VwGH 2000/20/0517

VwGH2000/20/051726.2.2002

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Hohenecker, über die Beschwerde des ML in Linz, geboren am 17. August 1983, vertreten durch Mag. Robert Schgör, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Landstraße 47, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 4. August 2000, Zl. 217.109/0-III/12/00, betreffend §§ 6 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §6 Z2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1997 §6 Z2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, nach seinen Angaben ein Staatsangehöriger von Liberia, reiste am 24. April 2000 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 26. April 2000 Asyl. Dazu brachte er beim Bundesasylamt vor, seine Eltern seien im Jahre 1987 im Verlaufe des Krieges in Liberia verstorben. Ein näher genannter Freund seines Vaters habe ihn bereits als Vierjährigen auf die Farm eines weit entfernten Dorfes gebracht, da er um das Leben des Beschwerdeführers gefürchtet habe und dessen Familie bereits tot gewesen sei. Dieser Freund habe ihm im Februar 2000 erzählt, er habe erfahren, dass es ein Problem gäbe, weil der Vater des Beschwerdeführers früher den Vater einer anderen Person getötet hätte. Diese Person würde in einem nahe gelegenen Dorf wohnen und nun beabsichtigen, den Beschwerdeführer zu töten, "da mein Vater damals seinen Vater getötet hat". Die Frage, weshalb er sich wegen dieser Morddrohung nicht an die Polizei gewendet habe, beantwortete der Beschwerdeführer damit, dass diese sich nicht darum kümmere, wenn sich Menschen gegenseitig grundlos töteten.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 12. Mai 2000 gemäß § 6 Z. 2 AsylG als offensichtlich unbegründet ab und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Liberia gemäß § 8 AsylG für zulässig. Von einer Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers sei nach der Begründung dieses Bescheides zusammengefasst deshalb nicht auszugehen, weil der Beschwerdeführer nicht dargetan habe, dass die behauptete Privatverfolgung durch die Behörden seines Heimatstaates geduldet würde. Da die Behörden Liberias nach den Angaben des Beschwerdeführers keine Kenntnis von der Verfolgung erlangt hätten und schon deswegen keine geeigneten Maßnahmen hätten setzen können, könne die Verfolgung dem Heimatstaat des Beschwerdeführers nicht zugerechnet werden.

Aufgrund der dagegen erhobenen Berufung führte die belangte Behörde eine Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer wiederholte, dass er nach den Mitteilungen des Freundes seines Vaters, der sich um ihn gekümmert habe, von einer Person getötet werden sollte, deren Vater angeblich vom Vater des Beschwerdeführers getötet worden sei. Über die näheren Umstände dieser Tat seines Vaters wisse er nichts, weil er damals noch zu jung gewesen sei. Auch wisse der Beschwerdeführer nicht, von wem sein eigener Vater getötet worden sei. Ebenso wenig kenne er den Namen oder die Person, die nun ihn (den Beschwerdeführer) töten wolle, weshalb er sich auch nicht in einem anderen Teil Liberias in Schutz habe bringen können. Er selbst sei politisch nicht aktiv gewesen, "aber mein Vater war es".

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 6 Z. 2 und § 8 AsylG ab. Zur Subsumtion der behaupteten Verfolgungsgefahr unter § 6 Z. 2 AsylG führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, unter Zugrundelegung des Vorbringens des Beschwerdeführers bestehe seine Bedrohungssituation zusammengefasst darin, dass eine ihm unbekannte Person nach seinem Leben trachte, weil der Vater des Beschwerdeführers angeblich den Vater dieser unbekannten Person getötet habe. Dem Beschwerdeführer seien jedoch weder Umstände, wie etwa die Identität oder gar der Aufenthalt des potentiellen Mörders, noch die Identität des angeblich seinerzeit von seinem Vater Ermordeten oder "die Hintergründe der angeblichen Tat" bekannt. Auch habe er sich nicht an staatliche Behörden um Gewährung von Schutz gewendet. Aus seiner Darstellung gehe zunächst hervor, dass er keinen konkreten Anhaltspunkt für ein "unmittelbares" Bevorstehen der befürchteten Tat nennen könne. Weiters sei "nicht erkennbar, inwiefern die behauptete Verfolgungsgefahr ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben soll". Die vom Beschwerdeführer geäußerten Bedrohungsvermutungen deuteten "vielmehr" dahin, dass es sich "offenbar um eine angekündigte Rache im Privatbereich" handle. Asylrelevanz einer derartigen, nicht vom Staat, sondern von Privatpersonen ausgehenden Bedrohung könnte nach Ansicht der belangten Behörde aber nur dann vorliegen, wenn solche Übergriffe von staatlichen Stellen geduldet würden bzw. der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage sei, Schutz zu gewähren. Hiefür fänden sich aus näher dargestellten Gründen keine Anhaltspunkte.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Ihre Abweisung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet stützt die belangte Behörde zunächst auf das Argument, im Vorbringen des Beschwerdeführers fehle es an konkreten Anhaltspunkten für ein "unmittelbares" Bevorstehen der angekündigten Tat. Dem ist entgegenzuhalten, dass die belangte Behörde nicht den Versuch unternimmt, daraus abzuleiten, dem Vorbringen des Beschwerdeführers lasse sich im Sinne des § 6 Z. 1 AsylG "offensichtlich nicht entnehmen", dass dem Beschwerdeführer "im Herkunftsstaat Verfolgung droht". Zur Begründung der Abweisung des Asylantrages gemäß § 6 AsylG trägt dieses erste Argument der belangten Behörde schon deshalb nichts bei.

Nichts anderes gilt auch für das - im angefochtenen Bescheid und erneut in der Gegenschrift verhältnismäßig breit ausgeführte - Argument, der Beschwerdeführer hätte sich um staatlichen Schutz bemühen sollen. In dieser Hinsicht kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die entsprechende Stelle in dem Erkenntnis vom 20. Oktober 1999, Zl. 99/01/0197, und die zusammenfassende Darstellung in dem hg. Erkenntnis vom 31. Mai 2001, Zl. 2000/20/0496, verwiesen werden.

Die von der belangten Behörde allein herangezogene Bestimmung des § 6 Z. 2 AsylG setzt voraus, dass der Asylantrag eindeutig jeder Grundlage entbehrt, weil - ohne sonstigen Hinweis auf Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat - die "behauptete Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat nach dem Vorbringen der Asylwerber offensichtlich nicht auf die in Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe zurückzuführen ist". Zum Vorliegen dieses Tatbestandes der von ihr angewendeten Vorschrift hat die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid nur ausgeführt, es sei "nicht erkennbar, inwiefern" die Verfolgungsgefahr auf einem der Konventionsgründe beruhen solle, und das Vorbringen deute auf "eine angekündigte Rache im Privatbereich" hin. Die anschließenden Ausführungen darüber, dass eine "derartige" Bedrohung "aber" nur dann asylrelevant sei, wenn der Staat keinen Schutz gewähre, sind mit der Ansicht, es fehle schon an einem Konventionsgrund, schwer in Einklang zu bringen.

Der Beschwerdeführer behauptet, er werde deshalb, weil sein Vater zu einem schon lange zurückliegenden Zeitpunkt unter nicht mehr feststellbaren Umständen einen Mord begangen habe, nun vom Sohn des Mordopfers mit der Ermordung bedroht. Dies unterscheidet sich wesentlich vom Fall des in der Gegenschrift zitierten Erkenntnisses vom 8. Juni 2000, Zl. 2000/20/0141, das einen wegen eines von ihm selbst begangenen Tötungsdeliktes von privater Rache verfolgten Asylwerber betraf. Richtet sich die Rache, wie im vorliegenden Fall, gegen einen unbeteiligten Dritten bloß wegen dessen mit dem Täter gemeinsamer oder von ihm herrührender Abstammung, so stellt sich bei Prüfung der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Verfolgungsgründe die Frage nach einer Verfolgung aus Gründen der ethnischen oder rassischen oder, im vorliegenden Fall, der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe "Familie" (vgl. zur Familie als "sozialer Gruppe" im Sinne der Flüchtlingskonvention schon Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, 2. Aufl. (Nachdruck 1998), 359; zum Begriff der "sozialen Gruppe" u.a. auf diesen Autor verweisend das hg. Erkenntnis vom 20. Oktober 1999, Zl. 99/01/0197; im Zusammenhang mit "Sippenhaftung" die Erkenntnisse vom 19. Dezember 2001, Zl. 98/20/0312 und Zl. 98/20/0330). Derartige Blutrachen oder Blutfehden mögen zwar nicht dem herkömmlichen Bild der Sippenhaftung im Sinne einer Ausdehnung staatlicher Verfolgung, meist wegen der politischen Gesinnung, auf Angehörige entsprechen und ihrerseits besondere Abgrenzungsfragen aufwerfen. Vom "offensichtlichen" Fehlen eines Konventionsgrundes kann in solchen Fällen - mit Rücksicht auf den Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe - nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes aber keinesfalls gesprochen werden (vgl. auch den im Erkenntnis vom 30. Jänner 2001, Zl. 98/01/0528, entschiedenen Fall).

Da die belangte Behörde dies in ihrer Entscheidung nicht berücksichtigt hat, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.

Wien, am 26. Februar 2002

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