.1.2023

- SL - Statistics Lebanon Ltd, Hrsg.: Country of Origin Information Unit (Staatendokumentation), BFA (2022): Lebanon. Socio-economic survey 2022

- TNN - The National News (19.1.2023): Workers hopeless as Lebanese pound plummets to 50,000 to the dollar, https://www.thenationalnews.com/mena/lebanon/2023/01/19/workers-hopeless-as-lebanese-pound-plummets-to-50000-to-the-dollar/ , Zugriff 23.1.2023

- TNN - The National News (17.1.2023): Lebanon’s tax revenue more than halved from 2019-2021, IMF says, https://www.thenationalnews.com/business/economy/2023/01/17/lebanons-tax-revenue-more-than-halved-from-2019-2021-imf-says/ , Zugriff 23.1.2023

- UN - United Nations (19.1.2023): Around 2 million facing food insecurity across Lebanon, https://news.un.org/en/story/2023/01/1132642 , Zugriff 23.1.2023

- UNESCWA - United Nations Economic and Social Commission for Western Asia (3.9.2021): Multidimensional poverty in Lebanon (2019-2021) - Painful reality and uncertain prospects, https://www.unescwa.org/sites/default/files/news/docs/21-00634-_multidimentional_poverty_in_lebanon_-policy_brief_-_en.pdf , Zugriff 23.1.2023

- WB - World Bank (23.11.2022): LEBANON ECONOMIC MONITOR: Time for an Equitable Banking Resolution, https://documents1.worldbank.org/curated/en/099927411232237649/pdf/IDU08288b3490ed820409e0886a08ea1efef93be.pdf , Zugriff 23.1.2023

- WB - World Bank (14.4.2022): Lebanon's Economic Update — April 2022, https://www.worldbank.org/en/country/lebanon/publication/economic-update-april-2022 , Zugriff 20.1.2023

- WKO – Wirtschatskammer Österreich [Österreich] (10.2022): Außenwritschaft – Wirtschaftsbericht Libanon, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/libanon-wirtschaftsbericht.pdf , Zugriff 23.1.2023

- WZ - Wiener Zeitung (15.1.2023): Krisenstaat ohne Exit-Strategie, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2134289-Krisenstaat-ohne-Exit-Strategie.html , Zugriff 23.1.2023

- WZ - Wiener Zeitung (9.1.2023): "Wir haben hier nur noch Zombiebanken", https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2173684-Wir-haben-hier-nur-noch-Zombiebanken.html , Zugriff 23.1.2023

 

Medizinische Versorgung

Staatliche Krankenhäuser gibt es in allen größeren Städten. Auch sehr spezielle Behandlungen (Operationen am offenen Herzen, Krebstherapien) können im Land grundsätzlich durchgeführt werden. Die Nachversorgung kriegsbedingter Behinderungen ist möglich (inkl. Transplantationen). Lediglich Patienten mit sehr seltenen oder schwersten Erkrankungen müssen zwingend ins Ausland überwiesen werden, etwa schwerste Brandverletzungen (AA 5.12.2023). Die Wirtschaftskrise im Libanon hat allerdings auch Folgen für den Betrieb von Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen. Es mangelt an Intensivstationen, Dialyseeinheiten und Kühlketten, was Sterilisations- und Diagnoseverfahren beeinträchtigt (ACAPS 31.5.2022). Aufgrund von Personalmangel und Engpässen bei der Versorgung mit Medikamenten, Treibstoff, Strom und Wasser müssen libanesische Krankenhäuser die Bereitstellung von Gesundheitsleistungen rationieren und Prioritäten setzen (ACAPS 31.5.2022; vgl. NPR 5.6.2022). Dies beeinträchtigt vor allem die Qualität der Gesundheitsversorgung von Frauen und Kindern erheblich (UNICEF 21.4.2022; vgl. NPR 5.6.2022).

 

Die Abwanderung tausender Ärzte und Krankenpflegepersonal aus dem Libanon, der Mangel an Medikamenten und medizinischem Material sowie Stromausfälle haben das Gesundheitswesen in eine Krise gestürzt (HRW 12.1.2023). Seit 2019 haben fast 40 % der Ärzte und 30 % des registrierten Krankenpflegepersonal den Libanon aufgrund der Wirtschaftskrise dauerhaft oder vorübergehend verlassen. Der daraus resultierende Personalmangel hat dazu geführt, dass Krankenhäuser Stationen geschlossen haben, was ihre Fähigkeit, Gesundheitsdienstleistungen zu erbringen, beeinträchtigt (ACAPS 31.5.2022). Fast alle privaten Krankenhäuser schlossen einige ihrer Abteilungen. Seit Sommer 2021 haben viele Abteilungen wieder geöffnet und die Honorare für Ärzte und für das Krankenpflegepersonal wurden in libanesischen Pfund minimal angepasst. 18 der 163 privaten Krankenhäuser sind aufgrund der finanziellen Situation von der Schließung bedroht (MedCOI 17.6.2022).

 

Angesichts der explodierenden Inflation haben einige private Krankenhäuser die Behandlungspreise mindestens verdoppelt und zahlreiche Mitarbeiter entlassen (AA 5.12.2022). Die meisten Krankenhäuser haben etwa 40 % ihrer Kapazitäten abgebaut. Bspw. mussten einige der Abteilungen für offene Herzchirurgie im Libanon geschlossen werden, weil das Fachpersonal und die Chirurgen für offene Herzchirurgie das Land aufgrund der Wirtschaftskrise verlassen hatten (MedCOI 17.6.2022). Die Versorgung mit Medikamenten hat sich in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 rapide verschlechtert; selbst einfache Schmerzmittel sind oft schwer zu bekommen; seit November 2021 sind die Subventionen für Medikamente praktisch abgeschafft, so dass viele Medikamente nicht mehr erschwinglich sind (AA 5.12.2022; vgl. MedCOI 17.6.2022).

 

Eine im September 2021 veröffentlichte UN-Studie stellte fest, dass der Prozentsatz der Haushalte, die keine medizinische Versorgung erhielten, von 9 % im Jahr 2019 auf 33 % im Jahr 2021 gestiegen war. Die Zahl der Menschen, die keine Medikamente mehr bekommen konnten, hatte sich innerhalb von zwei Jahren sogar verdoppelt (AI 29.3.2022). Neben dem Medikamentenmangel führt der Mangel an Treibstoff dazu, dass die libanesischen Krankenhäuser nur mit 50 % ihrer Kapazität arbeiten können. Als Folge der staatlichen Stromrationierung, die die Verfügbarkeit von Strom auf zwei bis drei Stunden pro Tag beschränkt, kommt es in den Krankenhäusern weiterhin zu Stromausfällen. Aufgrund des Treibstoffmangels sind die Krankenhäuser nicht in der Lage, Ersatzgeneratoren zu betreiben. Dieses anhaltende Problem bedroht die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten im Land und wird dies wahrscheinlich auch weiterhin tun, da die Treibstofflieferanten Schwierigkeiten haben, die für die Aufrechterhaltung der Kette erforderlichen Devisen zu beschaffen (ACAPS 31.5.2022).

 

Der Libanon ist eines von 30 Ländern, die im Jahr 2022 Cholera Ausbrüche gemeldet haben (BMJ 19.1.2023). Der Ausbruch hat sich über die acht Gouvernorate des Libanon (20 der 26 Bezirke) ausgebreitet. Bis zum 17.1.2023 wurden insgesamt 6.158 mögliche und bestätigte Cholerafälle und 23 damit verbundene Todesfälle gemeldet, was einer Sterblichkeitsrate von 0,37 % entspricht. Die Zahl der Cholerafälle ist in den letzten Wochen deutlich zurückgegangen, wobei die meisten Fälle seit Anfang 2023 aus der Bekaa-Region und in geringerem Maße aus Akkar und dem Berg Libanon gemeldet wurden. Seit dem 9.12.2022 wurden keine neuen Todesfälle mehr registriert (OCHA et al. 18.1.2023).

 

Versicherungsdienstleistungen

Der Nationale Sozialversicherungsfonds (NSSF) [auch: Caisse Nationale de la Sécurité Sociale (CSSN)], der größte beschäftigungsbasierte Anbieter von Sozialleistungen, ist nahezu zahlungsunfähig und hat den Versicherten ihre Arztrechnungen nicht erstattet (HRW 12.1.2023; vgl. TPS 22.3.2022). Der NSSF bietet seit seiner Gründung im Jahr 1965 einen völlig unzureichenden Versicherungsschutz. Ausgeschlossen sind dabei bspw. informell Beschäftigte und Arbeitslose. Sobald ein NSSF-Versicherter seinen Arbeitsplatz verliert, hat er keinen Anspruch mehr auf Krankenversicherungsschutz. Sie bietet keine Versicherung gegen Arbeitsunfälle oder Berufsrisiken, obwohl dies im Gründungsgesetz vorgesehen war. Trotz seiner erheblichen Defizite bot der NSSF dennoch einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung – c.a. 1.2 Millionen Menschen (Xinhua 21.12.2021) – ein Mindestmaß an sozialem Schutz (TPS 22.3.2022).

 

Neben privater wie staatlicher Krankenversicherung können Behandlung und Medikation für mittellose und/oder aus dem Ausland zurückkehrende Libanesen durch eine Überweisung des Gesundheitsministeriums an dessen Vertragskrankenhäuser (darunter auch renommierte Kliniken wie das American University Hospital oder das Hôtel Dieu in Beirut) und Vertragsärzte erfolgen. Die Vertragskrankenhäuser des Gesundheitsministeriums sind verpflichtet, vom Gesundheitsministerium zugewiesene Patienten im Rahmen einer monatlichen Quote aufzunehmen. Sie wehren sich gelegentlich – soweit diese Quote überschritten wird oder besonders „teure“ Fälle darunter sind – mit juristischen oder bürokratischen Maßnahmen gegen die Überweisung oder versuchen, Einzelpersonen an eine karitative Organisation „weiterzureichen“. Parallel existiert ein vom Gesundheits- und Sozialministerium gefördertes Netzwerk von „Erstversorgungseinrichtungen“, die häufig von Nichtregierungsorganisationen betrieben werden. Diese nehmen einfache Behandlungen (Impfungen/Gabe von Generika/Röntgen etc.) gegen eine Gebühr vor. Rückkehrende können grundsätzlich auch eine – allerdings kostspielige – private Krankenversicherung abschließen. Bei UNRWA registrierte palästinensische Flüchtlinge werden grundsätzlich vom Gesundheitsdienst der UNRWA versorgt, doch deckt diese Versorgung Leistungen der Nachsorge (qualifizierte Krankenhausversorgung) nur unzureichend ab. Andere Flüchtlinge und Ausländer haben keinen Zugang zur staatlichen Krankenversorgung und müssen ihre Behandlungskosten selbst tragen oder eine private Krankenversicherung abschließen. Für ältere Personen oder bei Vorerkrankungen kann es ausgeschlossen oder prohibitiv teuer sein, eine private Krankenversicherung abzuschließen (AA 5.12.2022). Die steigende Nachfrage nach öffentlichen Gesundheitsdiensten verschärft das Problem, da immer mehr Libanesen, die ihre Gesundheitsversorgung in erster Linie über den privaten Sektor in Anspruch nahmen, sich die Kosten aber nicht mehr leisten konnten, Zugang zu öffentlichen Gesundheitsdiensten suchen. Dem öffentlichen Gesundheitssektor fehlt es an Kapazitäten, um die gestiegene Nachfrage zu bewältigen (ACAPS 31.5.2022).

 

Der Libanon ist darüber hinaus das einzige Land in der MENA-Region ohne ein offizielles Rentensystem für Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft (TPS 22.3.2022).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.1.2023): Libanon: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/libanonsicherheit/204048 , Zugriff 19.1.2023

- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon (Stand 7.10.2022),

https://www.ecoi.net/en/file/local/2083550/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Libanon_%28Stand_07.10.2022%29%2C_05.12.2022.pdf , Zugriff 19.1.2023

- ACAPS - The Assessment Capacities Project (31.5.2022): https://www.acaps.org/sites/acaps/files/products/files/20220531_acaps_briefing_note_lebanon_impact_of_crisis_on_children.pdf , Zugriff 19.1.2022

- AI - Amnesty International (29.3.2022): Libanon 2021, https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/libanon-2021 , Zugriff 19.1.2023

- BMJ - British Medical Journal Health & Care Informatics (19.1.2023): Cholera is back but the world is looking away, https://www.bmj.com/content/380/bmj.p141 , Zugriff 20.1.2023

- HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 – Lebanon, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085471.html , Zugriff 19.1.2023

- Local Doctor via EUAA MedCOI (17.6.2022): AVA 15758, Zugriff 19.1.2023

- NPR - National Public Radio (5.6.2022): Lebanon's hospitals are running out of medicine and staff in ongoing economic crisis, https://www.npr.org/sections/goatsandsoda/2022/06/05/1102214169/lebanons-hospitals-are-running-out-of-medicine-and-staff-in-ongoing-economic-cri , Zugriff 19.1.2023

- OCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs / UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees / UNICEF - United Nations Children’s Fund & WHO - Wolrd Health Organization (18.1.2023): Lebanon Cholera Outbreack Situation Report No 8, 18 January 2023, https://reliefweb.int/report/lebanon/lebanon-cholera-outbreak-situation-report-no-8-18-january-2023 , Zugriff 20.1.2023

- TPS - The Public Source (22.3.2022): The Full Story Behind the Looming Collapse of the National Social Security Fund, https://thepublicsource.org/social-security-lebanon , Zugriff 20.1.2023

- UNICEF - United Nations Children’s Fund (21.4.2022): Die Krise im Libanon bedroht die Gesundheit der Kinder, https://unicef.at/news/einzelansicht/die-krise-im-libanon-bedroht-die-gesundheit-der-kinder/ , Zugriff 19.1.2023

- Xinhua (21.12.2021): Lebanese losing end of service benefits to local currency devaluation, http://www.news.cn/english/2021-12/21/c_1310386538.htm , Zugriff 20.1.2023

 

Rückkehr

Die Einreisekontrollen an den Grenzübergängen und am internationalen Flughafen Beirut sind strikt. Reise- und Dokumentendaten werden seit 1995 an allen Einreisestellen erfasst und sind durch die General Security zentral abrufbar. Es ist möglich, sich gegen eine geringe Gebühr die Ein- und Ausreisebewegungen aus dem Libanon bescheinigen zu lassen. Personen ohne gültige Dokumente werden erfasst und an der Einreise gehindert. Der Libanon erkennt keine von EU-Staaten für libanesische Staatsangehörige oder Staatenlose ausgestellten Heimreisepapiere an (AA 5.12.2022; vgl. DIS 9.2022). Libanesische Staatsbürger können nicht ohne Vorlage eines Reisepasses bzw. eines von der zuständigen libanesischen Auslandsvertretung ausgestellten Heimreisedokuments (z. B. Laissez-Passer) einreisen (AA 5.12.2022).

 

Es sind keine Fälle bekannt, in denen libanesische Staatsbürger, die, beispielsweise aus Deutschland, abgeschoben wurden, aus diesem Grund eine diskriminierende Behandlung im Libanon erfahren haben. Sie werden wie alle Einreisenden von den Sicherheitsbehörden überprüft. Ein besonderes staatliches Interesse an dieser Personengruppe ist nicht erkennbar. In Abwesenheit verurteilte Personen werden bei der Einreise in Strafhaft genommen und verbüßen die verhängte Haftstrafe. Sie haben unmittelbar nach Haftantritt die Möglichkeit, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen. Das Verfahren wird vollständig neu durchgeführt, und es gilt das Verbot der „reformatio in peius“ [Verschlechterungsverbot]. In solchen Fällen sind keine Vorwürfe von Folter oder Misshandlung bekannt (AA 5.12.2022).

Laut Bericht des Danish Immigration Service (DIS) sträuben sich die libanesischen Behörden seit Mai 2018 den staatenlosen palästinensischen Flüchtlingen aus dem Libanon (PRLs), die sich im Ausland aufhalten, die Rückkehr in den Libanon zu gestatten, wenn sie keine Aufenthaltsgenehmigung in dem Land haben, in dem sie sich derzeit aufhalten. Dies gilt unabhängig davon, ob die Rückkehr freiwillig oder zwangsweise erfolgen soll. Die Zahl der erfolgreichen Rückführungen innerhalb dieses Zeitraums ist sehr begrenzt. Anträge für neue oder zu verlängernde palästinensische Reisedokumente sowie die Ausstellung von Laissez-passer für PRLs werden vom libanesischen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und Emigranten auf Eis gelegt. Es begründet dies damit, dass der Libanon bereits genug Flüchtlinge beherbergt und von der internationalen Gemeinschaft angesichts der großen Anzahl von Flüchtlingen im Libanon keine ausreichende Unterstützung erhält (DIS 9.3.2020). Laut offiziellen Angaben der libanesischer Botschaft Berlin ist für die Ausstellung eines Reisedokuments [DDV – Document de Voyage] für Palästinensische Volkszugehörige aus dem Libanon ein Aufenthaltstitel für Deutschland bzw. eine Bescheinigung der zuständigen Ausländerbehörde, dass ein Aufenthaltstitel vorliegt bzw. erteilt werden kann, notwendig (BL 11.2021). Ausländische Staatsangehörige, vor allem Syrer und Palästinenser, bei denen der Verdacht einer irregulären Einreise nach Deutschland besteht, müssen damit rechnen, dass ihnen die Einreise in den Libanon verweigert wird. Dies kann auch trotz einer aktuell gültigen Aufenthaltserlaubnis für Deutschland der Fall sein (AA 19.1.2023). Besteht bei der Einreise in den Libanon der Verdacht, dass ein Drittausländer vormals illegal nach Europa gelangt ist, verweigern libanesische Grenzbehörden die Einreise. Luftfahrtunternehmen sind dann in der Pflicht, den Passagier zurück zu befördern und pro Passagier wird ein Bußgeld in Höhe von derzeit 2.000 USD erhoben (AA 5.12.2022).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.1.2023): Libanon: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/libanonsicherheit/204048 , Zugriff 19.1.2023

- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon (Stand 7.10.2022),

https://www.ecoi.net/en/file/local/2083550/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Libanon_%28Stand_07.10.2022%29%2C_05.12.2022.pdf , Zugriff 19.1.2023

- BL - Botschaft des Libanon in der Bundesrepublik Deutschland [Libanon] (11.2021): Erforderliche Dokumente zur Beantragung eines elektronisch lesbaren Reisedokuments (DDV) für palästinensische Volkszugehörige aus dem Libanon (gültig ab November 2021), http://www.libanesische-botschaft.info/images/forms/info-ddv-de-Nov2021.pdf , Zugriff 19.1.2023

- DIS - Danish Immigration Service (9.3.2020): Lebanon, Report on stateless Palestinian refugees from Lebanon and their possibility to reenter Lebanon from a third country (Report based on a Fact Finding Mission to Beirut, Lebanon, from 7 to 10 January 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2026439/Landerapport+Lebanon+Marts+2020.pdf , Zugriff 19.1.2023

 

Individuell

Staatliche Repressionen

Es gab lange keine Anhaltspunkte für gezielte staatliche Repressionen gegen bestimmte Personengruppen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

Palästinensische und syrische Flüchtlinge unterliegen allerdings weitgehend rechtlichen und tatsächlichen Einschränkungen.

Politische Opposition

Politische Betätigung ist in den vom Staat anerkannten Parteien und Organisationen möglich. Neu gegründete Organisationen – das schließt auch NROs ein – müssen sich beim Innenministerium registrieren lassen. Politische Parteien müssen vom Kabinett genehmigt werden, ein Gesetz zu Parteien (und deren Finanzierung) im engeren Sinne existiert nicht. Das 2017 novellierte Wahlgesetz beinhaltet nun zwar auch verhältniswahlrechtliche Elemente, hält aber am bestehenden religiösen Proporzsystem (je 50 % der Parlamentsmandate für Christen und Muslime) fest. Bei den Wahlen vom 15. Mai 2022 wurden 13 Abgeordnete aus dem Spektrum der Zivilgesellschaft erstmals ins Parlament gewählt.

Es sind aktuell keine Fälle politischer Inhaftierungen bekannt.

 

Minderheiten

Es besteht im Grundsatz keine ethnisch diskriminierende Gesetzgebung für libanesische Staatsangehörige oder die 18 anerkannten konfessionellen Gruppen. Die armenisch-stämmige Bevölkerung, eine bedeutende ethnische Minderheit, ist in Staat und Gesellschaft integriert.

Die ca. 100.000 Personen umfassende kurdisch-stämmige Bevölkerung türkischen, syrischen oder irakischen Ursprungs wird nicht als Minderheit anerkannt, unterliegt aber keiner Repression wegen ihrer Volkszugehörigkeit; nach wie vor ist ein kleiner Teil dieser Bevölkerungsgruppe (ca. 1.000 - 1.500 Personen) aber staatenlos und hat damit keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen (insb. staatlichen Schulen und Gesundheitssystem).

Ein Teil der Angehörigen der Nomadenstämme/Beduinen in der Bekaa-Ebene und der Region Akkar wurde 1994 eingebürgert. Auch wenn diese rechtlich nicht diskriminiert werden, handelt es sich sozial und ökonomisch neben den palästinensischen und syrischen Flüchtlingen um die am stärksten benachteiligte Bevölkerungsgruppe. Die Lage der nicht eingebürgerten Beduinen ist besonders prekär; sie haben keinen Zugang zu staatlichen Leistungen.

 

Religionsfreiheit

Die Religionsfreiheit ist von der Verfassung grundsätzlich geschützt. Es gibt 18 staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften, davon sind 12 christlich. Christ*innen wie Muslim*innen üben ihre Religion offen und ohne Einschränkung aus. Zudem gibt es eine kleine Anzahl an Juden und Jüdinnen, die sich aber nicht öffentlich zu erkennen geben.

Der Anteil der 18 Gruppen an der Gesamtbevölkerung stellt sich wie folgt dar: Zu den Muslimen zählen: Schiiten (27 - 30 %), Sunniten (25 – 30 %), Drusen (rund 5 %), Alawiten und Ismailiten. Zu den Christen zählen: Maroniten (27 - 33%), Griechisch-Orthodoxe, Griechisch-Katholiken, Armenisch-Orthodoxe, Armenisch-Katholiken, Römisch-Katholiken, Protestanten, Syrisch-Orthodoxe, Assyrisch-Chaldäer, Syrisch-Katholiken, Chaldäer und Kopten. Da es seit 1932 keinen Zensus mehr gab, stellen die Angaben lediglich Schätzungen dar.

Zur Religionsfreiheit gehört auch die Freiheit, zu einer anderen Konfession überzutreten (Gesetz von 1951). In der Praxis kommt dies in Ausnahmefällen vor (Eheschließung, Erbrecht). Konvertit*innen können nur eingeschränkt mit Verständnis ihres familiären oder gesellschaftlichen Umfelds rechnen und werden je nach familiärem Umfeld auch physisch bedroht. Staatlichen Repressionen sind Konvertit*innen nicht ausgesetzt.

Es gibt keine Anhaltspunkte für staatliche Repressionen gegen Angehörige anderer als der 18 anerkannten Konfessionen (z. B. Buddhisten, Hindus, Sikhs, Bahai, Mormonen, evangelikale Freikirchen). Berufswahl, Karrierechancen und die Möglichkeit zur Ausübung öffentlicher Ämter sind angesichts des libanesischen Proporzsystems für Angehörige staatlich nicht anerkannter Religionsgemeinschaften und bekennende Atheist*innen jedoch eingeschränkt.

 

Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis

Die Rechtsprechung ist gemäß Verfassung unabhängig. Es kommt jedoch zu politischer Einflussnahme. Auch Richterbestechung kommt vor.

Lange Untersuchungshaftzeiten und Verfahrensdauern sind üblich, so befindet sich nach Angaben der Polizeibehörden ca. die Hälfte der Häftlinge in Untersuchungshaft, NROs sprechen von bis zu 80 %. Die lange Untersuchungshaft ist eines der Hauptprobleme der libanesischen Strafverfolgung – dies wird zwar von den Behörden anerkannt, aber bislang nicht erfolgreich angegangen. Zwar ist die Untersuchungshaftdauer offiziell auf ein Jahr begrenzt, es kommt aber auch zu Untersuchungshaftzeiten von zwei bis sieben Jahren, vor allem in Fällen von schwerer Kriminalität bzw. Anklagen wegen Terrorismus.

Eine Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis, die nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität diskriminiert, ist in Libanon nicht zu erkennen. Allgemeine kriminelle Delikte werden im Rahmen feststehender straf- bzw. strafprozessrechtlicher Vorschriften nach insgesamt weitgehend rechtsstaatlichen Prinzipien verfolgt und geahndet.

Die Strafprozessordnung stattet die Ermittlungsbehörden mit weitreichenden Vollmachten aus, schreibt aber auch Rechte des/r Beschuldigten fest (z. B. das Recht, unverzüglich Kontakt zu Rechtsanwält*innen, Ärzt*innen und Familienangehörigen aufzunehmen). Angeklagte haben das Recht auf rechtlichen Beistand; die Anwaltskammer stellt bei Bedarf Pflichtverteidiger*innen zur Verfügung. Dolmetscher*innen müssen in der Regel durch den/die Angeklagte*n selbst gestellt werden.

Das Rechtssystem unterscheidet im Strafrechtsbereich zwischen ordentlichen und Militärgerichten. Delikte gegen die Staatssicherheit, gegen das Militär oder deren Angehörige unterliegen dem Militärstrafrecht. Dabei werden die Zuständigkeiten der Militärgerichtsbarkeit oft extensiv ausgelegt, vor allem beim Vorwurf des Terrorismus. Militärgerichte verurteilen auch zivile Angeklagte wegen terroristischer Delikte mit islamistischem Hintergrund in Schnellverfahren ohne ausreichenden Rechtsbeistand. Seit Jahren (allerdings ohne greifbare Fortschritte) wird erwogen, alle Militärverfahren, wenngleich unter Beibehaltung der prozeduralen Besonderheiten, ordentlichen Gerichten zu übertragen.

Gegen Urteile des sogenannten Justizrates („Conseil de Justice“) kann kein Rechtsmittel eingelegt werden. Dieses mit fünf Richtern des Kassationsgerichtshofs besetzte Gericht urteilt auf Beschluss des Ministerrates in Strafverfahren, die die nationale Sicherheit betreffen.

 

Ausweichmöglichkeiten

Die staatlichen Institutionen haben in Teilen des Landes keinen uneingeschränkten Zugriff. Er fehlt umfassend in einigen der palästinensischen Flüchtlingslager.

Auch in anderen Landesteilen schränkt die Existenz nicht-staatlicher Akteure die Zugriffsmöglichkeiten der Staatsorgane ein. Dies gilt insbesondere für die südlichen Vororte Beiruts und die schiitischen Siedlungsgebiete in der Bekaa-Ebene und im Süden des Landes, in denen die Hisbollah präsent ist und Druck auf staatliche Institutionen ausübt. So sind z.B. in diesen Gebieten polizeiliche Ermittlungen oder auch die Präsenz der libanesischen Armee nur eingeschränkt möglich.

Das Risiko der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure kann in der Regel durch Verlegung des Wohnorts außerhalb des Einflussbereichs dieser Akteure verringert werden. Beispielsweise sind die Zugriffsmöglichkeiten der Hisbollah im christlichen Kerngebiet des Mont Liban oder im sunnitischen Tripoli geringer als in Beirut, der Bekaa-Ebene und im Süden des Landes. Eine absolute Sicherheit vor der Verfolgung durch Hisbollah kann jedoch in keinem Landesteil gewährt werden.

 

Todesstrafe

In Libanon droht die Todesstrafe für folgende Delikte des allgemeinen Strafrechts:

a) Hochverrat und ähnliche Delikte (Art. 273, 274, 275 u. 276 lib. StGB),

b) Spionage (Art. 282, 284 u. 257)

c)b) Aufruhr und Aktionen, die den Bürgerkrieg schüren (Art. 308),

d) Terrorismus in besonders schweren Fällen (Art. 315),

e) Bildung von kriminellen Banden in besonders schweren Fällen (Art. 336),

f) Mord (Art. 549)

g) Brandstiftung mit Todesfolge (Art. 591)

h) Gefährdung der Verkehrssicherheit mit Todesfolge (Art. 599)

i) Einfuhr gemeingefährlicher Stoffe (Art. 10, 11 Umweltschutzgesetz)

 

sowie für folgende Straftatbestände des militärischen Strafrechts:

j) Fahnenflucht und Überlaufen zum Feind (Art. 110 lib MilitärStGB),

k) Kapitulation vor dem Feind (betrifft nur regionale Militärbefehlshaber, Art. 121),

l) Hochverrat, militärischer Umsturz und Spionage (Art. 123, 124 und 130),

m) Befehlsverweigerung im Kriegsfall (Art. 152),

n) Verlassen eines sinkenden Kriegsschiffes (gilt nur für Kommandanten, Art. 168).

Im Januar 2004 fanden trotz heftiger Proteste der Öffentlichkeit und der EU – nach jahrelangem Moratorium – drei Hinrichtungen statt. 2017 waren nach NRO-Angaben 75 Personen in Haft, gegen welche die Todesstrafe verhängt wurde. Die Todesstrafe wird weiterhin verhängt. Seit 2004 ist es jedoch zu keinen weiteren Vollstreckungen gekommen. Im November 2020 stimmte Libanon erstmals für eine Resolution der VN-Generalversammlung, die sich für ein Moratorium der Todesstrafe ausspricht.

 

Extralegale Tötungen

In Libanon sind keine extralegalen Tötungen durch libanesische Staatsorgane bekannt geworden. Extralegale Hinrichtungen können aber für militärische Kampfhandlungen in Gebieten außerhalb staatlicher Kontrolle nicht ausgeschlossen werden. Bei einem Antiterroreinsatz der libanesischen Armee in der Gegend von Arsal am 30. Juni 2017 wurden 350 Personen vorübergehend festgenommen, mindestens vier starben im Gewahrsam der Armee, nach Armeeangaben infolge bereits bestehender gesundheitlicher Probleme. Menschenrechtsgruppen fordern seither erfolglos eine Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse.

 

Behandlung von Rückkehrer*innen

Es sind keine Fälle bekannt, in denen libanesische Staatsangehörige, die aus Deutschland abgeschoben wurden, aus diesem Grund eine diskriminierende Behandlung in Libanon erfahren haben. Sie werden – wie alle Einreisenden – von den Sicherheitsbehörden überprüft. Ein besonderes staatliches Interesse an dieser Personengruppe ist nicht erkennbar.

 

 

Echte Dokumente unwahren Inhalts und Zugang zu gefälschten Dokumenten

Die General Security stellt seit 2016 zentral biometrische Reisepässe aus, welche durch den Großteil der Bevölkerung bereits genutzt werden. Das Vorgängermodell von 2008 wurde bis 2018 durch die libanesische Botschaft in Berlin ausgestellt und wird bis zum Ablauf der individuell eingetragenen Gültigkeit anerkannt. Die Sicherheitsmerkmale der libanesischen Ausweisdokumente entsprechen internationalen Standards, Fälschungen sind bei der Visaerteilung bisher nicht aufgefallen. Dies dürfte allerdings auch damit zusammenhängen, dass es nicht schwierig erscheint, einen echten, aber inhaltlich falschen Reisepass zu erhalten, weil die Identitätsprüfung im Passantragsverfahren bei den Gemeindevorstehern und nicht zentral bei der General Security erfolgt. Ebenso ist es möglich, von einem zum anderen Reisepass die Transkription in die lateinische Schrift zu modifizieren.

Die Ausstellung von libanesischen Reisepässen wurde mangels Passrohlingen im Sommer 2022 zwischenzeitlich eingestellt; mittlerweile können wieder Passtermine beantragt werden, allerdings mit einem Vorlauf von grundsätzlich mehr als einem Jahr. Wie die Regierung 2022 mitteilte, werden für neue Pässe derzeit auch wieder Rohlinge des Vorgängermodells aus dem Jahr 2003 verwendet.

 

Meldewesen und Register

Ein dem deutschen System vergleichbares Meldewesen existiert in Libanon nicht. Wohnsitzbescheinigungen können über den Ortsvorsteher („Moukhtar“) beschafft werden. Es werden Straßennamen und Gebäudenamen, sowie die Nennung von Points of Interest (z.B. „neben der Total-Tankstelle“) genutzt. In ländlichen Regionen wird häufig nur der Ortsname angegeben, die zustellende Person muss sodann die Erreichbarkeit von Bewohner*innen des Ortes erfragen. Üblich ist zudem die Angabe einer telefonischen Erreichbarkeit. Es besteht in jedem Ort eine Personenstandsregisterbehörde für Libanes*innen. Die Register werden bislang ausschließlich in Papierform geführt. Um einen Registereintrag aufzufinden, ist die Registernummer und der Registerort einer Person notwendig. Es gibt ein separates, zentrales Register für die Personenstandseinträge von palästinensischen Flüchtlingen, die in Libanon registriert sind, welches der General Security unterstellt ist. Ein weiteres Register enthält die Personenstandseinträge von Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit („Kaid ed dars“). Auskünfte werden grundsätzlich erteilt, bei den beiden Registern der General Security allerdings nur mit einer Einverständniserklärung der entsprechenden Person.

Es besteht ein zentrales Fahndungsregister bei der Polizeibehörde (Internal Security Forces). Haftbefehle können grundsätzlich überprüft werden, häufig unter Offenlegung des aktuellen Aufenthaltsortes der Person und ggf. einer Begründung (zu Haftbedingungen siehe allerdings Punkt 4.3).

Es gibt ein zentrales Strafregister bei der Polizeibehörde (Internal Security Forces). Es gibt zudem ein- und Ausreiseregister, geführt von der Grenzpolizei (General Security).

Quelle:

AA – Auswärtiges Amt (05.12.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon, Stand: 07.10.2022

 

 

 

II.1.3. Behauptete Ausreisegründe aus dem Herkunftsstaat

 

Die BF1-2 haben den Libanon nicht aufgrund Verfolgung durch eine Privatperson verlassen und sind auch bei einer Rückkehr in den Libanon nicht der Gefahr einer solchen ausgesetzt.

 

Sie sind bei einer Rückkehr in den Libanon auch aus sonstigen individuellen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort keiner maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt und finden dort eine hinreichende Existenzgrundlage vor.

 

2. Beweiswürdigung:

 

II.2.1. Das erkennende Gericht hat durch den vorliegenden Verwaltungsakt Beweis erhoben und ein ergänzendes Ermittlungsverfahren sowie eine Beschwerdeverhandlung durchgeführt.

 

Aufgrund des vorliegenden Verwaltungsaktes, des Ergebnisses des ergänzenden Ermittlungsverfahrens sowie der Beschwerdeverhandlung ist das erkennende Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.

 

II.2.2. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer ergeben sich aus in diesem Punkt nicht widerlegten Angaben des BF sowie aus deren Sprach- und Ortskenntnissen.

 

Die Feststellung hinsichtlich der Identität des BF2 erfolgte aufgrund der Vorlage eines Auszuges aus dem Zivilregister.

 

Seitens des BF1 liegt keine Personenstandsurkunde bzw. Geburtsurkunde vor. Zur Identität des BF ist folglich anzuführen, dass mangels Vorlage eines unbedenklichen nationalen Identitätsdokuments oder sonstigen Bescheinigungsmittels diese nicht feststeht. Soweit dem BF im Asylverfahren ein Name zugeschrieben wird, dient dies daher als Zuordnung einer Verfahrensidentität, nicht jedoch als Identitätsfeststellung für den allgemeinen Rechtsverkehr.

 

Die Feststellungen zur Volksgruppen-, Religionszugehörigkeit, zur Herkunft sowie zu den familiären und privaten Verhältnissen der BF1-2 gründen sich auf deren in diesen Punkten glaubwürdigen Angaben im Asylverfahren.

Ihre Ausreise aus dem Herkunftsstaat, ihre illegale Einreise in das österreichische Bundesgebiet und deren Aufenthaltsdauer sowie die Asylantragstellungen der Beschwerdeführer ergeben sich aus den Asylantragsunterlagen, Anfragen aus dem zentralen Melderegister, dem Fremdeninformationssystem, dem Betreuungsinformationssystem sowie den damit übereinstimmenden Angaben der Beschwerdeführer.

 

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der BF1-2, konkret, dass die BF1-2 an keiner lebensbedrohlichen Krankheit leiden, ergibt sich aus den Angaben der BF1-2, zuletzt vor dem erkennenden Gericht. Beide Beschwerdeführer gaben an, dass sie gesund sind.

 

Aus dem Gesundheitszustand sowie dem Umstand, dass die BF1-2 in Österreich berufstätig sind, folgt auch deren Arbeitsfähigkeit. Die BF1-2 könnten im Falle ihrer Rückkehr in ihre Heimat ihren Unterhalt durch berufliche Tätigkeiten, wenn auch anfänglich durch Gelegenheitsjobs, bestreiten. Die gesunden BF1-2 verfügen über eine langjährige Schulbildung sowie der BF1 über eine Berufsausbildung als XXXX . Der BF1 hat Berufserfahrung als XXXX sowie der BF2 als angelernter XXXX Beide haben zudem Berufserfahrung in XXXX weshalb sie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Herkunftsstaat für ihren Unterhalt sorgen werden können. Zudem verfügen die BF1-2 im Herkunftsstaat nach wie vor über Familienmitglieder, deren Unterstützung sie bei Bedarf ebenfalls in Anspruch nehmen können.

 

Der Beginn und die Gestaltung der Beziehung zwischen dem BF1 und seiner Lebensgefährtin leiten sich anhand der übereinstimmenden zeugenschaftlichen Angaben der Lebensgefährtin und der beiden Beschwerdeführer ab. Die Eheschließung des BF1 mit einer österreichischen Staatsangehörigen nach islamischen Recht geht aus der Heiratsurkunde des Islamischen Kulturvereins XXXX vom XXXX hervor. Dass bislang keine standesamtliche Ehe erfolgte, wurde vom BF1 und dessen Lebensgefährtin ausdrücklich erklärt.

 

Die Feststellungen zum Wohnsitz der BF1-2 entsprechen einer Abfrage beim Zentralen Melderegister.

 

Die Feststellung, dass die Beschwerdeführer keine weiteren Verwandten in Österreich haben war auf Grundlage deren insofern glaubhaften Aussagen zu treffen.

 

Dass die BF1-2 Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber bezogen, ergibt sich aus dem Betreuungsinformationssystem. Aus den vorgelegten Arbeitsverträgen und einer Abfrage beim Sozialversicherungsträger geht die Berufstätigkeit der BF1-2 hervor.

 

Die Deutschkenntnisse der BF1-2 beruhen auf den persönlichen Wahrnehmungen der erkennenden Richterin in der mündlichen Verhandlung. Die BF1-2 legten keine Prüfungszeugnisse vor, weshalb keine Deutschkenntnisse auf einem bestimmten Niveau festgestellt werden konnten.

 

Die strafrechtliche Unbescholtenheit der BF1-2 in Österreich geht aus dem Strafregister hervor.

 

II.2.3. Die Feststellungen zur aktuellen Lage im Libanon, basieren auf einer Zusammenstellung der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Die Länderfeststellungen beinhalten eine Vielzahl unbedenklicher, seriöser und aktueller Quellen, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei ist. Die in das Verfahren integrierten Länderinformationen wurden schließlich von der Staatendokumentation des BFA zusammengestellt, deren Qualität ob der gesetzlichen Verpflichtung zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der gesammelten Tatsachen nach objektiven Kriterien (vgl. § 5 Abs. 2 BFA-G) nicht in Zweifel gezogen wird.

Zudem wurde für die Entscheidungsfindung der Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon des (deutschen) Auswärtigen Amtes herangezogen. Dadurch liegt aus Sicht des erkennenden Gerichtes eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen - sowohl staatlichen, als auch nichtstaatlichen Ursprunges – vor, welche es ermöglicht, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen.

 

Die von der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht herangezogenen länderspezifischen Feststellungen zum Herkunftsstaat können zwar nicht den Anspruch absoluter Vollständigkeit erheben, sind jedoch als so umfassend zu qualifizieren, dass der Sachverhalt bezüglich der individuellen Situation der Beschwerdeführer in Verbindung mit der Beleuchtung der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat als geklärt angesehen werden kann.

 

Die allgemeine Sicherheitslage im Libanon ist auch nicht derart einzuschätzen, dass schon mit der bloßen Anwesenheit für jeden Zurückkehrenden das reale Risiko verbunden wäre, Opfer eines Terroranschlags oder sonstiger gewaltsamer Auseinandersetzungen zu werden. Aus den Länderinformationen ergab sich außerdem, dass im Herkunftsstaat des BF aktuell kein landesweiter bewaffneter Konflikt ausgetragen wird, der eine gravierende Gefährdung indizieren würde.

 

II.2.4. Das erkennende Gericht hat anhand der Darstellung der persönlichen Bedrohungssituation eines Beschwerdeführers und den dabei allenfalls auftretenden Ungereimtheiten – zB gehäufte und eklatante Widersprüche oder fehlendes Allgemein- und Detailwissen - zu beurteilen, ob Schilderungen eines Asylwerbers mit der Tatsachenwelt im Einklang stehen oder nicht.

 

Auch wurde vom Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass es der Verwaltungsbehörde [nunmehr dem erkennenden Gericht] nicht verwehrt ist, auch die Plausibilität eines Vorbringens als ein Kriterium der Glaubwürdigkeit im Rahmen der ihr zustehenden freien Beweiswürdigung anzuwenden.

 

Weiters ist eine abweisende Entscheidung im Verfahren nach § § 3 AsylG bereits dann möglich, wenn es als wahrscheinlich angesehen wird, dass eine Verfolgungsgefahr nicht vorliegt, das heißt, mehr Gründe für als gegen diese Annahme sprechen.

 

Von einem Antragsteller ist ein Verfolgungsschicksal glaubhaft darzulegen. Einem Asylwerber obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen und Verhältnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Asylanspruch lückenlos zu tragen und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Die Behörde muss somit die Überzeugung von der Wahrheit des von einem Asylwerber behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor asylrelevanter Verfolgung herleitet. Es kann zwar durchaus dem Asylwerber nicht die Pflicht auferlegt werden, dass dieser hinsichtlich asylbegründeter Vorgänge einen Sachvortrag zu Protokoll geben muss, der auf Grund unumstößlicher Gewissheit als der Wirklichkeit entsprechend gewertet werden muss, die Verantwortung eines Antragstellers muss jedoch darin bestehen, dass er bei tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit die Ereignisse schildert.

 

Die BF1-2 wurden im Rahmen des Asylverfahrens darauf hingewiesen, dass ihre Angaben eine wesentliche Grundlage für die Entscheidung im Asylverfahren darstellen. Die BF1-2 wurden zudem aufgefordert, durch wahre und vollständige Angaben an der Sachverhaltsfeststellung mitzuwirken und sie wurden darauf aufmerksam gemacht, dass unwahre Angaben nachteilige Folgen haben.

 

Die BF1-2 konnten ein individuelles Verfolgungsschicksal nicht substantiiert und glaubhaft geltend machen.

 

II.2.5. Vorweg muss folgendes in Betracht gezogen werden: Sofern die BF1-2 vor dem BVwG darlegten, es sei zu keiner Rückübersetzung ihrer Angaben vor dem BFA gekommen, geht das Gericht davon aus, dass es sich hierbei offenbar um eine Schutzbehauptung der BF1-2 handelt. Am Ende der Einvernahme wurden beide Beschwerdeführer darauf hingewiesen, dass ihnen die Niederschrift rückübersetzt werde und sie danach die Möglichkeit haben noch etwas richtig zu stellen oder hinzuzufügen. Nach der Rückübersetzung wurden der BF1-2 befragt, ob sie Einwendungen vorbringen wollen, dies wurde von ihnen verneint. Die BF1-2 bestätigten zudem mit ihrer Unterschrift die Richtigkeit und Vollständigkeit der Niederschrift.

Wenn der BF2 auf fehlerhafte Protokollierungen verweist, sieht das Gericht darin einen Versuch nachträglich Ungereimtheiten damit zu erklären. Tatsächlich handelt es sich jedoch nicht um fehlerhafte Protokollierungen, sondern vielmehr unschlüssige Angaben der Beschwerdeführer.

 

Die BF1-2 brachten im Wesentlichen vor, dass ihr Vater Stromgeneratoren besessen bzw. Strom verkauft habe. Ein Kunde habe den Strom jedoch nicht mehr bezahlen können, weshalb diesem kein Strom mehr geliefert worden sei und habe dieser Kunde die BF1-2 daraufhin bedroht und auch angegriffen.

 

Wird das Vorbringen der beiden Beschwerdeführer im Detail vor der belangten Behörde und dem erkennenden Gericht betrachtet, fallen Ungereimtheiten und Divergenzen auf.

 

Vor dem BFA sprach der BF2 unmissverständlich davon, dass sein Vater und der BF1 einen Generator hatten (AS 95). Mehrere Leute, die angemeldet waren, hätte Strom von ihnen erhalten. Ein Mann habe keinen Strom mehr erhalten, da er nicht bezahlt habe. Dieser Mann habe oft auf sein geparktes Auto geschossen und habe der BF2 von Leuten erfahren, dass dieser den BF2 suche. In der Beschwerdeverhandlung vom XXXX hingegen änderte der BF2 ohne ersichtlichen Grund seine bisherigen Angaben dahingehend ab, indem er davon sprach, dass ursprünglich der Großvater der beiden Beschwerdeführer das „Geschäft“ mit den Stromgeneratoren betrieb und der Vater der beiden Beschwerdeführer, dann das Geschäft übernommen habe. Der BF2 war demnach nicht in der Lage konsistent dazulegen, wer Besitzer bzw. Betreiber der Stromgeneratoren war.

 

Weiters fällt auf, dass beide Beschwerdeführer vor der belangten Behörde niemals erwähnten, dass Sie beim Betrieb von Strom und anschließenden Verkauf in welcher Weise auch immer involviert waren. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung sprach der BF2 – nach ausdrücklicher Befragung durch die Richterin - davon, dass er ab und zu im Geschäftslokal bei seinem Vater war. Dazu divergierend gab der BF1 hingegen an, dass er und der BF2 deren Vater beim Geschäft unterstützt hätten. So hätten die Beschwerdeführer beispielsweise ihren Vater bei der Organisation der Generatoren geholfen, Techniker angerufen, Geld von den Leuten abgeholt. Dies sei aber nur in der Freizeit des BF1 erfolgt. Abgesehen davon, dass es sich hierbei um eine Steigerung des Vorbringens handelt, lassen sich die Aussagen des BF1 vor dem BVwG mit den Aussagen des BF2 nicht in Einklang bringen.

Die Bedrohungslage der BF1-BF2 wurde zudem vor dem BFA unterschiedlich dargestellt. Der BF1 schilderte vor dem BVwG, dass jene Menschen, vor denen sie Angst hatten und die kostenlos Strom erhielten, ab Neujahr, damit meinte der BF1 den 01.01.2022 keinen kostenlosen Strom mehr bekamen. 5 Tagen nach Neujahr hätten die Probleme dann begonnen. Kurze Zeit vorher erwähnte der BF1 jedoch, dass die Bedrohungen durch den Gegner der Familie Ende 2021/Anfang 2022 begannen. Auch wenn eine zeitliche Einordnung von Geschehnissen von einem Asylwerber nicht immer exakt erwartet werden kann und durchaus zeitliche Ungereimtheiten vorliegen können, zeigen die Divergenzen zum Beginn der Probleme mit dem Gegner, dass der Beschwerdeführer offenbar Umstände schildert, die augenscheinlich nicht schlüssig sind. Der BF1 erklärte ausdrücklich, dass die Schwierigkeiten mit dem Kunden, damit begannen, als dieser keinen Strom mehr erhielt. Folglich kann die Bedrohung durch den Kunden nicht vor der Stromabschaltung zu Neujahr 2022 erfolgt sein. Dass es sich hierbei um kein zeitliches Missverständnis handelt, wird durch die Aussage des BF1, wonach Ende 2021 auf das Auto des BF2 geschossen wurden, ausgeschlossen.

Divergierende Angaben gab es zudem hinsichtlich des Verkaufes des Stromgeneratoren, Während der BF2 vor dem BFA (AS 97) davon sprach, dass der Generator Ende 2022 verkauft wurde, gab der BF1 vor dem BVwG an, dass Mitte Februar 2022 alles bereits verkauft war. Der BF2 sprach folglich davon, dass der Verkauf erst nach der Ausreise der beiden Beschwerdeführer aus dem Libanon stattfand,der BF1 hingegen führte einen Zeitraum vor deren Ausreise an. Derartige doch erheblich zeitliche Unterschiede sind aus Sicht des erkennenden Gerichtes kaum erklärbar und erschüttern die Glaubwürdigkeit der BF1-2 erheblich.

 

Hinzu kommt, dass beide Beschwerdeführer vor dem BFA in keinster Weise detailliert und von sich aus die oben erwähnten Vorfälle schilderten. Die Beschwerdeführer verblieben bei einer Schilderung, die sich auf einige wenige Sätze beschränkte und waren auch nicht in der Lage nach eingehender Befragung durch den Referenten des BFA die Vorkommnisse lebhaft und umfassend zu schildern. Somit war auch nicht erkennbar, welchen massiven Bedrohungen diese im Herkunftsland ausgesetzt waren. Als Beispiel darf die Aussage des BF2 angeführt werden, die sich auf die erlittene persönliche Bedrohung durch den Gegner bezog. Der BF2 gab dazu an: „Ich weiß kein Datum. Er ist zu uns gekommen und es gab eine Schlägerei. Befragt kann ich nicht mehr dazu angeben.“ Der BF stellte somit eine Rahmengeschichte in den Raum ohne Einzelheiten, wie Angaben zum konkreten Vorfall der Schlägerei, involvierte Personen, Beginn und Ausgang der Schlägerei, etc. darzulegen.

 

Dieses Aussageverhalten zeigte sich ebenso beim BF1 vor der belangten Behörde. Befragt zum Gegner namens XXXX erzählte der BF1: „Er ist ein Verbrecher und hat keine Angst vor dem Staat und vor niemanden.“ Es ist zwar zweifelsohne zu bedenken, dass es gute Gründe dafür geben mag, dass sich ein Antragsteller nicht alle Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrufen kann, jedoch ist es dem erkennenden Gericht nicht ersichtlich, warum der BF1 zum Gegner und somit auch zum Grund seiner fluchtartigen Ausreise aus seinem Herkunftsstaat nicht mehr sagen kann.

 

Auch vor dem BVwG haben die Beschwerdeführer nicht die Gelegenheit genutzt, um ihre Angaben zu präzisieren und lebensnah zu ergänzen. Der BF2 schilderte beispielsweise zwar, dass es zu einer Schlägerei zwischen dem Gegner, dem Vater, dem BF1 und BF2 kam und Passanten von der Straße sie getrennt hätten, die Schilderung zeichnet sich weder durch ganz persönliche, individuelle Umstände noch die Art und Weise, in der ein Ereignis erfahren wurde, aus.

Das oben angeführte Aussageverhalten der beiden Beschwerdeführer führt dazu, dass der Eindruck entstand, dass diese zur Situation deshalb nicht mehr sagen konnten oder wollten, weil es sich um kein reales Erlebnis handelte.

 

Der Verbleib des Vaters des BF im Herkunftsstaat spricht zudem eindeutig gegen eine Bedrohung der BF1 und BF2. Wenn der Gegner tatsächlich sein Ansehen verloren hätte, wäre auch der Vater als ehemaliger Besitzer/Betreiber der Stromgeneratoren bzw. als Beteiligter einer Schlägerei mit dem Gegner mit Problemen konfrontiert. Davon, dass der Gegner den Vater der beiden Beschwerdeführer derzeit ernsthaft bedroht oder verfolgt, wurde nichts erwähnt.

Der diesbezügliche Erklärungsversuch des BF1 vor dem BFA, wonach sie umgezogen sind, ist dahingehend unschlüssig, als es auch nach dem Umzug zu behaupteten Vorfällen seitens des Gegners gekommen war.

 

Sofern im Verfahren beider Beschwerdeführer auf ein Schreiben eines Bezirksvorstehers zur Untermauerung ihrer Angaben hinweisen, ist nicht erkennbar, dass sich aus diesem Beweismittel eine andere Bewertung ergibt. Der im Schreiben bestätigte Inhalt stimmt mit dem Sachvortrag der Beschwerdeführer insofern nicht überein, dass bestätigt wurde, dass auf beide Beschwerdeführer geschossen wurden. Die beiden Beschwerdeführer selbst sprachen aber immer nur davon, dass auf das parkende Auto des BF2 geschossen wurde und nie davon, dass es zu konkreten Schüssen auf die Personen der Beschwerdeführer kam. Folglich muss dieses Schreiben als Gefälligkeitsschreiben gewertet werden, um dem Aufenthalt der beiden Beschwerdeführer zu sichern. Dass es zu einer unpräzisen Formulierung gekommen sei – wie im Beschwerdeschreiben angeführt – kann nicht erkannt werden.

 

Angesichts der Vorbringen, der Widersprüche und Ungereimtheiten war letztlich zum Schluss zu gelangen, dass sich die BF1-2 bei der Schilderung der Ausreisegründe eines konstruierten Vorbringens bedient haben.

 

Dem Vorbringen der BF1-2 ist ungeachtet einer Glaubwürdigkeitsprüfung jedoch keine Asylrelevanz beizumessen und ist auf die näheren Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung zu verweisen.

 

3. Rechtliche Beurteilung:

 

II.3.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter, Anzuwendendes Verfahrensrecht

 

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

 

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

 

Gegenständlich liegt somit mangels anderslautender gesetzlicher Anordnung in den anzuwendenden Gesetzen Einzelrichterzuständigkeit vor.

 

Zu A)

 

II.3.2. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

 

II.3.2.1. Die hier maßgeblichen Bestimmungen des § 3 AsylG lauten:

 

„§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) […]

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn

1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder

2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

[…]“

Gegenständlicher Antrag war nicht wegen Drittstaatsicherheit (§ 4 AsylG), des Schutzes in einem EWR-Staat oder der Schweiz (§ 4a AsylG) oder Zuständigkeit eines anderen Staates (§ 5 AsylG) zurückzuweisen. Ebenso liegen bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Asylausschlussgründe vor, weshalb der Antrag des BF inhaltlich zu prüfen ist.

 

Flüchtling im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

 

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.05.1996, Zl.95/20/0380).

 

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).

 

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Konvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes befindet.

 

II.3.2.2. Wie im gegenständlichen Fall bereits in der Beweiswürdigung ausführlich erörtert wurde, war dem Vorbringen des BF zum behaupteten Ausreisegrund insgesamt die Glaubwürdigkeit abzusprechen, weshalb die Glaubhaftmachung eines Asylgrundes von vornherein ausgeschlossen werden kann. Es sei an dieser Stelle betont, dass die Glaubwürdigkeit des Vorbringens die zentrale Rolle für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Asylgewährung [nunmehr „Status eines Asylberechtigten“] einnimmt (vgl. VwGH v. 20.6.1990, Zl. 90/01/0041).

 

Auch konnte im Rahmen einer Prognoseentscheidung (vgl. Putzer, Asylrecht Rz 51) nicht festgestellt werden, dass der BF nach einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit einer aktuellen Gefahr von Übergriffen zu rechnen hätte (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).

 

II.3.2.3. Selbst wenn der Sachvortrag der BF1-2 als glaubwürdig erachtet wird, ist Folgendes in Betracht zu ziehen: Die BF1-2 stützten die Begründung ihres Antrages auf internationalen Schutz auf eine Bedrohung durch einen Kunden ihres Vaters, welcher nicht damit einverstanden gewesen sei, dass er infolge von Zahlungsschwierigkeiten keinen Strom mehr geliefert bekommen habe.

 

Das Bundesverwaltungsgericht vermag in den Angaben der BF1-2 jedoch keine aktuelle und individuelle GFK relevante Verfolgung zu erkennen. Die BF1-2 behaupteten eine Gefährdung oder Bedrohung durch einen privaten Dritten, wobei der Grund für diese Gefährdung oder Bedrohung keine Deckung in der GFK findet, zumal sie ihre Ausreise darauf gründeten, dass sie von einem Kunden ihres Vaters wegen einer rein privaten Angelegenheit bedroht und geschlagen worden seien.

 

Die grundlegende Voraussetzung der Gewährung von Asyl ist aber die Glaubhaftmachung einer Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, nämlich die (direkte oder indirekte) staatliche Verfolgung aufgrund bestimmter Eigenschaften des Asylwerbers (seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Überzeugung wegen).

 

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 18.11.2019, Ra 2019/18/0362, mwN).

 

Aufgrund der Behauptungen der BF1-2 kann über die gegenständliche Verfolgung kein Konnex zu einem asylrelevanten Ereignis hergestellt werden, zumal die von den BF1-2 geschilderten Verfolgungshandlungen unter keinen der oben genannten Konventionsgründe subsumierbar sind.

 

Fehlt es hinsichtlich der in Rede stehenden Verfolgungshandlung(en) an einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe, so kann grundsätzlich auch dahingestellt bleiben, ob der Herkunftsstaat des Berufungswerbers in der Lage oder Willens wäre, ihm Schutz zu gewähren.

 

Im Ergebnis ist dem von den BF1-2 geschilderten Sachverhalt folglich keine Asylrelevanz beizumessen gewesen.

 

II.3.2.4. Zur Behauptung in der Beschwerde, dass die BF1-2 der sozialen Gruppe der Familie bzw. der aufgrund eines Familienstreites bzw. einer Blutfehde im Libanon mit dem Tod bedrohten Personen angehören würden, ist folgendes anzumerken:

 

Nach Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

 

Auch die sogenannte Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates) bezieht sich in deren Artikel 2 auf diese Definition. Aus Artikel 10 Absatz 1 lit d Statusrichtlinie ergibt sich für das Vorliegen einer sozialen Gruppe:

 

"Eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn

- die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann,

gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das

Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und

- die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird."

 

Dem Verwaltungsgerichtshof folgend ist die Geschlechtszugehörigkeit (VwGH 31.01.2002, Zl. 99/20/0497; 03.07.2003, Zl. 2000/20/0071) vom Begriff der "bestimmten sozialen Gruppe" umfasst, wobei der Verwaltungsgerichtshof darauf verwiesen hat, dass dieses Merkmal schon durch die Statusrichtlinie geschützt ist. In der jüngeren Rechtsprechung (VwGH 24.03.2011, Zl. 2008/23/0176; VwGH 28.08.2009, Zl. 2008/19/1027) wurde als soziale Gruppe auch die "Zugehörigkeit zur Familie des Gefährders" herangezogen. Die Familie an sich stellt jedoch jedenfalls ein an sich unveränderliches, angeborenes Merkmal dar. Ausgehend davon kommt es entscheidungswesentlich darauf an, ob effektiver staatlicher Schutz gewährt werden würde.

 

Wie sich aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ergibt, fallen lediglich die Angehörigen des eine Blutrache auslösenden Täters in die soziale Gruppe der Familie aufgrund des unabänderlichen Merkmals der Blutsverwandtschaft zu diesem und der damit zusammenhängenden Möglichkeit des "Durchschlagens" der dem Täter drohenden Verfolgung auf diese. Der Verwaltungsgerichtshof hat dementsprechend im Erkenntnis vom 17.09.2003, Zl. 2000/20/0137, ausgeführt, dass eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (hier der Familie) und damit ein Verfolgungsgrund im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention nur dann vorliegen kann, wenn ein Sachverhalt zugrunde liegt, dem zufolge die drohende Blutrache an einem - unbeteiligten – Dritten wegen dessen mit dem Täter gemeinsamer oder von ihm herrührender Abstammung (vgl. VwGH 26.2.2002, Zl. 2000/20/0517) ausgelöst wird.

 

Das bloße Merkmal der Zugehörigkeit zu einer "bedrohten Familie" genügt daher im gegenständlichen Fall – der Drohung um weiter Strom geliefert zu erhalten - nicht, um einen Angehörigen einer solchen zugleich als Angehörigen einer sozialen Gruppe im Sinne des Artikels 10 Absatz 1 lit d der Statusrichtlinie beziehungsweise des Artikels 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention zu qualifizieren und damit in weiterer Folge die Subsumierung eines behaupteten Sachverhalts als einen asylrelevanten - und nicht bloß im Sinn des Artikel 3 EMRK relevanten - Sachverhalt zu ermöglichen.

 

In Anbetracht dessen wäre aus dem behaupteten Sachverhalt bezüglich der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe einer "bedrohten Familie " per se schon ebenso wenig etwas zu gewinnen gewesen.

 

Im Übrigen würde auch die Gläubigereigenschaft weder ein (im Sinne der obigen Definitionen) besonders geschütztes unveräußerliches Merkmal darstellt noch die BF1-2 zum Mitglied einer von der Gesellschaft insgesamt hinreichend unterscheidbaren und deutlich identifizierbaren Gruppe machen. Aus der Verfolgung durch einen Schuldner allein konnte eine schützenswerte "soziale Gruppe der Verfolgten" ebenso nicht gebildet werden (vgl. VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479; betreffend Schuldnereigenschaft).

 

II.3.3. Nichtzuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat

 

II.3.3.1. Die hier maßgeblichen Bestimmungen des § 8 AsylG lauten:

 

„§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,

1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2. […],

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

 

(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht. […]“

Bereits § 8 AsylG 1997 beschränkte den Prüfungsrahmen auf den „Herkunftsstaat“ des Asylwerbers. Dies war dahingehend zu verstehen, dass damit derjenige Staat zu bezeichnen war, hinsichtlich dessen auch die Flüchtlingseigenschaft des Asylwerbers auf Grund seines Antrages zu prüfen ist (VwGH 22.4.1999, 98/20/0561; 20.5.1999, 98/20/0300). Diese Grundsätze sind auf die hier anzuwendende Rechtsmaterie insoweit zu übertragen, als dass auch hier der Prüfungsmaßstab hinsichtlich des Bestehens der Voraussetzungen, welche allenfalls zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führen, sich auf den Herkunftsstaat beschränkt.

 

Art. 2 EMRK lautet:

„(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. (2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt:

a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen;

b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern;

c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.“

Während durch das 6. ZPEMRK die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft wurde, erklärt das 13. ZPEMRK die Todesstrafe als vollständig abgeschafft.

 

Art. 3 EMRK lautet:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

 

Folter bezeichnet jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind (Art. 1 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984).

 

Unter unmenschlicher Behandlung ist die vorsätzliche Verursachung intensiven Leides unterhalb der Stufe der Folter zu verstehen (Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht 10. Aufl. (2007), RZ 1394).

 

Unter einer erniedrigenden Behandlung ist die Zufügung einer Demütigung oder Entwürdigung von besonderem Grad zu verstehen (Näher Tomasovsky, FS Funk (2003) 579; Grabenwarter, Menschenrechtskonvention 134f).

 

Art. 3 EMRK enthält keinen Gesetzesvorbehalt und umfasst jede physische Person (auch Fremde), welche sich im Bundesgebiet aufhält.

 

Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Ausweisung (nunmehr Rückkehrentscheidung) eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Falle ihrer Ausweisung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).

 

Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (für viele: VfSlg 13.314; EGMR 7.7.1989, Soering, EuGRZ 1989, 314). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer zu berücksichtigen, auch wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein „ausreichend reales Risiko“ für eine Verletzung des Art. 3 EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes („high threshold“) dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (vgl. Karl Premissl in Migralex „Schutz vor Abschiebung von Traumatisierten in „Dublin-Verfahren““, derselbe in Migralex: „Abschiebeschutz von Traumatisieren“; EGMR: Ovidenko vs. Finnland; Hukic vs. Scheden, Karim, vs. Schweden, 4.7.2006, Appilic 24171/05, Goncharova & Alekseytev vs. Schweden, 3.5.2007, Appilic 31246/06.

 

Der EGMR geht weiters allgemein davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische od. sonst. unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen (vgl für mehrere. z. B. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“], oder auch Application no. 7702/04 by SALKIC and Others against Sweden oder S.C.C. against Sweden v. 15.2.2000, 46553 / 99).

 

Gemäß der Judikatur des EGMR muss ein BF die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darstellen (vgl. EKMR, Entsch. Vom 7.7.1987, Nr. 12877/87 – Kalema gg. Frankreich, DR 53, S. 254, 264). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus (vgl. EKMR, Entsch. Vom 12.3.1980, Nr. 8897/80: X u. Y gg. Vereinigtes Königreich), wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (vgl. EKMR, Entsch. Vom 17.10.1986, Nr. 12364/86: Kilic gg. Schweiz, DR 50, S. 280, 289). So führt der EGMR in stRsp aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller „Beweise“ zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt -so weit als möglich- Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (zB EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005)

 

Auch nach Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 26.6.1997, Zl. 95/18/1293, VwGH 17.7.1997, Zl. 97/18/0336). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre (VwGH 14.2.2002, 99/18/0199 ua), gesundheitliche (VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601) oder finanzielle (vgl VwGH 15.11.1994, 94/07/0099) Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann (vgl auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279).

Voraussetzung für das Vorliegen einer relevanten Bedrohung ist auch in diesem Fall, dass eine von staatlichen Stellen zumindest gebilligte oder nicht effektiv verhinderbare Bedrohung der relevanten Rechtsgüter vorliegt oder dass im Heimatstaat des Asylwerbers keine ausreichend funktionierende Ordnungsmacht (mehr) vorhanden ist und damit zu rechnen wäre, dass jeder dorthin abgeschobene Fremde mit erheblicher Wahrscheinlichkeit der in [nunmehr] § 8 Abs. 1 AsylG umschriebenen Gefahr unmittelbar ausgesetzt wäre (vgl. VwGH 26.6.1997, 95/21/0294).

 

Der VwGH geht davon aus, dass der BF vernünftiger Weise (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380) nicht damit rechnen muss, in dessen Herkunftsstaat (Abschiebestaat) mit einer über die bloße Möglichkeit (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262) hinausgehenden maßgeblichen Wahrscheinlichkeit von einer aktuellen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194) Gefahr betroffen zu sein. Wird dieses Wahrscheinlichkeitskalkül nicht erreicht, scheidet die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten somit aus.

 

II.3.3.2. Umgelegt auf den gegenständlichen Fall werden im Lichte der dargestellten nationalen und internationalen Rechtsprechung folgende Überlegungen angestellt:

 

Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage (allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse) liegen nicht vor, weshalb hieraus aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Vorliegen eines Sachverhaltes gem. Art. 2 bzw. 3 EMRK abgeleitet werden kann.

 

Stichhaltige Hinweise darauf, dass die BF 1-2 im Fall ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, kamen im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervor.

 

Wie bereits oben ausgeführt wurde, haben die BF1-2 keine ihnen konkret drohende aktuelle, an asylrelevante Merkmale iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anknüpfende Verfolgung bzw. keine sonstigen für eine aktuell drohende unmenschliche Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe glaubhaft vorgebracht.

 

Soweit es zwischenzeitig vor dem Hintergrund der allgemein bekannten Ereignisse im Libanon zu punktuellen Veränderungen der Lage im Libanon gekommen ist, war als notorisch festzustellen, dass sich diese als Einzelereignisse und regional begrenzt darstellen. Für die Heimatregion der BF1-2 können aktuell keine gravierenden Auswirkungen der Ereignisse im Libanon aus den länderkundlichen Feststellungen abgeleitet werden, welche für die Gewährung von subsidiären Schutz relevant wären. Aus diesen Feststellungen resultiert folgerichtig auch, dass das reale Risiko einer gravierenden Verletzung der Rechtssphäre des BF aufgrund der aktuellen Ereignisse in der Region als nicht wahrscheinlich anzusehen ist.

 

Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 21.02.2017, Ra 2016/18/0137-14, zur Frage der Zuerkennung von subsidiärem Schutz, in welchem sich der VwGH mit der Frage einer Rückkehrgefährdung iSd Art. 3 EMRK aufgrund der bloßen allgemeinen Lage (hier: Irak), insbesondere wegen wiederkehrenden Anschlägen und zum anderen einer solchen wegen – kumulativ mit der allgemeinen Lage – zu berücksichtigenden individuellen Faktoren, befasst hat und die Revision gegen das Erkenntnis des BVwG als unbegründet abgewiesen wurde.

 

Vor dem Hintergrund der getroffenen Länderfeststellungen liegen im gegenständlichen Fall auch keine stichhaltigen Anhaltspunkte für die Annahme einer die physische Existenz der Beschwerdeführer nur unzureichend sichernden Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), vor. Dies angesichts ihrer eigenen Selbsterhaltungsfähigkeit, die aus ihrer Arbeitsfähigkeit sowie der Schul- bzw. Berufsausbildung und Berufserfahrung im Herkunftsstaat resultiert und in Anbetracht ihrer familiären Anknüpfungspunkte im Libanon, wobei die Eltern, eine Schwester sowie mehrere Onkel und Tanten nach wie vor in der Heimatregion im Libanon leben, wo auch die BF1-2 vor ihrer Ausreise lebten und wohin sie zurückkehren können.

 

Auch konkrete Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die BF1-2 als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen. Die BF1-2 monierten zwar auch die Sicherheitslage als Hindernis für eine Rückkehr in den Libanon, dieser Annahme konnte jedoch aufgrund der gegenständlichen Entscheidung zugrundeliegenden länderkundlichen Informationen nicht gefolgt werden.

 

Zur individuellen Versorgungssituation der BF1-2 wird weiters festgestellt, dass diese im Herkunftsstaat über eine hinreichende Existenzgrundlage verfügen. Bei den BF1-2 handelt es sich um mobile, gesunde, arbeitsfähige Männer, welcher über eine mehrjährige Schulausbildung verfügen. Der BF1 hat zudem eine Ausbildung als XXXX absolviert und darüber hinaus Berufserfahrung als XXXX sowie als XXXX Der BF2 war als angelernter XXXX und in XXXX tätig. Eine Arbeitsunfähigkeit der BF1-2 konnte – wie oben näher dargelegt – nicht festgestellt werden. Es steht den BF1-2 frei, eine Beschäftigung bzw. zumindest Gelegenheitsarbeiten (wie schon vor ihrer Ausreise) anzunehmen.

 

Dass die BF1-2 an allfälligen gravierenden Erkrankungen leiden würden, wurde von ihnen nicht ins Treffen geführt und ist auch sonst nicht hervorgekommen.

 

Weitere, in den Personen der BF1-2 begründete Rückkehrhindernisse können bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen ebenfalls nicht festgestellt werden.

 

Die derzeitige COVID-19 (sog. Corona-) Pandemie, ausgelöst durch das SARS-CoV-2-Virus, führt zu keiner Änderung der oben angeführten Erläuterungen zum Libanon.

 

Im Hinblick auf die Gefahr, dass sich die BF1-2 im Libanon mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert bzw. auf dort wegen der Krise herrschende Einschränkungen des Wirtschaftslebens und die daraus resultierende Versorgungslage betroffen ist, kann ein Rückkehrhindernis nur dann vorliegen, wenn die BF1-2 aufgrund der Bedingungen mit maßgeblichen Wahrscheinlichkeit damit rechnen müssten, von einem unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalt betroffen zu sein. Bei der Beurteilung, ob den BF1-2 im Fall ihrer Rückführung die reale Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung drohe, sind die in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien (vgl. VwGH 14.8.2019, Ra 2019/20/0347, mwN) zu beachten.

 

Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, dass der BF detailliert und konkret darlegt, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Dies wurde vom BF nicht dargelegt (vgl. VwGH 12.6.2018, Ra 2018/20/0250, mwN).

 

Eine derartige Extremgefahr kann für die BF1-2 im Falle ihrer Rückkehr in den Libanon nicht angenommen werden. Es ist zum einen nicht ersichtlich, dass die BF1-2 als Männer ohne schwerwiegenden Erkrankungen im Libanon gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert wären.

 

Aufgrund der oa. Ausführungen ist letztlich im Rahmen einer Gesamtschau davon auszugehen, dass die BF1-2 im Falle ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die dringendsten Bedürfnisse befriedigen kann und nicht in eine allfällige, Anfangsschwierigkeiten überschreitende, dauerhaft aussichtslose Lage gerät.

 

II.3.4. Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels und Erlassung einer Rückkehrentscheidung

II.3.4.1. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.

 

Gemäß § 57 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:

1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

 

Der gegenständliche, nach unrechtmäßiger Einreise in Österreich gestellte, Antrag auf internationalen Schutz war abzuweisen. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt (ein sonstiger Aufenthaltstitel des drittstaatsangehörigen Fremden ist nicht ersichtlich und wurde auch nicht behauptet) im Bundesgebiet mehr vor und fallen die BF1-2 nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG.

 

Der Aufenthalt der BF1-2 ist nicht geduldet. Die BF1-2 sind nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch keine Opfer von Gewalt im obigen Sinn.

 

Es liegen folglich keine Umstände vor, dass den BF1-2 allenfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) zu erteilen gewesen wäre, und wurde diesbezüglich in der Beschwerde auch nichts dargetan.

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

 

II.3.4.2. Gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG ist gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

 

Gemäß § 52 Abs 3 FPG ist unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG zurück- oder abgewiesen wird.

 

Gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen. Die Erlassung der Entscheidung ist zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Gemäß § 9 Abs. 3 AsylG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind.

 

II.3.4.2.1. Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, wie hier der Rückkehrentscheidung, kann folglich ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.

 

Vom Begriff des 'Familienlebens' in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern zB auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt.

 

Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, welche miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Art. 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig.

 

Artikel 8 EMRK schützt das Privatleben umfassend und sichert dem Einzelnen einen Bereich,

innerhalb dessen er seine Persönlichkeit frei entfalten kann.

 

II.3.4.2. Im Juli 2022 reisten die BF1-2 in Österreich ein und halten sich seither ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Der BF1 führt seit XXXX eine Lebensgemeinschaft mit einer österreichischen Staatsangehörigen, mit welcher er seit XXXX nach traditionell islamischen Recht verheiratet ist und seit XXXX an einem gemeinsamen Wohnsitz lebt. In der Wohnung leben auch die zwei Kinder der Lebensgefährtin des BF1 aus seiner früheren Beziehung und seit XXXX auch der Bruder des BF1. In Österreich wohnen keine Verwandten der BF1-2. Die BF1-2 sind seit XXXX (BF1) bzw. XXXX (BF2) in XXXX erwerbstätig und finanzieren sich damit ihren Lebensunterhalt.

 

Die BF1-2 verfügen über Deutschkenntnisse auf einfachem Niveau. Sie sind keine Mitglieder in einem Verein und in Österreich strafrechtlich unbescholten.

 

II.3.4.3. Gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf das Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, welche in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, der Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Zweifellos handelt es sich sowohl beim BFA als auch beim ho. Gericht um öffentliche Behörden im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK und ist der Eingriff in § 10 AsylG gesetzlich vorgesehen.

 

Es ist in weiterer Folge zu prüfen, ob ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und/oder Familienlebens der BF1-2 im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Art. 8 EMRK gedeckt ist und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK, in verhältnismäßiger Weise verfolgt.

 

II.3.4.4. Im Einzelnen ergibt sich aus einer Zusammenschau der oben genannten Determinanten im Lichte der soeben zitierten Judikatur Folgendes:

 

Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) ist das nach Art. 8 EMRK geschützte Familienleben nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Bindungen ("marriage-based relationships") beschränkt, sondern erfasst auch andere faktische Familienbindungen ("de facto family ties"), bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 23. Februar 2011, Zl. 2011/23/0097, und vom 8. September 2010, Zl. 2008/01/0551, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR). Zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK begründet, stellt der EGMR auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen - etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder - äußern können (vgl. dazu etwa das Urteil des EGMR vom 2. November 2010, Serife Yigit gegen die Türkei (Große Kammer), Beschwerde Nr. 3976/05, Rdnr. 93 und 96).

 

Der BF1 hat XXXX über Internet eine österreichischen Staatangehörige kennengelernt. Die beiden haben sich anfänglich fast jeden zweiten Tag getroffen und sind nachdem die Lebensgefährtin des BF1 geschieden wurde zusammengezogen. Der BF1 und seine Lebensgefährtin haben am XXXX nach islamischen Ritus geheiratet. Seit XXXX besteht mit der Lebensgefährtin des BF1 und ihren zwei Kindern aus einer früheren Beziehung ein gemeinsamer Wohnsitz. Seit XXXX wohnt auch der BF2 beim BF1. Die Lebenserhaltungskosten werden zwischen den BF1-2 und der Lebensgefährtin des BF1 aufgeteilt. Folglich ist ein Familienleben zwischen der BF1 und seiner Lebensgefährtin zu bejahen.

 

Zur Lebensgemeinschaft bzw. traditionell islamisch geschlossenen Ehe des BF1 ist darauf zu verweisen, dass bei der Gewichtung der für den Fremden sprechenden Umstände im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend einbezogen werden darf, dass er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. etwa VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205, mwN). Diese Überlegungen gelten insbesondere auch für eine Eheschließung mit einer in Österreich aufenthaltsberechtigten Person, wenn dem Fremden zum Zeitpunkt des Eingehens der Ehe die Unsicherheit eines gemeinsamen Familienlebens in Österreich in evidenter Weise klar sein musste (vgl. VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0235; in diesem Sinn auch VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0271).

 

In Zusammenhang mit der nunmehr geltend gemachten Beziehung des BF1 ist daher insbesondere zu berücksichtigen, dass sich der BF1 und seine Lebensgefährtin des unsicheren Aufenthaltsstatus des BF1 beim Eingehen der Beziehung bewusst sein mussten, zumal sein Aufenthalt stets auf einen - wie sich im Verfahren zeigte - unberechtigte Asylantrag beruhte (vgl. Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 857 mwN; EGMR 24.11.1998, Fall Mitchell, Appl. 40.447/98; 5.9.2000, Fall Solomon, Appl. 44.328/98; 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl. 50.435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562). Der Asylwerber kann während seines Asylverfahrens nicht darauf vertrauen, dass ein in dieser Zeit entstehendes Privat- bzw. Familienleben auch nach der Erledigung seines Asylantrages fortgesetzt werden kann. Die Rechte aus der GFK dürfen nicht dazu dienen, die Einwanderungsregeln zu umgehen (ÖJZ 2007/74, Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 EMRK, S 857 mwN).

 

Es wird dem BF1 auch möglich sein, den Kontakt zu seiner Lebensgefährtin über moderne Kommunikationsmittel aufrecht zu erhalten, sodass durch die verfügte Rückkehrentscheidung kein gänzlicher Abbruch des Kontaktes begründet wird. Im Übrigen steht es dem BF1, gegen welchen kein Einreiseverbot erlassen wurde, auch offen, bei Erfüllung der allgemeinen Voraussetzungen einer legalen Einreise und eines legalen Aufenthalts, ins Bundesgebiet zurückzukehren bzw. seine Lebensgefährtin hier zu besuchen. In diesem Zusammenhang wird nicht verkannt, dass der Verweis auf Kommunikation über moderne Medien bei Kindern unzulässig ist (vgl. VfGH vom 25.02.2013, U2241/12; VfGH vom 19.06.2015, E426/2015). Dies gilt jedoch nicht für erwachsene Personen, welche sich auch der Konsequenzen ihrer Handlungen bewusst sein mussten, dass nämlich eine spätere Fortsetzung des gemeinsamen Familienlebens nur unter Einhaltung der entsprechenden rechtlichen Bestimmungen möglich ist.

 

Der BF1 hat auch hinsichtlich der Kinder seiner Lebensgefährtin weder ein besonderes Abhängigkeits- oder Naheverhältnis, welches über die üblichen Beziehungen von Stiefkindern zu ihren Stiefeltern hinausgeht, behauptet oder nachweisen können, noch hat er dartun können, dass seine Stiefkinder auf eine Betreuung durch den BF1 angewiesen wären.

 

Die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung bildet daher keinen unzulässigen Eingriff in das Recht des BF1 auf Schutz des Familienlebens.

 

Hinsichtlich des BF2 ist anzumerken, dass dieser mit dem BF1 und dessen Lebensgefährtin zusammenlebt. Anhaltspunkte eines besonderen Abhängigkeitsverhältnisses sowohl finanziell oder anderwertig bestehen nicht. Der BF2 ist volljährig und arbeitsfähig.

 

Ob außerhalb des Bereiches des insbesondere zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern ipso iure zu bejahenden Familienlebens iSd Art. 8 MRK ein Familienleben vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des EGMR jeweils von den konkreten Umständen ab, wobei für die Prüfung einer hinreichend stark ausgeprägten persönlichen Nahebeziehung gegebenenfalls auch die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung sind (vgl. E 26. Jänner 2006, 2002/20/0423). Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 MRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. E 21. April 2011, 2011/01/0093).

 

Hinsichtlich der Beziehung des BF2 zu seinem (erwachsenen) Bruder und dessen Lebensgefährtin liegt zwar kein Familien-, jedoch ein Privatleben vor.

 

Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, in ÖJZ 2007, 852 ff.). Eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration ist erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541). Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055 ua. mwH). Außerdem ist nach der bisherigen Rechtsprechung auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).

 

Die BF1-2 halten sich erst seit Juli 2023 in Österreich auf und war der Aufenthalt nach der gegenständlichen Antragstellung auch bloß aufgrund der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung als Asylwerber rechtmäßig. Dies musste den BF1-2 bewusst gewesen sein.

 

Die BF1-2 verfügen über Deutschkenntnisse auf einfachem Niveau und sind in keinem Verein Mitglieder, wobei selbst dann, wenn ein Fremder perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).

 

Die BF1-2 sind seit XXXX in XXXX als XXXX tätig und finanzieren sich damit ihren Lebensunterhalt. Was diese Berufstätigkeit betrifft so ist festzuhalten, dass auch daraus nicht auf eine hinreichende berufliche Integration geschlossen werden kann. Zwar kommt dieser Tätigkeit der BF1-2 im Rahmen der Interessensabwägung eine gewisse Bedeutung zu, wobei es zu bedenken gilt, dass die BF1-2 sich während der Aufnahme dieser Tätigkeit ihres unsicheren Aufenthaltes in Österreich bewusst sein mussten. Diesbezüglich ist auch darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht hat, dass der Ausübung einer Beschäftigung sowie einer etwaigen Einstellungszusage oder Arbeitsplatzzusage eines Asylwerbers, der lediglich über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz und über keine Arbeitserlaubnis verfügt hat, keine wesentliche Bedeutung zukommt (VwGH 22.02.2011, 2010/18/0323 mit Hinweis auf VwGH 15.09.2010, 2007/18/0612 und VwGH 29.06.2010, 2010/18/0195 jeweils mit weiteren Nachweisen).

 

Soweit die BF1-2 über private Bindungen in Österreich verfügen, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in ihr Heimatland gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass die BF1-2 hierdurch gezwungen wird, den Kontakt zu jenen Personen, die ihm in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Auch hier steht es ihm frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch kurzfristige Urlaubsaufenthalte) aufrecht zu erhalten. Auch der Verwaltungsgerichtshof führt zur sozialen Integration wie folgt aus: Das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich ist in seinem Gewicht gemindert, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung gehabt hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (vgl. VwGH 31.1.2013, 2011/23/0519).

 

Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit der BF1-2 stellt der Judikatur folgend weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, Zahl 98/18/0420).

 

Im Hinblick auf den Umstand, dass die erwachsenen BF1-2 den überwiegenden und prägenden Teil ihres Lebens im Herkunftsstaat verbrachten, dort sozialisiert wurden und zur Schule gingen, hingegen die Dauer ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet im Vergleich zu ihrem Lebensalter als kurz zu bezeichnen ist, ist davon auszugehen, dass anhaltende Bindungen zum Herkunftsstaat bestehen, zumal sie dort familiäre Anknüpfungspunkte in Form von Eltern, einer Schwester und mehreren Onkel und Tanten haben und sie die Sprache des Herkunftsstaates beherrschen.

 

Aufgrund dieser Erwägungen ist davon auszugehen, dass die Interessen des BF1-2 an einem Verbleib im Bundesgebiet gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein hoher Stellenwert zukommt, in den Hintergrund treten. Allein ein durch beharrliche Missachtung der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkter Aufenthalt kann nämlich keinen Rechtsanspruch aus Art. 8 EMRK bewirken. Eine andere Auffassung würde sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber sich rechtstreu Verhaltenden führen (VfGH 12.06.2010, U 613/10-10, vgl. idS VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007).

 

Nun wird nicht verkannt, dass die BF1-2 Anstrengungen gezeigt haben, sich in Österreich sprachlich, beruflich und sozial zu integrieren. Allerdings besteht insgesamt trotzdem noch keine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen, dass den BF1-2 wegen deren Integrationsbemühungen unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. zu ähnlichen Konstellationen etwa VwGH 08.03.2005, 2004/18/0354; 30.04.2009, 2009/21/0086; 08.07.2009, 2008/21/0533; 25.02.2010, 2010/18/0026 sowie aktuell VwGH 14.01.2020, Ra 2019/01/0361; 23.01.2020, Ra 2019/18/0322; 23.01.2020, Ra 2020/21/0002; 23.01.2020, Ra 2019/21/0306; 04.02.2020, Ra 2020/14/0026jeweils mwN).

 

Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist die belangte Behörde daher zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts des BF im Bundesgebiet das persönliche Interesse des BF am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt.

 

Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen und in der Beschwerde nicht substantiiert vorgebracht worden, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.

 

II.3.5. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG ist mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

 

Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

 

Nach § 50 Abs. 2 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).

 

Nach § 50 Abs. 3 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

 

Im gegenständlichen Fall liegen im Hinblick auf die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen keine konkreten Anhaltspunkte vor, dass die Abschiebung in den Libanon unzulässig wäre.

 

II.3.6. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

 

Die in Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides festgelegte Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung entspricht § 55 Abs. 1 bis 3 FPG und war daher nicht zu beanstanden.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

 

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

 

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

 

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

 

Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das ho. Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des VwGH, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe und der Auslegung des Begriffs der Glaubhaftmachung, zum Flüchtlingsbegriff, der hier vertretenen Zurechnungstheorie und den Anforderungen an einen Staat und dessen Behörden um von dessen Willen und Fähigkeit, den auf seinem Territorium aufhältigen Menschen Schutz vor Übergriffen zu gewähren ausgehen zu können, dem Refoulementschutz bzw. zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben abgeht. Entsprechende einschlägige Judikatur wurde bereits zitiert.

Ebenso wird zu diesem Thema keine Rechtssache, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, erörtert. In Bezug auf die Spruchpunkte I und II des angefochtenen Bescheides liegt das Schwergewicht zudem in Fragen der Beweiswürdigung.

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