BVwG G306 2180048-1

BVwGG306 2180048-127.11.2018

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2018:G306.2180048.1.00

 

Spruch:

G306 2180048-1/11E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dietmar MAURER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX, StA. Irak, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.11.2017, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.10.2018, zu Recht erkannt:

 

A)

 

Die Beschwerde wird als unbegründet a b g e w i e s e n !

 

B)

 

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

 

I. Verfahrensgang:

 

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) stellte am 29.06.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005).

 

2. Am 01.07.2015 fand vor einem Organ der Bundespolizei die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt.

 

3. Am 17.03.2017 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), im Asylverfahren niederschriftlich einvernommen.

 

4. Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid des BFA, dem BF zugestellt am 23.11.2017, wurde der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Irak zulässig ist (Spruchpunkt V.), sowie gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise im Ausmaß von 14 Tagen festgelegt (Spruchpunkt VI.).

 

5. Mit per Telefax am 14.12.2017 eingebrachten Schriftsatz erhob der BF durch seine Rechtsvertretung (im Folgenden: RV) Beschwerde gegen den zuvor genannten Bescheid an das Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG).

 

Darin wurde jeweils in eventu die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung, die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, sowie jener des subsidiär Schutzberechtigten, die Aufhebung der Rückkehrentscheidung, die Erteilung eines Aufenthaltstitels, die Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung des BF in den Irak, sowie die Zurückverweisung der Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde beantragt.

 

6. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem BVwG vom BFA vorgelegt und langten am 20.12.2017 bei diesem ein.

 

7. Am 19.10.2018 fand in der Grazer Außenstelle des BVwG eine mündliche Verhandlung statt, an jener der BF sowie seine RV persönlich teilnahmen. Die belangte Behörde wurde geladen, nahm jedoch von der Entsendung eines informierten Vertreters entschuldigt Abstand.

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

 

1. Feststellungen:

 

Der BF führt die im Spruch angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum) und ist Staatsangehörige der Republik Irak. Er ist Angehörige der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zum muslimisch-sunnitischen Glauben. Die Muttersprache des BF ist arabisch.

 

Der BF ist ledig und frei von Obsorgeverpflichtungen.

 

Der BF reiste am 05.08.2014 aus seinem Herkunftsstaat aus und am 29.06.2015 ins Bundesgebiet ein, wo er am 01.07.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

 

Der BF besuchte im Herkunftsstaat von 2000 bis 2012 die Schule und war in der Lage sich seinen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeiten zu erwirtschaften.

 

Die Familie des BF konkret seine Mutter, Schwestern und ein Bruder halten sich weiterhin im Irak, konkret in Bagdad auf, wo sie über ein Haus im Familienbesitz verfügen. Der BF hält nach wie vor Kontakt zu diesen.

 

Der BF ist gesund und arbeitsfähig.

 

Der BF wohnte bis zu seiner gegenständlichen Ausreise aus dem Irak im Großraum Bagdad, wo er auch aufgewachsen ist.

 

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF einen Deutschsprachkurs besucht, eine Deutschsprachprüfung abgelegt und/oder der deutschen Sprache auf einem bestimmten Niveau mächtig ist.

 

Der BF engagierte sich seit in den Zeiträumen 08.01.2018 bis 02.04.2018 sowie 10.09.2018 bis 21.09.2018 gemeinnützig, weist soziale Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet auf und erweist sich in strafrechtlicher Hinsicht als unbescholten. Ein gemeinsamer Haushalt und/oder ein Abhängigkeitsverhältnis in Bezug auf einen/eine der besagten Kontakte konnte jedoch nicht festgestellt werden.

 

Der BF geht keiner Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nach, sondern lebt überwiegend von Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung, und ist in einer öffentlichen Flüchtlingsunterkunft in XXXX untergebracht.

 

Sonst konnten keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer tiefgreifenden Integration festgestellt werden.

 

Der BF weist keine berücksichtigungswürdigen familiären Bezugspunkte in Österreich auf.

 

Der BF hatte mit den Behörden des Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme.

 

Ein konkreter Anlass für das (fluchtartige) Verlassen des Herkunftsstaates konnte nicht festgestellt werden. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass der BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt ist oder dass sonstige Gründe vorliegen, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

 

Insbesondere konnte nicht festgestellt werden, dass der BF vom irakischen Polizeidienst desertiert ist und mit einer Verhaftung und Inhaftierung oder Verfolgung durch schiitische Milizen im Falle seiner Rückkehr zu rechnen hat

 

Zur Lage im Herkunftsstaat:

 

Irak:

 

1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

 

KI vom 23.11.2017: Weitere Rückeroberungen von IS-Gebiet und Update Sicherheitslage mit Fokus auf Bagdad. Relevant für die Abschnitte Sicherheitslage, politische Lage und Menschenrechtslage

 

Ab dem 3.11.2017 mit Stand 17.11.2017 wurden die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert. Laut der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 Prozent jener irakischen und syrischen Territorien verloren, welches er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (Telegraph 17.11.2017; IFK 6.11.2017). Das Wüstengebiet nördlich der drei Städte bleibt vorerst weiterhin IS-Terrain. Die Gebiete rund um Kirkuk und Hawija gehören zu jenen Gebieten, bei denen das Halten des Terrains eine große Herausforderung darstellt. (MEE 16.11.2017; Reuters 5.11.2017; BI 13.11.2017). Es stellt sich auch die Frage, wo sich jene IS-Kämpfer aufhalten, die, nicht getötet wurden oder die nicht in Gefängnissen sitzen (Alleine in Mossul gab es vor der Rückeroberung 40.000 IS-Kämpfer). Viele sind in die Wüste geflohen oder in der Zivilbevölkerung untergetaucht. Es gab es auch umstrittene Arrangements, die den Abzug von IS-Kämpfern und ihren Familien erlaubten. Der IS ist somit nicht verschwunden, nur sein Territorium [mit Einschränkungen s.u.] (Harrer 24.11.2017).

 

Die folgende Grafik zeigt die massiven Gebietsverluste des IS seit Jänner 2015 (Stand 30.10.2017). Der Wüstenbereich nördlich von Al-Qaim wird je nach Quelle als Wüstengebiet oder als IS-Gebiet eingezeichnet (s. untere Karte) eingezeichnet.

 

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(BBC 3.11.2017)

 

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(Liveuamap 17.11.2017, Stand 17.11.2017)

 

Seit der IS Offensive im Jahr 2014 ist die Zahl der Opfer im Irak nach wie vor nicht auf den Wert der Zeit zwischen 2008 - 2014 zurückgegangen, in der im Anschluss an den konfessionellen Bürgerkrieg 2006-2007 eine Phase relativer Stabilität einsetzte (MRG 10.2017; vgl. IBC 23.11.2017). Von dem Höchstwert von 4.000 zivilen Todesopfern im Juni 2014 ist die Zahl 2016 [nach den Zahlen von Iraq Body Count] auf 1.500 Opfer pro Monat gesunken; dieser sinkende Trend setzt sich im Jahr 2017 fort (MRG 10.2017). Nach den von Joel Wing dokumentierten Vorfällen, wurden in den Monaten August, September und Oktober 2017 im Irak 2.988 Zivilisten getötet (MOI 9.-11.2017). Zu diesen Zahlen gelten die im Länderinformationsblatt Irak in Abschnitt 3.1 erwähnten Einschränkungen und Anmerkungen - kriminelle Gewalt wurde in dieser Statistik nur zum Teil berücksichtigt, Stammesgewalt gar nicht.

 

Beispielhaft wird im Folgenden eine Grafik angeführt, in der die von einer Sicherheitsfirma dokumentierten Vorfälle, die in Kalenderwoche 45 des Jahres 2017 stattgefunden haben, eingezeichnet sind. Die Grafik stellt jedoch nach Angaben der Quelle nicht das gesamte Ausmaß der Gewalt und der Vorfälle dar. Mehrere Vorfälle, bzw. umfangreiche und länger andauernde Gefechte werden jeweils als ein Vorfall zusammengefasst dargestellt. Darüber hinaus bleiben viele Vorfälle auf Grund von Einschränkungen durch die Regierung und Einschränkungen der Kommunikation undokumentiert:

 

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(CR 14.11.2017)

 

Im Folgenden findet sich ein von derselben Quelle erstellter Überblick über die Entwicklung der Zahl der Vorfälle von Kalenderwoche 26 - 44 des Jahres 2017:

 

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(CR 14.11.2017)

 

Im kürzlich veröffentlichten Global Peace Index (GPI)-Bericht wurde der Irak als das "dritt-unfriedlichste" Land der Welt eingestuft. Laut GPI-Bericht bleibt trotz der Zurückdrängung des IS die Stabilität und Sicherheit der Staaten Syrien und Irak weiterhin bedroht (K24 8.8.2017; vgl. Iraqinews 15.11.2017).

 

Bagdad:

 

Obwohl der IS Bagdad [kontrollgebietsmäßig] nie erreicht hat, verzeichnete die Hauptstadt laut Angaben der UN jeweils entweder die höchste oder die zweithöchste - nach der Provinz Ninewa - Anzahl an zivilen Todesopfern. Um ein Beispiel zu nennen: UNAMI berichtet, dass im Februar 2017 120 Zivilisten getötet und 300 verletzt wurden. In demselben Monat im Jahr 2016 war Bagdad der am stärksten betroffene Bezirk, UNAMI berichtete von 277 Todesopfern und 838 Verletzten. (Update: Für den Monat Oktober 2017 berichtet UNAMI 177 zivile Opfer (38 Tote, 139 Verletzte). Wichtig ist, anzumerken, dass diese Zahlen ausschließlich verifizierte Opfer inkludieren und als das absolute Minimum gesehen werden müssen [Anm.: Es gelten die in Abschnitt 3.1 des LIB Irak getätigten Aussagen und Anmerkungen]. Zum Beispiel beinhalten sie auch nicht jene Opfer, die in manchen Teilen der Stadt regelmäßig tot aufgefunden und geborgen werden (MRG 10.2017; UNAMI 1.11.2017). Nach wie vor kommt es in Bagdad täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zivilen Opfern (Wing 9.-11.2017; vgl. IBC 28.2.2017). Laut Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes ist in Bagdad weiterhin mit schweren Anschlägen insbesondere auf irakische Sicherheitsinstitutionen und deren Angehörige, auf Ministerien, Hotels, öffentliche Plätze und religiöse Einrichtungen zu rechnen (AA 23.11.2017). Für die fragile Sicherheitssituation in der Hauptstadt gibt es zahlreiche Gründe. Abgesehen davon, dass es ein attraktives Ziel für Anschläge ist, beherbergten und beherbergen die Gebiete rund um Bagdad historisch entstandene Terrorzellen, u.a. von Al-Qaeda und dem IS. Dies ist insbesondere in der Nachbarprovinz Anbar im Westen, sowie im Bezirk Jurf al-Sakhar in der Provinz Babil der Fall. Dazu kommen die äußeren Bezirke Bagdads, dem sogenannten "Bagdad-Belt", der aus spärlich besiedelten ländlichen Gegenden besteht, in denen sich bewaffnete Gruppen leicht verstecken können.

 

Die Acht-Millionenmetropole Bagdad hat eine höhere Kriminalitätsrate als jede andere Stadt des Landes. Hauptverantwortlich dafür ist der schwache staatliche Sicherheitsapparat sowie die schwache Exekutive. Seit dem Krieg gegen den IS verblieb in Bagdad aufgrund von Militäreinsätzen in anderen Teilen des Landes phasenweise nur eine geringe Zahl an Sicherheitspersonal. Da große Teile der Armee im Sommer 2014 abtrünnig wurden, sind zum Wiederaufbau der Armee mehrere Jahre nötig. Gleichzeitig erschienen bewaffnete Gruppen, vor allem Milizen mit Verbindungen zu den 'Popular Mobilization Forces' (PMF), auf der Bildfläche, mit divergierenden Einflüssen auf die Stabilität der Stadt. Der Zusammenbruch der Armee führte zusätzlich zu einem verstärkten Zugang und zu einer größeren Verfügbarkeit von Waffen und Munition. Dazu kommt die Korruption, die in allen Einrichtungen des Sicherheitsapparates und der Exekutive herrscht. Trotz dieser Probleme gibt es aktuell eine Verbesserung der Situation, die sich auch auf die Meinung der Bewohner über den irakischen Gesetzesvollstreckungsapparat auswirkt. Obwohl konfessionell bedingte Gewalt in Bagdad existiert, ist die Stadt nicht in gleichem Ausmaß in die Spirale der konfessionellen Gewalt des Bürgerkriegs der Jahre 2006-2007 geraten. Stattdessen kommt es zu einem Anstieg der Banden-bedingten Gewalt (Bandenkriege), die meist finanziell motiviert sind, in Kombination mit Rivalitäten zwischen Sicherheitskräften/-akteuren (MRG 10.2017).

 

Terrorattacken:

 

Terrorattacken werden meist mit verschiedenen Arten von IEDs (Improvised Explosive Devices) ausgeführt, inklusive am Körper getragene ('body-born' oder BBIEDs, in Fahrzeugen transportierte ('vehicle-borne' oder S/VBIEDs) und unter Fahrzeugen befestigte Sprengfallen ('under-vehicle-borne' oder UVBTs). Dabei handelt es sich um typische Taktiken des IS. Sie zielen dabei auf große Menschenansammlungen wie z.B. auf Märkten, in Einkaufszentren und Moscheen ab, wo der Kollateralschaden maximiert werden kann. Auch wenn diese Attacken alle Teile der Stadt treffen können, sind [ethno-religiös] gemischte Gebiete besonders gefährdet. Auch werden Kontrollpunkte regelmäßig angegriffen mit dem Ziel Sicherheitskräfte zu schwächen. Wegen des hohen Verkehrsaufkommens werden an den Kontrollpunkten selten sorgfältige Fahrzeugdurchsuchungen durchgeführt, weshalb das Problem schwer einzudämmen ist (MRG 10.2017).

 

Es sollte auch erwähnt werden, dass UVBTs besonders häufig verwendet werden, um Individuen zu attackieren. Diese Attentate können durch persönliche oder stammesbezogene Auseinandersetzungen motiviert sein, in spezifischen Fällen sind sie politisch motiviert.

 

Kidnappings und Entführungen:

 

Kidnappings und Entführungen kommen überall in Bagdad vor, unterscheiden sich aber in Häufigkeit und Art der Opfer. Man kann generell zwischen finanziell motivierten Entführungen und denen, die politisch oder persönlich motiviert sind, unterscheiden. Während erstere von kriminellen Gangs begangen werden, werden die politisch oder persönlich motivierten von bewaffneten Gruppen oder Individuen ausgeführt. Geschätzte 65-75 Prozent können als kriminelle Akte kategorisiert werden, während zwischen einem Viertel und einem Drittel als politisch oder als Folge von persönlichen Auseinandersetzungen gesehen werden können. Die zentralen und relativ wohlhabenden Bezirke Karkh und Rusafa zeigen die höchsten Zahlen an Kidnappings und sind für etwa die Hälfte der dokumentierten Fälle des gesamten Gouvernements verantwortlich (MRG 10.2017).

 

Obwohl die offiziellen Daten nicht veröffentlicht wurden zeigt eine Aufzeichnung des Innenministeriums, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 2016 in Bagdad zumindest 700 Kidnappings stattgefunden haben (MRG 10.2017).

 

Allerdings können sich diese in vielen Fällen überschneiden. Es wurde zum Beispiel berichtet, dass schiitische Milizen Kidnappings und Erpressungen als einkommensgenerierende Aktivitäten einsetzen. Während es sich dabei um einen kriminellen Akt handelt, kann zusätzlich auch ein politisches oder religiöses Motiv dahinter stehen. Milizen haben z.B. Mitglieder anderer Gruppen entführt und verschleppt. Opfer der von den Gruppen durchgeführten Kidnappings sind tendentiell eher Sunniten als Schiiten. Es ist auch häufig, dass Milizen Kidnappings in Gegenden, die nicht unter ihrer eigenen Kontrolle stehen, ausführen, etwa um ihre Reputation in den von ihnen kontrollierten Gebieten nicht aufs Spiel zu setzen (MRG 10.2017).

 

Da es zu Protesten in der Bevölkerung kam, und zu Forderungen an den Staat, Maßnahmen zu ergreifen, wurde in den letzten zwei Jahren das Thema Kidnappings in der Öffentlichkeit diskutiert. Immer wieder kam es zu Wellen von Entführungen, die gegen bestimmte Professionen und Gruppen der Gesellschaft gerichtet waren. Anfang 2017 tauchten Berichte auf, dass Sicherheitskräfte eine kriminelle Gruppe zu identifizieren suchten, die auf die Entführung von Kindern in der Gegend um Bagdad al-Jadida spezialisiert war. Im August 2017 veröffentlichte Niqash einen Artikel über eine vor Kurzem vorgefallene Serie an Kidnappings, die gegen Ärzte und medizinisches Personal gerichtet waren. Diese wurden von kriminellen Banden durchgeführt, aber auch von Stämmen, die Wiedergutmachung für Verwandte forderten, die nicht behandelt werden konnten oder die im Spital verstorben waren. Im Mai 2017 wurde eine Gruppe von Studenten und Anti-Korruptions-Aktivisten gekidnappt, angeblich von einer Miliz. Dennoch war einer der meist diskutierten Fällen die Entführung von Afrah Shawqi, einem Journalisten, der nur wenige Tage davor einen Artikel im Al-Sharq al-Awsat über die Straffreiheit von schiitischen Milizen im Irak veröffentlicht hatte. In beiden Fällen wurden die Opfer freigelassen, nachdem großer öffentlicher Druck auf den Premierminister selbst, sowie auf das Innenministerium ausgeübt worden war. Regierungsbeamte und andere politische Führungskräfte wurden ebenso ins Visier genommen wie z.B. bei jenem Fall eines hohen Beamten des Justizministeriums, der im September 2015 gekidnappt wurde, oder jenem Fall eines sunnitischen Stammesführers, dessen Entführung und Ermordung Anlass zu einer Kampagne von Amnesty International wurde (MRG 10.2017).

 

All diese Fälle haben Regierung und Sicherheitsdienste gezwungen, sich aktiver diesem Problem zu widmen. In vergangenen Jahren, sowie auch in den Jahren 2006-2007, war die Exekutive beinahe gänzlich außerstande, mit dieser Art der Gewalt umzugehen. Heute spricht Premierminister Abadi, der sich manchmal persönlich in Fälle involviert, lautstark über die Bedenken der Bevölkerung, und unternimmt Schritte, um die Kapazitäten der Gesetzesvollstreckung auszuweiten. Dennoch werden Milizen in erfolgreichen Fällen - wenn es Sicherheitskräften gelingt, Banden zur Anklage bringen - selten erwähnt. Es ist praktisch unmöglich einzuschätzen, wie oft die von den Sicherheitskräften Verhaftungen Mitglieder von Milizen einschließen, da Fälle von Kidnappings mit Lösegeldforderungen einfach als kriminelle Akte kategorisiert werden. Dies kann nur durch anekdotische Hinweise und durch Zeugenaussagen belegt werden. Allerdings besteht das Problem, dass die Opfer oft selber nicht wissen woher die Bedrohung kommt oder wer der Empfänger des geforderten Lösegeldes ist (MRG 10.2017).

 

Schießereien mit Handfeuerwaffen:

 

Was die Verwendung von Handfeuerwaffen betrifft, können generelle Muster zwischen dem zentralen Gebiet und der Peripherie der Provinz Bagdad unterschieden werden. Morde und Anschläge auf Zivilisten sind innerhalb der Stadt Bagdad weiter verbreitet, die Bezirke Karkh, Rusafa und Adhamiya sind diesbezüglich überrepräsentiert. Diese Anschläge richten sich z.B. gegen Geschäftsbesitzer, Anwälte sowie Angestellte der Regierung. Schießereien kommen auch in Verbindung mit Raubüberfällen vor. Zusätzlich stehen viele Tötungen in Verbindung mit Kidnappings, bei denen das Lösegeld nicht gezahlt wurde.

 

Im Gegensatz dazu sind Vorfälle mit Handfeuerwaffen im 'Bagdad Belt' üblicherweise gegen Sicherheitsdienste wie die Iraqi Security Forces (ISF) und Mitglieder von sunnitischen und schiitischen Milizen gerichtet, und finden meistens bei Kontrollpunkten statt. Dies kann man in Abu Ghraib, Mahmudiya und Tarmiya beobachten. Diese Gebiete verzeichnen auch eine große Anzahl an Schießereien in Verbindung mit stammesbezogenen Auseinandersetzungen (MRG 10.2017).

 

Konfessionalismus und Diskriminierung:

 

Konfessionalismus und Diskriminierung sind weiterhin ein weit verbreitetes Phänomen in Bagdad, wenn sie auch nicht dasselbe Ausmaß an Gewalt erreicht haben, der während des konfessionellen Krieges in den Jahren 2006-2007 dokumentiert wurde. Dies anzumerken, ist von wichtig, weil von vielen angenommen wurde, dass durch das Ausbreiten des IS ab 2014 frühere Muster an Gewalt nach Bagdad zurückkehren würde. Das hat er auch, allerdings in einem geringeren Ausmaß. Wie diverse Menschenrechtsberichte gezeigt haben, fachen Terrorattacken des IS in Bagdad viele Arten an Vergeltungsmaßnahmen gegen sunnitische Zivilisten an, die vorwiegend von schiitischen Milizen begangen werden. Diese beinhalten Kidnappings, Ermordungen sowie ungesetzlichen Freiheitsentzug. Dennoch ist der offensichtlichere Konfessionalismus - bei dem sunnitische Bewohner Kontrollpunkte nicht passieren konnten ohne namentlich aufgerufen zu werden und manchmal schikaniert oder festgenommen wurden - heute relativ selten. Dies trifft allerdings nicht auf sunnitische Internvertriebene (IDPs) zu, die in der Provinz Bagdad regelmäßig diskriminiert werden. Nachdem der IS in großen Teilen von Anbar und Salah al-Din die Macht ergriffen hatte, flohen Tausende nach Bagdad. In vielen Fällen war es ihnen von vorne herein nie gestattet, in die Provinz einzureisen. Die, die es dennoch geschafft haben, berichten von extrem eingeschränkter Reisefreiheit (da Personalausweise aufzeigen in welchem Gouvernement sie ausgestellt wurden), von Schwierigkeiten, als Gebietsfremde des Gouvernements an wesentliche Dokumente zu gelangen, sowie von Schikanen aufgrund des Pauschalverdachts der IS-Zugehörigkeit. Für Internvertriebene besteht, aufgrund fehlender Netzwerke für persönliche Unterstützung, auch ein größeres Risiko, entführt zu werden.

 

Eine weitere Seite des Konfessionalismus sind Verhaftungen, oft willkürlich, welche meist in Verbindung mit einer Anklage wegen Terrorismus nach Artikel 4 vollzogen werden und beinahe ohne Ausnahme Sunniten betreffen. Diese Festnahmen sind nach Terroranschlägen häufig, wenn Sicherheitsdienste Durchsuchungsaktionen durchführen, um Mitglieder oder Unterstützer des IS ausfindig zu machen (MRG 10.2017).

 

Kleinere Gemeinschaften, inklusive Minderheiten und solche, die sich in einer Minderheitssituation wiederfinden, stehen unter signifikantem Risiko. Die Anzahl an Christen in Bagdad nimmt unter dieser Bedrohungssituation weiterhin ab, wenn auch kleine christliche Gemeinden in gemischten Bezirken bestehen bleiben; so auch in Karkh und in Karrada und Palästina. Faili-Kurden (schiitische Kurden), einschließlich jener, die in Sadirya und im südlichen Teil Bagdads leben, haben unter Bombenangriffen gelitten und berichten von erhöhten Spannungen, die in Zusammenhang mit dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum stehen. Palästinenser, die vorwiegend in al-Baladiyat leben, sind diesen gezielten Attacken ebenso ausgesetzt und bleiben weiterhin besonders gefährdet (MRG 10.2017).

 

Sicherheitskräfte in der Provinz Bagdad:

 

Irakische Sicherheitskräfte (ISF):

 

Die ISF werden in Bagdad vom 'Baghdad Operations Command' (BOC) repräsentiert, Geheimdienste und irakische Polizeieinheiten, die im Bagdad Gouvernement agieren, sind dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der BOC besteht aus mehreren Brigaden, die der 6., 11. und 17. Abteilung der irakischen Armee angehören, sowie aus spezialisierten Militär- und Polizei-Einheiten, inklusive Bereitschaftspolizei und Schutzeinheiten für Diplomaten. Die irakische Armee ist gemeinsam mit staatlichen und lokalen Polizeieinheiten für die Sicherheit verantwortlich. Zusätzlich zu regulären Sicherheitsfunktionen, sind die ISF gemeinsam mit Einheiten, die in Verbindung zum Innenministerium stehen, für die Überprüfung von Internvertriebenen und Rückkehrern und damit in Zusammenhang stehende Regulierungen zuständig (MRG 10.2017).

 

Polizeikräfte werden oft als Erweiterung der Badr-Partei gesehen. Darüber hinaus wird das Polizeikorps, abgesehen von Teilen der Staatspolizei, als schwer korrupt erachtet. In wenigen Ausnahmen sind Offiziere der Staatspolizei ehemalige Offiziere der Armee und werden als weniger korrupt und konfessionalistisch gesehen. Die meisten sind allerdings durch politische Einflussnahme und Vereinbarungen verschiedener Parteien an ihre Position gelangt (MRG 10.2017).

 

Im Allgemeinen vertraut die Bevölkerung eher der Armee als der Polizei. Die Mehrheit der Bewohner Bagdads, die in einer Umfrage einer NGO befragt wurden, ob sie in einer Notsituation die Polizei kontaktieren würden, sagten sie würden erst versuchen, das Problem selbst zu beheben. Knapp unter 50 Prozent meinten, sie würden der Polizei unter keinen Umständen Bericht erstatten. Im Vergleich dazu:

über 70 Prozent derer, die in Gebieten leben, in denen die Armee für die Sicherheit verantwortlich ist, gaben an, sie würden, wenn nötig, ihre lokalen Sicherheitskräfte kontaktieren. In derselben Umfrage wurden Bewohner gefragt, ob sie jemals Bestechungsgeld gezahlt hätten, um Unterstützung von offiziellen Sicherheitskräften zu erhalten, was 30 Prozent der Befragten bejahten. Zuletzt wurden Bewohner gefragt ob sich die Sicherheits-Situation in Bagdad verbessern oder verschlechtern würde, worauf beinahe 70 Prozent antworteten, das sie sich verbessere (MRG 10.2017).

 

Islamischer Staat (IS):

 

Der IS konnte Mitte 2014 Gebiete im Provinz Bagdad nicht unter seine Kontrolle bringen. Allerdings hat sich IS-Aktivität mehrmals vom angrenzenden Provinz Anbar in den westlichen Bezirk Abu Ghraib ausgeweitet. Teile des 'Bagdad-Belt' sind historisch gesehen Unterstützungsgebiete des IS, welche IS-Attacken in zentraler gelegenen Gebieten Bagdads ermöglichen (MRG 10.2017).

 

In der Provinz Bagdad beschränken sich die Aktivitäten des IS vor allem auf "unkonventionelle Attacken" gegen Zivilisten und hochrangige Opfer - in erster Linie durch die Verwendung von IEDs (MRG 10.2017).

 

Popular Mobilization Forces (PMF):

 

[Erläuterungen zu den PMF siehe auch Länderinformationsblatt Irak Abschnitt 3.2.2]

 

Während die PMF generell auf Schlachtfeldern quer durch das Land eingesetzt wurden, bewahren einige eine signifikante Präsenz in Bagdad. Die älteren und größeren [überwiegend schiitischen] Milizen sind jene, die vorwiegend als aktive Gruppen einen Teil der Sicherheitskräfte der Stadt repräsentieren. [...] Sunnitische Milizen kommen in der Stadt Bagdad nicht vor, aber sehr wohl in manchen Teilen des 'Bagdad-Belt', besonders in den Bezirken, die an Anbar und das Gouvernement Salah al-Din grenzen, inklusive Taji, Tarmiya und Abu Ghraib. Auf lokaler Ebene agieren PMF-Einheiten parallel und oft im Konflikt mit den ISF. Bewaffnete Konflikte zwischen ISF und PMUs, wenn auch selten, wurden im Gouvernement Bagdad beobachtet. Während die PMF weitläufig von der schiitischen Bevölkerung unterstützt werden, wurden sie beschuldigt, Menschenrechtsverletzungen gegen sunnitische Zivilisten in Gebieten begangen zu haben, die vom IS zurückerobert wurden, - wie von diversen Organisationen wie z.B. Human Rights Watch, Amnesty International und Minority Rights Group dokumentiert wurde. Berichterstattung dieser Art tendiert dazu, sich auf die Gouvernements zu konzentrieren, in denen in den letzten zwei Jahren Militäreinsätze stattgefunden haben - wie in etwa in Anbar, Ninewa und Salah al-Din - sowie auf Gebiete, in denen außer Frage steht, dass Milizen ungestraft agierten. Aufgrund dessen werden Menschenrechtsverletzungen innerhalb des Gouvernements Bagdad nicht so eingehend verfolgt (MRG 10.2017).

 

Im Folgenden werden einige Beispiele der wichtigsten PMF-Milizen aufgezählt, die in Bagdad operieren: Badr-Organisation, Asaib Ahl al-Haq, Saraya al-Salam, Saraya al-Khorasani, Kataib Hizbullah (MRG 10.2017). Anm.: Die Milizen sind in Abschnitt 3.2.2 des LIB näher beschrieben.

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Politische Lage

 

Im März 2003 kam es zum Einmarsch von Truppen einer Koalition, die von den USA angeführt wurde (BBC 12.7.2017). Als Grund hierfür wurden Massenvernichtungswaffen angegeben, deren Existenz jedoch nie bestätigt werden konnte. Nach dem im März 2003 erfolgten Sturz von Saddam Hussein, einem Angehörigen der sunnitischen Minderheit, wurden die Regierungen von Vertretern der schiitischen Mehrheitsbevölkerung geführt (BPB 9.11.2015). Mit 2003 begann der Aufstieg von [vorwiegend] irantreuen bzw. dem Iran nahestehenden schiitischen Parteien/Milizen, denen die amerikanischen Invasoren erlaubten, aus dem iranischen Exil in ihre Heimat zurückzukehren (SWP 8.2016; vgl. Hiltermann 26.4.2017). Es konnte nach der Entmachtung Husseins weder eine umfassende Demokratisierung noch eine Stabilisierung erreicht werden, da die Strukturen des neuen politischen Systems das Land entlang ethnisch-konfessioneller Linien fragmentierten (BPB 9.11.2015). Die von der US-Besatzung beschlossene Auflösung der irakischen Armee sowie das Verbot der Baath-Partei ließen viele Sunniten, darunter erfahrene Militärs, radikalen islamistischen Gruppen zuströmen (Spiegel 18.4.2015). Die sunnitische Minderheit fühlte sich zunehmend diskriminiert und radikale Anführer konnten immer mehr AnhängerInnen gewinnen (AI 28.5.2008). Zudem hatte die Demontage der irakischen Armee und irakischen Sicherheitskräfte durch die US-geführte Koalition ein Sicherheitsvakuum hinterlassen, das die schiitischen Milizen zu füllen versuchten, wodurch es zu einem sunnitischen Aufstand kam (Hiltermann 26.4.2017). Die US-Regierung (sowohl die Bush-, als auch die Obama-Regierung) arbeitete zum Teil mit diesen Kräften (Badr-Miliz) zusammen, und verschloss vor den Gewaltexzessen der schiitischen Milizen gegenüber der sunnitischen Bevölkerung die Augen (Reuters 14.12.2015). Während die Revolte der Sunniten gegen die US-Präsenz seit 2003 eher eine nationalistisch als eine religiös geprägte Bewegung war, entwickelte die Revolte zunehmend einen dominanten radikal-sunnitisch-islamistischen Zug. Der in der Folge entstehende konfessionelle Bürgerkrieg (ca. 2005 bis 2007) führte zu einer Änderung der US-Politik im Irak, die wiederum die Niederlage von Al-Qaida im Irak (AQI) herbeiführte. Doch dadurch, dass das Problem der Ausgrenzung der Sunniten weiter bestehen blieb, kam es zu weiteren Protesten in den sunnitischen Gebieten in den Jahren 2013 und 2014, daraufhin zu einer gewaltsamen Antwort von Seiten des Staates und danach zur Übernahme sunnitischer Gebiete durch eine noch radikalere Version von Al-Qaida - durch die Organisation "Islamischer Staat" [IS, auch ISIS oder ISIL, vormals ISI, arab.

Akronym: DAESH] (Hiltermann 26.4.2017). Diese konnte in große Teile der sunnitischen Gebiete im Westen des Irak, in kurdische Gebiete im Norden des Irak und in Teile Syriens vordringen (ACCORD 12.2016). Als die nach der Entmachtung Saddam Husseins neu aufgestellte Armee vorübergehend "kollabierte", mobilisierten schiitische Führer in Notwehr ihre Gefolgschaft, wodurch die schiitischen Milizen (allen voran die Badr Organisation, Asaib Ahl al-Haq und Kataeb Hezbollah, mit Unterstützung des Irans) verstärkt auf den Plan traten und sich nordwärts in die sunnitischen Gebiete bewegten (Hiltermann 26.4.2017). Gegen Ende des Jahres 2015 war der irakische Staat im Wesentlichen in drei Teile (Kontrollgebiete) zerbrochen: das IS-Gebiet im Westen, das Kurdengebiet im Nordosten und die zentralen Behörden Bagdads im Zentralirak und im Süden des Landes (Stansfield 26.4.2017).

 

Das politische Geschehen ist [trotz großer Erfolge bei der Rückeroberung von IS-Gebieten - s. Abschnitt Sicherheitslage] weiterhin vom Kampf gegen den IS geprägt (ÖB 12.2016). Seit Ende 2015 wird der IS mit einem Bündnis auf Zeit aus irakischem Militär, kurdischen Peschmerga, schiitischen Milizen und Luftschlägen der internationalen US-geführten Anti-IS-Koalition bekämpft (AA 7.2.2017).

 

Staatsform & Parteien

 

Der Irak ist formal-konstitutionell eine republikanische, demokratische, föderal organisierte und parlamentarische Republik. So sieht es jedenfalls die gültige Verfassung von 2005 vor. Sitz von Regierung und Parlament ist Bagdad. Staatspräsident ist seit dem 24. Juli 2014 der Kurde Fuad Massum, Angehöriger der irakisch-kurdischen Partei Patriotic Union of Kurdistan - PUK. Ein Teil des föderalen Staates ist auch das kurdische Autonomiegebiet, das im Nordosten des Iraks angesiedelt ist. Diese Föderale Region Kurdistan hat weitgehende Souveränität. Sie verfügt über eigene exekutive, legislative und judikative Organe und besitzt seit 2009 eine eigene Verfassung, sowie gesonderte Militäreinheiten, die Peschmerga (LIP 6.2015).

 

Im Irak gibt es eine Vielzahl von Parteien (zu einer Anerkennung genügen laut Parteiengesetz 500 Unterschriften). Sie haben sich vor und nach den Wahlen zu Bündnissen zusammengeschlossen (AA 7.2.2017):

 

Nationale Allianz (NA):

 

Die Dachorganisation der irakischen Schiiten umfasst mehrere Wahllisten. Die Allianz bemüht sich um Konsensentscheidungen, leidet aber auch unter den divergierenden Interessen und Machtambitionen ihrer Listen. Der nach einer Vakanz seit September 2016 zum Vorsitzenden für ein Jahr gewählte Ammar al-Hakim versucht, die NA eine positive Rolle im nationalen Versöhnungsprozess spielen zu lassen (AA 7.2.2017). Hakim war bis Juli 2017 auch der Parteichef des sich innerhalb der Dachorganisation NA befindenden Islamic Supreme Council of Iraq (ISCI, vormals Supreme Council for the Islamic Revolution in Iraq - SCIRI), verließ diesen aber nun und gründete eine neue Partei namens National Wisdom Movement (Al-Monitor 24.8.2017).

 

Rechtsstaatskoalition (State of Law):

 

Die Rechtsstaatskoalition, ein Zusammenschluss mehrerer schiitischer Parteien und Teil der Nationalen Allianz, ging mit ihrem Spitzenkandidat Nuri al-Maliki als numerischer Sieger aus den Parlamentswahlen 2014 hervor, zerbrach allerdings im Anschluss. Die Dawa-Partei, der sowohl der ehemalige Premierminister Maliki, als auch der amtierende Premierminister Haidar al-Abadi angehören, ist eine der Parteien innerhalb der Rechtsstaatskoalition (AA 7.2.2017).

 

Allianz Nationaler Kräfte (Sunniten):

 

Die mehrheitlich sunnitische, säkulare Iraqiya-Bewegung, 2010 noch Wahlsieger, ist vor den Wahlen 2014 zerbrochen. Von den sunnitisch geprägten Nachfolgeparteien schnitt die eher radikal ausgerichtete Motahidoun unter Führung des aktuellen Vizepräsidenten Nujaifi aus der Provinz Ninewah am stärksten ab, gefolgt von der Nationalen Liste des ehemaligen Vizepremiers Mutlak aus Anbar. Im Zuge der Regierungsbildung schlossen sich diese Parteien mit kleineren sunnitischen Gruppierungen zur Allianz Nationaler Kräfte zusammen. Der Rückhalt in der sunnitischen Bevölkerung ist teilweise sehr gering. Zahlreiche Abgeordnete können aus Sicherheitsgründen nicht ihre durch den IS kontrollierte Herkunftsregion besuchen. Von der säkularen Bewegung konnte die Nationale Liste des Vizepräsidenten Allawi einen Achtungserfolg erringen. Sie spielt aber im politischen Tages-geschäft nur eine untergeordnete Rolle (AA 7.2.2017).

 

Anm.: Zu den kurdischen Parteien in der KRI s. Abschnitt "Kurdische Autonomieregion".

 

Wahlen & Premierminister

 

Die letzten nationalen Wahlen, die im April 2014 stattfanden, hatte zwar abermals der zuvor amtierende Premierminister Nouri al-Maliki gewonnen, da es jedoch auf Grund seines autoritären und pro-schiitischen Regierungsstils massive Widerstände gegen ihn gab, trat er im August 2014 auf kurdischen, internationalen, aber auch auf innerparteilichen Druck hin zurück (GIZ 6.2015). Maliki wird unter anderem vorgeworfen, mit seiner sunnitenfeindlichen Politik (Ausgrenzung von sunnitischen Politikern, Niederschlagung sunnitischer Demonstrationen, etc.) deutlich zur Entstehung radikaler sunnitischer Gruppen, wie dem IS, beigetragen zu haben (Qantara 17.8.2015; vgl. auch Abschnitt "Sicherheitslage"). Infolge dessen wurde die schiitisch dominierte Regierung des Premierministers Nuri al-Maliki von einer nationalen Einheitsregierung mit Beteiligung von Sunniten und Kurden unter dem gemäßigteren Premierminister Haidar al-Abadi abgelöst (HRW 29.1.2015). Abadi ist ebenfalls Schiite und ein Parteikollege Malikis in der Da'wa-Partei. Er ist mit dem Versprechen angetreten, das ethno-religiöse Spektrum der irakischen Bevölkerung wieder stärker abzudecken (GIZ 6.2015), und zunächst konnten durch seine Ernennung zum irakischen Premierminister tatsächlich einige gesellschaftliche Gräben geschmälert werden. Von einer tatsächlichen Versöhnung zwischen den ethnischen und religiösen Gruppierungen ist jedoch nichts zu bemerken (ÖB 12.2016). Die sunnitischen Regierungs- und Parlamentsmitglieder stehen unter Druck, da ihre Kooperation in Bagdad bislang kaum dazu beitrug, ihre Klientel zu schützen (ÖB 12.2016). Abadis Reformen sind bislang nur oberflächlicher Natur oder harren noch ihrer Umsetzung. Unterstützt werden die Reformpläne der Regierung bislang immerhin durch die höchste geistliche Autorität der Schiiten, Großajatollah Al-Sistani (AA 7.2.2017). Insgesamt ist die Zentralregierung aber schwach, Premierminister Abadi kann gegen die internen Rivalitäten der schiitischen Parteien nicht viel ausrichten. Er ist von zahlreichen Herausforderern umgeben: Dem Ex-Premierminister Nouri al-Maliki, dem Oppositionsführer und populärer Priester Muqtada al-Sadr, sowie den anderen Anführern schiitischer Milizen (Stansfield 26.4.2017).

 

Schiitische Milizen, Maliki, Iran

 

Abadi hat mit dem Iran-freundlichen Ex-Premierminister Maliki (nunmehr Vize-Premierminister und Vorsitzender der State of Law Coalition, sowie Da'wa-Parteiführer) einen starken Widersacher innerhalb seiner Partei. Ein Problem Abadis ist auch die Macht der schiitischen Milizen - einerseits unverzichtbar für Abadi im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (Standard 5.11.2015), gleichzeitig wird deren Einsatz aber von der sunnitischen Bevölkerung als das "Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub" gesehen. Das Vertrauen der sunnitischen Bevölkerung in die schiitisch dominierte Zentralregierung bleibt weiterhin minimal. Der Einsatz dieser Milizen im Kampf gegen den IS wird von Sunniten meist abgelehnt, sie fürchten ein ruchloses Vorgehen der Milizen und dulden daher oft die sunnitischen Extremisten in ihren Gebieten. Berichte zu Übergriffen der schiitischen Milizen (s. ausführlich im Abschnitt zur Menschenrechtslage) konterkarieren die Versuche von Premierminister Haidar al-Abadi, den arabischen Sunniten wieder Vertrauen in den irakischen Staat einzuflößen (ÖB 12.2016; vgl. ÖB 5.2015). Bezüglich der schiitischen Milizen spielt auch der [stark schiitisch dominierte] Iran eine große Rolle, der insgesamt einen großen Einfluss auf den Irak ausübt. An den Schalthebeln der Macht in Bagdad werden selbst hochrangige irakische Kabinettsmitglieder von der iranischen Führung abgesegnet oder "hinauskomplementiert". Dadurch kommt es auch dazu, dass Gesetze verabschiedet werden, wie z. B. jenes [vom November 2016 - s. Harrer 28.11.2016], das die schiitischen Milizen effektiv zu einem permanenten Fixum der irakischen Sicherheitskräfte macht (NYTimes 15.7.2017), und sie im Rahmen der Dachorganisation PMF (auch PMU, Popular Mobilisation Forces/Units, Volksmobilisierung, arabisch: Al-Hashd al-Shaabi, oder auch nur "Hashd") der irakischen Armee gleichstellt (Harrer 9.12.2016). Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt. Dem Iran geht es dabei nicht nur um die weitere Ausbreitung der Kontrolle über irakisches Gebiet, sondern auch darum, einen Korridor zu den Stellvertreter-Kräften in Syrien und im Libanon zu bilden. Was im März 2017 passierte, nämlich, dass Iran-gestützte schiitische Milizen zum ersten Mal den gesamten Weg westwärts bis zur syrisch-irakischen Grenze vorstoßen konnten, quer durch irakisches, vorwiegend sunnitisches Gebiet, veranschaulicht dieses Vorhaben (ICG 31.5.2017; vgl. NYTimes 15.7.2017). Der ehemalige Premierminister Maliki, der sich bereits zu seiner Amtszeit stark in Richtung Iran gelehnt hatte, und der nach Ende seiner Amtszeit weiterhin massiv von der Zusammenarbeit mit dem Iran profitierte, spielt heute auf politischer Ebene in Bezug auf die PMF eine zentrale Rolle und wird nicht umsonst "Godfather of the PMF" genannt. U.a. aufgrund der Schwäche des Irakischen Staates, der Dominanz des Irans, sowie ganz besonders aufgrund der Hilfe, die der reguläre irakische Sicherheitsapparat für das Zurückschlagen des IS benötigt(e), blieb Abadi keine andere Wahl, als den PMF-Milizen zu noch weiterem Einfluss zu verhelfen - in Fortsetzung der bezüglich der Milizen vorangetriebenen Legitimierungspolitik Malikis. Die PMF sind somit einerseits eine vom Staat mittlerweile legitimierte (und der Armee gleichgestellte) Dachorganisation von - fast ausschließlich - schiitischen Milizen, gleichzeitig werden sie aber von nicht-staatlichen Anführern befehligt (Carnegie 28.4.2017). Maliki versucht, an die Spitze der irakischen Politik zurückzukehren, und hat als Verbündete dabei den Iran und "seine" neue Hausmacht, die schiitischen Milizen (Harrer 13.2.2017; vgl. Harrer 28.11.2016; vgl. Al-Monitor 21.7.2017). Gegen dieses Vorhaben regt sich insbesondere auch im Süden verstärkter Widerstand: Die Anhänger der Sadr-Bewegung [Muqtada al-Sadr: Führer der Sadr-Bewegung, einer politischen Partei, sowie Führer der Saraya al-Salam, einer schiitischen Miliz - s. Abschnitt Sicherheitskräfte] wollen mittels Demonstrationen die Hoffnung Malikis auf eine Rückkehr verhindern. Ein inner-schiitischer Konflikt zwischen Sadristen und Maliki-Anhängern ist spürbar, auch wenn diesbezügliche militärische Auseinandersetzungen unwahrscheinlich sind (Al Monitor 26.1.2017). Zu solchen war es zwischen diesen beiden Lagern im Jahr 2008 in Basra gekommen (BBC 12.7.2017).

 

Die Sadr-Bewegung ist aber auch gegenüber Abadis Regierung kritisch eingestellt. Muqtada al-Sadr stilisiert sich als irakischer Nationalist, der gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik ankämpft, der jedoch andererseits Abadis Reformen zum Teil sogar blockiert, wie z.B. Abadis Versuch eine Technokratenregierung aufzustellen. Darüber hinaus führt die Sadr-Bewegung regierungskritische Demonstrationen durch, die - trotz Aufrufs Sadrs, friedlich zu protestieren - außer Kontrolle geraten können und zuletzt im Februar 2017 in Bagdad zur wiederholten Erstürmung der Green Zone [schwer befestigtes Regierungs- und Botschaftsviertel in Bagdad] führten. Anm.: Weiteres zu den Protesten im Irak s. Abschnitt Sicherheitslage). Die Proteste der Sadr-Bewegung spielen Maliki in die Hände und schwächen Abadi zusätzlich, der in der Schusslinie zwischen Sadr und Maliki steht (Harrer 13.2.2017). In Hinblick auf die Parlamentswahl im Jahr 2018 und einen möglichen Erfolg des pro-iranischen Maliki, näherte sich Premierminister Abadi einer Koalition einflussreicher schiitischer religiöser und politischer Führer (darunter auch besagter Muqtada al-Sadr) an, mit dem Ziel Maliki zu isolieren (IFK 9.6.2017).

 

Der gemeinsame Gegner "IS" schweißte 2014 das Land und teilweise auch die Bevölkerung etwas zusammen, doch die Bruchlinien bleiben insbesondere mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS akut: Nicht nur zwischen Schiiten und Sunniten oder innerhalb der schiitischen Kräfte, sondern auch zwischen der KRI (Kurdische Region im Irak) und der Zentralregierung, innerhalb der kurdischen Gruppierungen (s. Abschnitt "Kurdische Autonomieregion") sowie zwischen de facto allen Mehrheitsbevölkerungen und Religionen und den Minderheiten in ihrem Bereich. Mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS gehen auch ein verstärkter Terrorismus, neue humanitäre Herausforderungen und wiederaufflammende Spannungen einher. Eine ethnisch-religiöse Aussöhnung hat nicht stattgefunden. Die Gefahr eines weiteren Zerfalls des Staates, samt bewaffneten Auseinandersetzungen ist nach wie vor nicht gebannt (ÖB 12.2016). Insbesondere ist auch unklar, ob die vom IS zurückeroberten sunnitischen Gebiete auf eine Weise verwaltet werden, die nicht erneuten Unfrieden und eine erneute Rebellion (unter dem Banner des IS oder einer anderen Organisation) provozieren wird (OA/EASO 2.2017). Die Islamisten genießen im Irak in der Bevölkerung nach wie vor Unterstützung, da sie sich als Beschützer der sunnitischen Gemeinschaft präsentieren. Der IS ist ja ursprünglich vorrangig eine irakische Organisation mit starken lokalen Wurzeln (Stansfield 26.4.2017), und selbst das Zurückschlagen des IS in Mossul vermag es nicht, die schiitisch-sunnitischen Spannungen zu lösen, die das Ergebnis einer mangelnden politischen Übereinkunft sind (USCIRF 26.4.2017). Die Gewalt, der die Sunniten seit der US-geführten Invasion im Irak von Seiten Iran-gestützter Regierungen und Milizen ausgesetzt waren [und sind], hat in der sunnitisch-arabischen Bevölkerung ein tiefgreifendes und gefährliches Gefühl der Viktimisierung bewirkt, das Rekrutierungsbemühungen von Jihadisten in die Hände spielt (ICG 22.3.2017). Die Rolle der internationalen Koalition gegen den IS ist zwiespältig. Während diese sich selbst als unparteiischen Akteur sehen mag (abgesehen vom Kampf gegen den IS), sehen das die irakischen Akteure anders, die die Koalition alleine schon auf Grund der Wahl ihrer Verbündeten als völlig parteiisch ansehen (ICG 31.5.2017).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

http://www.ecoi.net/local_link/295451/416499_en.html , Zugriff 9.8.2017

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2.1. "Islamischer Staat"

 

Die Organisation "Islamischer Staat" (IS; arab. Akronym "DAESH") scheint sich mittlerweile auf sein Weiterleben als Organisation nach dem erlittenen bzw. erwartbaren Verlust seiner Hochburgen im Irak und Syrien vorzubereiten. So intensivierte er im Laufe des Fastenmonats Ramadan im Jahr 2017 seine Terror- und Guerilla-Taktikten in Provinzen außerhalb seines Machtzentrums. Damit demonstriert er, dass er trotz territorialer Verluste weiterhin hohe operative Fähigkeiten besitzt. Zudem setzte der IS verstärkt auf die Rekrutierung neuer Kämpfer und Selbstmordattentäter in Deir ez-Zour und Raqqa (IFK 9.6.2017). Von dem Gebiet von der Größe Großbritanniens, das der IS im Sommer 2014 insgesamt kontrolliert hatte [in Syrien und Irak], hat er mehr als zwei Drittel verloren (FAZ 12.7.2017). Den "Staat", der die irakisch-syrische Grenze zum Teil aufgehoben hatte, gibt es nicht mehr. Die IS-Kontrollgebiete in Irak und in Syrien hängen nicht mehr zusammen. Die Hoffnung, dass der IS völlig zusammenbrechen würde, wenn er Mossul, die Hauptstadt seines "Kalifats", verliert, hat sich jedoch nicht erfüllt (Harrer 20.8.2017).

 

Unterdessen sorgt der vermutete Tod von IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi für mediale Aufregung (IFK 25.7.2017). Im Anschluss an die Berichte über Baghdadis Tod rief sich ein IS-Führer in Hawija selbst zum neuen obersten Führer aus (IraqiNews 11.7.2017).

 

Trotz derzeitiger Verluste des IS, ist es dieser Organisation doch gelungen, immerhin drei Jahre lang in weiten Teilen des Nordiraks und Syriens eine Form von Staatlichkeit aufrechtzuerhalten und zehntausende Freiwillige in jenes "Kalifat" einwandern zu lassen, das von seinen geschickten Propagandisten als real gewordene islamische Utopie verbrämt wurde. Der IS war eine reale Ordnungsmacht, die den Alltag von Millionen Menschen geregelt hat - [bzw. ist er das zum Teil in manchen unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten nach wie vor für größere Bevölkerungsteile -

s. Sicherheitslage]. Somit hat er die Djihadisten mit einer mächtigen, neuen ["mystifizierbaren"] Erzählung ausgestattet (Zeit 12.7.2017). Dem IS war es gelungen, innerhalb seiner Einflussgebiete pseudo-staatliche Strukturen aufzubauen, wie z.B. sogenannte "Diwans" (vergleichbar mit Ministerien) - ein Diwan für natürliche Ressourcen, einschließlich der Verwertung von Antiquitäten, ein Diwan für die "Verwertung" von Kriegsbeute, einschließlich SklavInnen, etc. (Daily Star 29.12.0215). Unterstützung bekam der IS von einigen ehemaligen Mitgliedern der Baath-Partei. Die Organisation Jaysh Rijal a?-?ariqa an-Naqshabandiya (Army of the Men of the Naqshbandi Order, auch Naqshabandi Order genannt - kurz JRTN) und andere ähnliche ex-baathistische Gruppen stimmten zwar grundsätzlich nicht mit der Ideologie des IS überein, unterstützen/unterstützten diesen zum Teil aber als eine Organisation, die die irakische Regierung bekämpft (CRS 9.2015). Frühere Geheimdienstagenten, Kommandanten von Spezialeinheiten und Parteifunktionäre des Saddam-Regimes waren maßgeblich beim strategischen Aufbau des IS beteiligt (Qantara 13.7.2015). Die Finanzierung des IS findet/fand über viele verschiedene Quellen statt. Die wichtigsten sind: Zwangspfändungen, Versklavung, Zwangsprostitution, Lösegeld, Einkommensteuer, Zoll, Kulturraub, Ölschmuggel sowie die Übernahme von Strom- und Wasserversorgern (Spiegel 2.12.2015). Durch die weitreichenden Gebietsverluste in den letzten Monaten gingen diese Einnahmenquellen jedoch zurück (FAZ 12.7.2017). Der IS hält im Irak aber nach wie vor die Kontrolle über mehrere Gebiete und Städte, deren Rückeroberung die teilweise selbst verfeindeten und sich untereinander bekämpfenden Kräfte jeweils nicht nur vor militärische, sondern auch vor politische Herausforderungen stellt (DB 28.7.2017). Der IS setzt durch seinen neuen Pressesprecher Abu Hassan al-Muhajir darauf, die Kampfmoral seiner Anhänger in Mossul, Raqqa, Tal Afar und weiteren Umkämpften Gebieten zu stärken. In einer Audio-Aussendung ruft er zur Standhaftigkeit sowie zu neuen Terroranschlägen in den vom IS kontrollierten Provinzen und außerhalb auf. Eine neue Dynamik in der IS-Propaganda stellt zudem der Aufruf, die "Wirtschaftszweige der Ungläubigen" durch Anschläge, Plünderungen und Entführungen zu schädigen, dar. Thesen über die künftige Entwicklung des IS reichen von einer Kooperation bzw. Verschmelzung mit der Konkurrenzorganisation Al-Qaida bis hin zu einem Wiederaufleben der Terrorgruppe, diesmal allerdings mit Personal, welches jahrelange Erfahrung in der staatlichen Verwaltung, Wirtschaftstreiben, Terrorfinanzierung sowie Artillerie- und Guerillataktiken besitzt. UN-Antiterror-Experte Laborde geht trotz der zahlreichen Verluste derzeit von einer Gesamtzahl von 12.000 - 20.000 IS-Kämpfern in Syrien und Irak aus (IFK 25.7.2017). Andere ehemalige IS-Kämpfer haben sich in die Berge aufgemacht und führen dort einen klassischen Guerilla-Krieg. Wieder andere werden vor den Toren Bagdads als Schläferzellen aktiv (DB 28.7.2017).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3. Sicherheitslage

 

Hintergrund

 

Nachdem die irakische Armee im Sommer 2014 vorübergehend "zerbröckelte" und dem IS kampflos große Gebiete des Landes überließ (Spiegel 15.6.2014), veröffentlichte der schiitische Religionsführer im Irak, Ayatollah al-Sistani einen Aufruf zur Mobilisierung gegen den IS, infolge dessen sich zahlreiche schiitische Milizen gründeten. Auch ältere schiitische Milizen aus der Zeit der religiös motivierten Gewalt von 2006 gewannen wieder an Einfluss. Mit Unterstützung des Irans konnten diese einen Angriff des IS auf die Hauptstadt verhindern und die Terrororganisation weiter nach Norden zurückdrängen. Seit Ende 2015 forciert Bagdad eine Regierungsoffensive gegen den IS, bei der mit Einsatz von schiitischen Milizen, sunnitischen Stammeskämpfern und Luftunterstützung der USA vorige IS-Hochburgen wie Ramadi und Fallujah zurückerobert werden konnten (ACCORD 12.2016). In den Jahren 2015 und 2016 wurden auch die Städte Tikrit, Hit, Rutba, sowie die Gegend um Sinjar, die sich unter der Kontrolle des IS befunden hatten, zurückerobert (ÖB 12.2016). Der bewaffnete Konflikt ging somit im Jahr 2016 unvermindert weiter (AI 31.12.2016), und mit Stand Dezember 2016 waren bereits 60 Prozent des Gebietes, das im Irak unter Kontrolle des IS stand, zurückerobert (ÖB 12.2016). Laut dem Irakexperten des "Institute for the Study of War", Patrick Martin, hat der IS im Irak mit Stand Juli 2017 nur noch etwa sieben Prozent des ursprünglichen IS-Gebietes unter seiner Kontrolle, gleichzeitig warnt er jedoch davor, den IS zu früh als mögliche weitere Bedrohung abzuschreiben (Daily Star 10.7.2017). Im Zuge der Rückeroberungen werden im Irak immer wieder zahlreiche Massengräber gefunden (Standard 11.5.2017; USDOS 3.3.2017, HRW 16.11.2016). Die Offensive zur Rückeroberung Mossuls startete im Oktober 2016 und am 9. Juli 2017 verkündete Premierminister Abadi (nach fast neun Monaten schwerer Kämpfe und fast einer Million Vertriebener) den erfolgreichen Abschluss derselben (OCHA 13.7.2017).

 

Anm.: weitere Informationen zu Mossul s. u.

 

3.1. Sicherheitsbehörden und die wichtigsten im Irak operierenden militärischen Akteure und Milizen

 

3.1.1. Die Irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

 

Die ISF bestehen aus den Sicherheitskräften, die vom Innenministerium verwaltet werden, aus jenen, die vom Verteidigungsministerium verwaltet werden, aus den [vorrangig schiitischen] Milizen, die unter der Dachorganisation der Volksmobilisierung (PMF) zusammen gefasst wurden (Anm.: diese werden auf Grund ihrer besonderen Rolle und Stellung in einem gesonderten Abschnitt behandelt) und dem Counterterrorism Service (CTS). Die Aufgaben des Innenministeriums umfassen nationale Gesetzesvollstreckung und Aufrechterhaltung der Ordnung, gestützt auf die staatliche Polizei, die regionale Polizei, die Abteilung zum Schutz von Gebäuden/Einrichtungen, die Bürgerwehr sowie die Abteilung für Grenzschutz. Die dem Ölministerium unterstehende Energie-Polizei ist für den Schutz von kritischer Infrastruktur verantwortlich. Herkömmliche, dem Verteidigungsministerium unterstehende Militärkräfte sind für die Verteidigung des Landes verantwortlich, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch häufig Anti-Terror-Einsätze sowie interne Sicherheits-Einsätze durch (USDOS 3.3.2017). Anm.: Zum Counterterrorism Service siehe weiter unten.

 

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(Darstellung: Staatendokumentation, Quellen: USDOS 3.3.2017; AI 2016; Witty 2014; Al-Monitor 21.2.2017; Global Security o.D.; Al-Jazeera 1.4.2015; ISW 19.12.2016)

 

Die irakischen Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige und über 100.000 Polizisten umfassen. Die ISF sind nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert, darüber hinaus existiert kein Polizeigesetz. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung. In einem Urteil des EGMR (EGMR 264 (2016) vom 23.08.2016) hinsichtlich der Rückführung in den Irak wird bemerkt, dass weite Gebiete des Landes sich außerhalb der effektiven Kontrolle der Regierung befinden und die Schutzfunktion des Staates als vermindert anzusehen ist. Die Menschenrechtslage ist, vor allem in Hinblick auf die mangelhafte staatliche Kontrolle und des wenig ausgeprägten Gewaltmonopols samt verbreiteter Straflosigkeit desolat, in der KRI vergleichsweise etwas besser (ÖB 12.2017).

 

Die irakische Armee verfügt nicht über ausreichende Fähigkeiten oder Ausrüstung, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. Die Schmach des weitgehend kampflosen Rückzugs gegenüber den IS-Kräften bei deren Vormarsch 2014 sitzt jedoch tief und führte in der Zwischenzeit in Teilen der Truppe zu einer hohen Motivation bei der Rückeroberung besetzter Gebiete. [Zehntausende irakische Soldaten verließen im Juni 2014 ihre Posten und flüchteten; viele aus Angst vor dem IS, viele meinten, sie hätten den Befehl dazu bekommen - Global Security

o. D] Die Professionalisierung der Armee und vor allem auch der Bundes- und lokalen Polizei wird im Rahmen der internationalen Anti-IS-Koalition mit Hilfe internationaler Militär- und Polizeiausbildung unterstützt (AA 7.2.2017).

 

Bei militärischen Einsätzen (insb. gegen den IS) spielt auch die Polizei eine wichtige Rolle. Die Bundespolizei ist diesbezüglich einer der Hauptakteure, die lokale Polizei - sofern noch vorhanden - nimmt ebenfalls an den Operationen Teil (IISS 15.5.2017).

 

Durch die staatliche Akzeptanz, teilweise Führung und Bezahlung der Milizen (s. PMF) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur organisierten Kriminalität durchsetzen (AA 7.2.2017). Insgesamt konnten zivile Behörden nicht immer die Kontrolle über alle Sicherheitskräfte bewahren. Dies betrifft neben den PMF auch die regulären bewaffneten Kräfte, sowie heimische Sicherheitsdienste (USDOS 3.3.2017).

 

Counterterrorism Service

 

Der Counterterrorism Service (CTS) (auch Counterterrorism Bureau / Jihaz Mukafahah al-Irhab) ist eine auf Terrorbekämpfung spezialisierte Eliteeinheit, die direkt dem Premierminister unterstellt ist. Der CTS ist somit neben den anderen Standbeinen der irakischen Sicherheitskräfte auf gleicher (quasi-ministerieller) Ebene eine Organisation mit weitreichenden Kompetenzen in Bezug auf Terrorbekämpfung (AI 2016; vgl. Witty 2014). Der CTS hat die Aufsicht über den Counterterrorism Command (CTC), der wiederum die Kontrolle über die Iraqi Special Operation Forces (ISOF) hat. Diese bestehen aus drei Brigaden (ISOF-Brigaden), deren bekannteste die 1st ISOF-Brigade ist, auch "Golden Brigade / Golden Division" genannt (ISW 19.12.2016). Der CTS erhält seit seiner von den USA unterstützen und finanzierten Gründung (Witty 2014) direkte Unterstützung und Trainings von Seiten der Vereinigten Staaten und anderen Mitgliedern der Koalition [gegen den IS], u.a. von Frankreich (Al-Monitor 21.2.2017). Zum Teil wird der CTS auf Grund seiner Nähe zu US-amerikanischen Beratern in der irakischen Bevölkerung kontrovers gesehen (Witty 2014). Andererseits kommt dem CTS eine besonders entscheidende Rolle im Kampf gegen den IS zu (Global Security o.D.; vgl. Al-Jazeera 1.4.2015). Er trug die Hauptbürde bei der Mossul-Offensive und hatte dabei enorme Verlustraten zu beklagen - über 50 Prozent (ISW 19.12.2016).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

DISPLACED IRAQIS ABUSED BY MILITIAS AND GOVERNMENT FORCES,

https://www.ecoi.net/file_upload/1226_1476859165_mde1449622016english.pdf , Zugriff 23.8.2017

 

 

 

 

 

 

 

 

3.1.2. Schiitische Milizen - Popular Mobilization Forces

 

Genese und Entwicklung seit 2014

 

Der Name "Volksmobilisierungseinheiten" bzw. Al-Hashd al-Shaabi, englisch: Popular Mobilization Units (PMU) oder Popular Mobilization Forces bzw. Front (PMF)) bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig fast ausschließlich schiitische Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen. Schätzungen zufolge haben die Volksmobilisierungseinheiten zwischen 60.000 und 140.000 Mann unter Waffen. Die Entstehung des Milizenbündnisses kann als Reaktion auf die irakische Offensive des sog. "Islamischen Staates" (IS) verstanden werden und ist somit eng mit dessen militärischen Erfolgen und territorialen Gewinnen verquickt: Im Sommer 2014 drang die Terrororganisation in den Irak ein und nahm am 10. Juni erst Mossul und danach weite Teile der Provinzen Ninewah, Salahuddin, Anbar, Diyala und Kirkuk ein; wenig später waren auch die Städte Erbil und Bagdad in Gefahr (Süß 21.8.2017).

 

Die reguläre irakische Armee war dem IS nicht gewachsen, weshalb der damalige Ministerpräsident Nuri al-Maliki am 11. Juni zur Mobilisierung einer "Reservearmee" aufrief. Außerdem ließ der führende irakische schiitische Gelehrte Ayatollah Ali Sistani am 13. Juni ein islamisches Rechtsgutachten (fatwa) verlautbaren, in dem er alle jungen Männer dazu aufrief, sich den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten des Irak anzuschließen. Infolge der Fatwa schrieben sich tausende junge schiitische Männer auf Freiwilligenlisten ein, schlossen sich jedoch nicht Armee oder Polizei, sondern bereits existierenden oder neu formierten schiitischen Milizen an. Zwei Tage später bildete die irakische Regierung ein Komitee der Volksmobilisierung, das dem Ministerpräsident Haidar al-Abadi untersteht und vom Nationalen Sicherheitsberater Falih al-Fayyad geleitet wird. Die wahren Kräfteverhältnisse sind allerdings schon daran abzusehen, dass die Gründung durch das irakische Innenministerium verkündet wurde:

Dieses unterstand bis Juli 2016 der Führung des "Badr-Politikers" Muhammad al-Ghabban, die dominante Kraft im Innenministerium und damit der eigentliche irakische Führer des Milizenbündnisses ist jedoch Hadi al-Amiri. Mehrere Milizen stehen außerdem politischen Parteien nahe.

 

Innerhalb der zahlreichen, meist lokal organisierten Gruppen innerhalb der Volksmobilisierungseinheiten können im Wesentlichen drei Gruppen ausgemacht werden: Erstens schon länger aktive Milizen, die infolge der Fatwa tausende neue Rekruten hinzugewannen (Badr-Organisation, Asa'ib Ahl al-Haqq, Kata'ib Hizbullah und Saraya as-Salam). Zweitens gibt es solche schiitischen Formationen, die ab Juni 2014 entstanden (bspw. Kata'ib al-Imam Ali) und drittens einige kleinere sunnitische Milizen (Süß 21.8.2017).

 

Die wichtigsten Milizen innerhalb der PMF

 

Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Sie orientiert sich an der Tradition Khomeinis und der Staatsdoktrin Irans. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des "Hohen Rates für die Islamische Revolution im Irak" gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war. Mit der Namensänderung in Badr-Organisation wurde das Korps zum politischen Akteur. Als sich der Rat in "Irakischer Islamischer Hoher Rat" umbenannte und sich gleichzeitig vom Iran distanzierte, gelang es Badr, sich als wichtigster Verbündeter Irans im Irak zu etablieren und trennte sich 2009 schließlich vom Hohen Rat. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt heute als die bedeutendste Teilorganisation und dominierende Kraft des Milizenbündnisses. Sie ist besonders mächtig, weil sie Kontrolle über das irakische Innenministerium und damit auch über die Polizeikräfte besitzt; ein Großteil der bewaffneten Kräfte der Organisation wurde ab 2005 in die irakische Polizei aufgenommen. Sie soll über etwa 20.000 bis 50.000 Mann verfügen und arbeitet mit Kata'ib Hizbullah zusammen. Unklar ist jedoch, ob die genannten Zahlen ausschließlich Kämpfer oder auch sonstiges Personal umfassen, denn die Badr-Organisation ist Miliz und politische Partei in einem. Badr war bisher an allen wichtigen militärischen Auseinandersetzungen in den Provinzen Diyala, Salah ad-Din, Anbar und Ninewah beteiligt; ihr militärisches Hauptquartier befindet sich im Militärlager Camp Ashraf nördlich von Bagdad. In Diyala verfügt Badr außerdem über ein Territorium, das sich zu einer eigenständigen Machtbasis im Sinne eines "Staates im Staate" ausbauen lässt (Süß 21.8.2017).

 

Die Kata'ib Hizbullah (Bataillone der Partei Gottes, Hizbullah Brigades) entstanden im Zuge der Umbenennung des Badr-Korps in Badr-Organisation und bekämpften im Gegensatz zu diesem die US-Truppen. Sie wurden 2007 von Abu Mahdi al-Muhandis gegründet und werden auch von diesem angeführt. Die Miliz kann als Eliteeinheit begriffen werden, die häufig die gefährlichsten Operationen übernimmt und vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv ist. Ihre Personalstärke ist umstritten, teilweise ist die Rede von bis zu 30.000 Mann. Die Ausrüstung und militärische Ausbildung ihrer Mitglieder sind besser als die der anderen Milizen innerhalb der Volksmobilisierungseinheiten. Kata'ib Hizbullah arbeiten intensiv mit Badr und der libanesischen Hizbullah zusammen und gelten als Instrument der iranischen Politik im Irak. Die Miliz wird von den USA seit 2009 als Terrororganisation geführt (Süß 21.8.2017).

 

Die Asa'ib Ahl al-Haqq (Liga der Rechtschaffenen oder Khaz'ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz'ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak. Asa'ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern. Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata'ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierung, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Khaz'ali ist einer der bekanntesten Anführer der Volksmobilisierungseinheiten (Süß 21.8.2017).

 

Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa Sistanis auf Anweisung von Muqtada as-Sadr gegründet und sollten möglichst viele der Freiwilligen vereinigen. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden. Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann, ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017).

 

Auch Kata'ib al-Imam Ali (Bataillone des Imam Ali, Imam Ali Batallions) ist eine der Milizen, die im Juni 2014 neu gebildet wurden. Sie sticht hervor, weil sie sich rasant zu einer schlagkräftigen Gruppe entwickelte, die an den meisten wichtigen Auseinandersetzungen im Kampf gegen den IS beteiligt war. Dies lässt auf eine beträchtliche Kämpferzahl schließen. Die Funktion des Generalsekretärs hat Shibl az-Zaidi inne, ein früherer Angehöriger der Sadr-Bewegung. Zaidi steht in engem Kontakt zu Muhandis und den Pasdaran, weshalb die Miliz intensive Beziehungen zur Badr-Organisation, Kata'ib Hizbullah und den iranischen Revolutionsgarden unterhält. Die Miliz betreibt außerdem wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit, wodurch ihr Bekanntheitsgrad schnell gestiegen ist. Vor allem der Feld-kommandeur Abu Azrael erlangte durch Videos mit äußerst brutalen Inhalten zweifelhafte Berühmtheit. Die Gruppe scheint Gefangene routinemäßig zu foltern und hinzurichten (Süß 21.8.2017).

 

Führung und Rechtsstellung der PMF

 

Generell kann innerhalb der Volksmobilisierung eine Dominanz der älteren Milizen und ihrer Anführer Amiri, Muhandis und Khaz'ali ausgemacht werden. Die personelle Führung des Milizenbündnisses übernimmt dabei eine Trias: Anführer ist Abu Mahdi al-Muhandis, Kommandeur der Kata'ib Hizbullah und enger Verbündeter Badrs und der iranischen Revolutionsgarden. Als eigentlicher starker Mann hinter Muhandis gilt allerdings Hadi al-Amiri, Anführer der Badr-Organisation. Einfluss übt außerdem Qasim Suleimani aus, umstrittener Kommandeur der zu den iranischen Revolutionsgarden gehörigen Quds-Brigaden. Der Iran versorgt die irakischen Milizen mit Geld und Waffen und bildet ihre Kämpfer gemeinsam mit der libanesischen Hizbullah im Iran, im Irak und im Libanon aus. Viele der Milizen vertreten deshalb folgerichtig eine islamistische Ideologie, die sich an jener des Irans orientiert. Der Iran nutzte die Gründung der Volksmobilisierung 2014 auf diese Weise dafür, ihren Einfluss im Irak erheblich zu steigern. Die größten Milizen innerhalb der Volksmobilisierung hängen dabei so stark vom Iran bzw. den iranischen Revolutionsgarden ab, dass sie als Instrument des Nachbarstaates bezeichnet werden können. Auch eine personelle Verbundenheit ist vorhanden: Muhandis und Amiri haben ihre engen Beziehungen zum Iran mehrmals selbst bestätigt. Allerdings gibt es neben besonders eng an den Iran angebundenen Milizen (Badr-Organisation und Kata'ib Hizbullah) auch solche, die zwar ressourcenmäßig vom Iran abhängig sind, aber eine gewisse Distanz zum Iran aufweisen (Saraya as-Salam).

 

Obwohl das Milizenbündnis unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die Volksmobilisierung dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Ministerpräsidenten als Oberkommandierendem unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert (Süß 21.8.2017).

 

In der Tat scheint es sich so zu verhalten, dass innerhalb der PMF die radikal-schiitischen Gruppen mit Bindungen zum Iran die dominierenden Kräfte sind (Posch 8.2017).

 

Konfessionelle Zusammensetzung der PMF

 

Der absolute Großteil der PMF- Milizen besteht aus Schiiten, es gibt jedoch durchaus auch Sunniten, Christen oder sogar Jesiden in den Reihen der schiitischen Milizen [abhängig von der jeweiligen Miliz], bzw. gibt es auch gemischte Milizen, oder auch eigene Sunniten- oder Christen-Milizen (Lattimer 26.4.2017; Al-Monitor 21.8.2017).

 

PMF-Milizen und organisierte Kriminalität

 

Neben der Finanzierung durch den irakischen, sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf - mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen - oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem Ölschmuggel im großen Stil, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker waren. So lassen sich politische Streitigkeiten innerhalb der schiitischen Milizen ebenso gut als Allokations- und Revierkämpfe von Mafiabanden interpretieren, die sich auch auf parlamentarischer Ebene wiederfinden (Posch 8.2017).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

3.1.3. Sunnitische Milizen / Stammesmilizen

 

Neben dem IS gibt es im Irak noch weitere regierungsfeindliche sunnitische Gruppierungen/Organisationen, darunter die "Jaysh al-Rijal al-Tariqah al-Naqshabandia" (JRTN); der "General Military Council of Iraqi Revolutionaries"; die irakische Baath-Partei; der "Fallujah Military Council"; der "Council of Revolutionaries Tribes of Anbar"; die "1920 Brigades"; die "Islamic Army of Iraq"; die "Jayish al-Mujahidin" und die "Ansar al-Islam" (ISW 10.2014). Einige der aufständischen Gruppen bestehen aus Mitarbeitern des ehemaligen Saddam-Regimes oder aus ehemaligen Mitgliedern des irakischen Militärs (CRS 3.2016). Im Zuge des Vormarsches des IS wurden viele der aufständischen und/oder baathistischen Gruppen oder Stammesgruppen vom IS vereinnahmt, manche spielten eine führende Rolle beim IS, andere wurden von ihm bekämpft; Mitglieder der oben erwähnten Organisationen und sunnitische Stämme stellten sich auch gegen ihn, bekämpften ihn oder schlossen sich den PMF im Kampf gegen den IS an (ISW 30.11.2017; Al-Jazeera 4.6.2015; BBC 17.4.2015; CRS 3.2016; Al-Monitor 14.11.2016). Sunnitische Stammesmilizen, die den IS bekämpfen, werden auch unter dem Namen Sons of the Tribes (Abna al-Asha'ir) zusammengefasst (CMEC 16.11.2015). Durch die gegenwärtige Zurückdrängung des IS kommt es jedoch (wie in Abschnitt "Sicherheitslage" erwähnt) zu einem Wiedererwachen der aufständischen sunnitischen Gruppen. Die fortgesetzte Marginalisierung der Sunniten und der konfessionelle Konflikt führen zudem dazu, dass radikale Gruppen wie Al Qaeda und ex-/neo-baathistischen Gruppen wie Jaysh al-Rijal al-Tariqa al-Naqshbandiya (JRTN) diese Missstände nutzen, um Sunniten für ihre Zwecke zu vereinnahmen (ISW 7.2.2017).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3.1.4. Internationale Präsenz

 

Derzeit befinden sich mehr als 5.000 US-Truppen im Irak. Viele von ihnen sind Berater der ISF. Die Vereinigten Staaten, sowie einige andere Mitgliedsstaaten der Koalition zur Bekämpfung des IS zeigen Ambitionen, nach einem etwaigen Sieg über den IS, weiterhin militärische Präsenz im Irak beizubehalten (Reuters 19.1.2017; vgl. MEE 11.7.2017). Die Koalition führt auch regelmäßig Luftangriffe im Irak durch (s. Abschnitt Sicherheitslage).

 

Im Nordirak sind - unter Protest der irakischen Regierung - auch etwa 2.000 oder sogar "mehrere tausend" türkische Truppen stationiert. In der Stadt Bashiqa in der Nähe Mosuls betreibt die Türkei einen Militärstützpunkt (K24 27.7.2017; vgl. Ekurd 20.7.2016; Al-Monitor 21.8.2017). In der KRI soll die Türkei Berichten zufolge 18 Militär- und Geheimdienst-Stützpunkte betreiben (Ekurd 20.7.2017). Diese türkischen Truppen, sowie die türkischen Luftangriffe richten sich sowohl gegen die PKK (und PKK-nahe Kräfte) als auch gegen den IS (s. Abschnitt Sicherheitslage).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

3.1.5. Private Sicherheitsunternehmen und kleinere Milizen

 

Darüber hinaus sind im Irak etwa 20.000 Angehörige privater Sicherheitsunternehmen tätig. Die größten Unternehmen haben sich in der "Private Security Companies Association of Iraq" (PSCAI) zusammengeschlossen. Viele werden inzwischen von der irakischen Regierung, von Unternehmen und Organisationen als Personen- und Objektschützer eingesetzt (AA 7.2.2017). Außerdem gibt es im Irak noch zahlreiche kleinere Milizen von Stämmen und religiösen/ethnischen Minderheiten (z.B. christliche, jesidische, kurdische, turkmenische, etc.) (Wille 26.4.2017; NZZ 2.12.2016; Al-Jazeera 13.2.2017).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

3.2. Sicherheitslage in Bagdad

 

Die terroristischen Aktivitäten der letzten Jahre setzten sich im Jahr 2016 fort, eine besondere Rolle spielten dabei die Anschläge des IS, insbesondere auf Städte. Bagdad war dabei am meisten betroffen, indem dort mehr als der Hälfte der aller Todesfälle verzeichnet wurden. UNAMI berichtet von nahezu täglichen Attacken mit improvisierten Sprengfallen (IEDs) von Jänner bis Oktober. Der IS führte insbesondere Angriffe auf Zivilisten in jenen Vierteln Bagdads aus, die mehrheitlich schiitisch sind. Der diesbezüglich größte Angriff des Jahres 2016 fand am 3. Juli statt. Dabei wurden im schiitisch dominierten Viertel Karrada 292 Zivilisten getötet und hunderte verletzt (USDOS 3.3.2017). Eine gewisse Sicherheit ist in Bagdad lediglich in der "grünen" internationalen Zone (Green Zone) im Zentrum der Stadt gewährleistet (ÖB 12.2016). Die Anschläge des IS finden dabei zunehmend auf Märkten und in Wohngegenden statt, der IS zielt dabei vorwiegend auf Zivilisten ab (UNAMI 1.2.2017).

 

Milizen und konfessioneller Konflikt

 

Die Vorstöße des IS im Nord- und Zentralirak 2014 und Anfang 2015 sowie das damit verbundene Sicherheitsvakuum in anderen Landesteilen haben dazu geführt, dass Milizen und Stammesführer in vielen Gegenden die Macht an sich gerissen haben, die Kriminalität zugenommen hat und insgesamt das staatliche Machtmonopol und die Rechtsstaatlichkeit aufgeweicht wurden, einschließlich in der Hauptstadt Bagdad (UNHCR 14.11.2016). Die PMF-Milizen, die ursprünglich entstanden sind, um den IS zu bekämpfen [andere gab es allerdings auch schon vor dem IS], verrichten nun in den Stadtvierteln von Bagdad Polizeiarbeit. Dadurch konkurrieren sie mit der regulären Polizei, missachten die Gesetze und verhalten sich oft eher wie mafiöse Gruppen. Im September 2016 kam es im Zafaraniyah-Viertel sogar zu einem Kampf zwischen schiitischen Milizen und der örtlichen Polizei. Die Milizen erschweren zunehmend die Arbeit der lokalen Polizeikräfte. Führungskräfte der Polizei sind gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befänden sich überhaupt unter Polizeikontrolle. Die meisten Stadtviertel von Bagdad haben einen Stützpunkt, zumeist in Form eines Büros, der zu der jeweiligen Miliz gehört, die in dem Teil der Stadt präsent ist (manchmal sind auch mehrere Milizen in einem Viertel präsent). Laut Angaben eines Bagdader Polizisten könne man die mutmaßlichen Rechtsverletzungen der Milizen nicht ahnden; Es käme auch zu Straßenkämpfen zwischen den Milizen und die Polizei müsse neutral bleiben und würde daher nicht in die Kämpfe eingreifen (Niqash 19.1.2017).

 

Offiziell ist nach wie vor das sogenannte "Baghdad Operations Command" (BOC) für die Sicherheit in der Stadt zuständig. Es umfasst etwa 70.000 Mitglieder, die aus Soldaten der regulären Armee, der Militärpolizei und der normalen Polizei sowie aus Geheimdiensten bestehen. Viele Bewohner haben jedoch den Eindruck, dass das BOC nicht in der Lage ist, seine Aufgabe zu erfüllen (Niqash 19.1.2017). Daher gibt es den Ruf danach, dass die PMF-Milizen auch offiziell für die Sicherheit zuständig sein sollen, bzw. den Druck, auch von Seiten verschiedener Parlamentsmitglieder, die Milizen stärker in Bagdads Sicherheitskonzept einzubinden, oder ihnen sogar die Sicherheitsagenden komplett zu übergeben und das BOC aufzulösen (IFK 25.7.2017; vgl. Niqash 19.1.2017). Problematisch werden diese Entwicklungen v.a. auch auf Grund der Tatsache gesehen, dass die PMF-Milizen konfessionell sehr einseitig (schiitisch) aufgestellt sind, und einige von ihnen direkt mit dem iranischen Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei affiliiert sind [sowie auf Grund der von ihnen im Irak begangenen Menschenrechtsverletzungen -

s. Abschnitt Menschenrechtslage] (Al-Monitor 9.6.2017).

 

Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen (UNHCR 14.11.2016). In Bagdad wurde gemeldet, dass sunnitische Binnenvertriebene gedrängt wurden, aus schiitischen und gemischt sunnitisch-schiitischen Wohngebieten auszuziehen (UNHCR 14.11.2016). Auch gewaltsame Vertreibungen von Sunniten aus mehrheitlich von Schiiten bewohnten Vierteln Bagdads kamen laut dem Leiter des Sicherheitskomitees des Provinzrates Bagdad vor. Zum Teil würde es dabei weniger um konfessionell motivierten Hass gehen, sondern darum, die Grundstücke der vertriebenen Familien übernehmen zu können (IC 1.11.2016). Laut Berichten begehen die PMF-Milizen in Bagdad immer wieder Kidnappings und Morde an der sunnitischen Bevölkerung (die nicht untersucht werden), oder sie sprechen Drohungen dieser gegenüber aus (HRW 27.1.2016; Al-Araby 17.5.2017). Laut dem Parlamentsmitglied Abdul Karim Abtan langen bezüglich der Welle von konfessionell motivierten Entführungen und Morden fast täglich Berichte ein; er beschuldigt die Polizei, die Vorfälle zu ignorieren und den Milizen zu erlauben, straffrei zu agieren (Al-Araby 17.5.2017). Viele Familien waren in Bagdad durch den konfessionellen Konflikt dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und sie siedelten sich zunehmend entlang konfessioneller Grenzen wieder an (IOM 31.1.2017). Somit sind separate sunnitische und schiitische Viertel entstanden. Bagdad ist weiterhin entlang konfessioneller Linien gespalten (IOM 31.1.2017). Dies geht auch aus den folgenden Grafiken hervor, die die zunehmende konfessionelle Gliederung der Stadt in den Jahren 2003, 2010 und 2016 zeigen:

 

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Quelle: National Geographic (o.D.)

 

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Quelle: Izady 2016

 

Insbesondere in den Stadtvierteln Ghazaliya, Mansur und Dawudi wurde auch von sunnitischen Moscheen berichtet, die Schikanen von Seiten der PMF-Milizen und der irakischen Sicherheitskräfte ausgesetzt sind. Diese haben Checkpoints vor den Moscheen eingerichtet, an denen sie Kontrollen durchführen. Laut einem Imam käme es fast täglich zu Verhaftungen; meistens erfolge eine Freilassung nach kurzer Zeit, nach der Entrichtung eines Betrages von 2.000 bis 10.000 Dollar (AQAA 14.4.2016).

 

Proteste

 

Darüber hinaus kommt es immer wieder zu Protesten in Bagdad, die v. a. mit der regierungskritischen Sadr-Bewegung in Zusammenhang stehen. Bei den im Jahr 2016 stattfindenden Protesten mit tausenden Demonstranten kam es sogar zweimal zur Durchbrechung der Barrieren zur stark befestigten "Green Zone". Dabei kam es auch zu gewaltsamen Reaktionen der Sicherheitskräfte, bei denen letztere auf Demonstranten schossen, Dutzende wurden verletzt. Am 11. Februar 2017 kam es in Bagdad erneut zu Zusammenstößen, bei denen Sicherheitskräfte der schiitisch dominierten Regierung auf schiitische Demonstranten der Sadr-Bewegung schossen, und bei denen es abermals zur Durchbrechung der Green-Zone-Barrieren kam. Dabei wurden mindestens sechs Personen getötet, weitere hunderte wurden verletzt, außerdem wurden dabei Raketen vom Typ Katyusha in die Green Zone geschossen. Gerichtet war die Demonstration v.a. gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik (MEE 12.2.2017, vgl. Standard 13.2.2017; Al-Jazeera 12.2.2017).

 

Statistiken

 

Die folgende Grafik zeigt die von UNAMI dokumentierten Zahlen der in der Provinz Bagdad in den Monaten Jänner 2015 bis Juni 2017 getöteten Zivilisten. Diese Zahlen sind laut Stellungnahme von UNAMI als absolute Mindestzahlen und nicht als vollständig anzusehen. UNAMI sei bei der Dokumentation der Vorfälle behindert worden und es könne laut UNAMI sein, dass diese Zahlen das Ausmaß der Folgen der Gewalt und der terroristischen Handlungen herunterspielen. Bundespolizisten wurden in diesen Zahlen bis November 2017 inkludiert, danach nicht mehr:

 

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(Quelle UNAMI 2016/2017; Darstellung Staatendokumentation)

 

Die folgende Grafik veranschaulicht die von Iraqi Body Count dokumentierten monatlichen Zahlen an getöteten Zivilisten in der Provinz Bagdad:

 

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(IBC 7.2017)

 

Die folgende Grafik zeigt die monatlichen Zahlen der von Joel Wing auf "Musings on Iraq" dokumentierten sicherheitsrelevanten Vorfälle in der Provinz Bagdad (in blau), sowie die im Zuge derer getöteten Zivilisten (in rot) im letzten Jahr (Zeitraum Jänner bis Juni 2017).

Anm.: Stammesbezogene Gewalt ist wiederum nicht in die Statistik einbezogen (s.o.):

 

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(Quelle Musings on Iraq 2016/2017; Darstellung Staatendokumentation)

 

Der folgende Auszug aus der Statistik von Joel Wing (Musings on Iraq) zeigt exemplarisch die in der Provinz Bagdad auf fast täglicher Basis stattfindenden Anschläge (s. auch Stansfield 26.4.2017; vgl. ÖB 12.2016).

 

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(MOI 7.2017)

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

MOI - Musings on Iraq (2016/2017): Violence in Iraq / Dead and

Wounded in Iraq, Anm.: Zu den jeweiligen Monatsberichten s. folgende

Hyperlinks:

 

 

http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2016/09/violence-in-iraq-august-2016.html

,

 

 

http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2016/10/violence-in-iraq-sep-2016.html , http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2016/11/5198-dead-and-wounded-in-iraq-in-oct.html

 

 

http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2016/12/4360-dead-3920-wounded-in-iraq-november.html

 

 

http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/01/24079-reported-dead-and-39166-wounded.html

 

 

http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/02/violence-in-iraq-january-2017.html

 

 

http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/03/4290-dead-and-wounded-in-iraq-in.html

 

 

http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/04/6732-dead-and-wounded-in-iraq-in-march.html

 

 

http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/05/2677-killed-and-1742-wounded-in-iraq.html

 

 

http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/07/3230-dead-1128-wounded-in-iraq-june-2017.html

 

 

http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/07/3230-dead-1128-wounded-in-iraq-june-2017.html , Dezember-Zahlen: Wing, Joel (20.7.2017): Per Email

 

 

 

 

 

http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=7496:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-june-2017&Itemid=633&lang=en ,

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http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=6455:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-november-2016&Itemid=633&lang=en ,

http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=6267:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-october-2016&Itemid=633&lang=en ,

http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=6144:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-september-2016&Itemid=633&lang=en ,

http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=6041:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-august-2016&Itemid=633&lang=en ,

http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=5931:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-july-2016&Itemid=633&lang=en ,

Zugriff 25.7.2017

 

 

 

 

3 Rechtsschutz/Justizwesen

 

Anm.: Dieser Abschnitt ist nur relevant für Gebiete, in denen das staatliche Rechtssystem greift. Dies ist in Teilen des Landes nicht oder nur eingeschränkt der Fall (z.B. in vom IS besetzten Gebieten, oder teilweise in einigen von schiitischen Milizen dominierten Gebieten).

 

Art. 19 Abs. 1 und Art. 86 ff. der Verfassung bezeichnen die Rechtsprechung als unabhängige Gewalt. Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts. Der Gerichtsaufbau wird durch noch zu erlassende Ausführungsgesetze geregelt. Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet, die Unabhängigkeit der Rechtsprechung ist nicht durchgehend gewährleistet. (AA 7.2.2017). Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Gerichte und Sicherheitskräfte verfügen nicht über ausreichend qualifiziertes Personal, es fehlt an rechtsstaatlichem Grundverständnis. Gewalttaten bleiben oft straflos. Eine Verfolgung von Straftaten findet allgemein nur unzureichend statt. Insbesondere das Problem, dass Beamte bei Vergehen straffrei davonkommen, spielt sowohl bei Regierungsbeamten, Beamten der Sicherheitskräfte (einschließlich der Peschmerga), sowie bei Militärs eine große Rolle (USDOS 3.3.2017). Es mangelt an ausgebildeten, unbelasteten Richtern; eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssten, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über die "schiitische Siegerjustiz" und die einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten (AA 7.2.2017). Die Vorstöße des IS im Nord- und Zentralirak 2014 und Anfang 2015 und das damit verbundene Sicherheitsvakuum in anderen Landesteilen haben laut Berichten dazu geführt, dass Milizen und Stammesführer die Macht an sich gerissen haben, die Kriminalität zugenommen hat und insgesamt das staatliche Machtmonopol und die Rechtsstaatlichkeit aufgeweicht wurden, einschließlich in der Hauptstadt Bagdad und den südlichen Provinzen (UNHCR 14.11.2016).

 

Berichten zufolge sind im Rahmen der Strafgerichtsbarkeit weiterhin regelmäßige Verstöße gegen das Recht der Angeklagten auf ein faires Verfahren zu beobachten (UNHCR 14.11.2016). Dies galt insbesondere für Angeklagte, denen terroristische Straftaten zur Last gelegt wurden. Gerichte sprachen Angeklagte weiterhin aufgrund von "Geständnissen" schuldig, die unter Folter erpresst worden waren. Von Angeklagten erhobene Foltervorwürfe führten weder zu Ermittlungen noch zu einer gerichtsmedizinischen Untersuchung der Opfer. In einigen Fällen wurde nach unfairen Verfahren die Todesstrafe verhängt (AI 22.2.2017).

 

Rechtsexperten, zivilgesellschaftliche Aktivisten und einige Politiker werfen dem irakischen Justizwesen vor, nicht die ihm vorgeschriebenen Aufgaben zu erfüllen, und unprofessionell mit der Umsetzung von Recht und der gleichen Anwendung des Gesetzes auf alle Bürger umzugehen. Das Oberste Bundesgericht und der Strafgerichtshof wird hierbei besonders kritisiert, und beschuldigt, Urteile zu fällen, die sich nach der Politik der Regierung richten (Fanack 18.5.2016). Die richterliche Unabhängigkeit ist insbesondere auch durch zahlreiche Drohungen und Morde von Seiten religiöser oder stammesbezogener Extremisten oder krimineller Kräfte beeinträchtigt. Richter und Anwälte, sowie deren Familienmitglieder waren regelmäßig Todesdrohungen und Angriffen ausgesetzt (USDOS 3.3.2017).

 

Die PMF-Milizen haben ihre eigenen Gerichte gegründet, die ursprünglich dafür gedacht waren, dass die Milizen Missbräuche/Rechtsverletzungen in den eigenen Reihen ahnden können. Im Moment werden diese Gerichte jedoch dafür eingesetzt, um (ohne Haftbefehl) verhaftete Sunniten zu verurteilen (Wille 26.6.2017).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

https://chronicle.fanack.com/iraq/governance/judiciary-hanging-in-the-balance/ , Zugriff 13.6.2017

 

 

 

 

4 Folter und unmenschliche Behandlung

 

Folter und unmenschliche Behandlung werden von der irakischen Verfassung in Art. 37 ausdrücklich verboten. Im Juli 2011 hat die irakische Regierung die VN-Anti-Folter- Konvention (CAT) unterzeichnet. Folter wird jedoch auch in der jüngsten Zeit von staatlichen Akteuren eingesetzt. Es kommt immer wieder zu systematischer Anwendung von Folter bei Befragungen durch irakische (einschließlich kurdische) Polizei- und andere Sicherheitskräfte.

 

Das im August 2015 abgeschaffte Menschenrechtsministerium hat nach eigenen Angaben 500 Fälle unerlaubter Gewaltanwendung an die Justiz überwiesen, allerdings wurden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen (AA 7.2.2017). Das Innenministerium gab keine Zahlen bekannt, wie viele Beamte [wegen Misshandlungsvorwürfen] während des Jahres 2016 bestraft wurden, und es gab diesbezüglich keine bekannt gewordenen Verurteilungen. Berichte von internationalen Menschenrechtsorganisationen geben an, dass Regierungskräfte und schiitische Milizen Gefangene misshandelten, insbesondere sunnitische Gefangene (USDOS 3.3.2016). In den Gefängnissen und Hafteinrichtungen, die vom Innen- und Verteidigungsministerium betrieben oder von Milizen kontrolliert wurden, waren Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen weiterhin an der Tagesordnung. Die Folter sollte dazu dienen, "Geständnisse" zu erpressen, Informationen zu erhalten oder die Häftlinge zu bestrafen. Mehrere Gefangene starben in Gewahrsam an den Folgen der Folter (AI 22.2.2017).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

5 Korruption

 

Auf dem Corruption Perceptions Index 2016 der Organisation Transparency International befindet sich der Irak auf dem Platz 166 (von 176) (TI 9.6.2017). Das Gesetz sieht Strafen für Korruption vor, jedoch hat die Regierung das Gesetz nicht effektiv angewendet. Es gab während des Berichtszeitraumes 2016 zahlreiche Berichte von Korruption von Seiten der Regierung. Beamte aus allen Bereichen der Regierung waren in zahlreichen Fällen und ungestraft in korrupte Geschäfte verwickelt. Hintergründe wie die Familienzugehörigkeit, Stammeszugehörigkeit oder Religionszugehörigkeit haben die Entscheidungen der Regierung auf allen Ebenen beeinflusst. Regelmäßig gab es Fälle von Bestechung, Geldwäsche, Nepotismus und Veruntreuung öffentlicher Gelder (USDOS 3.3.2017).

 

Ab August 2015 fanden in Bagdad und anderen großen Städten im Süden des Landes wöchentlich Demonstrationen gegen Korruption und gegen die mangelnde Leistungsfähigkeit

 

des Staates statt (AA 7.2.2017; Näheres dazu s. auch Abschnitt zur Sicherheitslage in Bagdad).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

6 Allgemeine Menschenrechtslage

 

Auch wenn in der Verfassung aus dem Jahr 2005 wichtige demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung verankert sind, kommt es weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte (AA 7.2.2017). UN-Menschenrechtsgremien und Menschenrechtsorganisationen haben dokumentiert, dass alle Parteien des nicht internationalen bewaffneten Konflikts im Irak das humanitäre Völkerrecht verletzen und schwere Verstöße gegen internationale Menschenrechte begehen (UNHCR 14.11.2016). Die Menschenrechtslage ist vor allem in Hinblick auf die mangelhafte staatliche Kontrolle und das wenig ausgeprägte Gewaltmonopol samt verbreiteter Straflosigkeit desolat, in der KRI vergleichsweise etwas besser (ÖB 12.2017). Im gesamten Land gibt es einen Mangel an Schutzmöglichkeiten, und die Menschen sind ernstzunehmenden Verletzungen des internationalen humanitären Rechts sowie der Menschenrechte ausgesetzt. Mangelnder Zugang zu sicheren Orten, Mangel an Bewegungsfreiheit, Gewalt und unfaire Behandlung verschlimmern die Spannungen zwischen den Volksgruppen (OCHA 7.3.2017).

 

Den Großteil der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen beging die Terrororganisation IS, die unter anderem Angriffe gegen folgende Gruppen verübte: Zivilisten (im speziellen Schiiten aber auch Sunniten, die den IS ablehnen); Mitglieder anderer religiöser und ethnischer Minderheiten; einschließlich Frauen und Kinder. Die Behörden entdeckten während des Jahres 2016 etliche Massengräber (USDOS 3.3.2017). Anm.: Zu den von Seiten des IS verübten Menschenrechtsverletzungen s. auch den folgenden Abschnitt. Verstöße gegen die Menschenrechte sind aber auch außerhalb des vom IS beherrschten Gebietes weit verbreitet (AA 7.2.2017):

 

Staatliche Stellen, insbesondere die irakische Armee und ihre Verbündeten sind nach wie vor für zahlreiche schwere Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich und trotz erkennbarem Willen der Regierung Abadi nicht in der Lage, die in der Verfassung verankerten Rechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten (ÖB 12.2016; AA 7.2.2017). Von Seiten der Regierungskräfte wurden u.a. Massenexekutionen, Misshandlungen während der Haft, "Verschwindenlassen", das Verstümmeln von Leichen (HRW 12.1.2017), sowie Folter dokumentiert (AI 22.2.2017). Insbesondere den Popular Mobilisation Forces (PMF) werden Massenerschießungen, Tötungen von Gefangenen und Festgenommenen (ohne Gerichtsverfahren) vorgeworfen (ÖB 12.2016). Den staatlichen Stellen ist es nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen, insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Dies geht einher mit Repressionen, mitunter auch Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession Minderheiten geraten oft zwischen die Fronten (AA 7.2.2017).

 

In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, kommt es zu Massenvergeltungsmaßnahmen an sunnitisch-arabischen und turkmenischen Einwohnern und Rückkehrern aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten Verbindung zum IS (AA 7.2.2017; vgl. UNHCR 14.11.2016). Daran beteiligt sind mit den PMF verbündete Streitkräfte, Stammesgruppen und kurdische Sicherheitskräfte (UNHCR 14.11.2016). Es kommt zu Repressionen durch schiitische und sunnitische Milizen, durch die kurdischen Peschmerga, sowie in geringerem Maße durch Milizen der verschiedenen konfessionellen Minderheiten (AA 7.2.2017). Auch im Zuge der Mossul-Offensive verhafteten und misshandelten Stammesmilizen Einwohner der Gebiete, die vom IS zurückerobert worden waren, und es kam zu Racheakten der schiitischen Milizen (HRW 12.1.2017; Harrer 10.8.2017; vgl. BAMF 26.6.2017). Die irakischen Sicherheitskräfte misshandelten und töteten Berichten zufolge Männer und Knaben, die aus Mossul flüchteten (HRW 30.6.2017). Allgemein kam es von Seiten Angehöriger der ISF und verbündeter Gruppen zu Vergehen an der flüchtenden Zivilbevölkerung, an Binnenvertriebenen und Rückkehrern. In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, ist auch von Plünderungen und der willkürlichen Inbrandsetzung und Zerstörung von Wohnhäusern, Geschäften und Moscheen berichtet worden (UNHCR 14.11.2016). Zum Teil wurden gesamte arabische Dörfer zerstört, bei gleichzeitiger Deportation der Einwohner, obwohl es dafür keine militärische Notwendigkeit gab. In vielen Fällen handelte es sich dabei um Kriegsverbrechen (HRW 12.1.2017). Bezüglich der Frage der Rückkehrer hat die lokale Regierung in der Provinz Salahuddin im Jahr 2016 ein Dekret erlassen, nach dem jeder, der Verbindungen zum IS hat, nicht in die Region zurückkommen dürfe - Iraker, die ihre IS-assoziierten Verwandten töten würden, wären ausgenommen (OA/EASO 2.2017, vgl. HRW 5.3.2017).

 

Die große Zahl der Binnenvertriebenen im Irak und die weitverbreitete Pauschal-Auffassung, dass sunnitische Araber IS-Mitglieder sind oder mit dem IS sympathisieren, hat Berichten zufolge dazu geführt, dass immer mehr sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die nicht vertrieben wurden und in Bagdad und anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten leben, nach dem Anti-Terror-Gesetz von 2005 verhaftet werden (UNHCR 14.11.2016). Teilweise unterzogen die Regierungskräfte alle männlichen Personen im kampffähigen Alter (etwa zwischen 15 und 65 Jahren), die aus Gebieten unter IS-Kontrolle geflohen waren, einer Sicherheitsüberprüfung. Sie wurden in behelfsmäßige Hafteinrichtungen oder provisorische Auffanglager gebracht, in denen sie Tage oder sogar Monate ausharren mussten, häufig unter extrem harten Bedingungen. Terrorverdächtige wurden an Sicherheitsbehörden wie die Abteilung für Verbrechensbekämpfung, die Abteilung für Terrorismusbekämpfung oder die Geheimdienstabteilung des Innenministeriums überstellt, wo ihnen Folter und andere Misshandlungen drohten, und regelmäßig wurde ihnen der Kontakt zu ihren Familien oder Rechtsbeiständen verwehrt. Sicherheitskräfte und Milizen nahmen mutmaßliche Terrorverdächtige ohne Haftbefehl in ihren Wohnungen, an Kontrollpunkten und in Lagern für Binnenvertriebene fest und informierten weder die Betroffenen noch deren Angehörige über die Gründe für die Festnahme (AI 22.2.2017). Häufig befinden sich diese Kontrollpunkte in der Nähe der Front. Zwar werden manche Personen nach einigen Tagen wieder entlassen, andere werden jedoch Berichten zufolge wochen- oder gar monatelang festgehalten, bis sie schließlich freigelassen oder in die Obhut der zuständigen Sicherheitsbehörden überstellt werden (UNHCR 14.11.2016).

 

Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad und anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen. Sunnitische Araber erhalten Todesdrohungen, ihre Häuser werden zerstört und sie werden zwangsweise vertrieben, entführt/verschleppt und außergerichtlich hingerichtet. Die sunnitische Zivilbevölkerung wird nach IS-Attacken auf die schiitische Zivilbevölkerung von den ISF und verbündeten Streitkräften der PMU regelmäßig ins Visier genommen und im Rahmen offensichtlicher Vergeltungsmaßnahmen wurden sunnitische Zivilpersonen getötet und ihre Häuser, Geschäfte und Moscheen zerstört. Lager für Binnenvertriebene sind Anschlägen zum Ziel gefallen (UNHCR 14.11.2016).

 

Männer und Jugendliche ab 15 Jahren wurden unter Druck gesetzt, bewaffneten Stammesgruppen zur Bekämpfung des IS beizutreten, um nicht für IS-Anhänger gehalten zu werden (UNHCR 14.11.2016). Darüber hinaus gibt es Berichte, dass sowohl Volksmobilisierungskräften (PMF), sunnitische Stämme, die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) und sonstige bewaffnete kurdische Gruppen sowie turkmenische und jesidische Selbstverteidigungsgruppen Kinder für Unterstützungs- und Kampfhandlungen rekrutieren (UNHCR 14.11.2016, vgl. USDOS 3.3.2017; vgl. AI 22.2.2017).

 

Die Behörden unternahmen nichts, um den Aufenthaltsort und das Schicksal Tausender sunnitischer arabischer Männer und Jungen zu klären, die Milizen und Regierungstruppen in den vergangenen Jahren in Wohnhäusern, an Kontrollpunkten und in Lagern für Binnenvertriebene aufgegriffen hatten und die seitdem "verschwunden" sind (AI 22.2.2017).

 

Gemäß einem Bericht von Amnesty International haben die Truppen der Koalition zur Bekämpfung des IS bei ihrem Vorgehen in Mossul keine angemessenen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung unternommen, und Waffen eingesetzt, die in bevölkerungsreichen Gebieten niemals verwendet werden dürften (Zeit 11.7.2017). Es werden Bedenken über mögliche Kriegsverbrechen der US-geführten Koalition in Bezug auf den Kampf gegen den IS in Mossul geäußert (IP 3.6.2017).

 

Anm.: Zu weiteren Menschenrechtsverletzungen siehe auch die Abschnitte "IDPs und Flüchtlinge / Bewegungsfreiheit", Rechtsschutz/Justizwesen, Folter, etc.

 

Quellen:

 

 

 

 

 

http://www.ecoi.net/file_upload/5734_1501757671_deutschland-bundesamt-fuer-migration-und-fluechtlinge-briefing-notes-26-06-2017-deutsch.pdf , Zugriff 31.8.2017

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

8 Meinungs- und Pressefreiheit

 

Die Verfassung gewährt das Recht auf freie Meinungsäußerung, sofern die Äußerung nicht die öffentliche Ordnung oder die Moral verletzt, Unterstützung für die Baath-Partei ausdrückt oder das gewaltsame Verändern der Staatsgrenzen befürwortet. Der größte Teil der Einschränkungen dieses Rechts kommt durch Selbstzensur auf Grund von glaubhafter Furcht vor Repressalien durch die Regierung, politische Parteien, ethnische und konfessionelle Kräfte, terroristische und extremistische Gruppen oder kriminelle Banden zustande (USDOS 3.3.2017). Tatsächlich wird die journalistische Arbeit durch Übergriffe auf Journalisten behindert. Nach Angaben von "Reporter ohne Grenzen" ist Irak für Journalisten eines der gefährlichsten Länder (AA 7.2.2017). Laut einem Bericht der International Federation of Journalists von 2016 gilt der Irak als das gefährlichste Land für Journalisten (HRW 12.1.2017). Laut Human Rights Watch sind alleine in den Jahren 1990 bis 2015 300 Journalisten getötet worden (HRW 12.1.2017). Auch Familienmitglieder von Journalisten können bedroht werden (OA/EASO 2.2017). Auf dem Index für Pressefreiheit befand sich der Irak im Jahr 2016 auf Platz 158 von 180 Staaten. Journalisten und Medien sind im Irak systematischer Gewalt ausgesetzt. Es kommt auch zu gezielten Morden an Medienschaffenden. Auch in den autonomen Kurdengebieten wurden Journalisten ermordet. Laut "Reporter ohne Grenzen" schützt der Staat bedrohte Journalisten nicht. Politiker aller Couleur behindern die Arbeit kritischer Berichterstatter durch Schikanen und Gerichtsverfahren - häufig mithilfe repressiver Gesetze, die aus der Diktatur Saddam Husseins stammen (ROG o.D.). Das Land nahm im Straflosigkeitsindex (Zeitraum 2007 - 2016) des "Committee to Protect Journalists" zudem den weltweit vorletzten Platz in Bezug auf die Aufklärung von Morden an Journalisten ein. Danach wurden in den letzten zehn Jahren 71 Morde an Journalisten nicht aufgeklärt. Zuletzt gab es auch einen Fall in der Region Kurdistan-Irak, bei dem ein oppositioneller Journalist mit offenbar durch Sicherheitskräfte beigebrachten Foltermerkmalen tot aufgefunden wurde (AA 7.2.2017).

 

Trotz des Schutzes der Meinungsfreiheit gemäß Verfassung haben die Zentralregierung und die KRG sich in Medienangelegenheiten eingemischt, zum Teil mit dem Ergebnis, dass Medienunternehmen geschlossen wurden, sie ihre Berichterstattung einschränken mussten, oder mit der Folge, dass der Internetzugang des Unternehmens gestört wurde (USDOS 3.3.2017). Im März 2016 schloss die Irakische Kommunikations- und Medienkommission den privaten TV-Sender Al-Baghdadia TV (in Kairo stationiert). Ein Monat später zog die Kommission die Betriebsgenehmigung für das Medienunternehmen Al-Jazeera (in Katar stationiert) für das Jahr 2016 zurück, mit der Begründung, dass die "Rhetorik des Unternehmens konfessionelle Konflikte und Gewalt schüren würde" (HRW 12.1.2017)

 

In der Kurdenregion wurden Journalisten, Aktivisten und Politiker, die der regierenden Demokratischen Partei Kurdistans kritisch gegenüberstanden, schikaniert und bedroht, und einige von ihnen wurden aus der Provinz Erbil vertrieben. Fälle von getöteten Journalisten und Kritikern oder Gegnern der kurdischen Behörden aus den vergangenen Jahren waren immer noch nicht untersucht worden (AI 22.2.2017).

 

Internetfreiheit:

 

Gemäß Weltbank benutzten im Jahr 2015 ungefähr 17 Prozent der Bevölkerung das Internet, verglichen mit 5 Prozent im Jahr 2011. Es gibt offensichtliche Einschränkungen des Internetzugangs und es gibt glaubwürdige Berichte, dass die Regierung die E-Mail- und Internet-Kommunikation überwacht, ohne dafür eine tatsächliche rechtliche Befugnis zu besitzen. Die Regierung gab zu, dass sie im Jahr 2016 in einigen Gebieten des Landes auf Grund der Verschlechterung der Sicherheitslage und auf Grund der destruktiven Nutzung sozialer Medien durch den IS den Internetzugang manipulierte. Es gab keine Berichte, dass die Regierung Social-Media-Blackouts durchführte. Die Regierung ließ ab und zu während Protesten den Internetzugang stilllegen, sowie auch während Schulprüfungs-Zeiten - angeblich, damit die Schüler nicht schummeln können (USDOS 3.3.2017). Anm.: Zur Manipulation des Internetzuganges von Medienunternehmen durch die Regierung siehe oben.

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

USDOS - US Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Iraq,

http://www.ecoi.net/local_link/337187/479950_de.html , Zugriff 6.8.2017

 

9 Versammlungsfreiheit

 

Die Verfassung vom 15.10.2005 (Art. 38 C und 39) sieht die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unter dem Vorbehalt der öffentlichen Ordnung vor und stellt die nähere Ausgestaltung durch ein Gesetz in Aussicht, das es aber noch nicht gibt. Im Alltag wird die Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch das seit dem 7.11.2004 geltende "Gesetz zur Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit" eingeschränkt, das u. a. die Verhängung eines bis zu 60-tägigen Ausnahmezustands ermöglicht. Die wöchentlichen Demonstrationen gegen

 

Korruption seit August 2015 bis in die zweite Jahreshälfte 2016 konnten weitgehend ungestört stattfinden (AA 7.2.2017). Die meisten der Demonstrationen im Süden waren von massiver Sicherheitspräsenz begleitet und waren friedlich. In Nassiriyah kam es im Februar 2016 jedoch zu gewaltsamen Ausschreitungen, nachdem die Demonstranten das Büro der Da'wa-Partei erreicht hatten. Maskierte Männer kamen aus dem Büro und schlugen die Demonstranten mit Stöcken. Die Polizei war anwesend, unternahm jedoch nichts, und niemand wurde zur Verantwortung gezogen. In einigen Fällen löste die Regierung nicht-genehmigte Demonstrationen auf oder schränkte Demonstrationen aus Sicherheitsgründen ein (USDOS 3.3.2017). Anm.: Zu den in Bagdad stattfindenden Demonstrationen, die teilweise auch gewaltsam sind und mit Todesopfern (mehrmalige Erstürmung der Green Zone) siehe in Abschnitt "Sicherheitslage in Bagdad".

 

In den Kurdengebieten gab es einige Berichte von Gewalt während Demonstrationen, sowie Einmischung von [regional-]behördlicher Seite (USDOS 3.3.2017). In Sinjar beispielsweise feuerten die Sicherheitskräfte der KRG während einer Demonstration im März 2017 auf die Demonstrierenden, wobei eine Person getötet und zumindest 7 Personen verletzt wurden (HRW 30.3.2017).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

10 Todesstrafe

 

Im irakischen Strafrecht ist die Todesstrafe vorgesehen, sie wird auch verhängt und vollstreckt. Irak ist eines der Länder mit der höchsten Zahl von verhängten Todesstrafen. Sie

 

wurde von der ehemaligen US-Besatzungsbehörde kurzzeitig suspendiert, von der irakischen Interimsregierung am 8. August 2004 unter Verweis auf die Ausnahmesituation im Irak aber wieder eingeführt. Derweil werden vor allem gegen IS-Kämpfer, die in fragwürdigen Prozessen überführt wurden, zunehmend Todesurteile verhängt und vollstreckt (2015: mind. 26 Hinrichtungen; 2016: mind. 71 Hinrichtungen und über 123 neue Todesurteile). Problematisch sind zudem die Bandbreite und die mitunter fehlende rechtliche Klarheit der Straftatbestände, für die die Todesstrafe verhängt werden kann:

neben Mord und Totschlag u.a. auch wegen des Verdachts auf staatsfeindliche Aktivitäten, Vergewaltigung, Einsatz von chemischen Waffen und insbesondere wegen terroristischer Aktivitäten unterschiedlicher Art (AA 7.2.2017). Der UN-Ausschuss gegen Folter sprach von "einem durchgängigen Muster, nach dem mutmaßliche Terroristen und andere Verdächtige, die als hohes Sicherheitsrisiko angesehen werden, einschließlich Minderjähriger, ohne Haftbefehl festgenommen, über lange Zeiträume in Isolationshaft gehalten oder in geheimen Internierungsanstalten untergebracht und grausam gefoltert werden, damit sie ein Geständnis ablegen (UNHCR 14.11.2016). Der öffentliche und der politische Druck auf die Behörden, "Terroristen" hinzurichten, erhöhte sich nach einem Selbstmordanschlag im Karrada-Viertel von Bagdad in der Nacht vom 2. auf den 3. Juli 2016, bei dem fast 300 Menschen getötet wurden, die meisten von ihnen Zivilpersonen. Der Anführer einer Miliz drohte, zum Tode verurteilte Häftlinge im Nasriya-Gefängnis zu töten, sollte die Regierung nicht tätig werden. Am 12. Juli 2016 unterzeichnete Präsident Fuad Masum eine Reform des Strafverfahrensrechts, die Einschränkungen für Wiederaufnahmeverfahren vorsah, um auf diese Weise den Vollzug von Hinrichtungen zu beschleunigen (AI 22.2.2017). Im August des Jahres 2016 exekutierten die Behörden 36 Männer, die in einem Scheinprozess für schuldig befunden wurden, an Massenexekutionen schiitischer Armeerekruten durch den IS in Camp Speicher teilgenommen zu haben (HRW 12.1.2017). Die Verfahren dauerten nur wenige Stunden. Das Gericht ignorierte unter anderem dabei die Vorwürfe der Angeklagten, ihre "Geständnisse" seien während der Untersuchungshaft unter Folter erpresst worden (AI 22.2.2017). Im August 2017 kam es zuletzt zu einer zweiten Massenverurteilung in Zusammenhang mit dem Camp Speicher-Massaker. Dabei wurden 27 Männer zum Tode verurteilt (CNN 8.8.2017).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

11 Religionsfreiheit

 

Die Verfassung erklärt den Islam als die offizielle Religion und legt fest, dass kein Gesetz beschlossen werden darf, das den "bestehenden Vorschriften des Islam" widerspricht. Die Verfassung gewährt das Recht auf Religionsfreiheit für Muslime, Christen, Jesiden, und Saebäer/Mandäer. Das Gesetz verbietet allerdings das Ausüben des Bahai-Glaubens und des wahabitischen Zweiges des sunnitischen Islam (USDOS 10.8.2016).

 

Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im Parlament vertreten. Grundlage bildet

 

ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze (fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie

 

jeweils einen Sitz für Yeziden, Sabäer, Mandäer und Schabak. Das kurdische Regionalparlament sieht jeweils fünf Sitze für Turkmenen, Chaldäer und Assyrische Christen

 

sowie einen für Armenier vor (AA 7.2.2017).

 

Der Verfassungsentwurf der KRG enthält die Scharia als eine der Gesetzesquellen, jedoch verbietet er nicht die Existenz von Gesetzen, die das islamische Recht verletzen (wie dies in der irakischen Verfassung festgeschrieben ist), außerdem anerkennt er die Rechte von Nicht-Muslimen (UNCIRF 26.4.2017). Anm.: In der Praxis sind Personen bei der Ausübung ihrer Religion in vielen Punkten de-facto eingeschränkt. S. dazu auch die Abschnitte Minderheiten, Menschenrechte, etc.

 

Es existieren zwar keine Gesetze im irakischen Zivil- oder Strafrecht, die Strafen für Personen vorsehen, die vom islamischen Glauben abfallen, es gibt jedoch Gesetze und Regulierungen, die die Konversion vom islamischen Glauben zu anderen Religionen verhindern. Iraks Muslime sind aber darüber hinaus auch nach wie vor der Scharia, dem islamischen Recht, untergeordnet. Dieses verbietet Apostasie, also den Abfall vom islamischen Glauben. Menschen, die den islamischen Glauben ablegen wollen, sind darüber hinaus oft ernsthafter Verfolgung durch die Gesellschaft ausgesetzt, werden zum Teil sogar getötet, oftmals von den eigenen Angehörigen/Bekannten. Feindseligkeiten gegenüber den Konvertiten oder Atheisten sind im Irak weit verbreitet (IRB 10.6.2014, vgl. IRB 2.9.2016).

 

Massive Einschränkungen der Religionsfreiheit gibt es insbesondere im IS-Gebiet: Der IS ging nach wie vor gewaltsam gegen Mitglieder aller Glaubensbekenntnisse vor, insbesondere gegen Nicht-Sunniten. In Gebieten, die unter der Kontrolle des IS stehen, beging dieser Morde, Massenexekutionen, Vergewaltigungen, Entführungen, Verhaftungen, Massenvertreibungen und Versklavung von Frauen und Mädchen, die religiösen Minderheiten angehören (USDOS 10.8.2016).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

Minderheiten:

 

Traditionelle Stammesstrukturen und ethnisch-religiöse Zugehörigkeiten bestimmen die gesellschaftlichen und politischen Loyalitäten bzw. Konfliktlinien. Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60 bis 65% der Bevölkerung ausmachen (AA 7.2.2017), [gemäß CIA-Factbook 55-60 Prozent (CIA 2010)] und vor allem den Süden und Südosten des Landes bewohnen; (arabische) Sunniten (17 bis 22%) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak (aus dieser Gruppe stammte bis zum Ende der Diktatur von Saddam Hussein 2003 der größte Teil der politischen und militärischen Führung) und die vor allem im Norden des Landes lebenden überwiegend sunnitischen Kurden (15 bis 20%). Entlang dieser Linien hat sich auch die Parteienlandschaft gebildet. Angehörige der religiösen Minderheiten, die traditionell besonders im arabisch-kurdischen Grenzgebiet siedelten, haben teilweise eine eigene ethnisch-religiöse Identität bewahrt, betrachten sich häufig aber auch als Kurden oder Araber (AA 7.2.2017). In der Hauptstadt Bagdad wird die Mehrheit der Bevölkerung von den schiitischen Arabern gestellt (USDOS 10.8.2016).

 

Sunnitische Araber

 

Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes

 

bildete, wurde nach Entmachtung Saddam Husseins 2003 insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Maliki (2006 bis 2014) aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es ihr weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Die Sunniten leben mehrheitlich in den am stärksten umkämpften Gebieten der Provinzen Anbar und Ninewah. Einige bekennen sich nicht mehr zu ihrer Konfession und versuchen dadurch, Benachteiligungen zu umgehen. (AA 7.2.2017). Insbesondere ist die Lage von Sunniten, die aus (ehemaligen) IS-Gebieten stammen, sehr schlecht (UNHCR 14.11.2016). Ca. 60 Prozent der IDPs im Irak sind sunnitische Araber - laut US-Department of State selbst handelt es sich dabei jedoch um eine ungenaue Schätzung (USDOS 10.8.2016). Anm.: S. dazu, sowie zu anderen Themen bzgl. der sunnitischen Araber auch die Abschnitte Menschenrechtslage, politische Lage, IDPs und Flüchtlinge, etc.

 

12 Grundversorgung / Wirtschaft

 

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen

 

gewährleisten. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Nach Angaben des Programms "Habitat" der Vereinten Nationen gleichen die Lebensbedingungen von 57% der städtischen Bevölkerung im Irak denen von Slums (AA 7.2.2017). Das Land befindet sich in einer anschwellenden humanitären Krise, die durch anhaltende Konflikte, beschränkten Zugang zu humanitären Hilfsleistungen, zunehmendes Versagen bestehender Bewältigungsmechanismen und finanzielle Engpässe gekennzeichnet ist. Durch den Konflikt und die anhaltende Vertreibung und Unterbrechung der Grundversorgung ist der Bedarf an humanitärer Hilfe laut Berichten schnell eskaliert. Schätzungsweise über 10 Mio. Menschen, d. h. fast ein Drittel der Bevölkerung, benötigen derzeit humanitäre Hilfe im Irak, einschließlich Binnenvertriebener, Rückkehrer, Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern sowie der Menschen, die in Gebieten leben, die vom IS kontrolliert werden (UNHCR 14.11.2016). Es gibt derzeit im Irak mehr schutzbedürftige Menschen und mehr Menschen, die auf humanitäre Unterstützung angewiesen sind, als zu irgendeinem Zeitpunkt der letzten Jahre (OCHA 7.3.2017). Dennoch erreichen die humanitären Hilfsorganisationen derzeit nur 7,3 Mio. Menschen (UNHCR 14.11.2016). Aufgrund des Ausmaßes und der Komplexität der humanitären Krise haben die Vereinten Nationen im August 2014 die "Notstandstufe 3" - die höchste Stufe - für den Irak ausgerufen und seitdem jedes Jahr bestätigt (UNHCR 14.11.2016; aktuell s. OCHA o. D.). ACAPS kategorisiert die humanitäre Krise im Irak als "severe humanitarian crisis" - dies stellt innerhalb dieser Kategorisierung ebenfalls die höchste Stufe dar:

 

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(ACAPS 7.6.2017)

 

Die folgende Grafik von UNOCHA (Stand März 2017) zeigt je nach Provinz die Anzahl der Menschen, die auf humanitäre Unterstützung angewiesen sind bzw. wären, sowie die Bereiche des Landes, die für humanitäre Organisationen schwer zugänglich sind:

 

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(OCHA 7.3.2017)

 

Die humanitäre Situation ist in Regionen, die vom IS kontrolliert werden, und in Konfliktgebieten besonders besorgniserregend, da die Bevölkerung keinen oder nur erheblich eingeschränkten Zugang zu grundlegender Versorgung, Nahrungsmitteln und sonstigen Bedarfsgütern hat, und internationale Organisationen diese Menschen kaum erreichen können. Den Konfliktparteien wurde auch vorgeworfen, dass sie Zivilgebiete belagern und absichtlich von Nahrungsmittelzufuhr und humanitärer Hilfe abschneiden (UNHCR 14.11.2016). Angriffe auf Krankenhäuser und Schulen kommen häufig vor und das Vorenthalten von humanitärer Hilfe sowie das Zerstören grundlegender Infrastruktur wie Wasser- und Stromversorgung werden als Kriegswaffe eingesetzt (UNICEF o.D.). Anm.: Zur Grundversorgung in vom IS zurückeroberten Gebieten s. den Abschnitt zu IDPs und Flüchtlingen.

 

In den Aufnahmegemeinden sind die örtlichen Behörden und Gemeinden Berichten zufolge überlastet, und es wird gemeldet, dass sich der Zugang zu Dienstleistungen, der bereits vor dem jüngsten Konflikt nicht ausreichte, nun weiter verschlechtert hat, einschließlich Trinkwasserversorgung, sanitärer Anlagen, Abfallentsorgung, Bildungseinrichtungen und Gesundheitsversorgung. Berichten zufolge sind Binnenvertriebene von der schlechten Versorgungslage besonders betroffen, da sie oftmals von ihren ehemaligen Einkommensquellen, traditionellen sozialen Netzwerken und sonstigen Auffangmechanismen abgeschnitten sind. Für Mitglieder der ärmsten Haushalte sowie für Haushalte, die von Frauen geführt werden, ist es besonders schwer, eine Stelle oder Verdienstmöglichkeit in der Aufnahmegemeinde zu finden, und viele müssen auf sogenannte "negative Bewältigungsstrategien" zurückgreifen (UNHCR 14.11.2016). Die Stromversorgung ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung häufig unterbrochen (AA 7.2.2017).

 

Wasser, Sanitäreinrichtungen und Hygiene

 

Die Wasserversorgung wird von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr (AA 7.2.2017). Das Fehlen eines kontinuierlichen und gerecht verteilten Zugangs zu sicherem Wasser und sicheren sanitären Einrichtungen sowie zu notwendigen Hygieneartikeln hat einen negativen Einfluss auf die allgemeine Gesundheit im Land. Im Jahr 2011 hatten 91 Prozent der irakischen Bevölkerung Zugang zu einer verbesserten Trinkwasserquelle, aber seit damals haben Entwicklungen wie politische Instabilität, andauernde Gewalt und interne Vertreibung zur Zerstörung, zum Zusammenbruch und zu massiver Überlastung von Wasser-/Sanitär- und Hygieneeinrichtungen im ganzen Land geführt. Derzeit befinden sich im Irak 6,3 Millionen Menschen bezüglich ihrer Versorgung mit sicherem Wasser und ihrer sanitären sowie Hygieneversorgung in kritischer Notlage (OCHA 7.3.2017). Laut Auswärtigem Amt verfügt heute im ganzen Land nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (AA 7.2.2017). Die folgende Grafik zeigt den Schweregrad betreffend der verschiedenen Gebiete des Irak, der geschlechtlichen - sowie der Altersverteilung:

 

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(OCHA 7.3.2017)

 

Nahrungsmittelversorgung

 

Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Die VN-Mission ermittelte schon im Juni 2013, dass vier Millionen Iraker unterernährt sind. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (2 USD/Tag) (AA 7.2.2017). Auf Grund des Fortschreitens der Krise sind Millionen von Haushalten, die von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind, massiv auf Unterstützung angewiesen. In solchen betroffenen Haushalten wird häufig auf "negative Bewältigungsstrategien" umgestellt, um den Nahrungsmittelbedarf decken zu können. Ungefähr 800.000 Einwohner und 138.000 IDPs leiden im Irak unter Nahrungsmittelunsicherheit - die Menschen in Mossul, Anbar und Hawija nicht einberechnet (OCHA 7.3.2017).

 

Unterkunft

 

Die Zahl der Menschen, die bezüglich Unterkunft und bezüglich anderer "Nicht-Lebensmittel" (non-food items) auf Unterstützung angewiesen sind, hat sich seit 2016 um 95 Prozent auf 3,9 Millionen erhöht (OCHA 7.3.2017). Die folgende Grafik zeigt die Zahl der Betroffenen in den meistbetroffenen Provinzen des Landes:

 

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(OCHA 7.3.2017).

 

Einkommen/Arbeitsplätze

 

Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Mio. der 36 Mio. Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt wurden. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor (AA 7.2.2017). Die folgende Grafik zeigt - je nach Provinz - den Anteil jener Personen, die keinen Zugang zu einem Einkommen haben:

 

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(OCHA 7.3.2017)

 

Anm.: Zur Wirtschafts- und Versorgungslage in der Kurdenregion s. den Abschnitt "Sozioökonomische und Menschenrechtslage im Kurdischen Autonomiegebiet und den von kurdischen Streitkräften kontrollierten Gebieten".

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

 

13 Medizinische Versorgung

 

Die medizinische Versorgungssituation bleibt angespannt: In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführungen oder Repressionen das Land verlassen (AA 7.2.2017). Geschätzte 75 Prozent der Ärzte, Pharmakologen und Krankenpfleger haben seit 2003 ihre Arbeit niedergelegt, wodurch ein massiver Versorgungsmangel entsteht. Etwa 60 Prozent des medizinischen Fachpersonals, das das Land verlassen hat, tat dies aufgrund der Sicherheitslage (CR 7.7.2016).

 

Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Korruption ist verbreitet. Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Hinzu kommt, dass durch die Kampfhandlungen nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch schwierige Schusswunden und Kriegsverletzungen behandelt werden müssen (AA 7.2.2017). Die Jahre des bewaffneten Konflikts haben das Gesundheitssystem ernsthaft deformiert und im Irak gibt es beträchtliche Lücken bei der Bereitstellung von medizinischen Leistungen, auch wenn es regionale Unterschiede gibt. In Konfliktzonen sind viele Gesundheitseinrichtungen außer Betrieb oder zerstört (AIO 12.6.2017). In den am meisten betroffenen Provinzen Anbar, Kirkuk, Ninewah und Salahuddin wurden geschätzt 23 Krankenhäuser und über 230 medizinische Versorgungseinrichtungen beschädigt oder zerstört (OCHA 7.3.2017). Angriffe auf Spitäler und Schulen sind häufig und die Verweigerung von humanitärer Unterstützung und die Zerstörung von grundlegenden Diensten wie Wasser- und Stromversorgung werden als Kriegswaffe eingesetzt (UNICEF o.D.). Jenen Gesundheitseinrichtungen, die weiterbetrieben werden, fehlt es häufig an der Kapazität für den erhöhten Bedarf an zu Versorgenden, insbesondere in Gebieten mit einer hohen Zahl an IDPs, wie in der Region Kurdistan (AIO 12.6.2017).

 

Die folgende Grafik des Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) der Vereinten Nationen zeigt den Schweregrad bezüglich der Zahl von Menschen, die in medizinischer Notlage sind, nach Regionen, Alter und Geschlecht. Die darunterliegende Grafik gibt einen Überblick über die Zahl der Betroffenen anhand der Provinzen:

 

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(OCHA 7.3.2017)

 

Neben dem bewaffneten Konflikt und der großen Menge an IDPs tragen auch noch der Ausbruch von Krankheiten (mitausgelöst durch die beeinträchtigte Wasserversorgung und die Unterbrechung bei Schutzimpfungsprogrammen), sowie Finanzierungsengpässe zur Verschlimmerung bei. Es gibt einen weit verbreiteten Mangel an wesentlichen Medikamenten, Sanitätsartikeln und Nahrungsergänzungen. Laut Schätzungen haben mehr als 7,7 Millionen Menschen (laut anderer Quelle mehr als 8 Millionen Menschen) dringenden Bedarf an wesentlichen medizinischen Dienstleistungen. Seit Ende 2015 gibt es im Irak einen Cholera-Ausbruch und es besteht darüber hinaus ein erhöhtes Risiko, an Typhus, Gelbsucht oder Masern zu erkranken (WHO 2016, vgl. OCHA 7.3.2017). Im gesamten Land gibt es für schwangere Frauen nur eingeschränkten Zugang zu reproduktiven Gesundheits- und Beratungsdiensten, zu prä- und postnataler Versorgung und sicheren Geburtseinrichtungen. Diese Situation ist in verschärftem Ausmaß in Flüchtlingslagern oder anderen Umgebungen zu beobachten, in denen es einen mangelhaften Zugang zu Gesundheitsversorgung in diesem Bereich gibt. Darüber hinaus sehen sich schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen verschiedenen Barrieren beim Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung gegenüber, beispielsweise auf Grund der Sicherheitslage, der ethnischen Zugehörigkeit oder finanzieller Schwierigkeiten (OCHA 7.3.2017).

 

Gemäß WHO lag im Jahr 2014 die Dichte von primären medizinischen Einrichtungen im Irak bei 0,7 auf 10.000 Einwohner (MedCOI 2017). In ungefähr der Hälfte der medizinischen Zentren arbeitet zumindest ein Arzt/ eine Ärztin, im Rest der Versorgungszentren arbeiten geschulte Gesundheitskräfte wie medizinische HelferInnen und KrankenpflegerInnen.

 

Das Gesundheitsministerium ist der Hauptanbieter im Gesundheitsbereich. Das öffentliche Gesundheitssystem basiert auf einem Kostenteilungsmodell, bei dem die Regierung die Kosten für die medizinischen Dienstleistungen übernimmt und dem Patienten eine geringe Gebühr in Rechnung stellt. Der Mangel an politischer Stabilität und Staatssicherheit im Irak hindert den Staat jedoch daran, die allgemeine Gesundheitsversorgung der Bevölkerung abzudecken. Der private Sektor bietet ebenfalls heilmedizinische Leistungen an, diese können jedoch, wenn weitere Leistungen nötig werden (z.B. MRT, Medikamente oder operative Eingriffe) für ärmere Familien kostspielig sein (MedCOI 2017).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

 

14 Behandlung nach Rückkehr

 

Auf niedrigem Niveau ist eine freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten zu beobachten. In der Region Kurdistan-Irak gibt es mehr junge Menschen,

 

die sich nach ihrer Rückkehr organisieren, ob sich diese Tendenzen verstetigen, wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 7.2.2017). Aus Österreich kehrten in der ersten Jahreshälfte 2017 in Etwa 346 Iraker freiwillig in den Irak zurück - von diesen fast alle im Zuge einer sogenannten unterstützen Rückkehr (BFA 11.8.2017). Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig - u. a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort (AA 7.2.2017). Anm.: Zur Lage von (IDP‑)Rückkehrern, zu Bedrohungen durch Milizen und andere Akteure, sowie zu Einschränkungen von Zutritts- und Aufenthaltsgenehmigungen siehe die Abschnitte "IDPs und Bewegungsfreiheit", sowie "Menschenrechtslage".

 

Dokumente

 

Irakische Reisepässe, die nach dem 17.Juni 1999 abgelaufen sind, bleiben zur Rückkehr in den Irak gültig. Die Regierung erkennt die vom alten Regime für ungültig erklärten Pässe der Serie H im Rahmen ihrer Gültigkeitsdaten an. Pässe der Serie M werden seit 01.Jänner 2007 nicht mehr anerkannt, Pässe der Serie N sind seit 1. Jänner 2008 nicht mehr gültig. Es sind vereinzelt noch Pässe der Serie S im Umlauf, die mittlerweile von den EU-Staaten, Jordanien und den USA nicht mehr anerkannt werden. Von 2006 bis 2009 gab die Regierung Pässe der Serie G aus, seit dem 1. Oktober 2010 werden nur noch Pässe der Serie A ausgestellt. Die Pässe der alten Serie G behalten ihre Gültigkeit. Irakische Blanko-Pässe der Serie A 4091901 - bis A 4150000 sind nicht mehr gültig; diese stammten aus der Provinz Anbar. Die neuen irakischen Pässe enthalten einen maschinenlesbaren Abschnitt sowie einen 3D-Barcode und gelten als fälschungssicherer im Vergleich zu den Vorgängermodellen, v. a. können diese nur noch persönlich und nicht mehr durch Dritte beantragt werden. Die irakischen Botschaften haben erst vereinzelt begonnen, Pässe auszustellen. An den Grenzen zu den Nachbarstaaten haben sich in den letzten Monaten immer wieder Änderungen der Ein- und Ausreisemöglichkeiten, Kontrollen, Anerkennung von Dokumenten etc. ergeben. Nach wie vor muss mit solchen Änderungen - auch kurzfristig - gerechnet werden (AA 7.2.2017).

 

Die irakische Regierung stellte im USDOS-Berichtszeitraum 2016 für hunderte auf die Abschiebung aus den USA wartende irakische Staatsbürger die entsprechenden Reisedokumente nicht aus, und gab an, dass es sich um Staatenlose handelt (USDOS 3.3.2017).

 

Echtheit der Dokumente / Zugang zu gefälschten Dokumenten

 

Jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, ist gegen Bezahlung zu beschaffen. Zur Jahresmitte 2014 tauchten vermehrt gefälschte Visaetiketten auf. Auch gefälschte Beglaubigungsstempel des irakischen Außenministeriums sind im Umlauf; zudem kann nicht von einer verlässlichen Vorbeglaubigungskette ausgegangen werden (AA 7.2.2017).

 

Quellen:

 

 

 

 

USDOS - US Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Iraq,

http://www.ecoi.net/local_link/337187/479950_de.html , Zugriff 21.7.2017

 

2. Beweiswürdigung:

 

2.1. Zum Verfahrensgang:

 

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

 

2.2. Die oben getroffenen Feststellungen beruhen auf den Ergebnissen des vom erkennenden Gericht auf Grund der vorliegenden Akten und Abhaltung einer mündlichen Verhandlung vorgenommenen Ermittlungsverfahrens und werden in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung als maßgeblicher Sachverhalt zugrunde gelegt:

 

2.2.1. Die Feststellungen zur Ausreise aus dem Irak und zur Einreise in Österreich, sowie zu dem gegenständlichen Asylantrag ergeben sich aus dem diesbezüglich unbestrittenen Akteninhalt.

 

Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität (Namen und Geburtsdatum), zur Staatsangehörigkeit, zur Muttersprache, zur Volksgruppenzugehörigkeit, zum Glaubensbekenntnis, zum Familienstand, zur Obsorgefreiheit sowie zum Gesundheitszustand und der Arbeitsfähigkeit des BF getroffen wurden, beruhen diese auf den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, jenen weder in der gegenständlichen Beschwerde noch in der mündlichen Verhandlung und schriftlichen Stellungnahme entgegengetreten wurde.

 

Die familiären Anknüpfungspunkte im Irak, das Kontakthalten zu diesen, der Liegenschaftsbesitz im Herkunftsstaat, der Schulbesuch im Irak sowie die Geburt und das Aufwachsen in Bagdad beruhen auf dem konsistenten Vorbringen des BF vor der belangten Behörde und der mündlichen Verhandlung.

 

Die Feststellung, dass der BF vor seiner Ausreise aus dem Irak in der Lage war seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften folgt dem Vorbringen des BF vor der belangten Behörde, wonach er und seine Familie in mittelmäßigen finanziellen Verhältnissen gelebt hätte und er sich mit Ersparnissen seine Flucht finanzieren hätte können.

 

Die Nichtfeststellbarkeit des Besuches eines Deutschsprachkurses, der Absolvierung einer Deutschsprachprüfung sowie des Besitzes von Deutschsprachkenntnissen eines bestimmten Niveaus, beruhen auf der Nichtvorlage diesbezüglicher Unterlagen. Die bloße Behauptung eine Deutschsprachprüfung auf dem Niveau A1 abgelegt zu haben und demnächst eine solche der Niveaustufe A2 absolvieren zu wollen genügt nicht als Beweis. Insbesondere, da der BF in der mündlichen Verhandlung nicht in der Lage war die an ihn auf Deutsch gestellten Fragen zu verstehen und diese auf Deutsch zu beantworten.

 

Die gemeinnützigen Tätigkeiten des BF sowie die sozialen Anknüpfungspunkte in Österreich beruhen auf den Vorbringen des BF in dessen Beschwerde und mündlichen Verhandlung sowie den in Vorlage gebrachten Unterlagen und Empfehlungsschreiben und ergibt sich die Nichtfeststellbarkeit eines gemeinsamen Haushaltes und/oder Abhängigkeitsverhältnisses in Bezug auf die privaten Kontakte des BF in Österreich aus dem Datenbestand des ZMR, wonach der BF in einer öffentlichen Unterkunft untergebracht ist und dem Bezug von - unterhaltssichernden - Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Darüber hinaus hat der BF ein Abhängigkeitsverhältnis und eine maßgebliche gemeinsame Haushaltführung nicht konkret behauptet.

 

Die strafgerichtliche Unbescholtenheit sowie der Bezug von Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung beruhen auf dem Amtswissen des erkennenden Gerichts (Einsicht in das Strafregister der Republik Österreich und GVS-Informationssystem) und ergibt sich die Erwerbslosigkeit auf dem Vorbringen des BF sowie einem Sozialversicherungsauszug.

 

Die Unterbringung des BF in einer öffentlichen Unterkunft erschließt sich aus den Datenbeständen des ZMR und des GVS-Informationssystem, welche sich mit dem Vorbringen des BF decken.

 

Das Fehlen berücksichtigungswürdiger familiärer Bezugspunkte in Österreich erschließt sich aus dem Umstand, dass der BF vorbrachte nur über einen Bruder im Bundesgebiet zu verfügen und dieser laut Datenbestand des Zentralen Fremdenregisters jedoch selbst Asylwerber ist.

 

Das Fehlen sonstiger Integrationsanhaltspunkte beruht auf dem Nichtvorbringen eines diesbezüglichen Sachverhaltes seitens des BF.

 

2.2.2. Das Vorbringen des BF zu den Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaates und seiner Situation im Fall der Rückkehr in diesen, beruht auf den Angaben desselben in dessen Erstbefragung und in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde sowie auf den Ausführungen in der Beschwerde, der mündlichen Verhandlung und schriftlichen Stellungnahme.

 

Wie sich aus der Erstbefragung und den Einvernahmen im Verfahren vor der belangten Behörde ergibt, hatte der BF ausreichend Zeit und Gelegenheit seine Fluchtgründe umfassend und im Detail darzulegen sowie allfällige Beweismittel vorzulegen. Im Übrigen wurde dieser von der belangten Behörde auch zur umfassenden und detaillierten Angabe von Fluchtgründen und zur Vorlage von allfälligen Beweismitteln aufgefordert sowie über die Folgen unrichtiger Angaben belehrt. Dem BF wurde dabei wiederholt seitens des BFA die Möglichkeit geboten in freier Erzählung sowie unter Beantwortung konkreter Fragen, seine Fluchtgründe darzulegen. Die Richtigkeit der jeweiligen Protokolle (Erstbefragung und Niederschrift) und alles darin niederschriftlich Festgehaltenen, wurde seitens des BF mittels seiner Unterschrift bestätigt.

 

Insofern der BF nunmehr erstmalig in der gegenständlichen Beschwerde vorbringt aufgrund der nur kurzen Einvernahmen sowohl bei dessen Erstbefragung und niederschriftlichen Einvernahme am Vorbringen des gesamten Sachverhaltes gehindert gewesen zu sein, ist entgegenzuhalten, dass der BF weder vor der belangten Behörde allfällige Mängel bei der Erstbefragung thematisiert noch am Ende der Niederschrift beim BFA allfällige Mängel bekanntgegeben hat. Letztlich wurde der BF vor dem BFA explizit gefragt ob er alles vorbringen hat können und diesem zudem die Möglichkeit eingeräumt abschließende Ergänzungen anzubringen. Davon ausgehend, dass eine von Verfolgung bedrohte Person keine Möglichkeit zur Darlegung ihrer Fluchtgeschichte und Aufzeigen seiner Gefährdung im Falle seiner Rückkehr auslassen würde, vermochte der BF sohin mit seinem nunmehrigen Vorbringen keine hinreichende Möglichkeit zur Darlegung seiner Fluchtgeschichte geboten bekommen zu haben die besagten Protokolle nicht in Frage zu stellen. Dies wird zudem durch den Umstand untermauert, dass der BF in der mündlichen Verhandlung konkret auf seine Fluchtgründe, welche er vor dem BF ausgebreitet hätte befragt vorgebracht hat, bei seinen Angaben vor der Erstbehörde (BFA) zu bleiben und nichts zu ergänzen zu haben. Wäre dem BF tatsächlich nicht hinreichend die Möglichkeit geboten worden sich im Verfahren vor der belangten Behörde zu äußern, könnte nicht nachvollzogen werden, weshalb der BF dann in der mündlichen Verhandlung explizit auf seine Aussage vor der belangten Behörde verweisen hätte sollen, anstelle die Gelegenheit zu nutzen und Ergänzungen vorzubringen.

 

Das BVwG schließt sich im Ergebnis der Beurteilung der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des Vorbringens des BF an und erachtet dessen Vorbringen hinsichtlich des Bestehens einer Verfolgung aus folgenden Erwägungen als nicht glaubhaft:

 

Das Vorbringen des BF erweist sich zum einen als nicht konsistent und zum anderen als teils widersprüchlich. So gab der BF in der Erstbefragung an zuletzt als Bäcker im Irak gearbeitet zu haben und von schiitischen Milizen verfolgt zu werden. Vor der belangten Behörde gestand der BF ein gelogen zu haben, und nicht als Bäcker, sondern als Polizist im Irak gearbeitet zu haben. Nach einem Angriff des IS habe der BF seinen Einsatzort verlassen und sei nach Bagdad geflüchtet wo er sich mehrere Tage, zuletzt bei seiner Schwester, versteckt gehalten und mit der Unterstützung seines Schwagers auf offiziellen Wege aus dem Irak geflohen sei. Zuvor sei er zudem - vermeintlich - von schiitischen Milizen zur Gefolgschaft aufgefordert worden. Dieser Aufforderung sei der BF jedoch nicht nachgekommen und fürchte sich nun vor einer Verfolgung durch schiitische Milizen aufgrund seiner Religion sowie einer staatlichen Verfolgung aufgrund seiner Desertation, weswegen ihm bis zu 5 Jahre Freiheitsstrafe im Falle seiner Rückkehr drohen würden.

 

In der mündlichen Verhandlung verneinte der BF konkret befragt jemals eine Verfolgung durch den IS vorgebracht zu haben. Erst nach Verlesen der diesbezüglichen vor dem BF aufgenommenen Niederschrift und Wiedergabe des darin festgehalten Wortlauts durch den erkennenden Richter, wonach der BF eine Verfolgung durch den IS vorgebracht hat, gab der BF zu, dass dies stimme und er einer Verfolgung durch den IS ausgesetzt gewesen sei. Wenn auch die Erstbefragung überwiegend der Ermittlung der Reiseroute und nicht der genauen Erhebung der Fluchtgründe dient, so ist die Erhebung des Fluchtgrundes jedoch auch in diesem Rahmen, wenn auch nur oberflächlich, vorzunehmen (vgl. § 19 Abs. 1 AsylG) Wie auch der VwGH festhält, ist im Falle eines Erkennens auffälliger Abweichungen bei der in weiterer Folge vorgerbachten Fluchtgeschichte im Verhältnis zu jene in der Erstbefragung vorgebrachten, eine begründete Berücksichtigung dieses Umstandes im Asylverfahren zulässig (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0189).

 

Vor diesem Hintergrund erweist sich die Fluchtgeschichte des BF schon aufgrund deren Inkonsistenz als nicht glaubwürdig. Es lässt sich logisch nicht erschließen, weshalb der BF bei der Erstbefragung zu seinem Beruf lügen hätte sollen, anstelle seinen wahren Beruf und die damit im Zusammenhang stehenden Verfolgungsgründe offenzulegen. Auch kann nicht nachvollzogen werden, weshalb der BF eine Verfolgung wegen seiner Tätigkeit als Polizist bzw. Desertation vom Polizeidienst zur Gänze verschweigen und stattdessen einzig eine Verfolgung von schiitischen Milizen darlegen hätte sollen. Das Verschweigen einer Verfolgung wegen Desertation gepaart mit der Angabe eines anderen Berufes, hier Bäcker statt Polizist, bei der Erstbefragung und die erfolgte Steigerung des Vorbringens im weiteren Verfahren, lässt eine Glaubwürdigkeit des BF nicht zu vermitteln.

 

Der Versuch des BF mit dem Vorbringen vor seiner Tätigkeit bei der Polizei als Bäcker gearbeitet zu haben eine Begründung für seine Angaben in der Erstbefragung darzubieten, kann als Begründung nicht genügen. Mit Blick auf seine Angaben vor der belangten Behörde und der mündlichen Verhandlung, nämlich von 2000 bis 2012 die Schule besucht, von 05/2012 bis 06/2012 Militärdienst geleistet zu haben und 06/2012 der Polizei beigetreten zu sein, kann nicht erkannt werden, in welchem Zeitraum der BF als Bäcker erwerbstätig sein hätte sollen. Die Glaubwürdigkeit des BF hinsichtlich einer Tätigkeit als Polizist im Irak wird auch durch den Umstand untergraben, dass der BF in der mündlichen Verhandlung konkret nach seiner Bewaffnung befragt vorbrachte sowohl eine Faustfeuerwaffe und als auch eine Handfeuerwaffe im Dienst mitgeführt zu haben. Der Frage nach der Marke der Faustfeuerwaffe wich der BF mit der Behauptung aus, nur eine Faustfeuerwaffe geführt zu haben. Vor dem Hintergrund, dass der BF angab von 2012 bis 2014 als Polizist gearbeitet zu haben, ist es logisch nicht nachvollziehbar, wenn dieser nicht in der Lage ist seine konkrete über zwei Jahre lang mit sich geführte Bewaffnung nennen zu können. Die Korrektur des Vorbringens durch den BF in Reaktion auf eine konkrete Frage zu seiner Bewaffnung, lässt den Schluss nahe, dass der BF dieser Frage auszuweisen versucht hat. Dies wiederum lässt an der Glaubwürdigkeit des BF insofern zweifeln, als naheliegt, dass der BF über Lücken in seiner Fluchtgeschichte hinwegzutäuschen versucht.

 

Zudem vermochte der BF nicht darzulegen, weshalb er nach erfolgter Desertation und weiterem Verbleib im Irak nicht bereits vor seiner Ausreise von irakischen Behörden oder deren Vertretern zu Hause aufgesucht wurde und ihm trotz Fernbleibens vom Dienst über mehrere - mindestens 11 - Tage hinweg eine offizielle Ausreise aus dem Irak gelungen ist. Es kann nicht nachvollzogen werden, dass, nachdem ein Polizeistützpunkt vom IS gestürmt wurde und alle bzw. ein Großteil der dort dienstversehenden Polizisten die Flucht ergriffen haben, allfällig nicht wieder zum Dienst erscheinende Personen von den zuständigen Sicherheitsstellen im Irak unbehelligt geblieben wären. Die Erklärung des BF, dass es nicht üblich sei Deserteuren schon nach kurzer Zeit habhaft zu werden, kann als Entgegnung nicht genügen, mangelt es diesem Vorbringen nämlich jeglicher Logik. Eingedenk der Notwendigkeit gerade im Falle eines Angriffes terroristischer Vereinigungen auf die eigenen Staatsstrukturen den Sicherheitsapparat zu sichern bzw. zu stärken, erscheint es mehr als unwahrscheinlich auf das Fernbeleiben von Polizeibediensteten vom Dienst nicht zeitnah zu reagieren. So muss auch den Angaben des BF, durch die Nutzung eines Jugendfotos im Reisepass unbehelligt auf offiziellen Wege aus dem Irak ausgereist zu sein, jeglicher Begründungswert aberkannt werden. Es erschließt sich dem erkennenden Gericht nicht, wie allein das Alter eines Fotos in einem Ausweis eine Verhaftung bzw. eine Ausreise ermöglichen hätte sollen. Wenn auch das besagte Foto den BF in jüngeren Jahren gezeigt hätte, so wäre er dennoch aufgrund seines Namens zu identifizieren gewesen.

 

Letztlich vermochte der BF keine Dokumente vorlegen, welche seine Beschäftigung bei der irakischen Polizei oder konkrete Fahndung im Irak darlegen hätte können. In diesem Kontext ist auch darauf zu verweisen, dass laut Länderberichten im Irak Dokumente jeglichen Inhaltes gegen Entgelt erworben werden können, sodass deren Echtheit bzw. Glaubwürdigkeit per se zu hinterfragen wären. So gab der BF zudem vor der belangten Behörde an, seine Flucht im Besitz eines Reisepasses, Dienstausweises von der Polizei und einem Personalausweis angetreten, jedoch all seine Ausweise und Dokumente im Meer verloren zu haben. In der mündlichen Verhandlung wiederum gab der BF an, seinen Reisepass im Meer, seinen Dienstausweis jedoch schon im Irak während seiner Dienstzeit verloren zu haben. Auch vermeinte der BF vor der belangten Behörde als Flüchtling bei der UNHCR anerkannt worden zu sein und seine Asylkarte ebenfalls im Meer verloren zu haben. Wie im angefochtenen Bescheid festgehalten und vom BF nicht beanstandet - wurde dieser laut Anfragenbeantwortung durch UNHCR (siehe 273ff: Erhebungsbericht der Staatendokumentation) unter dem Namen Ameer Noori Shakir SHAKIR, geb. 01.01.1994, StA:

Irak als Asylwerber registriert. Eine inhaltliche Prüfung seines Fluchtvorbringens ist jedoch nicht vorgenommen worden und eine Anerkennung als Flüchtling sohin auch nicht erfolgt. Einen weiteren Widerspruch kann im Vorbringen des BF hinsichtlich seines angeblichen Ranges bei der irakischen Polizei erkannt werden. Vor dem BFA erwähnte er einen niedrigen Rang inngehabt zu haben, wobei er in der mündlichen Verhandlung vermeinte Offizier im Rang eines Leutnants gewesen zu sein. All dies lässt nicht erkennen, dass der BF eine wahre erlebte Begebenheiten darlegt, sondern versucht durch wiederholte Steigerung seines Vorbringens eine aussichtsreiche Fluchtgeschichte zu konstruieren und dabei durch das Vortragen alternativer Erzählungen von Defiziten und Detailmängel in seiner vorgetragenen Geschichte abzulenken und Scheinbegründungen anzubieten. Im Falle der Wiedergabe erlebter Ereignisse wäre jedenfalls davon auszugehen, dass der BF dies detailgetreu und konsistent wiedergeben könnte, was im gegenständlichen Fall jedoch nicht der Fall ist.

 

Vor diesem Hintergrund, insbesondere den vielen - aufgezeigten - Widersprüchlich- und Ungereimtheiten sowie untauglichen Entkräftigungsversuchen des BF, vermochte der BF eine Beschäftigung bei der irakischen Polizei und damit auch eine Desertation vom Polizeidienst nicht zu substantiieren.

 

Auch hinsichtlich des Vorbringens von schiitischen Milizen zur Gefolgschaft aufgefordert worden zu sein und seither von diesen verfolgt zu werden, vermochte der BF einen glaubwürdigen Sachverhalt nicht zu objektivieren. In der mündlichen Verhandlung gestand der BF vielmehr konkret zu seinen aktuellen Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen befragt ein, seine "Liebe" in Österreich nicht mehr verlassen zu wollen und im Falle seiner Rückkehr bis auf eine allfällige Inhaftierung aufgrund seiner Desertation keinen Problemen zu begegnen. Damit trat der BF seinem eigenen Vorbringen, von schiitischen Milizen verfolgt zu werden, selbst entgegen und entkräftete dieses zur Gänze.

 

Unbeschadet dessen, blieb der BF bei der Darlegung des besagten Fluchtgrundes äußerst vage. So gab er an, von ihm nicht bekannten Personen, welche er jedoch schiitischen Milizen zurechne, aufgrund seiner ehemaligen Polizeitätigkeit zur Gefolgschaft aufgefordert worden und in weiterer Folge zu seiner Schwester geflohen zu sein, bevor er letztlich aus dem Irak floh. Nähere Angaben zum Tathergang blieb der BF bis dato jedoch schuldig. So brachte der BF - neben einer vagen Beschreibung der Täter - nichts zum Wortlaut, Auftreten und zum tatsächlichen Ablauf der Kontaktierung durch die besagten Milizangehörigen vor. Zudem vermeinte der BF, mit seinen Familienangehörigen im Irak in Kontakt zu stehen und daher zu wissen, dass diese keiner Gefährdung ausgesetzt seien. Dies wiederum wiederspricht dem Vorbringen des BF von schiitischen Milizen wegen seiner Religion oder ehemaligen Tätigkeit verfolgt zu werden. Einerseits - wie oben ausgeführt - vermochte der BF eine Tätigkeit als Polizist nicht zu substantiieren und lässt der Umstand, dass die Familie des BF keinen Repressalien im Irak ausgesetzt ist, weder eine generelle noch eine konkrete Verfolgung von Sunniten oder dem BF im Irak, konkret in Bagdad, erkennen. Im Falle einer systematischen Verfolgung von Sunniten und/oder ehemaligen Polizeiangehörigen durch schiitische Milizen oder dem Herkunftsstaat selbst, wäre davon auszugehen, dass auch die Familienangehörigen des BF Repressalien, insbesondere aufgrund deren Glaubensbekenntnissen und des Versuches den Aufenthaltsort des BF in Erfahrung zu bringen um diesem habhaft zu werden, ausgesetzt wären.

 

Aus einer Gesamtschau der Angaben des BF ergibt sich - auch vor dem Hintergrund des Zurückdrängens des IS aus dem Großteil des Irak - sohin, dass eine im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bestehende und/oder dem Herkunftsstaat zurechenbare Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft gemacht wurde. Es konnte weder eine konkret gegen den BF gerichtete - herkunftsstaatliche oder private - Verfolgungsgefahr festgestellt werden, noch sind im Verfahren sonst Anhaltspunkte hervorgekommen, die eine mögliche derartige Verfolgung im Herkunftsstaat für wahrscheinlich erscheinen hätten lassen oder deren Rückkehr im Wege stehen könnten.

 

2.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:

 

Die gegenständlich getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den in das Verfahren eingebrachten und angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen. Es wurden dabei Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. Diese Quellen liegen dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vor und decken sich im Wesentlichen mit dem Amtswissen des BVwG, das sich aus der ständigen Beachtung der aktuellen Quellenlage (Einsicht in aktuelle Berichte zur Lage im Herkunftsstaat) ergibt.

 

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

 

Dem BF wurden die maßgeblichen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat zur Kenntnis gebracht und ihm im Anschluss daran zur Wahrung des Rechts auf Parteiengehör die Möglichkeit eingeräumt, zu den getroffenen Feststellungen eine Stellungnahme abzugeben, wovon dieser Gebrauch gemacht hat.

 

Der BF ist den getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat, die auf den in das Verfahren eingeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen beruhen, nicht substantiiert entgegengetreten. Mit der bloßen Vorlage von schlaglichtartig Problemlagen im Herkunftsstaat aufzeigender Länderberichten, vermochte der BF die Richtigkeit der Länderfeststellungen nicht zu erschüttern. Vielmehr zeigen diese die besagten Problemlagen ebenfalls auf und sparen diese nicht aus.

 

Es wurden somit im gesamten Verfahren keinerlei Gründe dargelegt, die an der Richtigkeit der Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Zweifel aufkommen ließen.

 

3. Rechtliche Beurteilung:

 

Zu Spruchteil A):

 

3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

 

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), droht.

 

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).

 

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318;

09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN;

19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131;

25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

 

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 05.11.1992, Zl. 92/01/0792; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).

 

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, Zl. 94/18/0263; 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht - diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann -, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).

 

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).

 

Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. "inländische Fluchtalternative" vor. Der Begriff "inländische Fluchtalternative" trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0503 und Zl. 98/01/0648).

 

Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße - möglicherweise vorübergehende - Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände iSd. Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, Zl. 98/20/0399; 03.05.2000, Zl. 99/01/0359).

 

3.1.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Beschwerde nicht begründet ist:

 

Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.

 

Eine gegen die Person gerichtete, vom Herkunftsstaat ausgehende, dem Herkunftsstaat zurechenbare oder von diesem geduldete Verfolgungsgefahr aus solchen Gründen wurde weder im Verfahren vor der belangten Behörde noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht glaubhaft gemacht.

 

Der BF als Angehöriger der muslimischen Glaubensgemeinschaft sunnitischer Glaubensrichtung ist in Bagdad im Verhältnis zu den Angehörigen der schiitischen Glaubensgemeinschaft in der Minderheit, jedoch konnte eine systematische Verfolgung und Diskriminierung der Sunniten im Irak, konkret in Bagdad, durch staatliche Stellen oder Privatpersonen im Lichte der vorliegenden aktuellen Länderberichte nicht festgestellt werden. Im Parlament, als auch generell auf politischer Ebene sind Angehörige der sunnitischen Glaubensgemeinschaft vertreten. Sunniten nehmen, trotz der überwiegenden Präsenz schiitischer Milizen, am gesellschaftlichen und politischen Leben im Irak insbesondere in Bagdad nach wie vor teil. Auch wenn die Kriegsgeschehnisse der vergangenen Jahre zu starken Ressentiments der Glaubensgruppen untereinander geführt haben, welche sich in Bagdad schließlich auch in die Bildung von "sunnitischen" und von "schiitischen" Vierteln niedergeschlagen hat, ist es für Angehörige der sunnitischen Glaubensgemeinschaft dennoch möglich, im Irak zu leben, zu arbeiten, staatliche und politische Posten zu besetzen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

 

Letztlich konnte der "IS" aus dem Großteil des Irak verdrängt und dessen Herrschaft entscheidend gebrochen werden, sodass eine konkrete gegen den BF gerichtete Verfolgung seitens dieses aktuell ebenfalls nicht festgestellt werden kann.

 

Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen keine Verfolgung im Sinne der GFK dar.

 

Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, war in der Folge davon auszugehen, dass eine asylrelevante Verfolgung nicht existiert.

 

Daher war die Beschwerde gegen den Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen.

 

3.2. Zu Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide:

 

3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1), oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

 

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden. Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.

 

Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Abs. 1 oder aus den Gründen des Abs. 3 oder 6 abzuweisen, so hat gemäß § 8 Abs. 3a AsylG eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.

 

Somit ist vorerst zu klären, ob im Falle der Rückführung des Fremden in seinen Herkunftsstaat Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde. Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger, noch zum Refoulementschutz nach der vorigen Rechtslage ergangenen, aber weiterhin gültigen Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer solchen Bedrohung glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende und durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (VwGH 23.02.1995, Zl. 95/18/0049; 05.04.1995, Zl. 95/18/0530; 04.04.1997, Zl. 95/18/1127; 26.06.1997, ZI. 95/18/1291; 02.08.2000, Zl. 98/21/0461). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214).

 

Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141). Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher nicht geeignet, die Feststellung nach dieser Gesetzesstelle zu tragen, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, die ihnen einen aktuellen Stellenwert geben (vgl. VwGH 14.10.1998, Zl. 98/01/0122; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

 

Unter "realer Gefahr" ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen ("a sufficiently real risk") im Zielstaat zu verstehen (VwGH 19.02.2004, Zl. 99/20/0573; auch ErläutRV 952 BlgNR 22. GP zu § 8 AsylG 2005). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294; 25.01.2001, Zl. 2000/20/0438; 30.05.2001, Zl. 97/21/0560).

 

Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird - auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören -, der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen. Die Ansicht, eine Benachteiligung, die alle Bewohner des Staates in gleicher Weise zu erdulden hätten, könne nicht als Bedrohung im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 gewertet werden, trifft nicht zu (VwGH 25.11.1999, Zl. 99/20/0465; 08.06.2000, Zl. 99/20/0203; 17.09.2008, Zl. 2008/23/0588). Selbst wenn infolge von Bürgerkriegsverhältnissen letztlich offen bliebe, ob überhaupt noch eine Staatsgewalt bestünde, bliebe als Gegenstand der Entscheidung nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Frage, ob stichhaltige Gründe für eine Gefährdung des Fremden in diesem Sinne vorliegen (vgl. VwGH 08.06.2000, Zl. 99/20/0203).

 

Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (vgl. VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427; 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; siehe dazu vor allem auch EGMR 20.07.2010, N. gg. Schweden, Zl. 23505/09, Rz 52ff; 13.10.2011, Husseini gg. Schweden, Zl. 10611/09, Rz 81ff).

 

Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des Beschwerdeführers so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH U 17.02.2009, C-465/07). Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen:

 

Ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind; ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind; ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden; schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07).

 

Der VwGH hat dazu erst kürzlich festgehalten, dass bei einer allgemein prekären Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat erst dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137, zur Lage in Bagdad).

 

Dessen ungeachtet sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auch dann abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht (§ 8 Abs. 3 AsylG 2005).

 

Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich, Zl. 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zl. 44599/98; vgl. auch VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443). Unter "außergewöhnlichen Umständen" können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm. § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443; 13.11.2001, Zl. 2000/01/0453; 09.07.2002, Zl. 2001/01/0164; 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung der Frage, ob die Abschiebung eines Fremden eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr ("real risk") - die bloße Möglichkeit genügt nicht - damit verbunden wären (VwGH 23.09.2004, Zl. 2001/21/0137).

 

3.2.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 nicht gegeben sind:

 

Dass der BF im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der BF somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat, konkret in Bagdad, durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.

 

Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

 

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die Sicherheitslage in Teilen des Irak prekär ist und Anschlagskriminalität im Großraum Bagdad nach wie vor zu gewärtigen ist. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kann in Anbetracht der zu den Feststellungen zur Sicherheitslage im Irak dargestellten Gefahrendichte in Zentral- und Südirak jedoch nicht erkannt werden, dass schon aufgrund der bloßen Präsenz des BF davon ausgegangen werden muss, dass dieser wahrscheinlich Opfer eines Anschlages werden würde (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137). Offene Kampfhandlungen finden im besagten Gebiet im Übrigen nicht statt und ist die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle sowie der dabei getöteten Zivilisten in letzter Zeit stetig (weiter) gesunken, sodass von einer weiteren Stabilisierung der Sicherheitslage ausgegangen werden kann.

 

Zum anderen hat weder der BF selbst ein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, noch kann aus den Feststellungen zur Lage im Irak, konkret den Großraum Bagdad, abgeleitet werden, dass der BF alleine schon aufgrund seiner bloßen Anwesenheit im Irak, konkret im Großraum Bagdad, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch Anschlagskriminalität oder bürgerkriegsähnliche Ereignisse ausgesetzt wäre.

 

Es kann auch nicht erkannt werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr in den Irak die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), hat doch der BF selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass es ihm im Falle seiner Rückführung in den Irak an jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und er in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre.

 

Der BF ist ein arbeitsfähiger und gesunder Mann mit hinreichender Schulbildung und Berufserfahrung. Die grundsätzliche Möglichkeit einer Teilnahme am Erwerbsleben kann in Ansehung des BF vorausgesetzt werden, zumal dieser bereits im Irak erwerbstätig war und ferner über hinreichende Bildung verfügt. Der BF wird demnach grundsätzlich in der Lage sein, sich mit seiner bislang ausgeübten Tätigkeit oder gegebenenfalls mit anderen Tätigkeiten ein ausreichendes Einkommen zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts zu erwirtschaften; es ist ihm auch in Anbetracht seines gesundheitlichen Zustandes und seiner Schulbildung zuzumuten, nach einer Beschäftigung zu suchen und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

 

Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass der BF im Fall seiner Rückkehr auch im Rahmen seines Familienverbandes - erneut - eine ausreichende wirtschaftliche und soziale Unterstützung durch seine im Irak aufhältigen Familienangehörigen zuteilwird. Es ist kein Umstand ersichtlich, der einer Unterstützung durch diese Familienmitglieder entgegenstehen würde.

 

Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, konkret im Großraum Bagdad, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor.

 

Letztlich war zu berücksichtigen, dass der BF in der Beschwerde den von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen und Erwägungen zur Zumutbarkeit und Möglichkeit der Rückkehr in den Irak, konkret in den Großraum Bagdad, nicht substantiiert entgegengetreten ist und in weiterer Folge auch nicht dargelegt hat, wie sich eine Rückkehr in den Herkunftsstaat konkret auf seine individuelle Situation auswirken würde, insbesondere inwieweit der BF durch die Rückkehr einem realen Risiko einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre.

 

Auf Grund der eben dargelegten Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den Herkunftsstaat erübrigt sich eine weitere Prüfung hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen gemäß §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 AsylG 2005.

 

Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der BF somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK), BGBl. Nr. 210/1958 idgF, oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe, BGBl. Nr. 138/1985 idgF, und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe, BGBl. III Nr. 22/2005 idgF, verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

 

Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen.

 

3.3. Zu den Spruchpunkten III., IV. und V. des angefochtenen Bescheides:

 

3.3.1. Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn

 

1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,

 

2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,

 

3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

 

4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder

 

5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird

 

und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.

 

Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

 

(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

 

1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,

 

2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

 

3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder

 

4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird

 

und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

 

Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das BFA mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

 

Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, so ist gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

 

Gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere folgende Punkte zu berücksichtigen:

 

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

 

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

 

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

 

4. der Grad der Integration,

 

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

 

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

 

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

 

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

 

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Nach § 9 Abs. 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

 

Der mit "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" betitelte § 57 AsylG 2005 lautet wie folgt:

 

"§ 57. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:

 

1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

 

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

 

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

 

(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Abs. 1 Z 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Abs. 3 und § 73 AVG gehemmt.

 

(3) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 2 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.

 

(4) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 3 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können.

 

Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 hat das BFA einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG rechtskräftig auf Dauer unzulässig erklärt wurde.

 

Gemäß § 58 Abs. 3 AsylG 2005 hat das BFA über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihres Briefverkehrs.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit ein Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob die aufenthaltsbeendende Maßnahme einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.

 

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sind die Staaten im Hinblick auf das internationale Recht und ihre vertraglichen Verpflichtungen befugt, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu überwachen (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80 ua, EuGRZ 1985, 567; 21.10.1997, Boujlifa, Zl. 25404/94; 18.10.2006, Üner, Zl. 46410/99; 23.06.2008 [GK], Maslov, 1638/03; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07). Die EMRK garantiert Ausländern kein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Einbürgerung in einem bestimmten Staat (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09).

 

In Ergänzung dazu verleiht weder die EMRK noch ihre Protokolle das Recht auf politisches Asyl (EGMR 30.10.1991, Vilvarajah ua., Zl. 13163/87 ua.; 17.12.1996, Ahmed, Zl. 25964/94; 28.02.2008 [GK] Saadi, Zl. 37201/06).

 

Hinsichtlich der Rechtfertigung eines Eingriffs in die nach Art. 8 EMRK garantierten Rechte muss der Staat ein Gleichgewicht zwischen den Interessen des Einzelnen und jenen der Gesellschaft schaffen, wobei er in beiden Fällen einen gewissen Ermessensspielraum hat. Art. 8 EMRK begründet keine generelle Verpflichtung für den Staat, Einwanderer in seinem Territorium zu akzeptieren und Familienzusammenführungen zuzulassen. Jedoch hängt in Fällen, die sowohl Familienleben als auch Einwanderung betreffen, die staatliche Verpflichtung, Familienangehörigen von ihm Staat Ansässigen Aufenthalt zu gewähren, von der jeweiligen Situation der Betroffenen und dem Allgemeininteresse ab. Von Bedeutung sind dabei das Ausmaß des Eingriffs in das Familienleben, der Umfang der Beziehungen zum Konventionsstaat, weiters ob im Ursprungsstaat unüberwindbare Hindernisse für das Familienleben bestehen, sowie ob Gründe der Einwanderungskontrolle oder Erwägungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung für eine Ausweisung sprechen. War ein Fortbestehen des Familienlebens im Gastland bereits bei dessen Begründung wegen des fremdenrechtlichen Status einer der betroffenen Personen ungewiss und dies den Familienmitgliedern bewusst, kann eine Ausweisung nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten (EGMR 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07, mwN; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09; 03.11.2011, Arvelo Aponte, Zl. 28770/05; 14.02.2012, Antwi u. a., Zl. 26940/10).

 

Die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen Fremden, dessen Aufenthalt lediglich auf Grund der Stellung von einem oder mehreren Asylanträgen oder Anträgen aus humanitären Gründen besteht, und der weder ein niedergelassener Migrant noch sonst zum Aufenthalt im Aufenthaltsstaat berechtigt ist, stellt in Abwägung zum berechtigten öffentlichen Interesse einer wirksamen Einwanderungskontrolle keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Privatleben dieses Fremden dar, wenn dessen diesbezüglichen Anträge abgelehnt werden, zumal der Aufenthaltsstatus eines solchen Fremden während der ganzen Zeit des Verfahrens als unsicher gilt (EGMR 08.04.2008, Nnyanzi, Zl. 21878/06).

 

3.3.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich:

 

Wie sich aus den bisherigen Angaben des BF im Verfahren vor der belangten Behörde und aus der Beschwerde ergibt, verfügt dieser über keine berücksichtigungswürdige familiäre jedoch über soziale Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet. In Ermangelung eines gemeinsamen Haushaltes und eines erkennbaren Abhängigkeitsverhältnisses zu einem/einer seiner sozialen Kontakte, ist sohin gegenständlich vom Vorliegen eines Privat-, nicht jedoch Familienlebens iSd. Art 8 EMRK auszugehen (vgl. Chvosta, Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 860)

 

Vor dem Hintergrund, dass der BF sich der Unsicherheit seines einzig durch einen - unbegründeten - Asylantrag vorübergehend legitimierten Aufenthaltes, und der damit einhergehenden Möglichkeit im Bundesgebiet begründete soziale Beziehungen nicht vor Ort weiterführen zu können, bewusst war, haben allfällige soziale Bezugspunkte des BF eine Relativierung hinzunehmen.

 

Wenn dem BF auch seine Anstrengungen hinsichtlich gemeinnütziger Tätigkeiten und dessen strafgerichtliche Unbescholtenheit zu Gute zu halten sind, so sind diesen jedoch die Erwerbslosigkeit bzw. Selbsterhaltungsunfähigkeit des BF, dessen Bezug von Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung, die fehlenden berücksichtigungswürdigen familiären Anknüpfungspunkte in Österreich und Deutschsprachkenntnisse, sowie der erst kurze Aufenthalt im Bundesgebiet (vgl. VwGH 08.03.2005, 2004/18/0354: wonach selbst ein 3 1/2 jähriger Aufenthalt im Bundesgebiet noch als kurz erachtet wird) gegenüberzustellen.

 

Selbst unter Beachtung der für den BF sprechenden Momente lässt sich eine besonders berücksichtigungswürdige Integration des BF in Österreich nicht feststellen.

 

Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist die belangte Behörde, sohin zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des BF im Bundesgebiet das persönliche Interesse dieses am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen und auch in der Beschwerde nicht substantiiert vorgebracht worden, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.

 

Umstände, dass allenfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) zu erteilen gewesen wäre, liegen unter Zugrundelegung des festgestellten Sachverhaltes nicht vor.

 

Es sind im Hinblick auf die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid gemäß § 52 Abs. 9 FPG getroffenen Feststellungen keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak unzulässig wäre. Derartiges wurde auch in der gegenständlichen Beschwerde nicht konkret behauptet.

 

Sohin ist die Beschwerde auch in diesem Umfang als unbegründet abzuweisen.

 

3.4. Zum Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides:

 

Der mit "Frist für die freiwillige Ausreise" betitelte § 55 FPG lautet:

 

"§ 55. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

 

(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird.

 

(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

 

(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. § 37 AVG gilt.

 

(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG aberkannt wurde.

 

(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Abs. 1 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht."

 

Aufgrund der erfolgten Festlegung einer Frist zur freiwilligen Ausreise und dem Nichtvorbringen sowie von Amts wegen nicht fassbaren besonderen Gründen iSd. § 55 Abs. 3 FPG, war die Beschwerde auch in diesem Umfang als unbegründet abzuweisen.

 

Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:

 

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

 

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

 

Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

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