AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:L532.2283154.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Georg WILD-NAHODIL als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Mag. Clemens LAHNER, Rechtsanwalt in 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.09.2023, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG 2005 nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 22.03.2024 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (i.d.F. „BF“), ein türkischer Staatsangehöriger, stellte am 26.06.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte der BF im Zuge seiner polizeilichen Erstbefragung am 28.06.2022 zum Fluchtgrund im Wesentlichen vor, er werde in seinem Herkunftsstaat aufgrund seiner politischen Überzeugungen verfolgt und habe keine weiteren Fluchtgründe. Im Rückkehrfall befürchte er körperliche Gewalt und die Anhaltung in einem Gefängnis. Entsprechende Unterlagen befänden sich bei seinem Rechtsanwalt in der Türkei.
2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der BF am 11.04.2023 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (i.d.F. „bB“ oder „Bundesamt“) einvernommen. Zu seinem Fluchtgrund befragt legte der BF dar, er sei in der Türkei zu Unrecht aufgrund seiner politischen Tätigkeit angeklagt worden, konkret habe man ihn aufgrund seiner Beiträge auf Facebook wegen Terrorpropaganda zur Rechenschaft ziehen wollen. Befragt, was er gepostet habe, führte er aus, er habe ab 2008 auf einem auf seinen Namen lautenden Account kurdische Kleidung sowie sich gegen den türkischen Präsidenten ERDOGAN richtende Beiträge veröffentlicht. Vor seiner Ausreise seien mehrere seiner Freunde festgenommen worden, sein Rechtsanwalt habe ihn darüber informiert, dass auch er festgenommen werde, dies wisse der Anwalt, weil der Name des BF auf einer Liste, auf welcher auch jene seiner festgenommenen Freunde aufgezählt werden würden, erfasst sei. Die Freunde des BF, welche sich bereits nachteilig im Fokus der türkischen Behörden befunden hätten, wären ebenfalls für die HDP politisch aktiv gewesen. Einer seiner Freunde befinde sich noch in Haft, die anderen Freunde seien inzwischen freigelassen worden, einer davon halte sich mittlerweile in der Schweiz auf. Zu seinen politischen Mitgliedschaften befragt, führte der BF aus, er sei 2014 Mitglied der seit 2016 verbotenen BDP gewesen, welche inzwischen den Namen HDP führen würde. Eine entsprechende politische Überzeugung hätte er schon davor verinnerlicht gehabt; dies deshalb, weil sich diese Partei für die Rechte der kurdischen Minderheit einsetze. Der BF habe Demonstrationen sowie Sitzungen der HDP organisiert und sei offizielles Mitglied geworden. Betätigt hätte er sich ein bis zwei Mal monatlich. Strafgerichtlich verfolgt worden sei er jedoch nicht wegen seiner Mitgliedschaft bei der HDP, sondern wegen der Beiträge auf Facebook, wobei ca. sechs Monate vor seiner Ausreise Personen inhaftiert worden seien, welche sich politisch betätigt hätten, woraufhin der Anwalt des BF diesem eine Inhaftierung in Aussicht gestellt habe, weshalb er das Land verlassen hätte. Im Irak sei es dem BF gut ergangen. Ein Freund des BF namens XXXX habe sich ebenfalls im Irak aufgehalten und sei dort – entsprechend einer Vermutung des BF vom türkischen Geheimdienst – ermordet worden. Es seien auch andere Kurden im Irak umgebracht worden. Im Weiteren korrigierte sich der BF dahingehend, XXXX sei nicht er- sondern angeschossen worden und hätte überlebt, der BF sei jedoch, nachdem er XXXX im Krankenhaus besucht hätte, festgenommen worden und habe man ihm unterstellt, er wolle XXXX ermorden, weshalb er sechs Tage im Gefängnis gewesen wäre. Auf Druck von Verwandten sei er freigelassen worden und sei eine Woche später geflohen. Man habe ihm seine Aufenthaltsberechtigung sowie seinen türkischen Pass entzogen, um seine Ausreise zu verhindern. Seine Eltern, seine Geschwister und seine Ehefrau würden dieselben politischen Ansichten wie der BF vertreten, seine Schwester sei deshalb auch ca. zwei Jahre inhaftiert gewesen. Nach der Ausreise des BF am 28.10.2019, 04:00 Uhr, sei seine Familie schon zwei Stunden später von der Polizei kontaktiert und nach dessen Aufenthalt befragt worden. Auch Angehörige des BF, beispielsweise Cousins, seien festgenommen worden. Befragt, warum sich seine politisch gleichgesinnten Angehörigen in der Türkei aufhalten könnten, gab der BF an, sein jüngerer Bruder hätte auf Facebook keine Beiträge veröffentlich, lediglich er sehe sich mit einer Anklage konfrontiert. Beweismittel werde er schnellstmöglich nachreichen. Vor seiner Ausreise sei der BF zwar nicht persönlich bedroht, ihm jedoch das Leben erschwert worden. Dass er wegen seiner Facebookbeiträge Probleme hätte bekommen können, sei dem BF nicht bewusst gewesen. Im Falle der Rückkehr befürchte er, inhaftiert, gefoltert und umgebracht zu werden. Er habe damit alle Fluchtgründe angeführt.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 29.09.2023, Zl. XXXX , wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde schließlich eine Frist von 14 Tagen für eine freiwillige Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt VI.). Mit Informationsblatt vom 06.10.2023 wurde dem BF ein Rechtsberater gem. § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
Die bB begründete den bekämpften Bescheid bezugnehmend auf die negative Asyl- sowie die Rückkehrentscheidung im Wesentlichen damit, der BF habe keinerlei Beweismittel vorgelegt, obschon er die Vorlage in der Erstbefragung am 28.06.2022 sowie in der Einvernahme am 11.04.2023 in Aussicht gestellt habe. Die bB erachte es für unplausibel, dass es dem BF nicht möglich gewesen wäre, relevante Unterlagen wie beispielsweise eine Anklageschrift in einem Terrorverfahren, Auszüge aus Facebook oder seinen HDP-Mitgliedsausweis beizuschaffen. Selbst, wenn das Bundesamt dem BF hinsichtlich seiner Mitgliedschaft Glauben schenken sollte, wäre festzuhalten, dass er jedoch keine Funktion, sohin eine exponierte Stellung, innegehabt hätte. Insgesamt sei es dem BF nicht gelungen, ein als Verfolgung zu qualifizierendes Bedrohungsszenario darzulegen. Aus dem Ausland zurückkehrende türkische Staatsangehörige würden keinen systematischen Repressionen unterworfen werden, läge keine allgemeine Bedrohungslage in der Türkei vor und spräche auch die individuelle Situation des BF nicht gegen eine Rückkehr in seinen Herkunftsstaat.
4. Gegen den dem BF am 11.10.2023 zugestellten Bescheid des Bundesamtes richtet sich die am 08.11.2023 von der im Spruch ausgewiesenen Rechtsvertretung eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (i.d.F. „BVwG“). Im Wesentlichen wird im Beschwerdeschriftsatz dargelegt, der BF sei ein aus Ostanatolien stammender türkischer Staatsbürger kurdischen und muslimischen Hintergrundes. Die Familie des BF betätige sich seit Jahrzehnten in verschiedenen oppositionellen Bewegungen und Parteien in der Türkei, seine Schwester sei wegen (vermeintlicher) Propaganda für die PKK strafgerichtlich verurteilt worden, sein Cousin sei jedoch vom Vorwurf der Mitgliedschaft beim bewaffneten Flügel der PKK freigesprochen worden. Weder der BF noch seine Angehörigen hätten Verbindungen zum Terrorismus, vielmehr engagiere sich der BF für Demokratie, Gleichberechtigung der kurdischen Minderheit und Frieden in demokratisch gesinnten Parteien. Dem Protokoll der niederschriftlichen Einvernahme seien bereits Angaben zum politischen Engagement der Familie des BF zu entnehmen gewesen, die bB habe aber nicht auf eine Konkretisierung dieser Angaben hingewirkt. Der BF selbst stehe der türkischen Regierung sowie der Beschränkung der Demokratie sehr kritisch gegenüber und habe sich auch auf Facebook dahingehend geäußert. Dies habe der BF der bB mitgeteilt, welche jedoch keine Einsichtnahme in öffentlich zugängliche Postings genommen hätte. Ab 2014 habe sich der BF in kurdisch-oppositionellen Parteien engagiert, an Sitzungen teilgenommen sowie Demonstrationen organisiert. Der BF habe angegeben, aufgrund dieses politischen Engagements sowie seiner Beiträge in sozialen Medien verfolgt worden zu sein. Auch seien zahlreiche seiner Freunde verhaftet worden. Die in Aussicht gestellten Beweismittel könne er nunmehr im Rahmen der Beschwerde ins Verfahren einbringen. Hingewiesen würde darauf, dass das Bundesamt ihm eine entsprechende Verfahrensanordnung niemals erteilt habe. Also der BF von seinem türkischen Rechtsanwalt im Jahr 2019 erfahren habe, dass seine Einvernahme wegen terroristischer Propaganda intendiert gewesen sei, sei er über den Iran in den Irak ausgereist. Die bB hätte diesbezüglich im Rahmen der Ermittlungspflicht auf eine Konkretisierung hinwirken müssen. Ein türkischer Rechtsanwalt, der mit dem rechtsfreundlichen Vertreter des BF in der Türkei in einer Regiegemeinschaft zusammenarbeiten würde, bestätige schriftlich, dass gegen den BF wegen terroristischer Propaganda ermittelt werden würde und er versuche, den Strafakt schnellstmöglich beizuschaffen. Der BF verfüge zwar über einen e-devlet-Zugang, dort befänden sich aber keine diesbezüglichen Unterlagen. Insofern in der Niederschrift der Einvernahme protokolliert worden sei, dass es bereits eine Anklageschrift gäbe, so sei hinzuzufügen, dass der BF und sein Anwalt Kenntnis von der Einleitung eines Strafverfahrens hätten. Ob es tatsächlich bereits zu einer Anklage gekommen sei, müsse über den türkischen Anwalt in Erfahrung gebracht werden. Es sei möglich, dass es noch keine Anklageschrift gäbe, der BF sei als Laie nicht in der Lage juristische Termini voneinander abzugrenzen. Der BF hätte den Irak aufgrund der Ermordung eines Bekannten namens XXXX verlassen, worüber eine Bekannte des BF, welche ebenfalls als Asylwerberin in Österreich aufhältig sei, Auskunft geben könne. Des Weiteren nutze der BF seinen Aufenthalt in Österreich zur wirtschaftlichen und sprachlichen Integration. Gegen einen abweisenden Bescheid über einen Antrag auf Ausstellung einer Beschäftigungsbewilligung sei ein Beschwerdeverfahren anhängig, der BF verfüge über einen Arbeitsvorvertrag und sei bei Erteilung eines Aufenthaltstitels sofort selbsterhaltungsfähig.
Der Beschwerde beigeschlossen waren zahlreiche Beweismittel, nämlich Gerichtsunterlagen der XXXX und des XXXX (jeweils samt beglaubigter Übersetzung), der Nüfus der XXXX , des XXXX sowie des BF, eine exemplarische Auswahl von Facebook-Postings (samt sinngemäßer Übersetzungen), Bestätigungen der BDP, der HDP und der DBP (samt beglaubigter Übersetzungen), eine Bestätigung des türkischen Anwalts des BF (samt beglaubigter Übersetzung), ein Antrag auf Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung, ein Bescheid über die Abweisung des Antrags auf Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung des AMS XXXX vom 11.08.2023, ein Arbeitsvorvertrag zwischen dem BF und der XXXX , eine Anmeldung zu einem Kurs „Deutsch als Fremdsprache A1/2“, ein Lichtbildkonvolut, einen Screenshot eines WhatsApp-Chats zwischen dem BF und XXXX , der Autopsiebericht des XXXX in arabischer Sprache, eine Genehmigung des irakischen Innenministeriums für einen Leichentransport in arabischer Sprache, die Sterbeurkunde des XXXX in arabischer Sprache, den Identitätsnachweis des XXXX sowie übersetzte Länderberichte (insbesondere in Form von Zeitungsartikeln und Stellungnahmen, beispielsweise der HDP). Weiters wurde die zeugenschaftliche Einvernahme der XXXX sowie des XXXX beantragt.
5. Mit 18.12.2023 reichte die rechtsfreundliche Vertretung des BF den Obduktionsbericht sowie die Sterbeurkunde des XXXX in beglaubigter Übersetzung nach.
6. Mit 05.02.2024 wurden der BF sowie die namhaft gemachten Zeugen zur mündlichen Verhandlung am 22.03.2024 geladen.
7. Am 19.03.2024 brachte der Rechtsfreund des BF beim BVwG eine mit 18.03.2024 datierte schriftliche Stellungnahme ein. In dieser führte er zusammengefasst aus, er habe ACCORD mit einer Anfragebeantwortung betreffend die Verfolgung der HDP und ihrer Mitglieder in Van beauftragt, diese würde in den nächsten Wochen veröffentlicht werden und das Beschwerdevorbringen des BF stützen. Der türkische Anwalt des BF habe die Verteidigung des BF im strafgerichtlichen Ermittlungsverfahren der Oberstaatsanwaltschaft XXXX substitutionsweise übernommen und Einsicht in den nunmehr verfügbaren Ermittlungsakt genommen. Im Akt befinde sich ein Abschlussbericht der Gendarmerie XXXX , in welchem neun Postings des BF aus dem Jahr 2023 für den Verdacht der Beleidigung des Staatsoberhaupts angeführt werden würden. Der Abschlussbericht sei der zuständigen Oberstaatsanwaltschaft XXXX übermittelt worden; diese bestätige, dass gegen den BF ein Anfangsverdacht wegen der Beleidigung des Staatsoberhaupts nach § 299 Abs 1 Türkisches Strafgesetzbuch (i.d.F. „tStGB“) vorliege. Der Akt sei daher der Generaldirektion für Strafangelegenheit des Justizministeriums zum Zweck der Strafverfolgung übermittelt worden. Das Richteramt für Friedensstrafen XXXX habe einen Festnahmeauftrag zur Beschuldigtenvernehmung des BF erlassen. Es stehe daher fest, dass ein Strafverfahren wegen Beleidigung des Staatsoberhaupts eingeleitet worden sei und der BF im Rückkehrfall festgenommen werden würde. Anklage würde wohl erst nach erfolgter Beschuldigtenvernehmung erhoben werden. Der Verfassungsgerichtshof (i.d.F. „VfGH“) habe zuletzt erneut festgehalten, dass die Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die staatliche Strafjustiz im Wege einer Prognoseentscheidung zu beurteilen wäre. Es käme sohin nicht entscheidend darauf an, ob schon eine Anklage bzw. eine rechtskräftige Verurteilung vorliege. Vielmehr wäre festzustellen, welches tatsächliche Verhalten von den Strafverfolgungsbehörden als erwiesen angenommen werde, welche Straftatbestände (einschließlich ihrer Strafdrohung) als erfüllt angesehen würden und welche Sanktion dafür jeweils vorgesehen wäre. Den Länderberichten komme im Rahmen der Prognoseentscheidung erhebliche Bedeutung zu (VfGH 26.02.2024, E 3982/2023-12). Alle neun Postings würden die Politik des türkischen Präsidenten kritisieren, diese würde teilweise satirisch und durch Karikaturen geäußert. Es handle sich zum Teil um Beiträge aus Tageszeitungen und anerkannten Medien. Aus Sicht des BF sei die Politik des türkischen Staatsoberhaupts maßgeblich für die hohen Kohlepreise verantwortlich, zudem deute ein Posting an, die Türkei unterstütze den Islamischen Staat im Kampf gegen kurdische Kräfte in Syrien. In anderen Beiträge werde ERDOGAN als Mörder oder Dieb bezeichnet. Die Postings seien auf die politische Gesinnung des BF zurückzuführen. Festgehalten werde, dass sich sämtliche Postings im Rahmen der legitimen Meinungsäußerung bewegen würden und Vergleichbares in Österreich fixer Bestandteil vieler Tageszeitungen und des öffentlichen Lebens sei. Der Straftatbestand der Beleidigung des Staatsoberhaupts würde dem Länderinformationsblatt zufolge gezielt zur Verfolgung politischer Gegner verwendet werden und entspräche nicht den internationalen Standards. Die Türkei schütze die Ehre des Staatsoberhaupts so weit, dass Kritik und Satire gänzlich verboten sei. Das stelle eine klare Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK dar. Im Falle der Verurteilung drohe dem BF eine Strafe von bis zu vier Jahren Haft und würde dieser Straftatbestand dem Länderinformationsblatt sowie den übermittelten Anfragebeantwortungen zufolge tatsächlich zur massenhaften Verfolgung von Nutzern sozialer Medien verwendet werden. Es sei nicht davon auszugehen, dass der BF sich im Falle seiner Rückkehr in einem fairen Strafverfahren erfolgreich verteidigen könne. In rezenten Entscheidungen kämen die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zum Schluss, dass es massive Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit von Strafverfahren in der Türkei gäbe. Zu den gröbsten Problemen gehörten die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, fehlende Garantien für die Gewaltenteilung, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung sowie die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Die Anti-Terrorismus-Gesetze und der Tatbestand der Beleidigung des Staatsoberhauptes würden in großem Umfang missbräuchlich angewandt werden (VfGH 26.02.2024, E 3982/2023-12; VwGH 29.08.2022, Ra 2022/18/0110). Abschließend sei darauf hinzuweisen, dass der BF bis zuletzt über zwei Facebook-Konten verfügt habe. Im bisherigen Asylverfahren hätte er Beiträge vorgelegt, welcher er von folgendem Konto aus gepostet habe: https://www.facebook.com/ XXXX . 2019 sei der BF in den Irak geflohen, weshalb ihm die mit der Beschwerde vorgelegten Postings relevant erschienen seien. Der BF verfüge bis zuletzt auch über einen zweiten Account, den er vor allem seit seiner Ankunft in Österreich nutze. Die nunmehr inkriminierten Postings würden allesamt von diesem zweiten Account stammen, den der BF aus Angst vor Verfolgung stillgelegt habe, als sein türkischer Anwalt ihm den Ermittlungsakt übermittelt hätte. Der BF habe nicht gewusst, dass der zweite Facebook-Account für das Asylverfahren von Relevanz sei. Weshalb sich ausschließlich Postings vom November 2023 im Abschlussbereich finden würden, könne sich der BF nicht erklären. Es sei aber auch nicht ausgeschlossen, dass noch weitere Postings in eine Anklage aufgenommen werden würden. Darüberhinaus würde darauf verwiesen, dass der BF aufgrund seiner privaten Kontakte zu XXXX befürchte, man könne ihm zur Last legen, Mitglied der PKK zu sein. Der Genannte sei wegen mutmaßlicher Beteiligung an einem Attentat der PKK schuldig gesprochen worden. Berichte ließen am tatsächlichen Tathergang Zweifel und würden seine Ermordung dem türkischen Geheimdienst zuschreiben. Es sei davon auszugehen, dass der türkische Nachrichtendienst XXXX vor dem ersten Attentat intensiv beobachtet und Wahrnehmungen zur privaten Verbindung des BF zu XXXX gemacht hätte. Dies setze den BF im Rückkehrfall der Gefahr aus, wegen (unterstellter) PKK-Mitgliedschaft verfolgt zu werden. Mit Blick auf die Länderinformationen sei nicht anzunehmen, dass der BF in diesem Strafverfahren darlegen könne, XXXX privat kennengelernt zu haben und keinerlei Verbindungen zur PKK zu unterhalten. Mit der Stellungnahme wurden zahlreiche Beweismittel in Vorlage gebracht, nämlich einen Abschlussbericht der Gendarmerie XXXX , eine Kurzdarstellung der Oberstaatsanwaltschaft XXXX (samt beglaubigter Übersetzung), einen Festnahmeauftrag des Richteramts für Friedensstrafen XXXX (samt beglaubigter auszugsweiser Übersetzung), eine Vollmachtsbekanntgabe des Rechtsanwalts XXXX an die Oberstaatsanwaltschaft XXXX (samt beglaubigter Übersetzung), eine rechtliche Einschätzung des Rechtsanwalts XXXX (samt beglaubigter Übersetzung), eine Bestätigung des DBP-Präsidiums Van sowie ein GISA-Auszug (Gewerbeanmeldung). Weitestgehend wurden bereits im Rahmen der Stellungnahmen Übersetzungen der vorgelegten Beweismittel in Vorlage gebracht.
8. Am 19.03.2024 wurde die am 07.03.2024 aktualisierte Fassung des Länderinformationsblattes an die BBU GmbH sowie die bB zur Kenntnis übermittelt.
9. Am 20.03.2024 übermittelte das BVwG die im Rahmen der Stellungnahme ins Verfahren eingebrachten Beweismittel, insofern diese nicht bereits von Seiten der rechtsfreundlichen Vertretung des BF einer Übersetzung zugeführt worden waren, einer Dolmetscherin zur Übersetzung.
10. Die Übersetzungen langten noch am selben Tag hg. ein und wurden der bB und dem BF im Rahmen einer Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme am 21.03.2024 zur Verfügung gestellt.
11. Am 22.03.2024 wurde vor dem BVwG die beantragte mündliche Verhandlung im Beisein des BF, seines rechtsfreundlichen Vertreters sowie einer Dolmetscherin für die Sprache Türkisch durchgeführt. Die beantragten Zeugen wurden angehört. Die mündliche Verhandlung gestaltete sich wie folgt:
„[…]
RI: Hinsichtlich der am 19.03.2024 hg. eingelangten Beweismittel wird angemerkt, dass die Seiten 1-8 am 20.03.2024 einem Übersetzer übermittelt wurden, der Übersetzer die Übersetzungen bereits angefertigt hat und diese gestern dem BFA und der RV zur Verfügung gestellt wurden. Ansonsten sind die vom RV beigeschafften Übersetzungen durch einen beeideten und gerichtlich zertifizierten Dolmetscher nach Ansicht des Richters bei Abgleich mit den ebenfalls übermittelten türkischsprachigen Beweismitteln vollständig und ist eine diesbezügliche Beauftragung eines Übersetzers folglich nicht erforderlich. Wird dies seitens des RV abweichend beurteilt?
RV: Ich sehe das genauso.
RI: Wollen Sie ergänzende Beweismittel vorlegen?
RV: Die angekündigten beiden ACCORD Anfragebeantwortungen von 20 März 2024:
• Anfragebeantwortung zur Türkei bzw. zum Irak: Duhok: Informationen zur Ermordung von XXXX (Beteiligung des türkischen Geheimdienstes, Informationen zu XXXX selbst und einer etwaigen strafrechtlichen Verurteilung in der Türkei)
• Anfragebeantwortung zur Türkei: Van: Informationen zur Kriminalisierung der Halklarin Demokratik Partisi/ Demokratik Bölgeler Partisi (HDP/DBP) Zwischen 2014 und 2018, Lage einfacher Parteimitglieder
RV: Weitere Beweismittel gibt es nicht.
RI: Kürzlich wurde Ihnen ein aktualisiertes Länderinformationsblatt übermittelt. Mit der Ladung erhielten Sie die Anfragebeantwortungen betreffend die Beleidigung des türkischen Präsidenten sowie zur Überwachung und strafrechtlichen Verfolgung von Benutzern sozialer Medien. Haben Sie eine diesbezügliche schriftliche Stellungnahme vorbereitet oder möchten Sie am Ende der Verhandlung mündlich zum Länderinformationsblatt Stellung beziehen?
RV: Ich habe es mir angeschaut. Die beigeschafften Materialien untermauern das Vorbringen des BF.
RI: Haben sich seit der letzten Einvernahme beim Bundesamt neue Umstände in Bezug auf Ihre Integration in Österreich (z. B. Deutschkenntnisse, Fortbildung, Erwerbstätigkeit) ergeben?
BF: Ich habe mich beim Deutschkurs angemeldet. Ich besuche ab März 2 Monate lang einen Deutschkurs. Weil ich keine Beschäftigungsbewilligung bekommen habe, bin ich selbstständig geworden und arbeite als Meister für Möbelmontage. Ich versuche, mich hier zu integrieren. Ich habe mein Camp verlassen und habe eine Wohnung gemietet. So ist es.
RI: Haben Sie einen Deutschkurs abgeschlossen? Wenn ja, welches Zertifikat haben Sie zuletzt erworben?
BF: Nein, ich habe erst angefangen.
RI: Können Sie mir Ihre berufliche Tätigkeit beschreiben?
BF: Ich habe Vereinbarungen mit Möbelfirmen, dass ich ihre verpackten Möbel nach dem Verkauf montiere.
RI: Wieviel verdienen Sie ca. monatlich netto?
BF: Ca. 1.200 bis 1.300.
RI: Seit wann gehen Sie durchgehend einer Arbeit nach?
BF: Seit Silvester bis jetzt. Vorher hatte ich auch eine Firma, aber ich hatte keinen Führerschein und konnte diese Arbeit nicht durchführen. Ich habe meinen Führerschein umschreiben lassen. Das hat ca. 6 Monate gedauert.
RI: Haben Sie in Österreich Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Keine.
RI: Haben Sie Angehörige in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union?
BF: Nicht ersten Grades, aber in der Schweiz habe ich eine Cousine väterlicherseits.
RI: Wie verbringen Sie Ihr Leben und Ihre Freizeit in Österreich?
BF: Während der Arbeitszeit arbeite ich. Ich fahre mit dem Fahrrad und erkunde neue Gegenden. Nachdem ich keine Sprachkenntnisse habe, kann ich mich an Aktivitäten nicht beteiligen, aber ich verbringe eine große Zeit mit Lernen.
RI: Verfügen Sie in Österreich über einen Freundeskreis?
BF: Wenn Sie direkt fragen, ob ich österreichische Freunde habe, muss ich nein sagen. Aber ich habe Freunde, die eingewandert und österreichische Staatsbürger geworden sind.
RI: Wie viele Freunde haben Sie ungefähr in Österreich?
BF: Über 20-30 Personen.
RI: Führen Sie in Österreich eine Beziehung?
BF: Nein, ich bin sowieso verheiratet. Wenn, dann würde ich es sagen.
RI: Sind Sie in Österreich in Vereinen oder ehrenamtlich aktiv?
BF: Ich bin nicht aktiv aber es gibt hier einen kurdischen Verein, wo ich mich mit anderen Personen gut unterhalte.
RI: Was würden Sie in Österreich machen, wenn Sie hier bleiben könnten?
BF: Ich werde insbesondere für die gute Ausbildung der Kinder sorgen. Ich muss sehr gut Deutsch sprechen können. Das sind meine ersten Ziele. Ich möchte meine Arbeit so wie in der Türkei aufbauen. Ich habe nicht so viele Ziele. Das sind meine ersten Ziele. Ich weiß nicht, was das Leben hier bringen wird. Meine Absicht ist es, mein Leben lang ein guter Mensch zu sein.
RI: Sind Sie gesund und arbeitsfähig?
BF: Ja natürlich. Ich habe keine Krankheit.
RI: Sind Sie derzeit wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in Österreich in medizinischer Behandlung oder nehmen Medikamente?
BF: Nein.
RI: Sind Sie in Österreich bisher straffällig geworden (Verwaltungsübertretung, gerichtliche Verurteilung oder derzeitig anhängiges Verfahren)?
BF: Keine Verurteilungen. Ich bin nicht verurteilt worden, jedoch hatte ich zwei Mal Verwaltungsstrafen wegen Fahrens ohne Führerschein innerhalb von 6 Monaten. Dies geschah wegen Unwissenheit. Ich wusste nicht, dass ich nach Abgabe meines Führerscheines bei der Behörde wegen der Umschreibung nicht mehr fahren durfte. Das war das eine Mal. Das zweite Mal wusste ich nicht, dass ich nach dem Durchfallen bei einer Führerscheinprüfung nicht mehr fahren durfte.
RI: Die folgende Frage wird (ohne Dolmetscher) auf Deutsch gestellt und die Antwort wortwörtlich protokolliert:
RI: „Sprechen Sie Deutsch?“
BF: Ja.
RI: „Mit wem unterhalten Sie sich auf Deutsch?“
BF: schaut zu Dolmetscher.
RI: „Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?“
BF versteht Frage nicht.
Die weitere Befragung erfolgt wieder mit Dolmetscher.
RI: Gibt es zu diesem Fragenkomplex (Integration, Leben in Österreich) Fragen des RV?
RV: keine Fragen.
RI: Welche Ausbildung haben Sie im Herkunftsstaat genossen?
BF: Ich hatte 12 Jahre Ausbildung und zwar 5 Jahre Grundschule, 3 Jahre Hauptschule und 4 Jahre Lyzeum. Nachgefragt gebe ich an, dass ich keine Berufsausbildung in der Türkei absolviert habe.
RI: Welche Berufserfahrung haben Sie im Herkunftsstaat gesammelt?
BF: Ich war selbstständig und war als Vermittler tätig. Ich hatte einen Autohandel und wir hatten auch ein Kaffeehaus. Diesbezügliche Bestätigungen habe ich bereits vorgelegt. Ich habe auch in der elterlichen Landwirtschaft gearbeitet.
RI: Wie würden Sie Ihre eigene wirtschaftliche Lage in der Türkei einschätzen?
BF: In der oberen Mittelschicht. In der Türkei hatte ich die oberste Schicht bis jetzt, aber ich musste alles zusperren.
RI: Wer von Ihrer Familie bzw. Ihrer Verwandtschaft lebt noch im Herkunftsstaat und wo?
BF: Vater, Mutter, meine Frau und die Kinder und 5 Schwestern sowie mein Bruder leben in der Türkei, aber nicht in der gleichen Stadt. Mein Vater, meine Mutter, Kinder und Frau sowie die ältere Schwester XXXX und die XXXX leben in Van. Die ältere Schwester XXXX lebt in Diyarbakir. Die Schwester XXXX lebt in Ankara. XXXX lebt in Mus. Sie wird von uns XXXX genannt. Der jüngere Bruder XXXX lebt in Izmir. Das war alles. Sie sind alle verheiratet, außer XXXX .
RI: Haben Sie seit der Ausreise Kontakt mit Familienangehörigen oder Verwandten in Ihrem Herkunftsstaat? Wann zuletzt und mit wem?
BF: Zuletzt habe ich vor 2 Tagen mit meinem Vater gesprochen. Mit den Kindern spreche ich jeden Tag. Anfangs hielt ich mich im Irak auf mit meiner Frau. Nachdem die Ausbildung in den Schulen im Irak schwach war, sind meine Kinder in der Türkei in die Schule gegangen. Sie haben sich 3 Monate lang in der Türkei aufgehalten. Danach sind sie zu uns gekommen.
RI: Was meinen Sie mit „danach sind sie zu uns gekommen“?
BF: In den Irak. Wir lebten gemeinsam im Irak.
RI: Wie geht es Ihren Angehörigen im Herkunftsstaat?
BF: Es geht ihnen gut, jedoch geht es meinem Vater gesundheitlich nicht so gut, weil er alt ist.
RI: Wie alt sind Ihre Eltern und Geschwister?
BF: Der Vater ist 1941 geboren. Die Mutter ist 75 Jahre alt, 1949 geboren. XXXX , die älteste Schwester ist 55 Jahre alt, XXXX ist 53 Jahre alt, XXXX ist 50 Jahre alt, XXXX ist 47 Jahre alt, XXXX ist 36 Jahre alt, XXXX ist 31 Jahre alt.
RI: Wie finanzieren Ihre Eltern und Geschwister im Herkunftsstaat deren Leben?
BF: Die ersten 3 ältesten Schwestern, XXXX , XXXX und XXXX sind Hausfrauen. Ihre Männer sind Beamte, wobei der Mann von XXXX bereits wegen Krebs verstorben ist. XXXX ist eine Immobilienmaklerin, XXXX ist auch Hausfrau, ihr Mann ist der XXXX in XXXX . XXXX ist in der Provinzregierung XXXX . Meine Mutter ist Hausfrau, mein Vater ist Pensionist. Sie haben einen sehr großen Garten, womit sie sich beschäftigen. Mein Vater hat 2.500 Bäumen, mit denen er sich beschäftigt.
RI: Wie finanzieren Ihre Frau und Ihre Kinder den Lebensunterhalt in der Türkei?
BF: Wir haben 5 Wohnungen, 3 davon sind vermietet. Mein Vater und XXXX unterstützen sie.
RI: Wie viele Kinder haben Sie und wie alt sind diese?
BF: Ich habe 3 Kinder. 2 Mädchen und ein Bub. Die älteste ist XXXX , 10 Jahre alt. XXXX ist 8 Jahre alt, XXXX ist 7 Jahre alt.
RI: Wie würden Sie die wirtschaftliche Lage Ihrer Familie einschätzen?
BF: Gut.
RI: Verfügen Ihre Angehörigen im Herkunftsstaat über eigene Wohnungen oder Häuser? Wie kann ich mir die Wohnsituation Ihrer unmittelbaren Angehörigen im Herkunftsstaat vorstellen?
BF: Die Unterkünfte der nahen Angehörigen gehören ihnen selbst, außer bei XXXX . XXXX hat deshalb noch keine Wohnung, weil er aufgrund des Berufs übersiedeln wird.
RI: Mit wem haben Sie vor Ihrer Ausreise in der Türkei gemeinsam gewohnt?
BF: Ich lebte in einem 2-geschoßigen Gebäude mit meinen Eltern zusammen, wobei das untere Geschoß den Eltern gehört und das obere Geschoß gehört mir. Dort lebte ich. Nachgefragt gebe ich an, dass ich gemeinsam mit Frau und Kindern dort lebte. Sie leben immer noch dort.
RI: Können Sie mir Ihre Adresse im Heimatland bekanntgeben?
BF: XXXX
RI: Von welchem Ort im Heimatland haben Sie Ihre Ausreise begonnen?
BF: Von Van weg.
RI: Wann war die Ausreise?
BF: 28.10.2019.
RI: Erzählen Sie mir wie der Tag der Ausreise abgelaufen ist.
BF: Ich bin von Van mit dem Auto bis zum Grenzübergang in den Iran gefahren. Dort überquerte ich die Grenze. Danach bin ich nicht mehr in der Türkei zurückgekehrt. Von dort bin ich in den Irak gefahren.
RI: Über welche Länder und mit welchen Transportmitteln kamen Sie von der Türkei nach Österreich?
BF: Ich bin vom Irak hierher gekommen. Ich bin illegal gereist, in einem Sattelanhänger. Ich weiß nicht, welche Länder ich durchreist habe. Das Ganze ist von Schleppern organisiert worden.
RI: Haben Sie sich in irgendeinem Land länger als nur zur Durchreise aufgehalten?
BF: Das Ganze hat 5 Tage lang gedauert. Ich habe genug Lebensmittel bekommen und musste meine Bedürfnisse im Anhänger verrichten. Wo wir länger stehengeblieben sind, weiß ich nicht. Ich hatte nicht einmal eine Uhr bei mir. Wir hatten nur einmal einen Umstieg in ein anderes Fahrzeug.
RI: Sie haben vorhin gesagt, Sie haben am 28.10.2019 die Türkei verlassen. Den Asylantrag stellten Sie am 26.06.2022. Das sind jetzt etwas über zweieinhalb Jahre. Das heißt, Sie müssten sich irgendwo länger aufgehalten haben. Das würde ich gerne wissen.
BF: Ich war im Irak. Ich habe dort ein Leben aufgebaut. Weil sie dort meine Muttersprache sprechen, habe ich es bevorzugt, dort hinzufahren. Ein Freund von mir hat ebenfalls etwas Schlechtes erlebt im Irak. Deswegen habe ich auch dieses Land verlassen.
RI: Ohne jetzt auf das Fluchtvorbringen vorgreifen zu wollen, können Sie mir kurz sagen, was Ihrem Freund im Irak widerfahren ist?
BF: Er war ein Politiker. Mein Freund wurde angegriffen und verletzt. Wir wurden diesbezüglich beschuldigt, ihm das angetan zu haben. Wir wurden in Zellen festgehalten, bedroht, wir hatten keine Sicherheit mehr und entschlossen, das Land zu verlassen.
RI: Erfolgte die Ausreise aus der Türkei legal oder illegal?
BF: Die Beschäftigten in der Partei BDP, später HDP wurden mit Operationen angegriffen, festgenommen, weshalb mir mein Rechtsanwalt empfohlen hat, das Land zu verlassen. Ich bin mit dem Reisepass in den Iran und den Irak ausgereist.
RI: Erfolgte die Ausreise behördlich kontrolliert?
BF: Ich bin offiziell über den Grenzübergang ausgereist. Die Freunde wurden festgenommen. Der Rechtsanwalt empfahl mir, das Land zu verlassen.
RI: Hatten Sie im Zuge der Ausreise Probleme mit Grenzbeamten?
BF: Nein, ich wurde damals nicht gesucht. Ich bin ausgereist mit Vorahnung.
RI: Sind Sie nach der Ausreise jemals in die Türkei zurückgereist?
BF: Nein.
RI: Hatten Sie anlässlich Ihrer Ausreise ein bestimmtes Reiseziel?
BF: Beim Verlassen der Türkei war mein Ziel Irak, weil dort meine Muttersprache gesprochen wird. Erbil, Dohuk, Suleymania, das ist diese Gegend. Dort habe ich auch Verwandtschaft.
RI: Hatten Sie anlässlich Ihrer Ausreise aus dem Irak ein bestimmtes Reiseziel?
BF: Ein Land, wo ich Sicherheit habe. Im Irak habe ich gesehen, wie mein bester Freund erschossen wurde. Er wurde zuerst angegriffen. Erst nach einem Jahr wurde er getötet. Wir wurden beschuldigt. XXXX wurde seitens des Staates Türkei umgebracht. Das scheint nicht auf.
RI: Gibt es zu diesem Fragenkomplex (persönlicher und familiärer Hintergrund, Reiseroute) Fragen des RV?
RV: keine Fragen.
RI: Haben Sie gegenüber der Polizei und dem BFA wahrheitsgemäß und vollständig ausgesagt, wurde alles richtig protokolliert und rückübersetzt?
BF: Eine Rückübersetzung fand nicht statt, aber der Dolmetscher hat mir erzählt, was war. Ich habe die Übersetzung nicht ganz verstanden. (D erläutert das Wesen einer Rückübersetzung) Doch, das hat stattgefunden.
RI: Wie empfanden Sie die Einvernahmesituation beim BFA?
BF: Ja, es war gut. Es war ruhig und ich musste nichts lügen. Ich habe alles belegt und ich habe auch alles erlebt.
RI: Was war entscheidend dafür, dass Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben?
BF: Ich war Mitglied einer Organisation. Ich war in der Führung der Partei. HDP ist eine oppositionelle Partei, meine ganze Familie ist politisch eingestellt. Aufgrund unserer Arbeiten, Versammlungen und Facebook-Postings wurden meine Freunde festgenommen. Aus Angst, festgenommen zu werden, habe ich das Land verlassen. In dieser Periode wurde ein Freund von mir festgenommen. Dieser lebt derzeit in der Schweiz, hat dort um Asyl angesucht und sein Antrag wurde genehmigt. Ich bat ihn, für mich eine Referenz zu schreiben. Aus Angst um seine Aufenthaltsberechtigung hat er mir das nicht geschrieben.
RI: Welche Funktion hatten Sie in der HDP genau inne?
BF: In der HDP gibt es einen Ausschuss. Unser Ausschuss…ich war in diesem Ausschuss. Dieser Ausschuss war damit betraut, bei den Wahlen und beim Kontakt zum Volk und viele andere Arbeiten, zu organisieren. Man sagt dazu Delegationsmitgliedschaft. Die Bestätigung dafür liegt im Akt auf. Nachgefragt gebe ich an, dass manchmal 100 Personen in dem Ausschuss tätig waren. Im Landkreis XXXX waren zum Bsp. 100 Personen. XXXX ist der alte Name der Provinz XXXX . Aber XXXX ist nicht das heutige XXXX .
RI: Waren Sie für die HDP in einem Vertretungskörper tätig, also waren Sie Abgeordneter?
BF: Nein, wir haben nur Arbeiten durchgeführt. Jeder Stadtteil hatte sein eigenen Delegierten. Wir hatten im Ausschuss das Recht, Entscheidungen der HDP zu bekämpfen, aber auch zu befürworten. Wir haben den Willen des Volkes erkundet.
RI: Einfach zur Klarstellung: Heißt das, Sie waren gemeinsam mit anderen Personen bei der innerparteilichen Entscheidungsfindung tätig, verstehe ich das richtig?
BF: Ja. Es waren Zeiten, dass wir zu 50 Personen gemeinsam gearbeitet haben.
RI: Worum genau ging es in diesen Postings?
BF: Postings über Erdogan. Es wurden Fotos geteilt. Das war alle kein Verbrechen, aber in den Augen des Staates sehr wohl.
RI: Welche konkreten Verfolgungshandlungen gegen Sie wurden wann von wem verwirklicht?
BF: Die Verfolgung fand statt vor 2019 und seither konnte ich nicht mehr in die Türkei zurückreisen, aus Angst, festgenommen zu werden. Und in die Türkei kommt es vor, dass man verurteilt wird, ohne angehört zu werden.
RI wiederholt Frage
BF: Alle meine Freunde sind festgenommen worden. Bevor sie zu mir kamen, habe ich das Land verlassen. Das Ganze aufgrund der Empfehlung eines Rechtsanwaltes.
RI: Aber gab es Verfolgungshandlungen, die sich auf Sie persönlich bezogen haben?
BF: Meine Freunde sind unschuldig und zu Unrecht im Gefängnis. Da kann ich nur anführen, Herr Bekir KAYA, der Bürgermeister der Großstadt Van, sitzt seit 2015 immer noch im Gefängnis. Der Sohn meiner älteren Schwester XXXX , XXXX , wurde von der Gemeinde XXXX gekündigt, weil meine Schwester XXXX einen politischen Akt aufliegen hat. Wenn die Familie politisch ist, wird man auch verfolgt. Ich habe in meiner Verwandtschaft Personen, die seit 32 Jahren in Haft sind, ohne dass sie etwas angestellt haben. Nur, weil mein Cousin die Rechte der Kurden verteidigt hat.
RI wiederholt und erörtert die Frage.
BF: Es fand eine Razzia an meinem Arbeitsplatz statt. Ich wurde von zuhause geholt und sie nannten mich Verbrecher. Und es gab Schwierigkeiten bei den Ämtern, sodass meine Angelegenheiten nicht sofort erledigt wurden. Sie haben versucht, wenn sie mir auch physisch nicht angetan haben, haben sie psychischen Druck ausgeübt.
RI: Wann war diese Razzia?
BF: 2018, 2017. Sie haben das Geschäft durchsucht und sind dann wieder gegangen. Zuhause dasselbe. Die Durchsuchungen fanden auch zuhause statt.
RI: Was wollte man finden?
BF: Unterlagen über Unterstützung der Organisation, über Hilfeleistungen. Ich wurde mit dieser Bekleidung beschuldigt (BF zeigt ein Lichtbild vor), weil gesagt wurde, dass diese Bekleidung eine Guerillabekleidung ist. Das ist nicht meine Bekleidung gewesen, sondern die Bekleidung meines Vaters und das ist eine volkstümliche Bekleidung. Die Besonderheit dieser Bekleidung ist, dass man viele Taschen hat, damit man keine zusätzlichen Taschen benötigt. Diese blaue Bekleidung ist kein Verbrechen, aber die andere ist ein Verbrechen. Meine Kinder ziehen auch diese Kleidung an. Das ist wie in Österreich die Tracht. Das ist eben für die Kurden dasselbe. Das ist eine Nachricht über Bekleidungsverbot (BF zeigt Zeitungsartikel vor). Das kann ich Ihnen vorliegen, wenn Sie wollen.
RI: Ja bitte. Der Dolmetscher wird um Lektüre des Artikels und kursorische Übersetzung ersucht.
D: Überschrift: Die Verbotsentscheidung ist eine Tragödie. Wesentlicher Inhalt: Es wird die Meinung von Ayhan KIZILDOGAN, einem der Leiter des Kultur- und Kunstvereines Gever dargestellt, worin er sagt, dass die Bekleidung der Kurden eine Tracht ist, eine Tragödie sei, dass diese Tracht verboten wurde, wobei diese Bekleidung sehr angenehm zum Tragen ist und man Bewegungsfreiheit habe. Dieses Volk zieht nicht die Jeans und die Stoffanzüge sowie Leinenbekleidung an, die die Bourgeoise den Menschen verteilt hat. Der Artikel ist herausgegeben von DIHA. DIHA Hakkari ist eine Nachrichtenorganisation. Wann der Artikel veröffentlicht wurde steht nirgends.
BF: Newrozfest, das ist ein Feiertag für die Kurden, den 21. März, das wird in allen Städten gefeiert. Ich habe im Internet in den Nachrichten gelesen, dass vor 2 Tagen eine Person mit dem Sportdress von Amed Sport, einem Fußballverein, in Kocaeli, versucht hat, den Newrozfest Platz zu betreten. Dies wurde ihm seitens der Polizei verwehrt, weil er die Uniform des kurdischen Fußballvereins Amed Sport trug.
RI: Welche Organisation hätten Sie angeblich unterstützt?
BF: Wir sind eine Partei des Volkes. HDP oder BDP. Wir sind eine oppositionelle Partei, das wir unterstützt haben. Wir unterstützen die Kurden, wir unterstützen den Frieden, wir waren gegen Waldvernichtung, gegen Unterdrückung der Kurden. Das waren die Hauptthemen.
RI: Hatten diese beiden Razzien noch negative Folgen für Sie?
BF: Das hat meine Arbeit schlecht beeinflusst. Man lebt in Angst. Man muss so denken, der Freund wird erschossen, man selbst flieht.
RI: Ist gegen Sie gegenwärtig ein Strafverfahren anhängig?
BF: Ja, das liegt bei Ihnen auf. Diesbezüglich gibt es die Übersetzungen, das Referenzschreiben des Rechtsanwalts.
RV: Das wurde alles bereits vorgelegt.
RI: Was können Sie mir über dieses Strafverfahren erzählen?
BF: (BF zeigt Screenshots vor, die mit Eingabe vom 18. März 2024 übermittelt wurden) Das sind die Postings. Das ist aus dem Magazin Penguin. Aus dem Magazin Schlaflos (Anm.: deutsche Übersetzung). Der Verkauf davon ist zwar nicht verboten, aber, wenn ich das poste, ist es verboten. Diese Fotos von Erdogan. Ich habe Postings über den Staatspräsidenten Erdogan gemacht. Postings über die Karikatur von Erdogan. Ich habe hier über einen Zeitungsreporter einen Bericht, woraus hervorgeht, dass er Banden und den IS in Syrien unterstützt. Dieser Reporter lebt nicht mehr in der Türkei. Das ist eine staatliche Zeitung in der Türkei mit dem Namen Birgün und ich habe ein Teil von dieser Zeitung geteilt. „Erdogan, der Mörder und Dieb“ steht da geschrieben. Diese Zeitung gibt es immer noch in der Türkei. Aufgrund dieses Postings bin ich jetzt auf der Flucht. So funktioniert die Justiz in der Türkei. Wenn Sie mich jetzt fragen, was würde passieren, wenn ich in die Türkei zurückkehre: Niemand wird seine Heimat verlieren wollen, insbesondere, wenn man sehr Vieles erben wird vom Vater. Mein Vater ist eine Person, die ein gutes Einkommen hat. Niemand würde das Land verlassen, wenn er keine Probleme dort hätte, in dieser Situation. Ich spreche im Allgemeinen von „wir“, weil ich im Namen der Kurden spreche. Wir haben unser Land verlassen, weil wir unsere Kultur nicht ausüben konnten und unsere Muttersprache nicht aussprechen konnten. Wir wurden unterdrückt. Es kann sein, dass ich nach meiner Rückkehr wegen Mitgliedschaft der Organisation bestraft werde. Und wegen Mitgliedschaft in einer Organisation kann man eine Strafe bekommen von über 15 Jahren Haft. Das schreibt auch mein Rechtsanwalt, dass ich nach meiner Rückkehr mit einer Haftstrafe von zweieinhalb bis sechs Jahren zu rechnen habe. Die Zustände in den türkischen Gefängnissen sind so, dass man dort nicht leben kann. Ich habe kein Verbrechen begangen und eine Bekleidung kann kein Verbrechen sein. In den türkischen Gefängnissen gibt es Folter, Vergewaltigung, Nacktsein, in Zellen aufbewahrt sein und das Ganze steht im Internet geschrieben, Sie können das selbst auch verfolgen. Es wurden Menschen von Justizwachebeamten getötet. Es gibt nur 2 Möglichkeiten: Entweder ist man einer von ihnen oder man ist ein Terrorist. Es gibt keinen Unterschied zwischen Frauen, Kindern, junge Leuten und so weiter. Das ist das, was ich erzählen wollte.
RI: Was wird Ihnen in diesem Strafverfahren konkret zur Last gelegt?
BF: Diese Postings. Beleidigungen von Erdogan. Und als PKK-Sympathisant, aufgrund dieser Bekleidung. Das ist nicht die Bekleidung der PKK, sondern die Bekleidung von Kurden.
Pause um 12:00 Uhr bis 12:07 Uhr.
Schreibkräftewechsel von Hr. XXXX auf Fr. XXXX
RI: Welche Strafhöhe haben Sie zu erwarten?
BF: Ich erwarte mir Strafen wegen Facebook-Postings. Laut den Aussagen des Rechtsanwaltes wird die Haftstrafe zwischen 2,5 Jahren und 7 Jahren, vielleicht auch mehr, betragen. Ich möchte etwas betonen, bei den Staatspräsidenten vor Erdogan war es vielleicht 5-10 Verfahren wegen Beleidigung, bei Erdogan sind es 50.000. Laut den Untersuchungen gibt es ca. 70% der Haftinsassen, die zu Unrecht inhaftiert wurden.
RI: Welche Schritte wurden in diesem Strafverfahren Ihres Wissens nach bisher eingeleitet?
BF: Ich werde wegen Verbrechen beschuldigt, aber die Höhe der Strafe kann ich nur erfahren, wenn ich zurückkehre. Die Strafe kann auch in meiner Abwesenheit ausgesprochen werden.
RI: Wird Ihnen auch Terrorpropaganda vorgeworfen, wenn ja, haben Sie diesbezügliche Beweismittel mit Ausnahme des Schreibens des Kanzleipartners Ihres türkischen Anwalts (AS 327 + 329)?
BF: Es könnte eine Terrorpropaganda gegen mich vorliegen, aufgrund dieser Bekleidung, die hier dargestellt ist. Es kann sein, dass andere Personen mich verpetzt haben, damit sie sich selbst retten können.
RI: Ich nehme an, die der Beschwerde und der Stellungnahme beigefügten Facebook-Screenshots samt Anmerkungen in deutscher Sprache bzw. Übersetzungen sollen dem BVwG einen Überblick über die inkriminierten Beiträge in sozialen Medien verschaffen?
BF: Ja.
RI: Was wollen Sie mit OZ 1 – Obduktionsbericht und Sterbeurkunde des XXXX – beweisen?
BF: Ich wurde in Dohuk für 4 Tage inhaftiert. Eine Woche später für 22 Tage inhaftiert. Zuerst wegen der Verletzung von XXXX . Er erlitt Schusswunden am Hals und an der Schulter. Ich wurde diesbezüglich vernommen und zwar in Handschellen, ich wurde beschimpft, ich wurde bedroht, in der Türkei ausgeliefert zu werden. Eine Woche später wurde ich 22 Tage wieder wegen der gleichen Sache inhaftiert. Es wurde mir alles abgenommen, wie Telefon, Aufenthaltsberechtigung, Reisepass. Es wurde das alles getan, damit ich unter Kontrolle stand. XXXX war nicht der Einzige, der erschossen wurde, es waren noch 12 weitere Personen, die ebenfalls getötet wurden. Das sind politische Personen, wie Ärzte, Staatsanwälte und dergleichen, gewesen. Ich habe die Unterlagen von XXXX abgegeben, um darzustellen, dass ich Angst hatte das gleiche zu erleben, wie die anderen getöteten Personen. Dieser Ort, wohin ich gereist bin, war mein Ziel. Ich bin hierhergekommen, nur deshalb, weil ich keine andere Möglichkeit hatte.
RI: In welcher Verbindung steht XXXX zu Ihnen?
BF: Er ist so nahe zu mir, dass ich zu ihm älterer Bruder sagen kann. Wir waren eine Gruppe mit 4 Personen. Zwei von diesen, sind gerade draußen am Gang. Wir waren 7 Tage für 24 Stunden zusammen. Wir waren von der gleichen Kultur, von der gleichen Gesinnung, wir hatten ein gutes Zusammenleben. Er hatte ein Kaffeehaus, das war der Punkt, wo wir uns trafen. Man muss das einfach so sehen, wenn 4 oder 5 Österreicher in Zürich leben, treffen sie sich in Zürich zusammen, weil sie die gleiche Kultur und die gleiche Sprache haben. Bei uns war das auch so.
RI: Wann wurde Herr XXXX getötet?
BF: Das erste Mal wurde er verletzt, beim zweiten Mal wurde er getötet, entweder am 11. März oder am 11. April 2023. Er wurde in seinem eigenen Kaffeehaus getötet. Zwischen der Verletzung und der Tötung verging 1 Jahr.
RI: Wann wurden Sie deswegen inhaftiert?
BF: Das war nach der ersten Verletzung.
RI: Gab es irgendwelche Hinweise, dass Sie mit der Verletzung etwas zu tun hatten?
BF: Nein. Wir sind vom Krankenhaus nach Hause gekommen, die Polizei ist gekommen und hat uns von zu Hause abgeholt, weil sie uns wegen der Verletzung einvernehmen wollten. Nach 6 Stunden Aufenthalt in der Polizeistation, sagten sie uns, dass wir dort bleiben werden. Wir blieben 4 Tage in der Polizeistation, wir bekamen nur Essen, hatten nichts zum Rauchen, bekamen keine Informationen. Wir wurden einzeln befragt, sie schlugen damals mit Holzstöcken auf unseren Sohlen und sagten, dass sie wüssten, wer wir sind. Sie uns der Türkei ausliefern würden. Unsere Hände waren mit Handschellen verbunden, die Augen waren verbunden, wir wussten nicht, wer uns einvernahm. Nach 4 Tagen wurden wir mit XXXX entlassen. Erst da haben wir erfahren, dass er auch in dieser Station war. Trotz der Verletzung von XXXX , haben sie ihn aufgehalten und sie sagten, dass wir ( XXXX , XXXX , XXXX und ich) aufgehalten wurden, nur zu unserer eigenen Sicherheit. XXXX war der Gesellschafter des Kaffeehauses. Wir wurden beschuldigt, unseren engsten Freund XXXX verletzt zu haben. Das ist die Methode des Geheimdienstes der Türkei, andere Leute mit Straftaten zu beschuldigen, obwohl sie es selbst gemacht haben. Am 17.01.2024 fand eine Verhandlung bezüglich der Tötung von XXXX statt. Es wurden viele Personen festgenommen, aber auch wieder entlassen. Bei dieser Verhandlung waren 6 oder 7 Personen, die beschuldigt wurden. Zwei davon wurden inhaftiert. Diese Personen haben bei der Verhandlung erzählt, dass die Tötung von MIT, dem türkischen Geheimdienst, organisiert wurde. Es wurde sogar beschrieben, mit welcher Waffe er getötet wurde. Ich habe leider keine Unterlagen darüber, weshalb ich das nicht beweisen kann. Der Bruder von XXXX war bei dieser Verhandlung dabei, er hat mir das mitgeteilt.
RI: Warum bringen Sie die Verletzung und Tötung von XXXX in Ihrer Asylverhandlung vor?
BF: Ich war dort, weil ich dort meine eigene Sprache sprechen konnte und in Sicherheit war. Jetzt ist diese Sicherheit nicht mehr gegeben. Ich habe seinen Namen angeführt, um Ihnen mitzuteilen, in welcher Lage ich derzeit stecke.
RI: Warum ist Ihnen die Sicherheit wegen Herrn XXXX nicht mehr gegeben?
BF: Es ist dort so, wenn man politisch tätig ist, dass man jederzeit umgebracht werden kann oder an die Türkei ausgeliefert werden kann. So, wie es den anderen Personen ergangen ist. Wir wurden damit auch bedroht. Der Direktor sagte uns, als wir, damit meine ich jene Personen, die ich bereits oben erwähnte, vor ihm saßen, dass er uns auch bei der geringsten Kleinigkeit der Türkei ausliefern werde.
RI: Gab es ein konkretes fluchtauslösendes Ereignis in der Türkei? Ich beziehe mich dabei auf 2019.
BF: Das war aufgrund der Empfehlung des Rechtsanwaltes. Ich habe dort sogar ein Referenzschreiben von einem Abgeordneten. Woraus hervorgeht, dass sowohl am Arbeitsplatz als auch zu Hause, Druck auf mich ausgeübt wurde.
RI: Gibt es sonst noch Gründe, außer jenen, die schon vorgebracht haben, weshalb Sie nicht in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren könnten?
BF: Das ist alles, ich möchte nur hinzufügen, dass ich auf den Tag warte, ohne Probleme zurückreisen zu können. Dies kann nur geschehen, wenn eine Begnadigung erfolgt.
RI: Gibt es zu diesem Fragenkomplex (Fluchtvorbringen) Fragen des RV?
RV: Ja.
RV: Glauben Sie, dass der MIT XXXX ermordet hat?
BF: Ja.
RV: Gehen Sie davon aus, dass der MIT XXXX vor den beiden Attentaten ausspioniert hat, um die Attentaten begehen zu können?
BF: Ja, natürlich. Diese zwei Personen, die festgenommen wurden, haben das auch ausgesagt.
RV: Gehen Sie davon aus, dass der MIT weiß, dass Sie einen engen Freundschaft mit XXXX hatten?
BF: Ja, natürlich. Sie können auch Fotos von uns haben. XXXX ist in seinem Kaffeehaus getötet worden, er wollte mit mir gemeinsam dorthin gehen, gut, dass ich nicht gemeinsam mit ihm hingegangen bin.
RV: XXXX wurde in der Türkei beschuldigt, ein PKK Mitglied zu sein und an einem Sprengstoffattentat beteiligt gewesen zu sein. Gehen Sie davon aus, dass der MIT oder türkischen Polizei auch Sie aufgrund Ihrer Nähe zu Herrn XXXX , der PKK Mitgliedschaft verdächtigt?
BF: Wie ich schon gesagt habe, sie werden sich über uns erkundigt haben und mich verdächtigen.
RV: Glauben Sie, dass XXXX etwas mit dem Sprengstoffattentat zu tun hatte oder jemals Mitglied der PKK war?
BF: Nein. Ich möchte etwas dazu erklären: XXXX war 5 Jahre lang in Haft und wurde entlassen, weil er kein Mitglied der PKK war. Es wurde bewiesen, dass XXXX 7 Jahre lang in der eigenen Firma beschäftigt war und nicht in die Berge gezogen ist. XXXX hatte im Kulturzentrum der Partei gearbeitet. Er hatte nach seiner Entlassung Angst, nicht in Ruhe gelassen zu werden, weshalb er in den Irak geflüchtet ist.
RV: Falls der zuständige Richter noch weitere Fragen hätte zur HDP, zu den Strukturen der Partei und Zielen der Partei, könnten Sie dazu detaillierte Antworten geben?
BF: Natürlich.
RV keine weiteren Fragen.
RI: Möchten Sie Beweisanträge stellen?
RV: Nein.
RI: Gibt es Ihrerseits Vorbringen, insbesondere auch im Hinblick auf die von mir ins Verfahren eingebrachte AFB der Staatendokumentation „Verfolgung einfacher HDP-Mitglieder“ vom 11.08.2022?
RV: Ich verweise auf die heute vorgelegte Anfragebeantwortung von ACCORD zur Zahl a-12337-1. Daraus geht insbesondere hervor, dass in den Jahren seit dem Putschversuch im Juli 2016 Tausende Funktionäre der HDP festgenommen wurden. Allein aus dieser Anzahl geht hervor, dass es sich dabei nicht bloß um führende Parteimitglieder handeln kann. Darüber hinaus wird auch über die Verhaftung von Mitgliedern der HDP im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen in sozialen Medien berichtet. Das entsprechende Profil trifft auch auf den BF zu.
Zum Zeitpunkt der Ausreise des BF aus der Türkei, wurde nach Angaben seines türkischen Rechtsanwaltes bereits ein Strafverfahren wegen verschiedener Beiträge in sozialen Medien gegen den BF geführt. Zu diesem Verfahren verfügen wir über keine Unterlagen. Jenes Verfahren, zu welchem nun Gerichtsunterlagen aus der Türkei vorgelegt wurden, betrifft ein später gegen den BF eröffnetes Strafverfahren wegen Veröffentlichungen auf seinem zweiten Facebook Account. Im Fall einer Rückkehr müsste der BF damit rechnen, wegen all dieser Beiträge in sozialen Medien, wegen seiner Parteimitgliedschaft und wegen seiner engen Freundschaft zu einem vermeintlichen PKK-Mitglied und Attentäter unter Anwendung von Folter verhört bzw. strafrechtlich verfolgt zu werden. Wobei sich aus den vorliegenden Länderberichten ergibt, dass der BF in einem solchen Verfahren nicht mit der Einhaltung rechtsstaatlichen Standards im Sinne des Artikel 6 EMRK, rechnen könnte.
[…]
RI: In welchem Verhältnis stehen Sie zum BF?
Z 1: Wir sind Freunde.
RI: Sind Sie mit dem BF verwandt oder verschwägert?
Z 1: Nein.
RI: Gehen Sie davon aus, das der BF in der Türkei verfolgt werden würde?
Z 1: Ja.
RI: Woraus leiten Sie ab, dass dem BF eine Verfolgung in der Türkei droht?
Z 1: Aufgrund der Erkenntnisse von meinem eigenen Akt und aufgrund meiner eigenen Lage und zwar der politischen Aktivität.
RI: Können Sie das mir kurz begründen?
Z 1: Ich weiß von meiner eigenen Geschichte, dass die Polizei dauernd zu meiner Familie kommt oder sie telefonieren, weil es einen Akt über eine Klage gegen mich gibt. Ich bin der Meinung, dass es möglich ist, dass es meinem Freund genauso geht.
RI: Welche Verbindung besteht zwischen dem BF und XXXX ?
Z 1: Ich und XXXX hatten ein Kaffeehaus, das wir gemeinsam betrieben haben. Ich hatte früher eine Beziehung zu XXXX , ich betrieb im Irak ein Kaffeehaus und in diesem Kaffeehaus lernte ich den BF kennen.
RI: In welcher Verbindung stand der BF und XXXX ?
Z 1: Sie waren gute Freunde.
RI: Gibt es Fragen des RV an die Zeugin?
RV: Ja.
RV: AS 341 (links oben): Welche 4 Personen sind hier abgebildet?
Z 1: XXXX , XXXX , XXXX und ich.
RV: Würden Sie sagen, dass dieses Foto ein gutes Beispiel ist für die Freundschaft, die sie damals geführt haben?
Z 1: Ja, natürlich.
RV: Gehen Sie davon aus, dass der MIT an den beiden Attentaten gegen XXXX beteiligt war bzw. diese organisiert hat?
Z 1: Es gibt keine andere Möglichkeit.
RV: Gehen Sie davon aus, dass XXXX und sein Umfeld vor dem Attentat durch den MIT ausspioniert wurden?
Z 1: Anfangs, vor diesem Attentat, habe ich das nicht angenommen, aber nach dem Vorfall gibt es keine andere Möglichkeit.
RV: Der BF hat angegeben, dass seine Familie in der Türkei wohlhabend ist, dass es der Familie wirtschaftlich gut geht. Wissen Sie etwas darüber, können Sie das bestätigen?
Z 1: Ich kann das bestätigen, weil ich seine Familie kenne.
RV keine weiteren Fragen.
[…]
RI: In welchem Verhältnis stehen Sie zum BF?
Z 2: Wir kennen uns seit Jahren.
RI: Sind Sie mit dem BF verwandt oder verschwägert?
Z 2: Wir kennen uns nur, keine Verwandtschaft.
RI: Gehen Sie davon aus, dass dem BF in der Türkei eine Verfolgung droht?
Z 2: Ja.
RI: Woraus leiten Sie ab, dass dem BF eine Verfolgung in der Türkei droht?
Z 2: Ich bin in der gleichen Lage wie er.
RI: Können Sie das näher definieren?
Z 2: Nach den Personen, die bestraft wurden und nicht mehr in der Türkei anwesend sind, wird gefragt. Wenn sie gesucht werden, wird nach ihnen gefragt, und wenn sie nicht da sind, dann werden ihre Eltern befragt. Ich kann das deshalb sagen, weil ich ebenfalls bestraft bin und dauernd bei meinen Eltern nach mir gefragt wird.
RI: Welche Verbindung besteht zwischen dem BF und XXXX ?
Z 2: Sie sind Freunde.
RI: Gibt es Fragen des RV an den Zeugen?
RV: Keine Fragen. Ich habe meine Fragen bereist gestellt, es gibt auch nichts, was diesen Beweisergebnissen entgegensteht.
[…]
RI: Gibt es eine abschließende Stellungnahme des BF oder wollen Sie sich den Worten Ihres RV anschließen?
BF: Von mir aus nur so viel, ich schließe mich an.
[…]“
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die Identität des BF steht fest. Der BF führt den Namen XXXX und wurde am XXXX geboren. Er ist türkischer Staatsangehöriger, gehört der kurdischen Volksgruppe an und bekennt sich zum Islam. Der BF beherrscht die Sprachen Kurdisch und Türkisch. Er ist verheiratet und Vater von drei unmündigen minderjährigen Kindern.
Bis zu seiner Ausreise im Jahr 2019 lebte der BF in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX in einem gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern, seiner Frau und seinen Kindern. Das Haus steht im Eigentum der Familie des BF und die angeführten Personen halten sich nach wie vor dort auf. Am 28.10.2019 migrierte der BF legal in den Irak und hielt sich dort bis Juni 2022 auf. In weiterer Folge reiste er unrechtmäßig und unter Umgehung von Grenzkontrollen auf dem Landweg nach Österreich.
Der BF besuchte in seinem Herkunftsstaat zwölf Jahre die Schule und absolvierte zwar keine Berufsausbildung, erwarb jedoch Berufserfahrung als Autohändler und Betreiber eines Kaffeehauses sowie als Landwirt.
1.2. Die Familienangehörigen des BF, konkret seine Eltern, seine Schwestern, sein Bruder, seine Ehefrau sowie seine Kinder, leben derzeit in verschiedenen Städten der Türkei. Die genannten Personen finanzieren über deren Ehepartner deren Lebensunterhalt bzw. gehen einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach oder sind Pensionisten. Darüber hinaus verfügt der BF in der Türkei noch über weitere entferntere Angehörige. Die wirtschaftliche Lage der Familie stellt sich als gut dar, der BF selbst gehört der oberen Mittelschicht an. Der BF hat regelmäßig Kontakt zu seinen näheren Angehörigen in der Türkei.
1.3. Der BF ist körperlich und geistig gesund und bedarf keiner Medikation.
1.4. Der BF hatte vor seiner Ausreise keine Nachteile aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seines Religionsbekenntnisses, seines politischen Hintergrundes oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu gewärtigen.
Gegen den BF ist in der Türkei ein Strafverfahren wegen Beleidigung des Präsidenten anhängig. Der Strafrahmen des § 299 tStGB beträgt ein Jahr bis vier Jahre Freiheitsstrafe. Der BF muss nicht befürchten, dass er einem den Verfahrensgarantieren nach Art. 6 EMRK widersprechenden Strafverfahren ausgesetzt wäre.
Dass der BF wegen des Delikts der Terrorpropaganda (oder einer anderen Straftat, die diesem Segment zuzuordnen ist) verfolgt werden würde, konnte nicht festgestellt werden.
1.5. Vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat war der BF auch keiner individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe oder Privatpersonen ausgesetzt. Dem BF droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ihm droht auch keine anderweitige individuelle Gefährdung, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie bewaffneten Auseinandersetzungen oder terroristische Anschläge in seiner Herkunftsregion.
Er verließ seinen Herkunftsstaat im Jahr 2019 auf legalem Wege, indem er von Van über den Iran in den Irak reiste. Circa drei Jahre später reiste er schlepperunterstützt mit einem LKW auf dem Landweg über Ungarn nach Österreich. Im Bundesgebiet stellte er in weiterer Folge gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF wird im Falle einer Rückkehr in seine Herkunftsregion (bzw. einer Rückkehr in die Türkei im Allgemeinen) keiner individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt und auch keiner anderweitigen asylrelevanten Bedrohung ausgesetzt sein. Der BF wurde nicht von Privatpersonen oder staatlichen Organen mit dem Tod oder dem Eintreten anderer (schutzrelevanter) Nachteile bedroht. Im Fall einer Rückkehr wird er wiederum in den Familienverband integriert werden. Im Übrigen wird der BF im Stande sein, selbst für seinen Lebensunterhalt Sorge zu tragen.
Istanbul ist (ebenso wie sämtliche andere Regionen der Türkei) ohne die maßgebliche Wahrscheinlichkeit eintretender sicherheitsrelevanter Vorfälle erreichbar. Von Istanbul aus bestehen Inlandsflüge zum Flughafen Ferit Melen (Van).
Der BF ist keinen illegitimen Verfolgungshandlungen ausgesetzt. Im Falle einer Verurteilung könnte ihm theoretisch die Verhängung einer Haftstrafe drohen. Die Haftbedingungen in der Türkei widersprechen nicht im Allgemeinen den Art. 2 und 3 EMRK.
1.6. Der BF ist in die Gesellschaft seines Herkunftsstaates integriert. In seinem Herkunftsstaat verfügt der BF über eine gesicherte Existenzgrundlage, eine unentgeltliche Wohnmöglichkeit im Haus seiner Eltern in XXXX in der Provinz Van sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in seiner Herkunftsregion in Gestalt (zumindest) seiner dort lebenden Eltern, Geschwister, Ehefrau und Kinder. Auch hat der BF in der Türkei darüberhinausgehende soziale Anknüpfungspunkte. Er wird nach erfolgter Rückkehr Aufnahme im Familienverband finden, einer beruflichen Tätigkeit nachgehen können und - sofern er dies wünscht - im Familienverband versorgt werden und auch selbsterhaltungsfähig sein. Dem BF ist selbstverständlich die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit möglich und zumutbar.
1.7. Der BF hält sich seit spätestens 22.06.2022 in Österreich auf. Er reiste unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein, ist seither als Asylwerber im Bundesgebiet aufhältig und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Der BF bezog von Juni bis Oktober 2022 Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Seit Jahresende 2023 geht der BF einer selbstständigen Beschäftigung nach und bringt circa EUR 1.200,-- bis 1.300,-- ins Verdienen.
Der BF schloss bis dato keinen Deutschkurs ab und verfügt über keine erkennbaren Kenntnisse der deutschen Sprache.
Über Angehörige in Österreich verfügt der BF nicht. Eine Cousine des BF lebt in der Schweiz.
Seine Freizeit verbringt der BF mit Fahrradtouren und dem Versuch, die deutsche Sprache zu lernen.
Der BF verfügt in Österreich über keinen maßgeblichen Freundeskreis. Er engagiert sich weder ehrenamtlich noch gehört er einem Verein an, besucht jedoch fallweise einen kurdischen Verein.
Eine maßgebliche Integration des BF in Österreich ist nicht gegeben.
Der BF ist strafrechtlich unbescholten bzw. nicht in Erscheinung getreten. Jedoch wurden bis dato zwei Verwaltungsstrafen wegen Fahrens ohne Führerschein gegen den BF verhängt.
1.8. Der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs 1 Z 1 oder Abs 1a FPG 2005 geduldet. Der Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von damit zusammenhängenden zivilrechtlichen Ansprüchen notwendig. Der BF wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
1.9. Zur Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen getroffen:
3. Politische Lage
Letzte Änderung 2024-03-07 13:54
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) unzufrieden und nach deren erneutem Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 desillusioniert. Ursache sind v. a. der durch die hohe Inflation verursachte Kaufkraftverlust, welcher durch Lohnzuwächse und von der Regierung im Vorfeld der Wahlen 2023 beschlossene Wahlgeschenke nicht nachhaltig kompensiert werden konnte, die zunehmende Verarmung von Teilen der Bevölkerung, Rückschritte in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die fortschreitende Untergrabung des Laizismus. Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Laut einer aktuellen Studie möchten fast 82 % das Land verlassen und im Ausland leben. Während die vorhergehende Regierung keinerlei Schritte unternahm, die Unabhängigkeit der Justizbehörden und eine objektive Ausgabenkontrolle wiederherzustellen, versucht die neue Regierung zumindest im wirtschaftlichen Bereich Reformen durchzuführen, um den Schwierigkeiten zu begegnen. Die Gesellschaft ist – maßgeblich aufgrund der von Präsident Erdoğan verfolgten spaltenden Identitätspolitik – stark polarisiert. Insbesondere die Endphase des Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 war von gegenseitigen Anschuldigungen und Verbalangriffen und nicht von der Diskussion drängender Probleme geprägt. Selbst die wichtigste gegenwärtige Herausforderung der Türkei, die Bewältigung der Folgen der Erdbebenkatastrophe, trat in den Hintergrund (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4f.).
Die Opposition versucht, die Regierung durch Kritik am teilweise verspäteten Erdbeben-Krisenmanagement und in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen und förderte die in breiten Bevölkerungsschichten zunehmend migrantenfeindliche Stimmung. Die Gesellschaft bleibt auch, was die irreguläre Migration betrifft, stark polarisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 5; vgl. EC 8.11.2023, S. 12, 54, WZ 7.5.2023), zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022a, S. 43). Das hat u. a. mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagieren ein "stolzes Türkentum". Islamischen Wertvorstellungen wird zusehends mehr Gewicht verliehen. Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpfen um ihr Dasein (WZ 7.5.2023). Angesichts des Ausganges der Wahlen im Frühjahr 2023 stellte das Europäische Parlament (EP) überdies hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Verfasstheit des Landes fest, dass nicht nur "rechtsextreme islamistische Parteien als Teil der Regierungskoalition ins Parlament eingezogen sind", sondern das EP war "besorgt über das zunehmende Gewicht der islamistischen Agenda bei der Gesetzgebung und in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, unter anderem durch den wachsenden Einfluss des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) im Bildungssystem" und "über den zunehmenden Druck der Regierungsstellen sowie islamistischer und ultranationalistischer Gruppen auf den türkischen Kultursektor und die Künstler in der Türkei, der sich in letzter Zeit darin zeigt, dass immer mehr Konzerte, Festivals und andere kulturelle Veranstaltungen abgesagt werden, weil sie als kritisch oder "unmoralisch" eingestuft wurden, um eine ultrakonservative Agenda durchzusetzen, die mit den Werten der EU unvereinbar ist" (EP 13.9.2023, Pt. 17).
Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 10.3.2023). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 8.11.2023, S. 4, 12; vgl. EP 13.9.2023, Pt.9, WZ 7.5.2023).
Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl. DE/Aydas 31.12.2022, Güney 1.10.2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl.Esen/Gumuscu 19.2.2016).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser implizit negativ auf Demokratie und Grundrechte aus, denn einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumten, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert. Einige dieser Bestimmungen wurden um weitere zwei Jahre verlängert, aber die meisten jener sind im Juli 2022 ausgelaufen (EC 8.11.2023, S. 12). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022a). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR. Der türkische Rechtsrahmen enthält beispielsweise allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 8.11.2023, S. 6).
Das Europäische Parlament kam im September 2023 in Hinblick auf die Beitrittsbemühungen der Türkei zum Schluss, "dass die türkische Regierung kein Interesse daran hat, die anhaltende und wachsende Kluft zwischen der Türkei und der EU in Bezug auf Werte und Standards zu schließen, da die Türkei in den letzten Jahren klar gezeigt hat, dass ihr der politische Wille fehlt, um die notwendigen Reformen durchzuführen, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit, die Grundrechte und den Schutz und die Inklusion aller ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten" (EP 13.9.2023, Pt. 21).
Das Präsidialsystem
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 28.7.2022, S. 5; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 14).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 1.4.2021, S. 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 23.2.2022a, S. 36). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55). In einer weiteren Entschließung vom September 2023 erklärte sich das Europäische Parlament "tief besorgt über die fortwährende übermäßige Machtkonzentration beim türkischen Präsidenten ohne wirksames System von Kontrollen und Gegenkontrollen, durch die die demokratischen Institutionen des Landes erheblich geschwächt wurden; [und] betont, dass die fehlende Eigenständigkeit auf mehreren Verwaltungsebenen aufgrund der extremen Abhängigkeit vom Präsidenten bei allen Arten von Entscheidungen und der Alleinherrschaft eines einzigen Mannes ein dysfunktionales System zur Folge haben kann" (EP 13.9.2023, Pt.20).
Machtfülle des Staatspräsidenten
Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7). Die gesetzgebende Funktion des Parlaments wird durch die häufige Anwendung von Präsidialdekreten und Präsidialentscheidungen eingeschränkt. Das Fehlen einer wirksamen gegenseitigen Kontrolle und die Unfähigkeit des Parlaments, das Amt des Präsidenten wirksam zu überwachen, führen dazu, dass dessen politische Rechenschaft auf die Zeit der Wahlen beschränkt ist. Die öffentliche Verwaltung, die Gerichte und die Sicherheitskräfte stehen unter dem starken Einfluss der Exekutive. Die Präsidentschaft übt direkte Autorität über alle wichtigen Institutionen und Regulierungsbehörden aus (EC 8.11.2023, S. 13-15; vgl.EP 19.5.2021, S. 20/ Pt. 55).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art. 8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 1.4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, S. 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab der Armee, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S. 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck und es mangelt ihr an Unabhängigkeit (EC 8.11.2023, S. 10f., 65).
Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen. - Von Jänner bis Dezember 2022 nahm das Parlament 80 von 749 vorgeschlagenen Gesetzen an. Demgegenüber wurden im selben Zeitraum 273 Präsidialdekrete, die im Rahmen des Ausnahmezustands zu einer Vielzahl von politischen Themen (einschließlich sozioökonomischer Fragen) erlassen wurden, den Parlamentsausschüssen vorgelegt (EC 8.11.2023, S. 13). Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7) und zwar nur durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 1.4.2021, S. 9). Das Parlament verfügt nicht über die erforderlichen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Ordentliche Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle. Die im Rahmen des Ausnahmezustands erlassenen Dekrete des Präsidenten jedoch müssen dem Parlament zur Genehmigung vorgelegt werden (EC 8.11.2023, S. 14).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).
Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57).
Monitoring des Europarates
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (CoE-PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).
Präsidentschaftswahlen
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit (seit der Verfassungsänderung 2017) einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 7). - Am 10.3.2023 rief der Präsident im Einklang mit der Verfassung und im Einvernehmen mit allen politischen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für den 14.5.2023 aus (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 4; vgl.PRT 10.3.2023).
Da keiner der vier Präsidentschaftskandidaten am 14.5.2023 die gesetzlich vorgeschriebene absolute Mehrheit für die Wahl erreichte, wurde für den 28.5.2023 eine zweite Runde zwischen den beiden Spitzenkandidaten, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und dem von der Opposition unterstützten Kemal Kılıçdaroğlu, angesetzt (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). In der ersten Runde verfehlte Amtsinhaber Erdoğan mit 49,5 % knapp die notwendige absolute Stimmenmehrheit, gefolgt von Kılıçdaroğlu mit 44,9 % und dem Ultranationalist Sinan Oğan mit 5,2 %, der kurz vor der Stichwahl eine Wahlempfehlung für Erdoğan abgab (Zeit online 22.5.2023).
Die am 28.5.2023 abgehaltene Stichwahl bot laut der internationalen Wahlbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Beteiligung von Wahlbeobachtern der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) den Wählern und Wählerinnen die Möglichkeit, zwischen echten politischen Alternativen zu wählen. Die Wahlbeteiligung war wie im ersten Wahlgang hoch, doch wie schon in der ersten Runde verschafften eine einseitige Medienberichterstattung und das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen dem Amtsinhaber einen ungerechtfertigten Vorteil. Die Wahlverwaltung hat die Wahl technisch effizient durchgeführt, aber es mangelte ihr weitgehend an Transparenz und Kommunikation. In dem gedämpften, aber dennoch kompetitiven Wahlkampf konnten die Kandidaten ihren Wahlkampf frei gestalten. Die härtere Rhetorik, hetzerische und diskriminierende Äußerungen beider Kandidaten sowie die anhaltende Einschüchterung und Schikanierung von Anhängern einiger Oppositionsparteien untergruben jedoch den Prozess (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Diesbezüglicher "Höhepunkt" waren Fake News von Erdoğan. - Dieser zeigte während einer Wahl-Kundgebung eine Videomontage, in der es so aussah, als würden PKK-Führungskräfte das Wahlkampflied der größten Oppositionspartei CHP singen (Duvar 7.5.2023; DW 23.5.2023) und Kılıçdaroğlu an den PKK-Kommandanten, Murat Karayilan, appellieren: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen" ARD 28.5.2023; vgl. DW 23.5.2023). In Folge wurde die Manipulation von Erdoğan zugegeben (ARD 28.5.2023; vgl. DS 24.5.2023), obgleich er in einem Fernsehinterview sagte, dass es ihm gewissermaßen egal sei, ob das Video manipuliert wurde oder nicht (DW 23.5.2023). Dies hielt Erdoğan nicht davon ab, unmittelbar vor der Präsidenten-Stichwahl abermals "offenkundige Absprachen" zwischen Kılıçdaroğlu und PKK-Terroristen in den Kandil-Bergen zu behaupten (DS 24.5.2023).
In einem Umfeld, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, haben sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Medien bei ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf keine redaktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleistet, was die Fähigkeit der Wähler, eine fundierte Wahl zu treffen, beeinträchtigt hat (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Amtsinhaber Erdoğan gewann die Stichwahl mit rund 52 %, während sein Herausforderer, Kılıçdaroğlu, knapp 48 % gewann. Während Kılıçdaroğlu in den großen Städten, wie Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Adana, im Südosten (mit seiner mehrheitlich kurdischen Bevölkerung) und den Mittelmeer-Provinzen gewann, dominierte Erdoğan den Rest des Landes, vor allem Zentralanatolien, die Schwarzmeerküste, aber auch vom Erdbeben betroffene Provinzen wie Hatay, Gaziantep, Adıyaman oder Şanlıurfa (AnA 29.5.2023; vgl. Politico 29.5.2023,taz 10.4.2023).
Das Parlament
Der Rechtsrahmen bietet nicht in vollem Umfang eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen. Die noch unter dem Kriegsrecht verabschiedete Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht in ausreichendem Maße, da sie sich auf Verbote zum Schutz des Staates konzentriert und Rechtsvorschriften zulässt, die weitere unzulässige Einschränkungen mit sich bringen. Die Mitglieder des 600 Sitze zählenden Parlaments werden für eine fünfjährige Amtszeit [zuvor vier Jahre] nach einem Verhältniswahlsystem in 87 Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Vor der Wahl sind Koalitionen erlaubt, aber die Parteien, die in einer Koalition kandidieren, müssen individuelle Listen einreichen. Im Einklang mit einer langjährigen Empfehlung der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats wurde mit den Gesetzesänderungen von 2022 die Hürde für Parteien und Koalitionen, um in das Parlament einzuziehen, von 10 % auf 7 % gesenkt (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S. 6f.).
Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattgefundenen Parlamentswahlen erhielt die "Volksalliance" unter Führung der AKP mit 49 % der Stimmen eine absolute Mehrheit der 600 Parlamentsitze. - Die AKP gewann hierbei 268 (35,6 %), die ultranationalistische MHP 50 (10,1 %) und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei - Yeniden Refah Partisi (YRP) fünf Sitze (2,8 %). Das Oppositionsbündnis "Allianz der Nation" unter der Führung der säkularen, sozialdemokratisch ausgerichteten CHP erlangte 35 %, wobei die CHP 169 (25,3 %) und die nationalistische İYİ-Partei 43 Sitze (9,7 %) errang. Aus dem Bündnis mehrerer Linksparteien unter dem Namen "Arbeit und Freiheitsallianz" schafften die Links-Grüne Partei - Yeşil Sol Parti (YSP) mit künftig 61 (8,8 %) und die "Arbeiterpartei der Türkei" -Türkiye İşçi Partisi (TİP) mit vier Abgeordneten den Sprung ins Parlament (TRT 2023; vgl. BBC 22.5.2023). Das Ergebnis wurde am 30.5.2023 mit dem Entscheid des Obersten Wahlrates amtlich (YSK 30.5.2023).
Duvar 18.5.2023
In der neu gewählten Nationalversammlung sitzen zusätzlich Vertreter und Vertreterinnen mehrer Kleinparteien, welche auf den Listen der AKP, der CHP und er YSP standen. So entfallen von den 268 Sitzen der AKP vier auf die kurdisch-islamistische Partei der Freien Sache, Hür Dava Partisi - HÜDA-PAR und ein Sitz auf die Demokratische Linkspartei, Demokratik Sol Parti - DSP. Von den 149 Mandaten der CHP gehören 14 der Partei für Demokratie und Fortschritt, Demokrasi ve Atılım Partisi - DEVA [des ehemaligen Wirtschaftsministers Ali Babacan], zehn der Zukunftspartei, Gelecek Partisi - GP [des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu] und weitere zehn der islamisch-konservativen Partei der Glückseligkeit, Saadet Partisi -SP und drei der Demokratischen Partie, Demokrat Parti - DP. Über die CHP-Liste bekam die ansonsten eigenständig kandidierende İYİ-Partei zu ihren 43 Sitzen noch einen Sitz dazu. Über die LIsten der Links-Grünen Partei erhielten die Partei der Arbeit, Emek Partisi - EMEP zwei sowie die Partei der Sozialen Freiheit, Toplumsal Özgürlük Partisi - TÖP eines der YSP-Mandate [Anm.: die Zahl der YSP von 63 in der Grafik entspricht nicht jener des amtlichen Wahlresultats von 61 Mandataren] (Duvar 18.5.2023, vgl. BIRN 19.5.2023), was mit den übrigen 58 YSP die offiziellen 61 Parlamentarier ergibt (BIRN 19.5.2023).
Einen Monat vor der Wahl zog die HDP ihre Kandidatur als Partei aufgrund des seit 2021 Verbotsverfahrens gegen sie zurück und stellte ihre Kandidaten auf die Liste der mit ihr verbündeten Kleinpartei YSP zu den Wahlen (taz 10.4.2023; vgl. AJ 11.5.2023).
Die Parlamentswahlen fanden inmitten einer erheblichen Polarisierung und eines intensiven Wettbewerbs zwischen den Regierungs- und den Oppositionsparteien statt, die unterschiedliche politische Programme zur Gestaltung der Zukunft des Landes vertraten. Während des Wahlkampfs wurden die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Allgemeinen respektiert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. Vertreter der YSP sahen sich durchgängig Druck und Einschüchterungen ausgesetzt, die sich gegen ihre Wahlkampfveranstaltungen und Unterstützer richteten und zu systematischen Festnahmen führten. So leitete der Generalstaatsanwalt von Diyarbakır am 10.4.2023 eine Untersuchung aller Reden ein, die auf einer YSP-Kampagnenveranstaltung gehalten wurden, um festzustellen, ob irgendwelche Reden "terroristische Propaganda" enthielten. Darüber hinaus wurden einige weitere Fälle von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung beobachtet, die sich gegen Oppositionsparteien, Kandidaten und Unterstützer richteten (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 1, 13).
Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt. - Der politische Pluralismus wurde weiterhin dadurch untergraben, dass die Justiz Oppositionsparteien und einzelne Parlamentsabgeordnete, insbesondere der HDP, wegen angeblicher Terrorismusdelikte ins Visier nahm. Das System der parlamentarischen Immunität bietet den Oppositionsabgeordneten keinen ausreichenden Rechtsschutz, um ihre Ansichten innerhalb der Grenzen der Meinungsfreiheit zu äußern. Bis zum Ende der 27. Legislaturperiode (2018-2023) belief sich die Gesamtzahl der Abgeordneten, gegen die ein Beschluss über die parlamentarische Immunität und ein Antrag auf Aufhebung ihrer Immunität vorlag, auf 206 (180 von ihnen gehörten der parlamentarischen Opposition an). Allerdings wurde während des Berichtszeitraums der Europäischen Kommission (Juni 2022 - Juni 2023) weder einem bzw. einer Abgeordneten die Immunität entzogen noch wurde er bzw. sie wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Zwei ehemalige HDP-Ko-Vorsitzende und mehrere ehemalige HDP-Abgeordnete befinden sich trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu ihren Gunsten immer noch im Gefängnis [Stand: Februar 2024] (EC 8.11.2023, S. 13-14); vgl.CoE-PACE 22.4.2021, S. 2f). Drei Abgeordnete der HDP hatten ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus verloren (CoE-PACE 22.4.2021, S. 2f). - Der EGMR hatte am 1.2.2022 entschieden, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der HDP, unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität aufgehoben hatte (BIRN 1.2.2022). - Das Europäische Parlament "missbilligt[e] das gezielte Vorgehen gegen politische Parteien und Mitglieder der Opposition, die zunehmend unter Druck geraten" und "erklärt[e] sich besorgt darüber, dass die Unterdrückung und die Verfolgung der politischen Opposition nach den jüngsten Wahlen aufgrund der schlechter werdenden wirtschaftlichen Lage des Landes zunehmen werden" (EP 13.9.2023, Pt. 13). Das Verfahren zum Verbot der HDP wegen Terrorismusvorwürfen, einschließlich des Ausschlusses von 451 HDP-Mitglieder von politischer Betätigung sind weiterhin vor dem Verfassungsgericht anhängig [Stand: Februar 2024] (EC 8.11.2023, S. 14).
Die Demokratische Partei der Völker - HDP, die aufgrund des laufenden Schließungsverfahrens vor dem Verfassungsgericht von der Schließung bedroht war, nahm an den Parlamentswahlen vom 14.5.2023 unter den Listen der Links-Grünen Partei - YSP teil. Am 27.8.2023 stellte die HDP auf ihrem vierten außerordentlichen Kongress ihre Aktivitäten ein und beschloss, den politischen Kampf unter dem Dach der YSP fortzusetzen. Die YSP wiederum hielt ihren vierten großen Kongress am 15.10.2023 ab und änderte ihren Namen in Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker - Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi - HEDEP (Bianet 16.10.2023; vgl. FES 7.12.2023, S. 6). Der Kassationsgerichtshof entschied, die Abkürzung HEDEP nicht zuzulassen, weil sie eine zu große Ähnlichkeit mit der verbotenen Vorgängerpartei HADEP aufwies (FES 7.12.2023; vgl. Bianet 24.11.2023). Am 11.12.2023 änderte HEDEP ihre Abkürzung in DEM-Partei, nachdem der Kassationsgerichtshof eine Änderung aufgrund der Ähnlichkeit mit der geschlossenen Partei für Volksdemokratie (HADEP) gefordert hatte. Der vollständige neue Name der Partei wurde nicht geändert. Das Wort "Demokratie" im Parteinamen wurde verwendet, um die Abkürzung zu bilden (Duvar 11.12.2023; vgl. TM 11.12.2023).
Eingriffe in die lokale Demokratie
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S. 15).
Bis Juni 2023 wurden auf der Basis dieses Dekrets in 65 Gemeinden, die die HDP bei den Kommunalwahlen 2019 gewonnen hatte, 48 gewählte Bürgermeister durch staatlich bestellte Treuhänder ersetzt, und weitere sechs gewählte Bürgermeister durch Bürgermeister der AK-Partei ersetzt. Seit der ersten Ernennung von Treuhändern im Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister verhaftet und 39 Bürgermeister inhaftiert [arrested]. Sechs HDP-Bürgermeister sitzen weiterhin im Gefängnis [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-Bürgermeister bzw Ko-Bürgermeisterin. - Das gilt ebenso für Führungspositionen in der Partei.] (EC 8.11.2023, S. 19). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, S. 13).
Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt, ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister/ Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Art. 45) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).
Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S. 13). Derzeit befinden sich 5.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 8.11.2023, S. 14).
[siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AI - Amnesty International (29.3.2022a): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070315.html , Zugriff 16.10.2023;
AJ - Al Jazeera (11.5.2023): Don’t take our votes for granted, warn Kurdish voters in Turkey, https://www.aljazeera.com/news/2023/5/11/dont-take-our-votes-for-granted-warn-kurdish-voters-in-turkey , Zugriff 17.10.2023;
ARD - Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (28.5.2023): Falsche Videos und die Macht der Medien, https://www.tagesschau.de/faktenfinder/tuerkei-wahl-desinformation-100.html , Zugriff 16.10.2023;
AnA - Anadolu Agency (29.5.2023): election 2023, https://secim.aa.com.tr/ , Zugriff 17.10.2023;
BBC - British Broadcasting Corporation (22.5.2023): Turkish elections: Simple guide to Erdogan's fight to stay in power, https://www.bbc.com/news/world-europe-65239092 , Zugriff 17.10.2023;
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (19.5.2023): Turkey’s New Parliament: More Parties and More Women, https://balkaninsight.com/2023/05/18/turkeys-new-parliament-more-parties-and-more-women , Zugriff 17.10.2023;
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (1.2.2022): Turkey Violated Pro-Kurdish MPs’ Rights, European Court Rules, https://balkaninsight.com/2022/02/01/turkey-violated-pro-kurdish-mps-rights-european-court-rules/ , Zugriff 17.10.2023;
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022a): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf , Zugriff 16.10.2023;
Bianet - Bianet (24.11.2023): HEDEP to alter acronym to avoid closure risk, https://bianet.org/haber/hedep-to-alter-acronym-to-avoid-closure-risk-288428 , Zugriff 11.12.2023;
Bianet - Bianet (16.10.2023): Green and Left Future Party renames itself HEDEP, https://bianet.org/haber/green-and-left-future-party-renames-itself-hedep-286373 , Zugriff 11.12.2023;
CoE-CLRA - Congress of Local and Regional Authorities of the Council of Europe (23.3.2022): Monitoring of the application of the European Charter of Local Self-Government in Turkey, [CG(2022)42-14final], https://search.coe.int/congress/pages/result_details.aspx?ObjectId=0900001680a5b1d3 ,%20Zugriff%2017.10.2023%20[Anmerkung:%20Das%20wörtliche%20Zitat%20stammte%20aus%20dem%20deutschen%20Entwurf%20vom%202.3.2022, Zugriff 17.10.2023;
CoE-PACE - Council of Europe - Parliamentary Assembly (22.4.2021): The functioning of democratic institutions in Turkey, Resolution 2376 (2021), https://pace.coe.int/files/29189/pdf , Zugriff 16.10.2023 [Login erforderlich];
DE/Aydas - Democratic Erosion / Aydas, Irem (31.12.2022): Competitive Authoritarianism in Turkey, https://www.democratic-erosion.com/2022/12/31/competitive-authoritarianism-in-turkey/ , Zugriff 16.10.2023;
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023;
DS - Daily Sabah (24.5.2023): Erdoğan slams continued PKK support for Kılıçdaroğlu, https://www.dailysabah.com/politics/elections/erdogan-slams-continued-pkk-support-for-kilicdaroglu , Zugriff 16.10.2023;
DW - Deutsche Welle (23.5.2023): Faktencheck: Erdogan zeigt Fake Video von Kilicdaroglu, https://www.dw.com/de/faktencheck-erdogan-zeigt-manipuliertes-video-von-kilicdaroglu/a-65562185 , Zugriff 16.10.2023;
DW - Deutsche Welle (18.7.2021): Hükümetin OHAL yetkileri uzadı [Verlängerung des Ausnahmezustands durch die Regierung], https://www.dw.com/tr/h%C3%BCk%C3%BCmetin-ohal-yetkileri-uzad%C4%B1/a-58305421 , Zugriff 16.10.2023;
Duvar - Duvar (11.12.2023): Turkey’s pro-Kurdish HEDEP changes abbreviation upon top court’s demand, https://www.duvarenglish.com/turkeys-pro-kurdish-hedep-changes-abbreviation-upon-top-courts-demand-news-63473 , Zugriff 12.12.2023;
Duvar - Duvar (18.5.2023): Right-wing lawmakers dominate Turkish parliament, https://www.duvarenglish.com/right-wing-lawmakers-dominate-turkish-parliament-news-62431 , Zugriff 16.10.2023;
Duvar - Duvar (7.5.2023): President Erdoğan displays montage video to link CHP and PKK in Istanbul rally, https://www.duvarenglish.com/president-erdogan-displays-montage-video-to-link-chp-and-pkk-in-istanbul-rally-news-62356 , Zugriff 16.10.2023;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
EC - Europäische Kommission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 31.10.2023;
EC - Europäische Kommission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 17.10.2023;
EC - Europäische Kommission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD (2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 16.10.2023;
EP - Europäisches Parlament (13.9.2023): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2023 zu dem Bericht 2022 der Kommission über die Türkei (2022/2205(INI), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0320_DE.pdf , Zugriff 25.10.2023;
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 29.9.2023;
Esen/Gumuscu - Esen, Berk / Gumuscu, Sebnem (19.2.2016): Rising competitive authoritarianism in Turkey, Third World Quarterly, 37:9, 1581-16, https://www.swp-berlin.org/publications/products/fachpublikationen/Berk_Esen_Rising_competitive_authoritarianism_in_Turkey.pdf , Zugriff 16.10.2023;
FES - Friedrich-Ebert-Stiftung (7.12.2023): Aufhebung der Gewaltenteilung?, https://turkey.fes.de/de/e/aufhebung-der-gewaltenteilung , Zugriff 11.12.2023;
FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2023 , Zugriff 28.4.2023;
Güney - Günay, Cengiz (1.10.2016): Die autoritäre Wende in der Türkei und die Schwächen des autoritären Systems, in: Institut G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West, RGOW 9-10/2016, https://g2w.eu/pdf/einzelartikel/D-Web_RGOW_2016-09-10_33_35.pdf , Zugriff 16.10.2023;
HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338 , Zugriff 16.10.2023;
MEI - Middle East Institute (1.10.2022): THE STRATEGIES AND STRUGGLES OF THE TURKISH OPPOSITION UNDER AUTOCRATIZATION, https://www.mei.edu/sites/default/files/2022-10/Turkish%20Views%20-%20Crisis%20and%20Opportunities%20for%20Turkey%20in%202023.pdf , Zugriff 16.10.2023;
OSCE - Organization for Security and Co-operation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true , Zugriff 16.10.2023;
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe / Office for Democratic Institutions and Human Rights (29.5.2023): Türkiye, Presidential Election, Second Round, 28 May 2023: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/files/f/documents/7/c/544660.pdf , Zugriff 16.10.2023;
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe / Office for Democratic Institutions and Human Rights (15.5.2023): Türkiye, General Elections, 14 May 2023: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/files/f/documents/6/2/543543.pdf , Zugriff 6.10.2023;
OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey – Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true , Zugriff 16.10.2023;
PRT - Presidency of the Republic of Turkey [Turkey] (10.3.2023): "Our nation will go to the polls on May 14 for the presidential and parliamentary elections", https://www.tccb.gov.tr/en/news/542/144172/-our-nation-will-go-to-the-polls-on-may-14-for-the-presidential-and-parliamentary-elections -, Zugriff 16.10.2023 [Login erforderlich];
Politico - Politico (29.5.2023): Turkey’s Erdoğan wins again, https://www.politico.eu/article/turkey-erdogan-set-for-election-victory/ , Zugriff 17.10.2023;
SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (1.4.2021): Turkey’s Presidential System after Two and a Half Years. An Overview of Institutions and Politics, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/research_papers/2021RP02_Turkey_Presidential_System.pdf , Zugriff 16.10.2023;
TM - Turkish Minute (11.12.2023): Pro-Kurdish party drops acronym HEDEP, adopts abbreviation DEM - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2023/12/11/kurdish-party-drop-acronym-hedep-adopts-abbreviation-dem/ , Zugriff 12.12.2023;
TRT - TRT World (2023): 2023 Türkiye elections, https://www.trtworld.com/ , Zugriff 17.10.2023;
WZ - Wiener Zeitung (7.5.2023): Verzweifelter Ruf nach einem Wechsel, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2187684-Verzweifelter-Ruf-nach-einem-Wechsel.html , Zugriff 16.10.2023;
YSK - YÜKSEK SEÇİM KURULU [Türkei] (30.5.2023): Karar No: 2023/1255 [Beschluss Nr.: 2023/1255], https://www.ysk.gov.tr/doc/karar/dosya/45639002/2023-1255.pdf , Zugriff 17.10.2023;
Zeit online - Zeit online (22.5.2023): Ultranationalist Oğan gibt Wahlempfehlung für Erdoğan ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-05/ultranationalist-ogan-kuendigt-unterstuetzung-erdogan-in-stichwahl-an , Zugriff 16.10.2023;
taz - Tageszeitung, Die (10.4.2023): Aus Grün mach HDP, https://taz.de/Wahl-in-der-Tuerkei/ !5924917/, Zugriff 17.10.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
4. Sicherheitslage
Letzte Änderung 2024-03-07 13:56
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, S. 4; vgl.USDOS 30.11.2023) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16; vgl. USDOS 30.11.2023) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2023, S. 34). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022a). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage.
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (MBZ 18.3.2021, S. 12). Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 8.11.2023, S. 50). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023a), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Bergregionen im Südosten des Landes (MBZ 2.3.2022, S. 13). Die Lage im Südosten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge und ist in der Grenzregion präker, insbesondere nach den Erdbeben im Februar 2023. Die türkische Regierung hat zudem grenzüberschreitende Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und Syrien durchgeführt, und in den Grenzgebieten besteht ein Sicherheitsrisiko durch terroristische Angriffe der PKK (EC 8.11.2023, S. 4, 18). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK (und der Kurdistan Freiheitsfalken - TAK), in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis 24 24.11.2022). Die Berichte der türkischen Behörden deuten zudem darauf hin, dass die Zahl der PKK-Kämpfer auf türkischem Boden zurückgegangen ist (MBZ 31.8.2023, S. 16).
Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 20.3.2023a, S. 3, 29). Die Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 2.10.2023), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK unter anderem mit Drohnenangriffen in der irakischen Region Kurdistan, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten, von den USA und Großbritannien unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (HRW 12.1.2023a). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 20.3.2023a, S. 29). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 2.10.2023).
NZZ 18.1.2024 (Karte von Ende November 2021)
Zuletzt kam es im Dezember 2023 und Jänner 2024 zu einer Eskalation. - Am 12.1.2024 wurden bei einem Angriff der PKK auf eine türkische Militärbasis im Nordirak neun Soldaten getötet. Ende Dezember 2023 waren bei einer ähnlichen Aktion zwölf Armeeangehörige ums Leben gekommen. Die türkische Regierung berief umgehend einen Krisenstab ein und holte, wie stets in solchen Fällen, zu massiven Vergeltungsschlägen aus. Bis zum 17.1.2024 waren laut Verteidigungsministerium mehr als siebzig Ziele durch Luftangriffe zerstört worden. Die Türkei beschränkte ihre Vergeltungsaktionen nicht auf den kurdischen Nordirak, sondern griff auch Positionen der SDF sowie Infrastruktureinrichtungen im Nordosten Syriens an. Ankara betrachtet die SDF und vor allem deren wichtigste Einheit, die kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten (YPG), als Arm der PKK und somit als Staatsfeind (NZZ 18.1.2024; vgl. RND 14.1.2024).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2022 407 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten (İHD/HRA 27.9.2023a). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum Dezember 18.12.2023 6.875 Tote (4.573 PKK-Kämpfer, 1.454 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.020], aber auch 304 Polizisten und 130 sog. Dorfschützer - 622 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen (ICG 8.1.2024).
Quelle: ICG 8.1.2024
Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 8.11.2023, S. 18). Hierzu bekräftigte das Europäische Parlament im September 2023 neuerlich (nach Juni 2022), "dass die Wiederaufnahme eines verlässlichen politischen Prozesses, bei dem alle relevanten Parteien und demokratischen Kräfte an einen Tisch gebracht werden, dringend erforderlich ist, um sie friedlich beizulegen; [und] fordert die neue türkische Regierung auf, sich durch die Förderung von Dialog und Aussöhnung in diese Richtung zu bewegen" (EP 13.9.2023, Pt. 16).
Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 10.1.2024; vgl. EDA 2.10.2023). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis 24 24.11.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 20.3.2023a, S. 29).
2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AlMon 20.4.2022). Der damalige Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26.9.2022 das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, AN 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (AN 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AlMon 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AlMon 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (AnA 18.11.2022). Anfang Oktober 2023 kam es zu einem Bombenanschlag in Ankara. Ein Selbstmordattentäter hatte sich im Zentrum der Hauptstadt in die Luft gesprengt. Ein zweiter Täter wurde nach Angaben des Innenministeriums erschossen. Der Angriff richtete sich gegen den Sitz der Polizei und gegen das Innenministerium, die sich in einem Gebäudekomplex in der Nähe des Parlaments befinden. Bei einem Schusswechsel im Anschluss an die Explosion wurden zwei Polizisten leicht verletzt. Die PKK bekannte sich zu dem Anschlag (DW 1.10.2023a; vgl. Presse 4.10.2023). Nach dem Anschlag kam es zu landesweiten Polizei-Razzien in 64 Provinzen. Offiziellen Angaben zufolge wurden 928 Personen wegen illegalen Waffenbesitzes und 90 Personen wegen mutmaßlicher PKK-Mitgliederschaft verhaftet (AJ 3.10.2023). Die Zahl erhöhte sich hernach auf 145 (Alaraby 3.10.2023).
Das türkische Parlament stimmte im Oktober einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP) (die kurzzeitige Nachfolgerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei und inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt wurde) waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vgl. AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).
Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023
Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei für drei Monate in Kraft (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). - Dieser endete im Mai 2023 (JICA 23.8.2023). - Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).
Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind" (ANF 9.2.2023; vgl. FR24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023). - Die PKK verkündete, die neuen Angriffswellen der türkischen Sicherheitskräfte beklagend, Mitte Juni 2023 das Ende ihres einseitigen Waffenstillstands (SBN 14.6.2023; vgl. ANF 14.6.2023).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (10.1.2024): Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962 , Zugriff 11.1.2024;
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff 6.10.2023 [Login erforderlich];
AJ - Al Jazeera (3.10.2023): Turkey detains 90 people over suspected PKK links after Ankara bomb attack, https://www.aljazeera.com/news/2023/10/3/turkey-detains-dozens-after-ankara-bomb-attack , Zugriff 6.10.2023;
AJ - Al Jazeera (12.12.2016): Turkey detains pro-Kurdish party officials after attack, https://www.aljazeera.com/news/2016/12/12/turkey-detains-pro-kurdish-party-officials-after-attack , Zugriff 14.11.2023;
AN - Arab News (28.9.2022): PKK blamed for deadly police guesthouse attack in Turkey, https://www.arabnews.com/node/2171341/middle-east , Zugriff 15.1.2024 [Login erforderlich];
ANF - Firat News Agency (14.6.2023): HPG-Bilanz der Feuerpause: 32 Gefallene, https://anfdeutsch.com/kurdistan/hpg-bilanz-der-feuerpause-32-gefallene-37875 , Zugriff 7.2.2024;
ANF - Firat News Agency (9.2.2023): Cemil Bayık: We won't carry out military actions unless the Turkish state attacks us, https://anfenglishmobile.com/kurdistan/cemil-bayik-we-have-decided-not-to-take-action-unless-the-turkish-state-attacks-us-65431 , Zugriff 15.9.2023;
ANHA - Hawar News Agency (14.11.2022): YPG denies any connection with Istanbul bombing, https://www.hawarnews.com/en/haber/ypg-denies-any-connection-with-istanbul-bombing-h33671.html , Zugriff 15.1.2024 [Login erforderlich];
AlMon - Al Monitor (17.10.2023): Turkey extends mandate for military operations in Syria, Iraq, https://www.al-monitor.com/originals/2023/10/turkey-extends-mandate-military-operations-syria-iraq?token=eyJlbWFpbCI6IndqZjUyODRAcG9zdGVvLmRlIiwibmlkIjoiNjAyNDAifQ%3D%3D&utm_medium=email&utm_campaign=Ungrouped%20transactional%20email&utm_content=Ungrouped%20transactional%20email+ID_5a7d9926-b3ad-11ee-9975-610118d3daf2&utm_source=campmgr&utm_term=Access%20Article , Zugriff 15.1.2024 [Login erforderlich];
AlMon - Al Monitor (14.11.2022): Turkey points to Kurdish militants for deadly Istanbul bombing, https://www.al-monitor.com/originals/2022/11/turkey-points-kurdish-militants-deadly-istanbul-bombing , Zugriff 15.1.2024 [Login erforderlich];
AlMon - Al Monitor (20.4.2022): Bus bombing brings trauma of past terror back to Turkish cities, https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/bus-bombing-brings-trauma-past-terror-back-turkish-cities , Zugriff 15.1.2024;
Alaraby - New Arab, The (3.10.2023): Turkey arrests 145 people over suspected links to PKK, https://www.newarab.com/news/turkey-arrests-145-people-over-suspected-links-pkk , Zugriff 6.10.2023;
AnA - Anadolu Agency (18.11.2022): 17 suspects linked to Istanbul terror attack arrested by court order, https://www.aa.com.tr/en/turkiye/17-suspects-linked-to-istanbul-terror-attack-arrested-by-court-order/2741670 , Zugriff 15.1.2024;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (13.2.2023): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw07-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 25.10.2023;
BICC - Bonn International Centre for Conflict Studies (7.2023): Länderinformation - Türkei, https://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/tuerkei/2023_Tuerkei.pdf , Zugriff 5.10.2023;
Crisis 24 - Crisis24 (24.11.2022): Syria, Iraq: Additional Turkish airstrikes remain likely in northern regions of both countries through at least early December, https://crisis24.garda.com/alerts/2022/11/syria-iraq-additional-turkish-airstrikes-remain-likely-in-northern-regions-of-both-countries-through-at-least-early-december , Zugriff 14.11.2023;
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023;
DW - Deutsche Welle (1.10.2023a): Bombenanschlag vor türkischem Innenministerium in Ankara, https://www.dw.com/de/bombenanschlag-vor-t%C3%BCrkischem-innenministerium-in-ankara/a-66973874 , Zugriff 6.10.2023;
DW - Deutsche Welle (14.11.2022): Nach Bombenanschlag in der Türkei steht Regierung in Kritik, https://www.dw.com/de/nach-bombenanschlag-in-der-t%C3%BCrkei-steht-regierung-in-kritik/a-63753228 , Zugriff 15.1.2024;
Duvar - Duvar (8.7.2022a): Top Turkish court finds no rights violation in death of Cizre curfew victims, https://www.duvarenglish.com/top-turkish-court-finds-no-rights-violation-in-death-of-cizre-curfew-victims-news-61010 , Zugriff 14.11.2023;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
EC - Europäische Kommission (9.11.2016): Turkey 2016 Report [SWD(2016) 366 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/1156617/1226_1480931038_20161109-report-turkey.pdf , Zugriff 14.11.2023;
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (2.10.2023): Reisehinweise für die Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html#edab1d7a0 , Zugriff 6.2.2024;
EP - Europäisches Parlament (13.9.2023): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2023 zu dem Bericht 2022 der Kommission über die Türkei (2022/2205(INI), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0320_DE.pdf , Zugriff 25.10.2023;
EP - Europäisches Parlament (14.4.2016): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. April 2016 zu dem Bericht 2015 über die Türkei (2015/2898(RSP)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2016-0133_DE.pdf , Zugriff 14.11.2023;
FR24 - France 24 (10.2.2023): Kurdish militants suspend 'operations' after Turkey quake, https://www.france24.com/en/live-news/20230210-kurdish-militants-suspend-operations-after-turkey-quake , Zugriff 15.9.2023 [Login erforderlich];
HDN - Hürriyet Daily News (18.10.2023): Parliament extends mandate for troops in Iraq, Syria, https://www.hurriyetdailynews.com/parliament-extends-mandate-for-troops-in-iraq-syria-187140 , Zugriff 15.1.2024;
HDN - Hürriyet Daily News (14.11.2022): Perpetrator behind deadly Istanbul bombing arrested, https://www.hurriyetdailynews.com/suspect-arrested-in-deadly-istanbul-bombing-minister-says-178493 , Zugriff 15.1.2024;
HDN - Hürriyet Daily News (22.4.2022): PKK affiliated group carried out attacks in Istanbul, Bursa: Soylu, https://www.hurriyetdailynews.com/pkk-affiliated-group-carried-out-attacks-in-istanbul-bursa-soylu-173207?utm_source=Facebook&utm_medium=post&utm_term=post , Zugriff 27.9.2023;
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023a): World Report 2023 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085506.html , Zugriff 14.11.2023;
ICG - International Crisis Group (8.1.2024): Türkiye’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkiyes-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 7.2.2024;
ICG - International Crisis Group (4.2023): CrisisWatch - Tracking Conflict Worldwide: Türkiye, https://www.crisisgroup.org/crisiswatch/database?location []=58, Zugriff 15.1.2024;
ICG - International Crisis Group (3.2023): CrisisWatch - Tracking Conflict Worldwide: Türkiye, https://www.crisisgroup.org/crisiswatch/database?location []=58, Zugriff 15.1.2024;
ICG - International Crisis Group (9.2022): CrisisWatch - Tracking Conflict Worldwide: Türkiye, https://www.crisisgroup.org/crisiswatch , Zugriff 15.1.2024;
JICA - Japan International Cooperation Agency (23.8.2023): Quakes hit in south-eastern Türkiye: Behind the scenes from Ankara xn–ej7c News & Media - JICA, https://www.jica.go.jp/english/information/blog/1516263_24156.html , Zugriff 7.2.2024;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General+COI+report+Turkiye+%28August+2023%29.pdf , Zugriff 13.11.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich];
NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.1.2024): Der Konflikt zwischen der Türkei und kurdischen Milizen heizt sich auf, https://www.nzz.ch/international/der-konflikt-zwischen-der-tuerkei-und-kurdischen-milizen-heizt-sich-auf-ld.1774692 , Zugriff 7.2.2024;
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe / Office for Democratic Institutions and Human Rights (15.5.2023): Türkiye, General Elections, 14 May 2023: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/files/f/documents/6/2/543543.pdf , Zugriff 6.10.2023;
Presse - Presse, Die (4.10.2023): Anschlag in Ankara: Täter als PKK-Mitglieder identifiziert, https://www.diepresse.com/17716841/anschlag-in-ankara-taeter-als-pkk-mitglieder-identifiziert , Zugriff 6.10.2023;
RND - RedaktionsNetzwerk Deutschland (14.1.2024): Türkei bombardiert erneut Kurdenmilizen im Nordirak und Syrien, https://www.rnd.de/politik/tuerkei-luftangriffe-gegen-kurdenmilizen-im-nordirak-und-syrien-nach-toedlichem-pkk-angriff-NXPJ6MR3AVMQ3KKVEV7QSJS234.html , Zugriff 7.2.2024;
SBN - Salzburger Nachrichten (14.6.2023): PKK verkündet Ende von Waffenstillstand in der Türkei, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/pkk-verkuendet-ende-von-waffenstillstand-in-der-tuerkei-140427274 , Zugriff 7.2.2024;
SZ - Süddeutsche Zeitung (20.4.2022): Bombenanschlag in Bursa, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-anschlag-bursa-1.5569449 , Zugriff 15.1.2024;
SZ - Süddeutsche Zeitung (29.6.2016): Chronologie des Terrors in der Türkei, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-der-terror-begann-in-suruc-1.3316595 , Zugriff 14.11.2023;
TM - Turkish Minute (4.11.2022): Top court finds no rights violations of victims of 2015 curfew in Kurdish-majority city - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2022/11/04/rights-violations-of-victims-of-2015-curfew-in-kurdish-majority-city , Zugriff 14.11.2023;
UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (9.2.2023): UNHCR TÜRKİYE - EMERGENCY RESPONSE TO EARTHQUAKE, https://reliefweb.int/attachments/fe740f86-ba7b-4a23-831e-fc09b4da5508/2023%2002%2009%20UNHCR%20T%C3%9CRK%C4%B0YE%20%20Emergency%20Response%20to%20Earthquake.pdf , Zugriff 15.1.2024;
USDOS - United States Department of State [USA] (30.11.2023): Country Report on Terrorism 2022 - Chapter 1 - Türkiye, https://www.ecoi.net/de/dokument/2101613.html , Zugriff 6.2.2024;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
YR - Yetkin Report (30.9.2022): PKK attack in Mersin tangles as details unveil, https://yetkinreport.com/en/2022/09/30/pkk-attack-in-mersin-tangles-as-details-unveil/ , Zugriff 15.1.2024;
İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (27.9.2023a): Human Rights Association 2021 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2023/09/2022-Summary-Table_Human-Rights-Violations.pdf , Zugriff 12.1.2024;
Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Letzte Änderung 2024-03-07 13:53
Die marxistisch orientierte Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê - PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27). Zu den Kernforderungen der PKK gehören eine kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung für die Kurden in ihren Siedlungsgebieten in der Türkei, aber auch im Nordirak und im Norden Syriens an. Maßgeblich bleibt hierbei allein die von den Führungskadern vorgegebene Parteilinie (BMIH/BfV 20.6.2023, S. 241; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27). Daneben konzentrieren sich die politischen Forderungen der PKK auf die Freilassung ihres seit 1999 inhaftierten Gründers Abdullah Öcalan respektive auf die Verbesserung seiner Haftbedingungen (BMIH/BfV 7.6.2022, S. 259; vgl. PKK 7.10.2021).
Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21).
Zu weiteren aktuellen Zahlen und Details siehe das Kapitel Sicherheitslage.
2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess", bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (i.e. Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien (gegen den Islamischen Staat) brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 27f.). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Aktionen der Exekutive gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 1.6.2016). Der sog. Lösungsprozess wurde von Staatspräsident Erdoğan für gescheitert erklärt. Ab August 2015 trug die PKK den bewaffneten Kampf in die Städte des Südostens: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu versperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 28).
Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 18.12.2023 4.573 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe (ICG 8.1.2024). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen "Adlerklaue" und "Tigerkralle" gegen PKK-Stellungen im Nordirak (BMIBH 15.6.2021, S. 261).
Beispiele für rezente Vorfälle und Verhaftungen
Zu Verhaftungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern und PKK-Unterstützern kommt es weiterhin [zu Beispielen aus 2022 siehe vormalige Versionen der Länderinformationen Türkei.] Laut Jahresbilanz des Innenministeriums sollen 2022 gegen die PKK und syrische Schwesterorganisation, der sog. Volksverteidigungseinheiten - YPG [der militärische Arm der Partei der Demokratischen Union - PYD] 134.713 Operationen durchgeführt und dabei 8.410 Personen verhaftet worden sein. Bereits im Jänner 2023 folgten laut türkischem Innenministerium weitere 378 Festnahmen (BAMF 6.2.2023a, S. 11; vgl. YŞ 31.1.2023). Drei Wochen vor den Parlaments- und Präsidentenwahl (14.5.2023) startete die türkische Polizei einen sogenannten Anti-Terror-Einsatz. In 21 Provinzen wurden 110 Personen gefasst, die der verbotenen Kurden-Organisation PKK nahestehen sollen (DW 25.4.2023; vgl. Standard 25.4.2023). Am 9.2.2023 verkündete die PKK angesichts des Erdbebens in der Türkei einen einseitigen temporären Waffenstillstand (ANF 9.2.2023; vgl. FR24 10.2.2023). Mitte Juni, allerdings, beendete die PKK den Waffenstillstand mit dem Argument neuerlicher türkischer Militäroperationen (TDP 15.6.2023). Die PKK hatte sich Anfang Oktober zu einem Selbstmordanschlag in der Nähe des türkischen Parlaments in Ankara bekannt (DW 1.10.2023b). Staatliche Medien melden landesweit 145 Verhaftungen in Reaktion auf das Attentat in Ankara. Darüber hinaus erfolgten Luftangriffe auf PKK-Ziele im Nordirak (Spiegel 3.10.2023; vgl. Alaraby 3.10.2023). Mitte Jänner 2024 gab Innenminister Ali Yerlikaya bekannt, dass 165 Verdächtige, die mit der PKK in Verbindung stehen, bei landesweiten Operationen unter dem Namen "Heroes-43" festgenommen wurden. In Istanbul wurden zudem weitere 20 Verdächtige aus dem Frauennetzwerk der PKK verhaftet (DS 16.1.2024b; vgl. BNN 16.1.2024). Unter den Festgenommenen befanden sich allerdings auch Mitglieder der Friedensmütter, einer Gruppe von Frauen, die sich für Frieden und ein Ende des bewaffneten Konflikts in der Region einsetzen. Die Liste der Inhaftierten umfasste auch Aktivisten, Mitglieder politischer Parteien - wie beispielsweise der Partei der Demokratischen Regionen - DEM-Partei (Nachfolgerin der HDP) - Künstler und mehrere Personen, die der Verbreitung terroristischer Propaganda beschuldigt wurden (BNN 16.1.2024).
In einem Interview mit dem türkischen Internetportal T24 am 18.7.2022 sagte Selahattin Demirtaş, ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP und seit November 2016 inhaftiert, dass die PKK ihre Waffen niederlegen sollte. Demirtaş dementierte zudem, dass die HDP ein verlängerter Arm, Sprecherin oder Unterstützerin der PKK sei. Allerdings sah Demirtaş auch zwei Hindernisse, die einen Friedensprozess blockieren: einerseits das Beharren der türkischen Regierung auf Waffengewalt statt Verhandlungen, und andererseits die Isolationshaft des PKK-Chefs und -Gründers Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali (BZ 18.7.2022; vgl. T24 18.7.2022).
In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit "gefällt mir" markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 28).
Die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK)
Anfang der 2000er-Jahre versuchte die PKK sich neue Organisationsformen zu geben, begleitet von zahlreichen Umbenennungen, an deren Ende die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK), stand. 2005 gab sich die PKK im Rahmen des sogenannten KCK-Abkommens diese neue Organisationsform. Die Kontinuität PKK - KCK wurde im Abkommen festgeschrieben, wodurch jeder, der im Rahmen des KCK-Systems tätig ist, auch die ideologischen und moralischen Maßstäbe der PKK anwenden muss. So gesehen ist die KCK die ideologische und organisatorische Ummantelung der PKK (Posch 10.2.2016, S. 140f.). Bei der KCK handelt es sich um einen kurdischen Dachverband, dem neben der PKK auch ihre Schwesterparteien im Irak, im Iran und in Syrien sowie verschiedene gesellschaftliche Gruppen angehören (BMIBH 15.6.2021, S. 261, FN 92). Die Türkei hat in den letzten Jahren zahlreiche kurdische Politiker, Aktivisten und Journalisten wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur KCK inhaftiert und verurteilt (Rudaw 3.10.2021). Dieser Trend setzte sich fort. So wurden beispielsweise im Oktober 2021 im sog. KCK-Yüksekova-Fall von einem Gericht in Hakkâri 30 Personen wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu Haftstrafen zwischen acht Jahren und neun Monaten und 17,5 Jahren verurteilt (Bianet 4.10.2021, vgl. WKI 5.10.2021). Zu 17,5 Jahren wurde Remziye Yaşar, die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Yüksekova aus den Reihen der HDP, verurteilt (Rudaw 3.10.2021, vgl. TM 2.10.2021). Am 25.1.2022 wurde der Ko-Vorsitzende der HDP des Bezirks Iskenderun, Abdurrahim Şahin, wegen "Propaganda für eine illegale Organisation" zu zwei Jahren und einem Monat verurteilt (TİHV/HRFT 26.1.2022).
Quellen
ANF - Firat News Agency (9.2.2023): Cemil Bayık: We won't carry out military actions unless the Turkish state attacks us, https://anfenglishmobile.com/kurdistan/cemil-bayik-we-have-decided-not-to-take-action-unless-the-turkish-state-attacks-us-65431 , Zugriff 15.9.2023;
Alaraby - New Arab, The (3.10.2023): Turkey arrests 145 people over suspected links to PKK, https://www.newarab.com/news/turkey-arrests-145-people-over-suspected-links-pkk , Zugriff 6.10.2023;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (6.2.2023a): Briefing Notes, KW 6, Gülen-Bewegung + PKK + IS, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw06-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 11.9.2023;
BMI-D - Bundesministerium des Innern/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (1.6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2015.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 12.9.2023;
BMIBH - Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (15.6.2021): Verfassungsschutzbericht 2020, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2020-gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 12.9.2022 [Login erforderlich];
BMIH/BfV - Bundesministerium des Innern und für Heimat [Deutschland], Bundesamt für Verfassungsschutz (20.6.2023): Verfassungsschutzbericht 2022, https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2023-06-20-verfassungsschutzbericht-2022-startseitenmodul.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 26.9.2023;
BMIH/BfV - Bundesministerium des Innern und für Heimat [Deutschland], Bundesamt für Verfassungsschutz (7.6.2022): Verfassungsschutzbericht 2021, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2021-gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 12.9.2023;
BNN - BNN Network (16.1.2024): 165 Detained in Coordinated Police Operations across Turkey, https://bnnbreaking.com/breaking-news/crime/165-detained-in-coordinated-police-operations-across-turkey , Zugriff 17.1.2024;
BZ - Berliner Zeitung (18.7.2022): Ehemaliger HDP-Chef Demirtas fordert PKK zu Waffenniederlegung auf, https://prod.berliner-zeitung.de/news/tuerkei-ehemaliger-hdp-chef-selahattin-demirtas-fordert-kurdische-arbeiterpartei-pkk-zu-waffenniederlegung-auf-li.247820 , Zugriff 15.9.2023;
Bianet - Bianet (4.10.2021): All defendants sentenced to prison in the KCK Yüksekova case, https://bianet.org/english/print/251224-all-defendants-sentenced-to-prison-in-the-kck-yuksekova-case , Zugriff 15.9.2023;
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023;
DS - Daily Sabah (16.1.2024b): Nationwide operations against PKK net 185 suspects, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/nationwide-operations-against-pkk-net-185-suspects , Zugriff 17.1.2024;
DW - Deutsche Welle (1.10.2023b): Bombenanschlag vor türkischem Innenministerium in Ankara, https://www.dw.com/de/bombenanschlag-vor-t%C3%BCrkischem-innenministerium-in-ankara/a-66973874 , Zugriff 12.1.2024;
DW - Deutsche Welle (25.4.2023): 110 Festnahmen wegen angeblicher PKK-Kontakte in der Türkei, https://www.dw.com/de/110-festnahmen-wegen-angeblicher-pkk-kontakte-in-der-t%C3%BCrkei/a-65425573 , Zugriff 12.9.2023;
FR24 - France 24 (10.2.2023): Kurdish militants suspend 'operations' after Turkey quake, https://www.france24.com/en/live-news/20230210-kurdish-militants-suspend-operations-after-turkey-quake , Zugriff 15.9.2023 [Login erforderlich];
ICG - International Crisis Group (8.1.2024): Türkiye’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkiyes-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 7.2.2024;
NM - Nordic Monitor (11.4.2020): Over 12,000 killed or wounded during Turkey’s security operations in Kurdish areas in 2015-2016, https://www.nordicmonitor.com/2020/04/more-than-twelve-thousand-people-were-killed-or-wounded-during-turkeys-security-operations-in-2015-2016/ , Zugriff 12.9.2023;
PKK - Partiya Karkerên Kurdistanê (7.10.2021): TO THE PATRIOTIC PEOPLE OF KURDISTAN AND THE DEMOKRATIC PUBLIC - Freedom for Öcalan, https://pkk-online.com/en/index.php/boeluemler/ac-klamalar/157-to-the-patriotic-people-of-kurdistan-and-the-demokratic-public-2 , Zugriff 12.9.2023 [Login erforderlich];
Posch - Posch, Walter (10.2.2016): Die neue PKK - Zwischen Extremismus, politischer Gewalt und strategischen Herausforderungen (Teil 1) in: Österreichische Militärische Zeitschrift (ÖMZ), 2016/2, https://www.oemz-online.at/download/attachments/43614606/C_P_16_2(1)_Posch.pdf , Zugriff 15.9.2023;
Rudaw - Rudaw Media Network (3.10.2021): Turkey sentences deceased Kurdish politician to eight years in prison, https://www.rudaw.net/english/middleeast/turkey/03102021 , Zugriff 15.9.2023;
Spiegel - Spiegel, Der (3.10.2023): Nach Attentat in Ankara: Die Türkei verhaftet 145 Personen, https://www.spiegel.de/ausland/nach-attentat-in-ankara-die-tuerkei-verhaftet-145-personen-a-cba0faac-5e4a-4972-a488-2ab51152fcd2 , Zugriff 12.1.2024;
Standard - Standard, Der (25.4.2023): Mehr als 100 Festnahmen drei Wochen vor Wahlen in Türkei, https://www.derstandard.at/story/2000145834219/mehr-als-100-festnahmen-drei-wochen-vor-wahlen-in-tuerkei , Zugriff 12.9.2023;
T24 - T24 (18.7.2022): Demirtaş: PKK’nin Türkiye’ye karşı silahlarını tümden susturmasını, bırakmasını isterim [Demirtaş: Ich möchte, dass die PKK vollständig schweigt und ihre Waffen gegen die Türkei niederlegt], https://t24.com.tr/yazarlar/murat-sabuncu/demirtas-pkk-nin-turkiye-ye-karsi-silahlarini-tumden-susturmasini-birakmasini-isterim ,35996, Zugriff 15.9.2023;
TDP - Defense Post, The (15.6.2023): Kurdish Militant Group Ends Ceasefire With Turkey, https://www.thedefensepost.com/2023/06/15/pkk-ends-ceasefire-turkey/?expand_article=1 , Zugriff 6.10.2023;
TM - Turkish Minute (2.10.2021): Former HDP mayor sentenced to 17 years in prison on terrorism charges, https://www.turkishminute.com/2021/10/02/rmer-hdp-mayor-sentenced-to-17-years-in-prison-on-terrorism-charges/ , Zugriff 15.9.2023 [Login erforderlich];
TİHV/HRFT - Türkiye İnsan Hakları Vakfı / Human Rights Foundation Turkey (26.1.2022): 26 January 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/26-january-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 15.9.2023;
WKI - Washington Kurdish Institute (5.10.2021): Kurdistan’s Weekly Brief October 5, 2021, https://dckurd.org/2021/10/05/kurdistans-weekly-brief-october-5-2021/ , Zugriff 15.9.2023;
YŞ - Yeni Şafak (31.1.2023): Türkiye takes precautions, continues operations against terrorist groups: Ministry, https://www.yenisafak.com/en/news/turkiye-takes-precautions-continues-operations-against-terrorist-groups-ministry-3659844 , Zugriff 12.9.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
5. Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Letzte Änderung 2024-03-07 13:54
Allgemeine Situation der Rechtsstaatlichkeit und des Justizwesens
2022 zeigte sich das Europäische Parlament in einer Entschließung "weiterhin besorgt über die fortgesetzte Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, die mit der abschreckenden Wirkung der von der Regierung in den vergangenen Jahren vorgenommenen Massenentlassungen sowie öffentlichen Stellungnahmen von Personen in führender Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren verbunden sind, wodurch die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die allgemeine Fähigkeit der Justiz, bei Menschenrechtsverletzungen wirksam Abhilfe zu schaffen, geschwächt werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. BS 23.2.2022a, S. 3) und "stellt mit Bedauern fest, dass diese grundlegenden Mängel bei den Justizreformen nicht in Angriff genommen werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. AI 29.3.2022a), und dies trotz des neuen Aktionsplans für Menschenrechte und zweier vom Justizministerium ausgearbeiteten Justizreformpaketen (AI 29.3.2022a). Nicht nur, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz verschlechtert hat, mangelt es ebenso an Verbesserungen des Funktionierens der Justiz im Ganzen (EC 12.10.2022, S. 23f.; vgl. EC 8.11.2023, S. 23, USDOS 20.3.2023a, S. 2, 16). In seiner Entschließung vom 13.9.2023 bekräftigte das Europäische Parlament uneingeschränkt den Inhalt der Entschließung aus dem Vorjahr im Sinne, dass die "dargestellte desolate Lage in Bezug auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit nach wie vor unverändert ist" (EP 13.9.2023, Pt. 8). Bei der Anwendung des EU-Besitzstands und der europäischen Standards im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte befindet sich die Türkei laut der Europäischen Kommission (EK) noch in einem frühen Stadium. Laut EK kam es sogar zu Rückschritten (EC 8.11.2023, S. 23). In diesem Zusammenhang betonte die Präsidentin der Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés (MEDEL), der Vereinigung der Europäischen Richter für Demokratie und Freiheit, Mariarosaria Guglielmi, im Juni 2023, dass die türkischen Bürgerinnen und Bürger aufgrund der jahrelangen Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, des harten Zugriffs der politischen Mehrheit auf den Obersten Justizrat und der Massenverhaftungen und Prozesse gegen Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte derzeit keinen wirksamen gerichtlichen Schutz ihrer Grundrechte genießen. Diese Situation wird durch die Anwendung der Anti-Terror-Gesetzgebung noch verschärft, die zu einem mächtigen Instrument für die Verfolgung von Oppositionellen und all jenen, die unrechtmäßig verhaftet wurden, durch die Justiz geworden ist (MEDEL 23.6.2023).
Faires Verfahren
Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2023 betrafen von den 72 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 17 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 1.2024). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9).
Bereits im Juni 2020 wies der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan, darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 16).
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 28.7.2022, S. 12; vgl. AI 26.10.2020). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11).
Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019). Ein jüngstes, prominentes Beispiel hierfür:
In seinem Urteil vom 6.6.2023 in der Rechtssache Demirtaş und Yüksekdağ Şenoğlu [seit November 2016 in Haft] gegen die Türkei entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrheitlich (mit 6 gegen 1 Stimme), dass ein Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf eine rasche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) vorliegt. Die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP beschwerten sich darüber, dass sie keinen wirksamen Rechtsbeistand erhalten hatten, um gegen ihre Untersuchungshaft zu klagen, da die Gefängnisbehörden ihre Treffen mit ihren Anwälten überwacht und die mit ihnen ausgetauschten Dokumente beschlagnahmt hatten. Der EGMR war der Ansicht, dass die nationalen Gerichte keine außergewöhnlichen Umstände dargelegt hatten, die eine Abweichung vom Grundprinzip der Vertraulichkeit der Gespräche der Beschwerdeführer mit ihren Rechtsanwälten rechtfertigen könnten, und dass die Verletzung des Anwaltsgeheimnisses den Beschwerdeführern einen wirksamen Beistand durch ihre Rechtsanwälte im Sinne von Artikel 5 § 4 der Konvention vorenthalten hatte. In Anbetracht der in seinen früheren Urteilen getroffenen Feststellungen war der Gerichtshof außerdem der Ansicht, dass es nicht möglich war, das Vorliegen solcher Umstände nachzuweisen, da der Gerichtshof das Argument der türkischen Regierung vormals zurückgewiesen hatte, dass sich die Beschwerdeführer wegen terrorismusbezogener Straftaten in Untersuchungshaft befunden hätten. Schließlich stellte das Gericht fest, dass die nationalen Behörden keine detaillierten Beweise vorgelegt hatten, die die Verhängung der angefochtenen Maßnahmen gegen die Kläger im Rahmen des Notstandsdekrets Nr. 676 rechtfertigen könnten. Das Gericht entschied, dass die Türkei den Klägern jeweils 5.500 Euro an immateriellem Schaden und zusammen 2.500 Euro an Kosten und Auslagen zu zahlen hat (ECHR 6.6.2023).
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 20.3.2023a S. 11, 19). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (USDOS 20.3.2023a, S. 11; vgl. TT/Perilli 2.2021, S. 41, HRW 13.1.2021). Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 15). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben (AI 26.10.2020).
Geheime bzw. anonyme Zeugen
Das Thema der geheimen Zeugenaussagen kam mit dem 2008 verabschiedeten Zeugenschutzgesetz auf der Tagesordnung. Trotz dutzender Skandale fällen die Gerichte nach wie vor Urteile auf der Grundlage der Aussagen anonymer bzw. geheimer Zeugen, bzw. sehen diese kritisch als ein politisches Instrument. So soll die Gülen-Bewegung, als sie gemeinsam mit der regierenden AKP die Macht teilte, anonyme Zeugen gegen ihre Gegner verwendet haben. Nach dem Putschversuch 2016 waren es dann vor allem vermeintliche Gülen-Mitglieder, gegen welche sich das Instrument der geheimen Zeugen richtete. Ein Zeuge mit dem Codenamen "Garson" (Kellner) ist wahrscheinlich der bekannteste, da er Zeuge in einem Fall war, an dem rund 4.000 Polizisten, vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung, beteiligt waren. Problematisch sind insbesondere Fälle, bei denen sich herausstellt, dass die anonymen Zeugen gar nicht existieren. Etwa wurden die Aussagen des anonymen Zeugen "Mercek" zur Begründung für die Verurteilung vieler Politiker herangezogen, u. a. auch gegen den seit 2016 inhaftierten, ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş. Später stellte sich jedoch heraus, dass es diese Person nicht gibt (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020a). Mitunter geben die Behörden zu, dass es keine anonymen Zeugen gibt. So musste die Polizeibehörde von Diyarbakır 2019 eingestehen, dass eine anonyme Zeugin mit dem Codenamen "Venus", deren Aussage zur Festnahme und Inhaftierung zahlreicher Personen führte, in Wirklichkeit nicht existierte (NaT 19.2.2019). Im seit 2022 laufenden Verbotsverfahren gegen die HDP wurde zumindest ein anonymer Zeuge gehört, der laut HDP-Parlamentarierin, Meral Danış-Beştaş, der Generalstaatsanwaltschaft Auskunft über die Parteifinanzen erteilte, was vermeintlich zur Sperrung der Parteienförderung für die HDP führte (Bianet 30.1.2023).
Im Februar 2022 stellte das türkische Verfassungsgericht fest, dass die Aussagen geheimer Zeugen, die konkrete Tatsachen enthalten, als "starke Indizien für eine Straftat" akzeptiert werden können, ohne dass sie durch andere Beweise gestützt werden, und dass die auf diese Weise vorgenommenen Verhaftungen im Einklang mit dem Gesetz stehen würden (DW 17.2.2022; vgl. Duvar 18.2.2022). Allerdings liegt die Betonung auf "konkrete Tatsachen", denn das Urteil war die Folge einer laut Verfassungsgericht rechtswidrigen Verhaftung eines Gemeinderates in Diyarbakır-Eğil im Jahr 2020 und basierte auf einer geheimen Zeugenaussage, mit welcher der Gemeinderat der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" beschuldigt wurde. Diese Aussage war rechtswidrig weil "abstrakt" und eben nicht "konkret". Kritiker der Hinzuziehung geheimer bzw. anonymer Zeugen betrachten diese Praxis als Instrument, Zeugenaussagen zu fälschen und abweichende Meinungen und Widerstand zum Schweigen zu bringen (Duvar 18.2.2022).
Im Gegensatz zum Verfassungsgericht hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits Mitte Oktober 2020 entschieden, dass geheime Zeugenaussagen, welche die türkischen Gerichte insbesondere in Prozessen gegen politische Dissidenten als Beweismittel akzeptiert haben, nicht als ausreichendes Beweismaterial für eine Verurteilung angesehen werden können. Wenn die Verteidigung die Identität des Zeugen nicht kennt, wird ihr nach Ansicht des EGMR in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit genommen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage zu stellen oder in Zweifel zu ziehen. Infolgedessen können geheime Zeugenaussagen allein keine rechtmäßige Verurteilung begründen, es sei denn, eine Verurteilung stützt sich noch auf andere solide Beweise (SCF 26.11.2022; vgl. TM 26.11.2020a).
Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung
Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (Rat der EU 14.12.2021a, S. 16, Pt. 34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes. Opposition, Zivilgesellschaft und namhafte Juristen kritisieren die Einschränkungen als eine Perpetuierung des Ausnahmezustands. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7). Das Europäische Parlament (EP) "betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 29) "unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S. 9, Pt. 14).
Auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S. 44). [Siehe auch die Kapitel: "Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland" und "Gülen- oder Hizmet-Bewegung"]
Beleidigung des Präsidenten als Strafbestand
"[E]ntsetzt über den grob missbräuchlichen Rückgriff auf Artikel 299 des Strafgesetzbuchs der Türkei über Beleidigungen des Präsidenten, die eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren nach sich ziehen können", forderte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 7.6.2022, "das Gesetz über die Beleidigung des Staatspräsidenten gemäß den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ändern" (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021). Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (DW 9.2.2022) und 9.773 strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021). Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt (DW 9.2.2022; vgl.ARTICLE19 8.4.2022). 106 der Schuldsprüche betrafen Kinder unter 18 Jahren, von denen zehn zu Haftstrafen verurteilt wurden (ARTICLE19 8.4.2022). Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022). Beispielsweise wurde im Mai 2022 ein marokkanischer Tourist von der Polizei verhaftet, nachdem dieser die Türkei als "Terroristenstaat" bezeichnete und Präsident Erdoğan beleidigte. Der damalige türkische Innenminister Soylu warnte bereits im März 2019, dass der Staat alle Touristen, die im Verdacht stehen, gegen das Regime von Präsident Erdogan zu opponieren, festnehme, sobald sie türkischen Boden betreten (MWN 9.5.2022).
Siehe, insbesondere für konkrete Beispiele, auch die (Unter-)Kapitel "Opposition" und "Meinungs- und Pressefreiheit/ Internet"
Politisierung der Justiz
Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diesen vom Präsidenten zu ernennenden Gouverneuren der 81 Provinzen werden weitreichende Kompetenzen eingeräumt. Sie können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten und auch Versammlungen untersagen. Sie haben zudem großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7f.).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (Bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S. 10, Pt. 19).
Im vom "World Justice Project" jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2023 auf Rang 117 von 142 Ländern (2021: Platz 116 von 140 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator viel weiter auf 0,41 ab (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,30 (Rang 133 von 142) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 137 von 142) sowie bei der Strafjustiz mit 0,34 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,72, der annähernd dem globalen Durchschnitt entsprach (WJP 12.2023).
Konflikt der Höchstgerichte und dessen Politisierung durch die Regierung
Am 25.10.2023 entschied das Verfassungsgericht, dass der inhaftierte TİP-Politiker Can Atalay, der bei den Parlamentswahlen im Mai zum Abgeordneten gewählt worden ist, in seinem Recht zu wählen und gewählt zu werden sowie in seinem Recht auf persönliche Sicherheit und Freiheit verletzt wurde. Das Verfassungsgericht ordnete die Freilassung Atalays an. Das zuständige Strafgericht setzte dieses Urteil nicht um, sondern verwies den Fall an das Kassationsgericht. Dieses wiederum entschied am 9.11.2023 in Überschreitung seiner Zuständigkeit, dass das Urteil des Verfassungsgerichts nicht rechtserheblich und daher nicht umzusetzen sei, mit der Begründung, dass das Verfassungsrecht seine Kompetenzen überschritten habe. Überdies verlangte das Kassationsgericht, ein Strafverfahren gegen jene neun Richter des Verfassungsgerichts einzuleiten, welche für die Freilassung Atalays gestimmt hatten. Die Begründung des Kassationsgerichts hierfür lautete, dass diese Richter gegen die Verfassung verstoßen und ihre Befugnisse überschritten hätten. Staatspräsident Erdoğan unterstützte die Entscheidung des Kassationsgerichts, das Urteil des Verfassungsgerichts nicht umzusetzen. Er und andere AKP-Politiker junktimieren diese Frage mit dem prioritären Ziel der Regierung, eine neue Verfassung zu verabschieden, mit der Begründung, dass zur Lösung dieses Kompetenzkonfliktes eine Verfassungsreform nötig sei. Durch die Kritik Erdoğans am Verfassungsgericht wird die Umsetzung von Verfassungsgerichtsurteilen, insbesondere wenn diese der Umsetzung von EGMR-Urteilen dienen, und das Vertrauen in Unabhängigkeit der Justiz weiter geschwächt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11f.; vgl. LTO 29.11.2023, Standard 9.11.2023). Erdoğans Regierungspartner Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP bezeichnete den Präsidenten des Verfassungsgerichts als Terrorist und verlangte, dass das Verfassungsgericht entweder geschlossen oder umstrukturiert werden muss. Passend dazu hatte kurz vorher die regierungstreue Zeitung Yeni Şafak mit Fotos der neun umstrittenen Verfassungsrichter getitelt und ihnen vorgeworfen, die "Pforte für Terroristen geöffnet" zu haben. - Anwälte verwiesen auf die türkische Verfassung, wonach Entscheidungen des Verfassungsgerichts endgültig sind und die gesetzgebenden, exekutiven und judikativen Organe sowie die Verwaltungsbehörden und natürliche, wie juristische Personen binden (Absatz 6). Für die Einleitung einer Untersuchung der Richter bräuchte es die Genehmigung der fünfzehnköpfigen Generalversammlung des Verfassungsgerichts, das für eine abschließende Entscheidung eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Die Istanbuler Anwaltskammer protestierte gegen das Vorgehen und reichte am 1.11.2023 eine Klage gegen den Präsidenten und die Mitglieder der 3. Strafkammer des Kassationsgerichts ein. Die Vorwürfe lauten etwa "Freiheitsbeschränkung", weil der Abgeordnete Atalay noch immer im Gefängnis sitzt und "Amtsmissbrauch". Mehrere Tausend Anwälte unterstützen das Verfahren per Unterschriftenliste. Die Anzeige dürfte aber vor allem Symbolcharakter haben, denn die Klage wurde beim Ersten Präsidialausschuss des Kassationsgerichts eingereicht, also bei jener Behörde, aus der Mitglieder sich gerade gegen das Verfassungsgericht erheben (LTO 29.11.2023).
Infragestellung der Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte
Es gab der Europäischen Kommission zufolge keine Fortschritte bei der Beseitigung des unzulässigen Einflusses und Drucks der Exekutive auf Richter und Staatsanwälte, was sich wiederum negativ auf die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Qualität der Justiz auswirkt (EC 8.11.2023, S. 5, 24).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme, wie Druck auf Richter und Staatsanwälte, unterlaufen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (Hakimler ve Savcilar Kurumu - HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019; ÖB Ankara 28.12.2023). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S. 5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019). Infolgedessen sind Staatsanwälte und Richter häufig auf der Linie der Regierung. Richter, die gegen den Willen der Regierung entscheiden, wurden abgesetzt und ersetzt, während diejenigen, die Erdoğans Kritiker verurteilen, befördert wurden (FH 10.3.2023, F1).
Laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission entschied der Staatsrat (Verwaltungsgerichtshof) im Oktober 2022 zugunsten der Wiedereinsetzung von 178 Richtern und Staatsanwälten, die im Rahmen der Notstandsdekrete von 2016 wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen worden waren, und begründete dies damit, dass die ihnen zur Last gelegten Handlungen nicht ausreichten, um ihre Verbindungen zur Bewegung zu beweisen. Der Staatsrat ordnete außerdem an, dass der Staat den Richtern und Staatsanwälten Entschädigung und Schadenersatz zahlen muss. Bis März 2023 waren 3.683 der Entlassungsverfahren abgeschlossen und die Verfahren liefen noch. 845 entlassene/suspendierte Richter und Staatsanwälte wurden wieder in ihr Amt eingesetzt (EC 8.11.2023, S. 26).
Das Fehlen objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und vorab festgelegter Kriterien für die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten gibt weiterhin Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 5, 24). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt. Es wurden (Stand: Dez. 2023) keine Maßnahmen gesetzt, um den Empfehlungen der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 nachzukommen. Diese hatte festgestellt, dass die Entscheidungsprozesse betreffend die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten unzulänglich seien und jede Entlassung eines Richters individuell begründet und auf verifizierbare Beweise abgestützt sein müsse (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10). Häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten beeinträchtigte weiterhin die Qualität der Justiz, ebenso wie die Ernennung von neu eingestellten und weniger erfahrenen Richtern und Staatsanwälten an den Strafgerichten (EC 8.11.2023, S. 26). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignorierten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11; vgl. EC 19.10.2021, S. 23).
Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9f.; vgl. SCF 3.2021, S. 46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S. 46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10).
Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP/Can 10.6.2021, S. 3). Das Verfassungsgericht hat seit 2019 zwar eine gewisse Unabhängigkeit gezeigt, doch ist es nicht frei von politischer Einflussnahme und fällt oft Urteile im Sinne der Interessen der regierenden AKP (FH 10.3.2023, F1). Siehe hierzu Beispiele in diversen Kapiteln!
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10f.).
Aufbau des Justizsystems
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Höchstgerichte sind gemäß der Verfassung das Verfassungsgericht (auch Verfassungsgerichtshof bzw. Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) als oberste Instanz in Verwaltungsangelegenheiten, der Kassationsgerichtshof (Yargitay) als oberste Instanz in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Da die Friedensrichter als von der Regierung selektiert und ihr loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Venedig-Kommission des Europarates forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z. B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sondern wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurden, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten ist für einen bestimmten Katalog von Straftaten bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S. 24; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8).
Rolle des Verfassungsgerichts
Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde (bireysel başvuru) beim Verfassungsgericht. Die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden kann durch Ausschüsse einer Vorprüfung unterzogen werden. Sie ist nur gegen Gerichtsentscheidungen letzter Instanz, nicht gegen Gesetze statthaft (RRLex 7.2023, S. 4; vgl. AA 28.7.2022, S. 6), eingeführt u. a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5 % seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022). Die Individualbeschwerde hat große Akzeptanz gefunden, ist jedoch stark formalisiert und leidet unter langer Verfahrensdauer (RRLex 7.2023, S. 4).
Infolge der teilweise sehr lang andauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge Mahkemeleri) eingerichtet worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Denn große Teile der Richterschaft arbeiten unter erheblichen Druck, um die Rückstände bei den Verfahren aufzuarbeiten bzw. laufende Verfahren abzuschließen. Allerdings scheint laut Justizministerium die Zahl der unbehandelten Verfahren rückläufig zu sein (ÖB Ankara 28.12.2023 S. 9).
Untergeordnete Gerichte ignorieren oder verzögern die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts mitunter erheblich, wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 20.3.2023a, S. 18). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).
Zur neuesten Rechtssprechung des Verfassungsgerichts hinsichtlich der Meinungs- und Pressefreiheit siehe auch das Kapitel "Meinungs- und Pressefreiheit / Internet".
Präsidentendekrete
Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war [Siehe auch Kapitel: "Politische Lage"]. Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen gewisse Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).
Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welches ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 12.10.2022, S. 43). Auf Basis des Anti-Terrorgesetzes Nr. 3713 kann der Zugang einer in Polizeigewahrsam befindlichen Person zu einem Rechtsvertreter während der ersten 24 Stunden eingeschränkt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Die Gründe für eine Untersuchungshaft sind in der türkischen Strafprozessordnung (StPO) festgelegt: Fluchtgefahr; Verhalten des Verdächtigen/Beschuldigten (Verdunkelungsgefahr und Beeinflussung von Zeugen, Opfer etc.) sowie Vorliegen dringender Verdachtsgründe, dass eine der in Art. 100 (3) StPO taxativ aufgezählten Straftaten begangen wurde, wie zum Beispiel Genozid, Schlepperei und Menschenhandel, Mord, sexueller Missbrauch von Kindern. Zu den im vierten Justizreformpaket von Juli 2021 angenommenen Änderungen betreffend die Verhaftung aufgrund von Verbrechen, die unter sog. "Katalogverbrechen" fallen und bei denen jedenfalls die Notwendigkeit einer Untersuchungshaft angenommen wird, zählen z. B. Terrorismus und organisiertes Verbrechen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 12f.).
Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen (OHAL)
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter 15.000 und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 19).
Die mittels Präsidentendekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission [türkische Abk.: OHAL] begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 19f.). Bis Jänner 2023 waren laut Beschwerdekommission die Klassifizierung, Registrierung und Archivierung von insgesamt fast einer halben Million Akten, darunter Personalakten, die von ihren Institutionen übernommen wurden, Gerichtsakten und frühere Bewerbungen, abgeschlossen. Bis zum 12.1.2023 waren 127.292 Anträge gestellt worden. Davon hat die Kommission seit ihrer Errichtung im Dezember 2017 alle Anträge bearbeitet, wobei lediglich 17.960 positiv gelöst wurden. 72 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen, Schulen, Zeitungen und Fernsehstationen (ICSEM 1.2023). Es bestehen nach wie vor große Bedenken hinsichtlich der Qualität der Arbeit der Untersuchungskommission, auch wenn sie die Prüfung aller Fälle abgeschlossen hat. Bezweifelt wird, ob die Fälle einzeln geprüft und die Verteidigungsrechte gewahrt wurden und ob das Bewertungsverfahren internationalen Standards entsprach (EC 8.11.2023, S. 23).
Die Beschwerdekommission stand in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder wurden von der Regierung ernannt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20). Betroffene hatten keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrechterhalten wurde, stützte sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zog an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20; vgl. EC 12.10.2022, S. 23). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird (bzw. wurde) auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen kritisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20).
Die Fälle Kavala und Demirtaş als prominente Beispiele der Missachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S. 20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Kultur-Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung gefordert (AA 28.7.2022, S. 16). Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S. 16f).
Im Falle Kavalas lehnte ein Gericht in Istanbul auch 2022 trotz Aufforderung des Europarats die Enthaftung ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Frage zu befassen (CoE-CM 3.12.2021), verwies das Ministerkomitee nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE-CM 3.2.2022). Trotz alledem wurde Kavala am 25.4.2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen "Umsturzversuches" zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Neben Kavala wurden sieben weitere Angeklagte wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt (FR 25.4.2022; vgl. DW 25.4.2022). Weil die Türkei das Urteil des EGMR aus dem Jahr 2019 zur sofortigen Freilassung Kavalas jedoch missachtet hatte, verurteilte der EGMR Mitte Juli 2022 die Türkei zu einer Geldstrafe von 7.500 Euro, zu zahlen an Kavala, und das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft weiter (DW 11.7.2022). Ende Dezember 2022 bestätigte trotz alledem ein Berufungsgericht in Istanbul die lebenslängliche Strafe gegen Kavala sowie die Verurteilung von sieben weiteren Angeklagten zu 18 Jahren Haft als rechtens (Zeit online 28.12.2022). Am 28.9.2023 hat das Kassationsgericht die lebenslange Haftstrafe für Osman Kavala bestätigt (AI 29.9.2023; vgl. DW 28.9.2023).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff 6.10.2023 [Login erforderlich];
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 8.9.2023 [Login erforderlich];
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_B3richt_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 6.11.2022 [Login erforderlich];
AI - Amnesty International (29.9.2023): Türkei: Berufungsgericht bestätigt lebenslange Haftstrafe für Osman Kavala, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/tuerkei-osman-kavala-berufungsgericht-bestaetigt-lebenslange-haftstrafe , Zugriff 26.2.2024;
AI - Amnesty International (29.3.2022a): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070315.html , Zugriff 16.10.2023;
AI - Amnesty International (26.10.2020): TURKEY: POLITICIANS, LAWYERS, ACTIVISTS TARGETED IN NEW WAVE OF MASS ARRESTS, https://www.amnesty.org/download/Documents/EUR4432212020ENGLISH.PDF , Zugriff 26.2.2024;
ARTICLE19 - ARTICLE19 (8.4.2022): Blog: COVID-19, social media and freedom of expression in Turkey, https://www.article19.org/resources/pandemic-social-media-freedom-of-expression-turkey/ , Zugriff 20.2.2024;
Ahval - Ahval (20.7.2021): Over 29,000 people prosecuted for insulting Erdoğan in three years, https://ahvalnews.com/turkey-democracy/over-29000-people-prosecuted-insulting-erdogan-three-years , Zugriff 23.2.2024 [Login erforderlich];
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022a): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf , Zugriff 16.10.2023;
Bianet - Bianet (30.1.2023): MP questions secret witness statement in HDP closure case, https://bianet.org/english/law/273517-mp-questions-secret-witness-statement-in-hdp-closure-case , Zugriff 26.2.2024;
Bianet - Bianet (24.2.2020): Bar Associatons: Turkey Experiencing Most Severe Judicial Crisis in History, https://bianet.org/english/law/220510-bar-associatons-turkey-experiencing-most-severe-judicial-crisis-in-history , Zugriff 26.2.2024;
CoE-CM - Council of Europe - Committee of Ministers (3.2.2022): Committee of Ministers refers Kavala v. Turkey case to the European Court of Human Rights, https://www.coe.int/en/web/portal/-/committee-of-ministers-refers-kavala-v-turkey-case-to-the-european-court-of-human-rights , Zugriff 26.2.2024;
CoE-CM - Council of Europe - Committee of Ministers (3.12.2021): Implementing ECHR judgments: Council of Europe ministers serve formal notice on Turkey in the Kavala case [Ref. DC 224(2021)], https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=0900001680a4c19d , Zugriff 21.1.2022;
CoE-CommDH - Council of Europe – Commissioner for Human Rights (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 31.10.2023;
DW - Deutsche Welle (28.9.2023): Türkisches Gericht bestätigt Urteil gegen Osman Kavala, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkisches-gericht-best%C3%A4tigt-urteil-gegen-osman-kavala/a-66955087 , Zugriff 26.2.2024;
DW - Deutsche Welle (11.7.2022): Europäischer Gerichtshof verurteilt Türkei wegen Haft von Osman Kavala, https://www.dw.com/de/europ%C3%A4ischer-gerichtshof-verurteilt-t%C3%BCrkei-wegen-haft-von-osman-kavala/a-62437290 , Zugriff 26.2.2024;
DW - Deutsche Welle (25.4.2022): Türkischer Kulturförderer Osman Kavala zu lebenslanger Haft verurteilt, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkischer-kulturf%C3%B6rderer-osman-kavala-zu-lebenslanger-haft-verurteilt/a-59870684 , Zugriff 26.2.2024;
DW - Deutsche Welle (17.2.2022): AYM'den tartışmalı gizli tanık içtihadı [umstrittene Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu geheimen Zeugen], https://www.dw.com/tr/aymden-tart%C4%B1%C5%9Fmal%C4%B1-gizli-tan%C4%B1k-i%C3%A7tihad%C4%B1/a-60817990 , Zugriff 26.2.2024;
DW - Deutsche Welle (9.2.2022): Erdogan: Der beleidigte Präsident, https://www.dw.com/de/erdogan-der-beleidigte-pr%C3%A4sident/a-60705884 , Zugriff 26.2.2024;
DW - Deutsche Welle (17.1.2022): Türkei ignoriert Frist zur Freilassung von Kavala, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-ignoriert-frist-zur-freilassung-von-kavala/a-60455412 , Zugriff 26.2.2024;
Duvar - Duvar (18.2.2022): Turkish Constitutional Court deems anonymous testimony sufficient grounds for arrest, https://www.duvarenglish.com/constitutional-court-deems-anonymous-secret-testimony-sufficient-grounds-for-detention-news-60413 , Zugriff 26.2.2024;
Duvar - Duvar (9.6.2020): Turkey's top court head admits majority of rights violations stem from lack of right to a fair trial, https://www.duvarenglish.com/human-rights/2020/06/09/turkeys-top-court-head-admits-majority-of-rights-violations-stem-from-lack-of-right-to-a-fair-trial , Zugriff 26.2.2024;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
EC - Europäische Kommission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 31.10.2023;
EC - Europäische Kommission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 31.10.2023;
EC - Europäische Kommission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD (2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 16.10.2023;
ECHR - European Court of Human Rights (1.2024): Violations by Article and by State, https://www.echr.coe.int/documents/d/echr/stats-violation-2023-eng , Zugriff 9.2.2024;
ECHR - European Court of Human Rights (6.6.2023): Press Release: Violation of the Convention for failure to respect the confidentiality of meetings between S. Demirtaş and F. Yüksekdağ and their lawyers [ECHR 168 (2023)], https://hudoc.echr.coe.int/app/conversion/pdf/?library=ECHR&id=003-7666851-10570032&filename=Judgment%20Demirtas%20and%20Y%C3%BCksekdag%20Senoglu%20v.%20T%C3%BCrkiye%20-%20Failure%20to%20respect%20the%20confidentiality%20of%20meetings%20between%20the%20applicants%20and%20their%20lawyers.pdf , Zugriff 26.2.2024;
EP - Europäisches Parlament (13.9.2023): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2023 zu dem Bericht 2022 der Kommission über die Türkei (2022/2205(INI), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0320_DE.pdf , Zugriff 25.10.2023;
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023;
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 29.9.2023;
FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2023 , Zugriff 28.4.2023;
FR - Frankfurter Rundschau (25.4.2022): Türkei: Lebenslange Haft für Kulturförderer Kavala, https://www.fr.de/politik/tuerkei-lebenslange-haft-fuer-kulturfoerderer-kavala-zr-91500881.html , Zugriff 26.2.2024;
HDN - Hürriyet Daily News (18.1.2021): Some 300,000 people applied to Top Court for violation of rights in 8 years, https://www.hurriyetdailynews.com/some-300-000-people-applied-to-top-court-for-violation-of-rights-in-8-years-161704 , Zugriff 26.2.2024;
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2043511.html , Zugriff 1.2.2024;
HRW - Human Rights Watch (10.4.2019): Lawyers on Trial - Abusive Prosecutions and Erosion of Fair Trial Rights in Turkey, https://www.hrw.org/report/2019/04/10/lawyers-trial/abusive-prosecutions-and-erosion-fair-trial-rights-turkey , Zugriff 26.2.2024;
ICSEM - Inquiry Commission on the State of Emergency Measures [Türkei] (1.2023): THE INQUIRY COMMISSION ON THE STATE OF EMERGENCY MEASURES ACTIVITY REPORT (2017 - 2022), https://soe.tccb.gov.tr/Docs/SOE_Report_20172022.pdf , Zugriff 9.2.2024 [Login erforderlich];
IPI - International Press Institute (18.11.2019): Turkey's Journalists in the Dock: Judicial Silencing of the Fourth Estate – Joint International Press Freedom Mission To Turkey (September 11–13, 2019), https://freeturkeyjournalists.ipi.media/wp-content/uploads/2019/11/Turkey-Mission-Report-IPI-FINAL4PRINT.pdf , Zugriff 26.2.2024;
LTO - Legal Tribune Online (29.11.2023): Ein Justizputsch in der Türkei?, https://www.lto.de/recht/justiz/j/tuerkei-justiz-putsch-politik-verfassungsgericht-staatsanwaltschaft-atalay-erdogan , Zugriff 26.2.2024;
LoC - Library of Congress [USA] (7.11.2021): Turkey: Constitutional Court Rules Convictions for Offense of "Insulting the President" Violate Right to Freedom of Expression, https://www.loc.gov/item/global-legal-monitor/2021-11-07/turkey-constitutional-court-rules-convictions-for-offense-of-insulting-the-president-violate-right-to-freedom-of-expression/ , Zugriff 26.2.2024;
LoC - Library of Congress [USA] (6.2021): Turkey: New Court Decisions and Developments in Law Regarding Scope and Limits of Presidential Decrees, https://www.loc.gov/item/global-legal-monitor/2021-07-25/turkey-new-court-decisions-and-developments-in-law-regarding-scope-and-limits-of-presidential-decrees/# , Zugriff 26.2.2024;
MEDEL - Magistrats européens pour la démocratie et les libertés (23.6.2023): MEDEL at the side event Revisiting the functioning of democratic institutions and rule of law in Turkey – Role of judiciary in current situation of Turkey in honouring the obligations deriving from CoE membership, https://medelnet.eu/medel-at-the-side-event-revisiting-the-functioning-of-democratic-institutions-and-rule-of-law-in-turkey-role-of-judiciary-in-current-situation-of-turkey-in-honouring-the-obligations-deriving/ , Zugriff 26.2.2024;
MWN - Marocco World News (9.5.2022): Turkey Arrests Moroccan Tourist for Insulting President Erdogan, https://www.moroccoworldnews.com/2022/05/348906/turkey-arrests-moroccan-tourist-for-insulting-president-erdogan , Zugriff 26.2.2024;
Mezopotamya - Mezopotamya (2.8.2022): The picklock of the government: Anonymous witness, http://mezopotamyaajansi35.com/en/ALL-NEWS/content/view/178661?page=6 , Zugriff 8.9.2023;
NaT - News about Turkey (19.2.2019): Turkish police reveal nonexistence of ‘secret witness’ whose statements led to many imprisonments, https://newsaboutturkey.com/2019/02/19/news-about-turkey-turkish-police-reveal-nonexistence-of-secret-witness-whose-statements-led-to-many-imprisonments/ , Zugriff 26.2.2024;
RRLex - RRLex - Rumpf Rechtsanwälte (7.2023): Das Gerichtssystem in der Türkei, https://www.tuerkei-recht.de/downloads/Gerichtssystem_Tuerkei.pdf , Zugriff 27.2.2024;
Rat der EU - Rat der EU (14.12.2021a): ENLARGEMENT AND STABILISATION AND ASSOCIATION PROCESS [15033/21], https://www.consilium.europa.eu/media/53454/st15033-en21.pdf , Zugriff 26.2.2024 [Login erforderlich];
SCF - Stockholm Center for Freedom (26.11.2022): European rights court slams convictions based on secret witness testimony, https://stockholmcf.org/european-rights-court-slams-convictions-based-on-secret-witness-testimony/ , Zugriff 26.2.2024;
SCF - Stockholm Center for Freedom (3.2021): TURKEY’S JUDICIAL COUNCIL - :Guarantor or Annihilator of Judicial Independence?, https://stockholmcf.org/wp-content/uploads/2021/03/Turkish-Judicial-Council-HSK-Report.pdf , Zugriff 26.2.2024;
SWP/Can - Can, Osman (Autor), Stiftung Wissenschaft und Politik (Herausgeber) (10.6.2021): Der Antrag auf das Verbot der prokurdischen HDP beim türkischen Verfassungsgericht, SWP-Aktuell 2021/A 44, https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2021A44_HDP_Tuerkei.pdf ,%20Zugriff%202.3.2022https:/www.tagesspiegel.de/internationales/pro-kurdische-oppositionspartei-erhalt-doch-geld-turkisches-verfassungsgericht-hebt-blockade-von-hdp-parteikonten-auf-9475943.html, Zugriff 22.2.2024 [Login erforderlich];
Standard - Standard, Der (9.11.2023): Juristischer Putsch gegen türkisches Verfassungsgericht, https://www.derstandard.at/story/3000000194536/juristischer-putsch-gegen-tuerkisches-verfassungsgericht , Zugriff 26.2.2024;
TM - Turkish Minute (18.1.2022): Turkey’s top court finds rights violations in 11,830 applications in 2021, https://www.turkishminute.com/2022/01/18/keys-top-court-finds-rights-violations-in-11830-applications-in-2021/ , Zugriff 26.2.2024;
TM - Turkish Minute (26.11.2020a): ECtHR judgment could spell the end of anonymous witnesses in Turkey, https://www.turkishminute.com/2020/11/26/ecthr-judgment-could-spell-the-end-of-anonymous-witnesses-in-turkey/ , Zugriff 26.2.2024;
TT/Perilli - Turkish Tribunal (Herausgeber), Perilli, Luca (Autor) (2.2021): Judicial Independence & Access to Justice, https://turkeytribunal.org/wp-content/uploads/2021/11/Report_Luca_Perilli_-Independence_Access_to_Justice_f.pdf , Zugriff 26.2.2024;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
WJP - World Justice Project (12.2023): WJP Rule of Law Index, https://worldjusticeproject.org/rule-of-law-index/country/2023/Turkiye , Zugriff 26.2.2024;
Zeit online - Zeit online (28.12.2022): Lebenslange Haftstrafe für Osman Kavala bestätigt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-12/tuerkei-osman-kavala-lebenslange-haft-bestaetigung , Zugriff 26.2.2024;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 9.1.2024 [Login erforderlich];
6. Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung 2024-03-07 13:55
Die Regierung (Exekutive) verfügt weiterhin über weitreichende Befugnisse gegenüber den Sicherheitskräften. Der Umfang des militärischen Justizsystems wurde eingeschränkt. Höhere zivile Gerichte überprüfen weiterhin Berufungen gegen Entscheidungen von Militärgerichten. Die zivile Aufsicht über die Sicherheitskräfte bleibt jedoch unvollständig, da es keine wirksamen Rechenschaftsmechanismen gibt. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsinstitutionen muss laut Europäischer Kommission gestärkt werden. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin weit verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung nach wie vor weitreichenden gerichtlichen und administrativen Schutz. Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Militärangehörigen und der obersten Kommandoebene werden weiterhin rechtliche Privilegien gewährt. Die Untersuchung mutmaßlicher militärischer Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, erfordert die vorherige Genehmigung entweder durch militärische oder zivile Vorgesetzte (EC 8.11.2023, S. 17).
Das Militär trägt die Gesamtverantwortung für die Bewachung der Grenzen (USDOS 20.3.2023a, S. 1). Seit 2003 jedoch wurden die Befugnisse des Militärs schrittweise beschränkt und hohe Positionen innerhalb der Streitkräfte im Laufe der Zeit durch regierungsnahe Persönlichkeiten ersetzt. Diese Politik hat sich seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016, nach dem 29.444 Angehörige aus den türkischen Streitkräften (hier allein: 15.000), der Gendarmerie und der Küstenwache entlassen wurden, noch einmal verstärkt. Die Einschränkung der Macht des Militärs wurde in der Bevölkerung und der Politik zum Teil sehr begrüßt. Allerdings zeigt sich gegenwärtig, dass mit diesem Prozess nicht die Stärkung der demokratischen Institutionen einhergeht. Die Umstrukturierung der Streitkräfte soll den Einfluss des Militärs nochmals einschränken, u.a. durch den Ausbau politischer Kontrollmechanismen. Der geplante Einflussverlust etwa des Generalstabs macht sich daran fest, dass einerseits einige seiner Kompetenzen an das Verteidigungsministerium übergehen und dass der Generalstab, wie auch andere militärische Institutionen, andererseits vermehrt mit ideologisch und persönlich loyalen Personen besetzt werden soll. Während die drei Teilstreitkräfte nun dem Verteidigungsministerium direkt unterstellt sind, sind die paramilitärischen Einheiten dem Innenministerium angegliedert. Auch der Hohe Militärrat, die Kontrolle der Militärgerichtsbarkeit, das Sanitätswesen der Streitkräfte und das militärische Ausbildungswesen werden zunehmend zivil besetzt (BICC 7.2023, S. 2, 19).
Die Polizei und die Gendarmerie, türkisch Jandarma, die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten (Polizei) respektive in ländlichen und Grenzgebieten (Gendarmerie) zuständig (USDOS 20.3.2023a, S. 1, ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Gendarmerie ist für die öffentliche Ordnung in ländlichen Gebieten, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizeikräfte fallen, sowie für die Gewährleistung der inneren Sicherheit und die allgemeine Grenzkontrolle zuständig. Die Verantwortung für die Gendarmerie wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 7.2023, S. 19; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei. Nach Ermittlungen der Polizei wegen Korruption und Geldwäsche gegen ranghohe AKP-Funktionäre 2013, insbesondere aber seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden massenhaft Polizisten entlassen (BICC 7.2023, S. 2). Die Polizei hatte 2023 einen Personalstand von fast 339.400 (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Gendarmerie mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.100 und 196.285 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21; vgl. BICC 7.2023, S. 18, 26). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 7.2023, S. 18, 26).
Es gab Berichte, dass Gendarmerie-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende schossen, die versuchten die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). [Siehe hierzu u.a. das Kapitel Flüchtlinge]. Das Generalkommando der Gendarmerie beaufsichtigt auch die sogenannten Dorfschützer (Köy Korucusu), 2017 in Sicherheitswächter (Güvenlik Korucusu) umbenannt. Diese sind paramilitärische Einheiten, welche vornehmlich in ländlichen Regionen im Südosten der Türkei hauptsächlich zur Bekämpfung der PKK eingesetzt werden (BAMF 2.2023, S. 1; vgl. USDOS 13.3.2019).
Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Gendarmerie, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 12.2022, S. 19).
Polizei, Gendarmerie und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen (AA 28.7.2022, S. 6).
Die 2008 abgeschaffte "Nachbarschaftswache" alias "Nachtwache" (türk.: Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Von 29.000 mit Stand Herbst 2020 (TM 28.11.2020) ist die ihre Zahl (mit Beginn 2023) auf rund 40.000 angewachsen. Das türkische Innenministerium will 1.200 neue "Bekçis" einstellen. Dabei handelt es sich um Wachleute, die, bewaffnet mit Waffe und Schlagstock, vor allem nachts für Ordnung sorgen sollen. Die neuen Sicherheitskräfte sollen in 26 Provinzen zum Einsatz kommen (FR 20.1.2023). Sie werden nach nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt (BIRN 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BIRN 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (MBZ 2.3.2022; S. 19; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 20). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum ausgebildet sein (AA 28.7.2022, S. 6; vgl. MBZ 31.8.2023; S. 20, BIRN 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Vor allem kritisiert die Opposition, dass Erdoğan ein ihm loyal verbundenes Gegengewicht zur Gendarmerie und Polizei aufbaut FR 20.1.2023). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Mit der Gesetzesänderung tauchten u.a. Bilder auf, wie die neuen Sicherheitskräfte willkürlich Personen kontrollieren und Gewalt ausüben (FR 20.1.2023). Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums handeln die Bekçi in der Regel nach ihren eigenen nationalistischen und konservativen Normen und Werten. So griffen sie beispielsweise ein, wenn jemand auf Kurdisch öffentlich sang, einen kurzen Rock trug oder einen "extravaganten" Haarschnitt hatte. Wenn die angehaltene Person nicht kooperierte, wurden ihr Handschellen angelegt und sie wurde der Polizei übergeben (MBZ 2.3.2022; S. 19). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). Beispiele für Übergriffe der Nachtwache: Im August 2021 wurden drei Journalisten von Mitgliedern der Nachtwache attackiert, weil sie über das nächtliche Verschwinden eines, später tot aufgefundenen, Kleinkindes im Istanbuler Ortsteil Beylikdüzü berichteten (SCF 19.8.2021). Im Mai 2022 wurde angeblich eine 16-Jährige durch Angehörige der Nachtwache in Istanbul verhaftet und sexuell belästigt (SCF 11.5.2022). Und Mitte Juli 2022 wurden drei Transfrauen in der westtürkischen Provinz Izmir von Mitgliedern der Nachtwache im Rahmen einer Ausweiskontrolle mit Tränengas besprüht, geschlagen und in Handschellen auf die Polizeistation gebracht (Duvar 18.7.2022).
Das Verfassungsgericht entschied mit seinem am 1.6.2023 veröffentlichten Urteil, dass Nachbarschaftswachen nicht mehr befugt sind, Maßnahmen zu ergreifen, um Demonstrationen zu verhindern, die die öffentliche Ordnung stören könnten. Derartige Befugnisse würden einen Verstoß gegen das Versammlungs- und Demonstrationsrecht darstellen. Das Verfassungsgericht bestätigte allerdings, dass die Nachbarschaftswachen weiterhin befugt sind, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen sowie Identitätskontrollen durchzuführen. Das Verfassungsgericht räumte dem Parlament eine Frist von neun Monaten ein, um das genannte Urteil in ein Gesetz zu gießen (MBZ 31.8.2023, S. 20).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichten- und Geheimdienststellen. Ebenso unterhält die Gendarmerie einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 22f.).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (AnA 27.3.2015).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S. 15, Pt. 38).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
Ahval - Ahval (7.1.2021): Turkish police and intelligence allowed to use military weapons domestically, https://ahvalnews.com/police-violence/turkish-police-and-intelligence-allowed-use-military-weapons-domestically , Zugriff 6.10.2023 [Login erforderlich];
AnA - Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-parliament-approves-domestic-security-package/63105 , Zugriff 6.10.2023;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (2.2023): Das Dorfschützersystem in der Türkei, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=24053809&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dsrch%2ESearchCache%26cacheId%3D1476259282 , Zugriff 5.10.2023 [Login erforderlich];
BICC - Bonn International Centre for Conflict Studies (7.2023): Länderinformation - Türkei, https://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/tuerkei/2023_Tuerkei.pdf , Zugriff 5.10.2023;
BICC - Bonn International Centre for Conflict Studies (12.2022): Länderinformation - Türkei, https://cloud.staatendokumentation.at/index.php/apps/files/?dir=coi-cms-archive/aa/ab&fileid=04667809o , Zugriff 5.10.2023;
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (10.6.2020): Turkey Opposition Condemns Move to Arm Night Watchmen, https://balkaninsight.com/2020/06/10/turkey-opposition-condemns-move-to-arm-night-watchmen/ , Zugriff 6.10.2023;
Duvar - Duvar (18.7.2022): Turkish watchmen batter trans women in western İzmir, https://www.duvarenglish.com/turkish-watchmen-batter-trans-women-in-western-izmir-news-61038 , Zugriff 6.10.2023;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 29.9.2023;
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html , Zugriff 6.10.2023;
FR - Frankfurter Rundschau (20.1.2023): Erdogan baut loyale Privatarmee ,,Bekcis“ weiter aus, https://www.fr.de/politik/tuerkei-erdogan-baut-loyale-privatarmee-bekcis-weiter-aus-92038019.html , Zugriff 6.10.2023;
Guardian - The Guardian (8.6.2020): Alarm at Turkish plan to expand powers of nightwatchmen, https://www.theguardian.com/world/2020/jun/08/alarm-at-turkish-plan-to-expand-powers-of-nightwatchmen , Zugriff 1.2.2024;
HDN - Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338 , Zugriff 6.10.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General+COI+report+Turkiye+%28August+2023%29.pdf , Zugriff 13.11.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023;
NZZ - Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712 , Zugriff 6.10.2023;
SCF - Stockholm Center for Freedom (11.5.2022): Neighborhood watchmen allegedly harass 16-year-old girl in Istanbul, https://stockholmcf.org/neighborhood-watchmen-allegedly-harass-16-year-old-girl-in-istanbul/ , Zugriff 6.10.2023;
SCF - Stockholm Center for Freedom (19.8.2021): Watchmen attack journalists reporting on missing toddler in İstanbul, https://stockholmcf.org/watchmen-attack-journalists-reporting-on-missing-toddler-in-istanbul/ , Zugriff 6.10.2023;
SCF - Stockholm Center for Freedom (8.1.2021): Turkish police and intelligence agency authorized to use military weaponry in event of civil unrest, https://stockholmcf.org/turkish-police-and-intelligence-agency-authorized-to-use-military-weaponry-in-event-of-civil-unrest/ , Zugriff 15.2.2022;
Spiegel - Spiegel, Der (9.6.2020): Erdogans Parallel-Polizei, https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-nachbarschaftswache-recep-tayyip-erdogans-parallel-polizei-a-ece122d1-5df6-4fb9-bd24-fa44b687e5fd , Zugriff 6.10.2023;
TM - Turkish Minute (28.11.2020): Erdoğan's army, https://www.turkishminute.com/2020/11/28/erdogans-army/ , Zugriff 6.10.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.10.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 5.10.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
7. Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung 2024-03-07 13:53
Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 28.7.2022, S. 16). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40).
Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen selbst über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren halten an. Folter und Misshandlungen erfolgen dabei in Anhaltezentren, Gefängnissen, informellen Anhaltezentren sowie auch im öffentlichen Raum (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 32, EC 8.11.2023, S. 31, İHD/HRA 6.11.2022a). Auch das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe weist in seinem Bericht über den Besuch in der Türkei im Mai 2019 auf Vorfälle von übermäßiger Gewaltanwendung durch Beamte gegenüber Festgenommenen mit dem Ziel von Geständnissen oder als Strafe hin (die Berichte über den Besuch im Jänner 2021 und über den Ad-hoc-Besuch im September 2022 wurden bislang nicht veröffentlicht). Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann nach derzeitigem Wissensstand dennoch nicht die Rede sein (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Hierzu äußerten sich im September 2022 die Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem zweiten Besuch im Land. Demnach muss die Türkei weitere Maßnahmen ergreifen, um Häftlinge vor Folter und Misshandlung zu schützen, insbesondere in den ersten Stunden der Haft, und um Migranten in Abschiebezentren zu schützen (OHCHR 21.9.2022). In Bezug auf die Türkei zeigte sich auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) "besorgt über Berichte, die darauf hinweisen, dass trotz der "Null-Toleranz"-Botschaft der Behörden die Anwendung von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnis in den letzten Jahren zugenommen hat und die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich überschattet. Die Versammlung begrüßt die jüngsten Entscheidungen des Verfassungsgerichts, in denen Verstöße gegen das Verbot von Misshandlungen festgestellt und neue Untersuchungen von Beschwerden angeordnet wurden, und ermutigt andere nationale Gerichte, dieser Rechtsprechung zu folgen" [Anm.: Originalzitat englisch] (CoE-PACE 11.12.2023).
Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizei- und Gendarmeriegewahrsam und -gefängnissen wurden selten gründlich untersucht und die Täter noch seltener strafrechtlich verfolgt. Neben anhaltenden Berichten über grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung und Überbelegung in Abschiebezentren, in denen Ausländer, einschließlich Asylbewerber, bis zum Abschluss des Abschiebungsverfahrens in Verwaltungshaft genommen werden, gab es gut dokumentierte Fälle, in denen Soldaten und Gendarmerie auf Migranten und Asylbewerber schossen oder diese schwer misshandelten, die versuchten, die Grenze von Syrien zur Türkei zu überqueren (HRW 11.1.2024).
In den Tagen nach den Erdbeben im Februar 2023 gab es mehrere Berichte über Vorfälle im Katastrophengebiet, bei denen einfache Bürger von Polizisten, Gendarmen Polizisten, Gendarmen, Soldaten oder Nachbarschaftswächtern misshandelt oder gefoltert wurden. Gerechtfertigt wurde dies mit dem Vorwurf der Plünderung. Besonders vulnerabel waren hier wiederum die syrischen Flüchtlinge (HRW 11.1.2024; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 39, AlMon 21.2.2023, DW 16.2.2023).
Menschenrechtsgruppen behaupten, dass Personen, denen eine Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit misshandelt, missbraucht oder möglicherweise gefoltert werden. Zudem sind derartige Übergriffe seitens der Polizei im Süd-Osten des Landes häufiger (USDOS 20.3.2023a, S. 5).
Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/HRA/OMCT/CİSST/TİHV/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß von Folter entsprechen (İHD/HRA 6.11.2022a, S. 11; vgl. TİHV/HRFT 6.2021, S. 13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung, grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und in Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 12.1.2023b, vgl. İHD/HRA/OMCT/CİSST/TİHV/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). Auch der Polizei wird vorgeworfen, dass deren Personal im Falle von Menschenrechtsverletzungen weitgehend unbelangt bleibt. So berichtete 2022 der damalige Innenminister Süleyman Soylu infolge einer parlamentarischen Anfrage, dass lediglich zwölf von 2.594 Polizeioffizieren, welche in den vergangenen fünf Jahren verdächtigt wurden, exzessive Gewalt angewendet zu haben, in irgendeiner Weise bestraft wurden (TM 21.1.2022).
In einer Entschließung vom 7.6.2022 wiederholte das Europäische Parlament (EP) "seine Besorgnis darüber, dass sich die Türkei weigert, die Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe umzusetzen" und "fordert die Türkei auf, bei Folter eine Null-Toleranz-Politik walten zu lassen und anhaltenden und glaubwürdigen Berichten über Folter, Misshandlung und unmenschliche oder entwürdigende Behandlung in Gewahrsam, bei Verhören oder in Haft umfassend nachzugehen, um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 32). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte (HRW 12.1.2023a). Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 11.1.2024). Laut der "Menschenrechtsstiftung der Türkei" (TİHV) sollen zwischen 2018 und 2021 in der Türkei mindestens 13.965 Menschen unter Folter und Misshandlung festgenommen worden sein. Von diesen gewaltsamen Verhaftungen erfolgten 3.997 im Jahr 2018, 4.253 im Jahr 2019, 2.014 im Jahr 2020 und 3.701 im Jahr 2021 (Duvar 22.3.2022).
Reaktionen des Verfassungsgerichts und der Behörden auf Foltervorwürfe
Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten von Klägern, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).
Die Opfer von Misshandlungen oder Folter können sich zwar an formelle Beschwerdeverfahren wenden, doch sind diese Mechanismen nicht besonders wirksam. Dies gab Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Autonomie staatlicher Stellen wie der Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu (Menschenrechts- und Gleichstellungsbehörde der Türkei, TİHEK, engl. Abk.: HREI ) und der Ombudsperson. So ist die TİHEK mehreren Quellen zufolge bei der Bearbeitung von Berichten über Misshandlungen und Folter weder effizient noch autonom. Die TİHEK führt zwar offizielle Besuche in den Gefängnissen durch, doch geht es dabei in erster Linie um hygienische Fragen und nicht um Fälle von Misshandlung und Folter. Die Beamten auf den Polizeidienststellen zeigen häufig kein Interesse an der Bearbeitung von Beschwerden im Zusammenhang mit staatlich geförderter Gewalt. Die Opfer haben bessere Erfolgsaussichten, wenn sie ihre Beschwerden direkt bei der Staatsanwaltschaft einreichten, vor allem, wenn sie durch stichhaltige Beweise wie medizinische Berichte oder Videomaterial untermauert waren. Derselben Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge riskieren Bürger, die Vorfälle staatlich geförderter Gewalt meldeten, wegen Verleumdung angeklagt zu werden (MBZ 31.8.2023, vgl. S. 40). Auch die Europäische Kommission stellte im November 2023 fest, dass, obwohl mit der Rolle des Nationalen Präventionsmechanismus (NPM) betraut, die TİHEK/ HREI nicht die wichtigsten Anforderungen des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (OPCAT) erfüllt und Fälle, die an sie verwiesen wurden, nicht wirksam bearbeitet (EC 8.11.2023, S. 31).
Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter nicht nur wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen, sondern es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (MBZ 18.3.2021, S. 34; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 32f.). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S. 30).
Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).
Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD/HRA) beklagte anlässlich ihres Jahresberichts aus dem Jahr 2022 ein Andauern der Folterpraxis. Hierbei spricht die Menschenrechtsvereinigung die Problematik an, wonach die Dokumentation von Folter ein weiteres Problem darstellt, da die türkische Justiz nur die Berichte des Instituts für Rechtsmedizin als Beweismittel akzeptiert, was bedeutet, dass Folter nur von einer offiziellen Experteninstitution dokumentiert werden kann, wobei das Institut für Rechtsmedizin eine staatliche Einrichtung ist, und somit völlig dem politischen Willen unterworfen (İHD/HRA 27.9.2023b). Nach Angaben der Menschenrechtsvereinigung wurden im Jahr 2022 1.452 Fälle von Folter in Haft und weitere 2.947 (darunter 42 Kinder) außerhalb (extra-custodial places) vermeldet. 277 Fälle wurden aus den Gefängnissen gemeldet. 4.553 Personen wurden anlässlich von Protesten durch Sicherheitskräfte geschlagen und verwundet (İHD/HRA 27.9.2023a).
Der Jahresbericht 2022 über Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, der von der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), verfasst wurde, hat 5.361 Vorfälle von Folter oder Misshandlung im Jahr 2022 aufgedeckt, wobei 80 der Betroffenen Minderjährige waren. Laut dem Bericht von Tanrıkulu, einem prominenten Menschenrechtsaktivisten und stellvertretenden Vorsitzenden eines parlamentarischen Ausschusses für Menschenrechte, befanden sich unter den 5.381 Personen 1.280 Fälle von Folter oder Misshandlung in Haftanstalten (SCF 7.2.2023). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S. 26).
Beispiele:
Anfang Dezember 2021 starb Garibe Gezer in Einzelhaft in Kandıra, einem Hochsicherheitsgefängnis des Typs F außerhalb Istanbuls. Gezer, eine kurdische Politikerin der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), der lokalen Schwesterpartei der HDP, war 2016 zu lebenslanger Haft wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK verurteilt worden. Nachdem Gezer enthüllt hatte, dass sie von Gefängniswärtern gefoltert und sexuell missbraucht worden war, forderten Ende Oktober 2021 sowohl die HDP als auch die Menschenrechtsvereinigung (İHD) von den Behörden Gezers Beschwerden zu untersuchen. Eine Untersuchung unterblieb, und als Gezer Anfang Dezember 2021 im Gefängnis starb, sprachen HDP und İHD von einem "Tod unter verdächtigen Umständen". Die Gefängnisbehörden erklärten jedoch, Gezer habe Selbstmord begangen (MBZ 2.3.2022, S. 33; vgl. Bianet 15.12.2021). Augenzeugenberichten zufolge schlugen im April 2022 zahlreiche Wärter im Istanbuler Marmara-Gefängnis (ehemals Silivri-Gefängnis) auf Insassen ein und versuchten sie, in den Selbstmord zu treiben. Der Häftling Ferhan Yılmaz starb im April 2022 im Krankenhaus, nachdem er mutmaßlich von Gefängniswärtern gefoltert und misshandelt worden war. Zehn weitere Gefangene sollen in verschiedene Gefängnisse im ganzen Land verlegt worden sein, nachdem auch sie angegeben hatten, dass Gefängniswärter sie geschlagen hätten (AI 28.3.2023).
Gegen das geschlossene Gefängnis "Typ-S" [Anm.: Dieser Gefängnistyp wurde erst 2021 als Ergänzung zum Hochsicherheits Typ-F eingeführt. Er gilt bei Kritikern hauptsächlich als neues Isolationsgefängnis für politische Gefangene.] in der osttürkischen Provinz Iğdır sind im Juni 2023 erneut Foltervorwürfe laut geworden, über welches immer wieder Berichte über Menschenrechtsverletzungen und Misshandlungen auftauchen. Nach Angaben des Anwalts Ridvan Sahin wird den Gefängniswärtern vorgeworfen, Überwachungskameras absichtlich auszuschalten, bevor sie Häftlinge körperlich misshandeln. Das Gefängnis geriet nach den verdächtigen Todesfällen von Sezer Alan im Februar 2022 und Sinan Kaya im März 2022, die von den Gefängnisbehörden als "Selbstmord" bezeichnet wurden, ins Visier der Öffentlichkeit. Nach Berichten der Agentur Mezopotamya erstrecken sich die Verstöße nicht nur auf die Gefangenen, sondern auch auf die Anwälte. Der Anwalt Ridvan Sahin, der behauptet, bei einem Besuch seiner Mandanten von Wärtern angegriffen worden zu sein, sprach über die Verstöße im Gefängnis und die körperlichen Übergriffe, die er erlebt hat (Gercek 15.6.2023).
Folter und Misshandlungen im Zuge der Erdbeben 2023
Es gibt Berichte über mehrere Fälle von Gewalt, Folter und anderen Misshandlungen durch Polizei und Gendarmerie in den von den Erdbeben im Februar 2023 betroffenen Regionen sowie über Drohungen gegen Anwälte, die einen Folterfall dokumentiert haben (EC 8.11.2023, S. 31; vgl. AlMon 21.2.2023). In manchen Fällen kam es auch zu Gegenreaktionen (AlMon 21.2.2023). So gab die HDP bekannt, dass sie Strafanzeige gegen den Gouverneur von Hatay und den Polizeichef von Iskenderun wegen "schwerer Folter" von zehn Bürgern erstattete, die bei den Erdbeben ihre Angehörigen und ihr Zuhause verloren hatten. Unter den Opfern war auch ein HDP-Funktionär. Laut HDP seien die Betroffenen geschlagen worden, sodass sie schwere Verletzungen im Gesicht und am Körper aufwiesen. Sie seien überdies beleidigt und erniedrigend behandelt worden (AlMon 21.2.2023). In den Tagen nach dem Erdbeben wurden viele Menschen gelyncht, weil sie angeblich geplündert hatten, was nach den schweren Erdbeben vom 6. Februar zu einem großen Problem wurde. Eine dieser Personen war Muhammet Gündüz, der in der südlichen, vom Erdbeben betroffenen Provinz Hatay von der Polizei verprügelt wurde. Er gab an, dass er und sein Freund sofort, ohne vorhergehende Leibesvisitation, zusammengeschlagen wurden. Nachdem sich herausstellte, dass Gündüz im Gegenteil an Rettungsaktionen teilnahm, erstattete dieser auf der Polizeiwache einer entfernteren Provinz Anzeige gegen die Beamten, die ihn geschlagen hatten (Duvar 18.2.2023).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AI - Amnesty International (28.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089660.html , Zugriff 30.1.2024;
AlMon - Al Monitor (21.2.2023): Turkish youth dies in police custody as impunity soars in wake of Turkey's killer quakes, https://www.al-monitor.com/originals/2023/02/turkish-youth-dies-police-custody-impunity-soars-wake-turkeys-killer-quakes , Zugriff 29.1.2024;
Bianet - Bianet (15.12.2021): Suspicious death of Garibe Gezer in prison: Confidentiality order on both files, https://bianet.org/biamag/women/254863-suspicious-death-of-garibe-gezer-in-prison-confidentiality-order-on-both-files , Zugriff 30.1.2024;
CoE-CPT - Council of Europe – European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (5.8.2020): Report to the Turkish Government on the visit to Turkey carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 6 to 17 May 2019 [CPT/Inf (2020) 24], https://rm.coe.int/16809f20a1 , Zugriff 30.1.2024;
CoE-PACE - Council of Europe - Parliamentary Assembly (11.12.2023): Allegations of systemic torture and inhuman or degrading treatment or punishment in places of detention in Europe [Doc. 15880], https://www.ecoi.net/en/file/local/2102183/doc.+15880.pdf , Zugriff 30.1.2024;
CİSST - Ceza İnfaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği – Civil Society in the Penal System Association (26.3.2021): Annual Report 2019, http://cisst.org.tr/en/wp-content/uploads/2020/11/cisst_2019_annual_report_rev08-1.pdf , Zugriff 30.1.2024 [Login erforderlich];
DW - Deutsche Welle (16.2.2023): Turkey: Violence against alleged looters in earthquake zone, https://www.dw.com/en/turkey-violence-against-alleged-looters-in-earthquake-zone/a-64715204 , Zugriff 29.1.2024;
Duvar - Duvar (18.2.2023): Young Turkish man beaten by police in quake-hit province after looting accusations, https://www.duvarenglish.com/young-turkish-man-beaten-by-police-in-quake-hit-province-after-looting-accusations-news-61869 , Zugriff 30.1.2024;
Duvar - Duvar (22.3.2022): Over 13,000 people detained under torture in last four years in Turkey, https://www.duvarenglish.com/over-13000-people-detained-under-torture-in-last-four-years-in-turkey-news-60696 , Zugriff 30.1.2024;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023;
Gercek - Gercek News (15.6.2023): Prison guards accused of turning off cameras and torturing inmates in Turkey’s Igdir province, https://www.gerceknews.com/turkey/prison-guards-accused-of-turning-off-cameras-and-torturing-inmates-in-turkeys-220305h , Zugriff 30.1.2024;
HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Türkiye, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103139.html , Zugriff 17.1.2024;
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023a): World Report 2023 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085506.html , Zugriff 14.11.2023;
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023b): World Report 2023 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085506.html , Zugriff 30.1.2024;
HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066478.html , Zugriff 20.10.2023;
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2043511.html , Zugriff 1.2.2024;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General+COI+report+Turkiye+%28August+2023%29.pdf , Zugriff 13.11.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich];
OHCHR - Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (21.9.2022): Türkiye needs to strengthen effective torture prevention measures, UN experts find, https://www.ohchr.org/en/press-releases/2022/09/turkiye-needs-strengthen-effective-torture-prevention-measures-un-experts , Zugriff 31.10.2023;
SCF - Stockholm Center for Freedom (7.2.2023): 5,361, including 80 minors, mistreated or tortured in Turkey in 2022: report - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/5361-including-80-minors-mistreated-or-tortured-in-turkey-in-2022-report , Zugriff 30.1.2024;
SCF - Stockholm Center for Freedom (6.1.2022): Torture and Inhuman Treatment in Turkey: 2021 in Review, https://stockholmcf.org/torture-and-inhuman-treatment-in-turkey-2021-in-review/ , Zugriff 30.1.2024;
SCF - Stockholm Center for Freedom (17.11.2021): Turkey’s top court fines gov’t for torture in 5 cases, demands investigation into perpetrators, https://stockholmcf.org/turkeys-top-court-fines-govt-for-torture-in-5-cases-demands-investigation-into-perpetrators/ , Zugriff 30.1.2024;
SCF - Stockholm Center for Freedom (22.9.2021): Top Turkish court rules former teacher was tortured in police custody, https://stockholmcf.org/top-turkish-court-rules-former-teacher-was-tortured-in-police-custody/ , Zugriff 30.1.2024;
SCF - Stockholm Center for Freedom (15.9.2021): Turkey’s top court fines gov’t for torture in Afyon province, demands investigation into perpetrators, https://stockholmcf.org/turkeys-top-court-fines-govt-for-torture-in-afyon-province-demands-investigation-into-perpetrators/ , Zugriff 30.1.2024;
TM - Turkish Minute (21.1.2022): Vast majority of police officers suspected of excessive use of force go unpunished - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2022/01/21/st-majority-of-police-officers-suspected-of-excessive-use-of-force-go-unpunished , Zugriff 1.2.2024;
TİHV/HRFT - Türkiye İnsan Hakları Vakfı / Human Rights Foundation Turkey (6.2021): Treatment and Rehabilitation Centres Report 2020, https://en.tihv.org.tr/wp-content/uploads/2021/10/00_Tedavi-Raporu-2020-I%CC%87NGI%CC%87LI%CC%87ZCE_TU%CC%88M_BASKI.pdf , Zugriff 30.1.2024;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (27.9.2023a): Human Rights Association 2021 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2023/09/2022-Summary-Table_Human-Rights-Violations.pdf , Zugriff 12.1.2024;
İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (27.9.2023b): IHD’s Annual Human Rights Violations Report for 2022 – HRA, https://ihd.org.tr/en/ihds-annual-human-rights-violations-report-for-2022 , Zugriff 30.1.2024;
İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (6.11.2022a): Human Rights Association 2021 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2022/11/SR2022_2021-Turkey-Violations-Report.pdf , Zugriff 29.1.2024;
İHD/HRA/OMCT/CİSST/TİHV/HRFT - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association, World Organisation Against Torture, Ceza İnfaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği – Civil Society in the Penal System Association, Türkiye İnsan Hakları Vakfı / Human Rights Foundation Turkey (9.12.2021): Turkey: Five Years into visit by United Nations Special Rapporteur, torture remains widespread, https://www.omct.org/en/resources/statements/turkey-five-years-into-visit-by-united-nations-special-rapporteur-torture-remains-widespread , Zugriff 30.1.2024;
Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland
Letzte Änderung 2024-03-01 20:28
Die Türkei hat das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen noch nicht unterzeichnet (EC 8.11.2023, S. 29). Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen selbst über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren halten an. Menschenrechtsgruppen berichteten über vereinzelte Fälle von „Verschwindenlassen“, die zum Teil politisch motiviert gewesen seien. Immer wieder werden auch Entführungen aus dem Ausland durchgeführt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40f.).
Zu unterscheiden ist zwischen den Entführungen innerhalb Türkei und jenen türkischer Staatsbürger im Ausland, um sie in die Türkei zurückzubringen. In Bezug auf Erstere bestreitet die Türkei konsequent jede Beteiligung, in Bezug auf Letztere gibt sie offen zu, diese Entführungen durchgeführt zu haben. In beiden Fällen ist der Ablauf der Ereignisse identisch: (Vermeintliche) Gegner der Regierung werden entführt und verschwinden in der Folge von der Bildfläche, einige sind bis heute vermisst (TT 7.2021, S. 2). Die meisten von ihnen tauchen jedoch nach ein paar Monaten, z. B. in bestimmten Polizeistationen wieder auf (TT 7.2021, S. 2; vgl.FR 15.2.2021, TM 10.9.2021). Im September 2021 wurde beispielsweise bekannt, dass Hüseyin Galip Küçüközyiğit, der neun Monate lang vermisst worden war, sich im Gefängnis von Ankara befand. Wo er sich all die Zeit befand, ist bislang unbekannt. Die Behörden hatten bestritten, dass sich der ehemalige Rechtsberater des Ministerpräsidenten, dem Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wurden, in Gewahrsam befand (AI 29.3.2022b; vgl. Duvar 14.9.2021). - Offenkundig eingeschüchtert, schweigen die meisten Betroffenen nach ihrem Wiederauftauchen (TM 10.9.2021). Entführungen und gewaltsames Verschwindenlassen von Personen werden jedenfalls weiterhin vermeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht (HRW 13.1.2022). Immer wieder werden auch Entführungen aus dem Ausland durchgeführt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40f.). Besorgniserregend ist hierbei nach wie vor, so die Europäische Kommission, dass extraterritoriale Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit gerechtfertigt werden (EC 8.11.2023, S. 20).
Gemeinsame Recherchen des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) und acht internationaler Medien, koordiniert vom gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben Ende 2018, wonach ein Entführungsprogramm existiert, bei dem der Nationale Nachrichtendienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) nach politischen Gegnern sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und diese foltert, um beispielsweise belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vgl. Correctiv 11.12.2018, Haaretz 11.12.2018). Laut Menschenrechtsorganisationen und Oppositionspolitikern gab es seit 2016 Dutzende mutmaßliche Fälle von Entführungen und des "gewaltsamen Verschwindenlassens" (FR 15.2.2021, AlMon 17.9.2021) durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen, ohne dass angemessene Ermittlungen durchgeführt wurden, auch nicht im Falle von in den Medien berichteten Todesfällen (EC 8.11.2023, S. 31; vgl. AlMon 17.9.2021, MBZ 2.3.2022, S. 34), untermauert durch Aussagen von Augenzeugen, Familienmitglieder, wieder aufgetauchten Entführten sowie vereinzelt durch Videoaufnahmen (TT 7.2021, S. 3; vgl. HRW 29.4.2020).
Es gibt immer noch kein umfassendes, kohärentes Konzept in Bezug auf vermisste Personen, die Exhumierung von Massengräbern oder die unabhängige Untersuchung aller mutmaßlichen Fälle von außergerichtlicher Tötung durch Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamte. Die meisten Ermittlungen in Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen aus den 1990er-Jahren sind nach 20 Jahren verjährt. In den mehr als 1.400 Fällen vermisster Personen wurden nur 16 Gerichtsverfahren eingeleitet. 14 hiervon endeten mit einem Freispruch (EC 8.11.2023, S. 20). Laut der "UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen" (UN Working Group against Enforced and Involuntary Disappearances - UN-WGEID) galten mit Stand 2023 von 240 Fällen noch immer fast 84 als ungelöst (UNHRC/WGEID 8.8.2023, S. 30). Ömer Faruk Gergerlioğlu, Menschenrechtsaktivist und Abgeordneter der pro-kurdischen HDP, geht davon aus, dass seit 2016 mindestens 30 Menschen in der Türkei "verschwunden" sind. In vielen Fällen handle es sich um ehemalige Staatsbedienstete (FR 15.2.2021; vgl. TM 10.9.2021) oder um Anhänger der Gülen-Bewegung und Kurden (AlMon 17.9.2021; vgl. TT 7.2021, S. 50, TM 10.9.2021). Einige der Entführten werden Berichten zufolge immer noch vermisst. In jüngster Zeit wurden nach Angaben der türkischen Menschenrechtsstiftung (TİHV) neben HDP-Mitgliedern auch mehrere Aktivisten marxistischer Gruppen auf ähnliche Weise verschleppt. Dies bekräftigten auch die vermeintlich entführten Mitglieder der HDP und linker Organisationen selbst (AlMon 17.9.2021). Fast alle Entführten gaben an, dass sie unter Druck gesetzt wurden, ihre Organisationen zu verraten. Einige gaben an, sie seien schwer gefoltert worden (AlMon 17.9.2021; vgl. TT 7.2021, S. 2). Die Entführten werden auch unter Druck gesetzt, sich nicht umfassend zu verteidigen, und gezwungen, Beschwerden über Folter und Misshandlung zurückzuziehen. Außerdem ist es ihnen untersagt, unabhängige Ärzte zu konsultieren, um ihre Verletzungen zu bescheinigen (TT 7.2021, S. 2). Vielfach wurden die Betroffenen wegen Spionage angeklagt (FR 15.2.2021). Trotz mehrerer Anfragen von Abgeordneten der Opposition und Journalisten hat sich bisher kein Regierungsvertreter öffentlich zu den Entführungsvorwürfen geäußert FR 15.2.2021; vgl. AlMon 17.9.2021). Laut Gülseren Yoleri von der türkischen Menschenrechtsvereinigung İHD habe diese in allen Entführungsfällen Strafanzeige erstattet, doch all diese Fälle seien eingestellt worden. Ein Gesetz, das die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes (MİT) vor Strafverfolgung schützt, sei ein wichtiger Faktor hierbei. Wenn die Entführung eine MİT-Aktivität ist, könne die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln, so Yoleri (AlMon 17.9.2021). Die türkischen Behörden haben laut Human Rights Watch noch keinen einzigen Fall wirksam untersucht, sodass mehrere Familien sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt haben (HRW 29.4.2020).
Entführungen und Verschwindenlassen im Ausland
Was die Entführungen türkischer Staatsbürger aus dem Ausland betrifft, so zeigte sich die UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen (WGEID) zutiefst besorgt darüber, dass eine Reihe von Staaten, namentlich auch die Türkei, weiterhin extra-territoriale Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit rechtfertigt. Die Situation in der Türkei sei besonders besorgniserregend, da mindestens 100 türkische Staatsangehörige aus zahlreichen Staaten in die Türkei zwangsrückgeführt worden sein sollen, weil sie im Verdacht stehen, Mitglieder einer angeblichen terroristischen Organisation zu sein oder mit dieser zu sympathisieren (UNHRC/WGEID 7.8.2020, S. 16). 40 von den 100 entführten Personen verschwanden unter Gewaltanwendung, meist von der Straße, oder sie wurden aus ihren Häusern und Wohnungen in der ganzen Welt entführt, in mehreren Fällen zusammen mit ihren Kindern (UNHRC/WGEID 5.5.2020, S. 2). In seiner Entschließung vom Juni 2022 verurteilt das Europäischen Parlament "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31).
Wenn es den türkischen Behörden nicht gelingt, die Auslieferung auf legalem Wege zu erwirken, greifen sie in Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden von Drittländern, einschließlich Geheimdiensten und Polizei, auf verdeckte Operationen zurück. Dazu gehören in erster Linie rasche illegale Aktionen, um gefährdete Personen dem Schutz des Gesetzes zu entziehen und sie anschließend zu überstellen (UNHRC/WGEID 5.5.2020, S. 3; vgl. FH 2.2021, S. 10). In einigen Fällen haben diese Handlungen direkt gegen gerichtliche Anordnungen gegen illegale Abschiebungen verstoßen. Angesichts des zunehmenden Drucks seitens der Türkei führen die Aufnahmestaaten eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch, gefolgt von Hausdurchsuchungen und willkürlichen Verhaftungen in verdeckten Operationen. Die Namen der Personen werden mit vorbereiteten Listen abgeglichen, bevor sie gewaltsam zu nicht gekennzeichneten Fahrzeugen gebracht werden. Sie bleiben bis zu mehreren Wochen in geheimer oder Isolationshaft verschwunden, bevor sie in die Türkei abgeschoben werden. Während dieser Zeit sind sie häufig Zwang, Folter und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, um ihre Zustimmung zu einer freiwilligen Rückkehr zu erlangen und Geständnisse zu erpressen, die bei der Ankunft in der Türkei zur Strafverfolgung dienen sollen. In dieser Phase wird den Betroffenen der Zugang zu medizinischer Versorgung und Rechtsbeistand verwehrt, und sie können die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung nicht vor einem zuständigen Gericht anfechten, sodass sie de facto außerhalb des Schutzes des Gesetzes stehen. Ihre Familienangehörigen sind über ihr Schicksal und ihren Verbleib nicht informiert. Den Zeugenaussagen zufolge haben die Opfer dieser Operationen von unverminderten Misshandlungen durch Geheimdienstmitarbeiter berichtet, die vor allem darauf abzielen, ein Geständnis zu erzwingen. Zu den gängigsten Formen der Folter gehören Nahrungs- und Schlafentzug, Schläge, Waterboarding und Elektroschocks (UNHRC/WGEID 5.5.2020, S. 3).
Was die Entführungen außerhalb des Hoheitsgebiets betrifft, so hat die Türkei durch mehrere ihrer höchsten Vertreter, inklusive Staatspräsident Erdoğan, die Verantwortung dafür übernommen TT 7.2021, S. 50; vgl. FH 2.2021, S. 39f) und hierbei insbesondere die Rolle des Geheimdienstes MİT hervorgestrichen, beispielsweise anlässlich der Entführung von sechs Lehrern aus dem Kosovo (FH 2.2021, S. 39f). Die Entführungen werden in der Türkei öffentlich verkündet und von den Regierungsmedien gefeiert; die Opfer werden beispielsweise in Handschellen öffentlich präsentiert, bevor sie im Kerker verschwinden (DlF 22.6.2021). Beispielsweise verschwand Anfang September 2022 Ugur Demirok in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku auf den Weg in sein Büro. Zwei Monate später verbreitete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu ein Polizeifoto Demiroks in Handschellen zwischen zwei großen türkischen Fahnen. Laut einer regierungsnahen Tageszeitung hatte der Geheimdienst MİT Demirok "gefangen". Auf ihn warte nun eine Anklage wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation (RND 10.12.2022). Auch Flüchtlingslager im Ausland können Ziele der türkischen Sicherheitsbehörden sein. - So nahm 2022 der türkische Geheimdienst MİT bei einem Einsatz im Lager Makhmour im irakischen Gouvernement Ninewa (auch: Nineveh) zwei PKK-Mitglieder fest und verbrachte diese in die Türkei (Shafaq 14.9.2022).
Die UN-Arbeitsgruppe wiederholte [nach 2021] 2022 ihre Besorgnis über die fortgesetzte Rechtfertigung von extra-territorialen Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit. In diesem Zusammenhang fordert die Arbeitsgruppe das Verschwindenlassen von Personen nicht mehr mit dem Schutz der nationalen Sicherheit, der Bekämpfung des Terrorismus und des Extremismus zu rechtfertigen; unabhängige und wirksame Untersuchungen möglicher Verstöße durchzuführen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und den Opfern und ihren Familien das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu gewähren; und alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um ähnliche Fälle in Zukunft zu verhindern (UNHRC/WGEID 12.8.2022, S. 20).
Im Juni 2023 verabschiedete die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) eine Resolution zur transnationalen Gewalt. Die Resolution verurteilt alle Formen und Praktiken der grenzüberschreitenden Repression, einschließlich derjenigen, die direkt von einem Herkunftsstaat außerhalb seiner Grenzen ausgeübt werden, und derjenigen, bei denen ein Herkunftsstaat andere Staaten mit einbezieht, um rechtswidrig gegen eine Zielperson in seinem eigenen Hoheitsgebiet vorzugehen. PACE ist der Auffassung, dass diese Praktiken nicht nur zahlreiche unveräußerliche und grundlegende Menschenrechte der betroffenen Personen verletzen, sondern auch eine Bedrohung für die Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie und die nationale Sicherheit der Staaten darstellen, in denen diese Personen leben und Zuflucht gefunden haben. Grenzüberschreitende Repressionsmaßnahmen, die von den Mitgliedsstaaten durchgeführt werden und die in ihrem Hoheitsgebiet stattfinden oder Auswirkungen haben, untergraben die Werte und Prinzipien, für die der Europarat steht, so der Wortlaut der Resolution. - In diesem Kontext zeigte sich PACE besorgt darüber, dass die Türkei einige der Instrumente der transnationalen Repression eingesetzt hat, insbesondere nach dem Putschversuch vom Juli 2016 bei der Verfolgung von vermeintlichen Anhängern der Gülen-Bewegung. Zu diesen Instrumenten gehören: Überstellungen, der Missbrauch von Auslieferungsverfahren, INTERPOL Red Notices und Maßnahmen zur Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung sowie die Zusammenarbeit mit anderen Staaten. In diesem Zusammenhang stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass die Republik Moldau im Jahr 2018 sieben Lehrer mit türkischer Staatsangehörigkeit rechtswidrig in die Türkei überstellt hatte, wobei sie alle Garantien des innerstaatlichen und internationalen Rechts umging und somit das in Artikel 5/1 der Konvention garantierte Recht auf Freiheit verletzte (CoE-PACE 23.6.2023).
Vergleiche hierzu auch das Kapitel zu: Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Quellen
AI - Amnesty International (29.3.2022b): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070315.html , Zugriff 20.10.2023;
AlMon - Al Monitor (17.9.2021): Turkish civic groups protest abductions, forced disappearances, https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkish-civic-groups-protest-abductions-forced-disappearances , Zugriff 23.10.2023;
CoE-PACE - Council of Europe - Parliamentary Assembly (23.6.2023): Transnational repression as a growing threat to the rule of law and human rights [Res. 2509], https://pace.coe.int/en/files/32999/html , Zugriff 21.11.2023 [Login erforderlich];
Correctiv - Correctiv – Recherchen für die Gesellschaft (11.12.2018): BlackSitesTurkey, https://correctiv.org/top-stories/2018/12/06/black-sites/ , Zugriff 23.10.2023;
DlF - Deutschlandfunk (22.6.2021): Türkei entführt systematisch Oppositionelle aus dem Ausland, https://www.deutschlandfunk.de/der-lange-arm-ankaras-tuerkei-entfuehrt-systematisch-100.html , Zugriff 23.10.2023;
Duvar - Duvar (14.9.2021): Turkish man missing since December 2020 turns up in Ankara prison, https://www.duvarenglish.com/turkish-man-missing-since-december-2020-turns-up-in-ankara-prison-news-58810 , Zugriff 20.10.2023;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023;
FH - Freedom House (2.2021): Out of Sight, not out of Reach: the Global Scale and Scope of Transnational Repression, https://freedomhouse.org/sites/default/files/2021-02/Complete_FH_TransnationalRepressionReport2021_rev020221.pdf , Zugriff 23.10.2023;
FR - Frankfurter Rundschau (15.2.2021): Mysteriöse Vermisstenfälle in der Türkei: Was hat Erdoğans Regierung damit zu tun?, https://www.fr.de/politik/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-vermisste-gewaltsames-verschwindenlassen-putsch-90204396.html , Zugriff 20.10.2023;
HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066478.html , Zugriff 20.10.2023;
HRW - Human Rights Watch (29.4.2020): Turkey: Enforced Disappearances, Torture, https://www.hrw.org/news/2020/04/29/turkey-enforced-disappearances-torture , Zugriff 23.10.2023;
Haaretz - Haaretz (11.12.2018): Kidnapped, Escaped, and Survived to Tell the Tale: How Erdogan's Regime Tried to Make Us Disappear, https://www.haaretz.com/middle-east-news/turkey/.premium.MAGAZINE-how-erdogan-s-loyalists-try-to-make-us-disappear-1.6729331 , Zugriff 23.10.2023 [Login erforderlich];
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023;
RND - RedaktionsNetzwerk Deutschland (10.12.2022): Erdogans Jagd auf die Gegner: Wie der Geheimdienst „Staatsfeinde“ entführt, https://www.rnd.de/politik/erdogans-jagd-auf-die-gegner-wie-der-geheimdienst-staatsfeinde-entfuehrt-INK7GWTTGBBOJG5BWWY7ORA5PA.html , Zugriff 23.10.2023;
Shafaq - Shafaq News (14.9.2022): MIT “brings" two PKK members from Makhmur Camp to Türkiye, https://shafaq.com/en/Iraq-News/MIT-brings-two-PKK-members-from-Makhmur-Camp-to-T-rkiye , Zugriff 29.1.2024;
TM - Turkish Minute (10.9.2021): Turkish couple in exile protests enforced disappearances in front of European rights court, https://www.turkishminute.com/2021/09/10/kishcouple-in-exile-protests-enforced-disappearances-in-front-of-european-rights-court/ , Zugriff 20.10.2023;
TT - Turkish Tribunal (7.2021): Abductions in Turkey Today, https://turkeytribunal.org/wp-content/uploads/2021/11/AbductionsinTurkey_Turkey-Tribunal-Report_FINAL.pdf , Zugriff 20.10.2023;
UNHRC/WGEID - United Nations Human Rights Council - Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances (8.8.2023): Enforced or involuntary disappearance Report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances [A/HRC/54/22], https://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?OpenAgent&DS=A/HRC/54/22&Lang=E , Zugriff 23.10.2023;
UNHRC/WGEID - United Nations Human Rights Council - Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances (12.8.2022): Human Rights Council - Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances [A/HRC/51/31], https://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?OpenAgent&DS=A/HRC/51/31&Lang=E , Zugriff 23.10.2023;
UNHRC/WGEID - United Nations Human Rights Council - Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances (7.8.2020): United Nations Human Rights Council - Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances [A/HRC/45/13], https://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?OpenAgent&DS=A/HRC/45/13&Lang=E , Zugriff 23.10.2023;
UNHRC/WGEID - United Nations Human Rights Council - Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances (5.5.2020): Mandates of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances; the Special Rapporteur on the human rights of migrants; the Special Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism; and the Special Rapporteur on torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment [letter to the Turkish Government], (AL TUR 5/2020), https://spcommreports.ohchr.org/TMResultsBase/DownLoadPublicCommunicationFile?gId=25209 , Zugriff 23.10.2023 [Login erforderlich];
ZDF - Zweiten Deutsches Fernsehen (11.12.2018): Kidnapping im Auftrag Erdogans, https://www.zdf.de/politik/frontal-21/die-verschleppten-100.html , Zugriff 23.10.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
8. Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2024-03-07 13:55
Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38; vgl. EC 8.11.2023, S. 6, 38). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023a, S. 1, 21; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38).
Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Es wurden keine Gesetzesänderungen verabschiedet, um die verbleibenden Elemente der Notstandsgesetze von 2016 aufzuheben (Stand Nov. 2023). Die Weigerung der Türkei, bestimmte Urteile des EGMR umzusetzen, gibt der Europäischen Kommission Anlass zur Sorge hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Türkei hat das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Juli 2022, das im Rahmen des vom Ministerkomitee gegen die Türkei eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens erging, nicht umgesetzt, was darauf hindeutet, dass die Türkei sich von den Standards für Menschenrechte und Grundfreiheiten, die sie als Mitglied des Europarats unterzeichnet hat, entfernt hat. Die Umsetzung des im Jahr 2021 angenommenen Aktionsplans für Menschenrechte wurde zwar fortgesetzt, kritische Punkte wurden jedoch nicht angegangen. - Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 8.11.2023, S. 6, 28). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).
Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören: willkürliche Tötungen; verdächtige Todesfälle von Personen im Gewahrsam der Behörden; erzwungenes Verschwinden; Folter; willkürliche Verhaftung und fortgesetzte Inhaftierung von Zehntausenden von Personen, einschließlich Oppositionspolitikern und ehemaligen Parlamentariern, Rechtsanwälten, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten wegen angeblicher Verbindungen zu "terroristischen" Gruppen oder aufgrund legitimer Meinungsäußerung; politische Gefangene, einschließlich gewählter Amtsträger; grenzüberschreitende Repressalien gegen Personen außerhalb des Landes, einschließlich Entführungen und Überstellungen mutmaßlicher Mitglieder der Gülen-Bewegung ohne angemessene Garantien für ein faires Verfahren; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, einschließlich Gewalt und Gewaltandrohung gegen Journalisten, Schließung von Medien und Verhaftung oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und anderen Personen wegen Kritik an der Regierungspolitik oder an Amtsträgern; Zensur; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; gravierende Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze bezüglich der staatlichen Aufsicht über nicht-staatliche Organisationen (NGOs); Restriktionen der Bewegungsfreiheit; Zurückweisung von Flüchtlingen; schwerwiegende Schikanen der Regierung gegenüber inländischen Menschenrechtsorganisationen; fehlende Ermittlungen und Rechenschaftspflicht bei geschlechtsspezifischer Gewalt; Gewaltverbrechen gegen Mitglieder ethnischer, religiöser und sexueller [LGBTQI+] Minderheiten (USDOS 20.3.2023a, S. 1f., 96; vgl. AI 28.3.2023, EEAS 30.3.2022, S. 16f.). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 20.3.2023a, S. 1f., 96; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 39).
Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (Rat der EU 14.12.2021b, S. 16, Pt. 34). Zuletzt zeigte sich (nach Mai 2022) das Europäische Parlament im September 2023 "nach wie vor besorgt über die schwerwiegenden Einschränkungen der Grundfreiheiten – insbesondere der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, für die das Gezi-Verfahren symbolhaft ist – und die anhaltenden Angriffe auf die Grundrechte von Mitgliedern der Opposition, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Gewerkschaftern, Angehörigen von Minderheiten, Journalisten, Wissenschaftlern und Aktivisten der Zivilgesellschaft, unter anderem durch juristische und administrative Schikanen, willkürliche Anwendung von Antiterrorgesetzen, Stigmatisierung und Auflösung von Vereinigungen" (EP 13.9.2023, Pt. 10).
Mit Stand 30.11.2023 waren 23.750 (30.11.2022: 20.300) Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 33,2 % (2022: 26,8 %) aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 12.2023; ECHR 12.2022), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Im Jahr 2024 stellte der EGMR für das Jahr 2023 in 72 Fällen (von 78) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 17, betrafen das Recht auf ein faires Verfahren, gefolgt vom Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), dem Versammlung- und Vereinigungsrecht (16), dem Recht auf Familien- und Privatleben (15) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (10) (ECHR 1.2024).
Das Recht auf Leben
Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD/HRA 6.11.2022b, S. 9).
Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Mutmaßliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte im Südosten, insbesondere während der Ereignisse im Jahr 2015, wurden nicht wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 30f.). Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt, insbesondere im Südosten des Landes (EC 12.10.2022, S. 33).
Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022b).
Siehe hierzu insbesondere die Kapitel bzw. Subkapitel: Sicherheitslage, Folter und unmenschliche Behandlung sowie Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland.
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AI - Amnesty International (28.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089660.html , Zugriff 30.1.2024;
CoE-CommDH - Council of Europe – Commissioner for Human Rights (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 31.10.2023;
Duvar - Duvar (8.7.2022b): Top Turkish court finds no rights violation in death of Cizre curfew victims, https://www.duvarenglish.com/top-turkish-court-finds-no-rights-violation-in-death-of-cizre-curfew-victims-news-61010 , Zugriff 9.2.2024;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
EC - Europäische Kommission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 31.10.2023;
EC - Europäische Kommission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 17.10.2023;
ECHR - European Court of Human Rights (1.2024): Violations by Article and by State, https://www.echr.coe.int/documents/d/echr/stats-violation-2023-eng , Zugriff 9.2.2024;
ECHR - European Court of Human Rights (12.2023): PENDING APPLICATIONS ALLOCATED TO A JUDICIAL FORMATION - REQUÊTES PENDANTES DEVANT UNE FORMATION JUDICIAIRE 30/11/2022, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2023_BIL.PDF , Zugriff 9.2.2024;
ECHR - European Court of Human Rights (12.2022): PENDING APPLICATIONS ALLOCATED TO A JUDICIAL FORMATION - REQUÊTES PENDANTES DEVANT UNE FORMATION JUDICIAIRE 30/11/2022, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2022_BIL.PDF , Zugriff 9.2.2024;
EEAS - European Union / European External Action Service (30.3.2022): EU ANNUAL REPORT ON HUMAN RIGHTS AND DEMOCRACY IN THE WORLD 2021 COUNTRY UPDATES - Turkey, https://www.eeas.europa.eu/sites/default/files/documents/220323%202021%20EU%20Annual%20Human%20Rights%20and%20Democracy%20Country%20Reports.docx.pdf , Zugriff 9.2.2024;
EP - Europäisches Parlament (13.9.2023): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2023 zu dem Bericht 2022 der Kommission über die Türkei (2022/2205(INI), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0320_DE.pdf , Zugriff 25.10.2023;
Rat der EU - Rat der EU (14.12.2021b): Schlussfolgerungen des Rates zur Erweiterung sowie zum Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess [15033/21], https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-15033-2021-INIT/de/pdf , Zugriff 9.2.2024;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (6.11.2022b): Human Rights Association 2021 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2022/11/SR2022_2021-Turkey-Violations-Report.pdf , Zugriff 31.10.2023;
9. Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Letzte Änderung 2024-03-07 13:53
Allgemeine Situation der Meinungs- und Medienfreiheit
Die Türkei befindet sich laut Europäischer Kommission hinsichtlich der Meinungsfreiheit noch in einem frühen Stadium. Die in den letzten Jahren beobachteten gravierenden Rückschritte haben sich fortgesetzt. Die Umsetzung der Strafgesetze in Bezug auf die nationale Sicherheit und die Terrorismusbekämpfung verstößt weiterhin gegen die EMRK und weicht von der Rechtsprechung des EGMR ab. Es kommt weiterhin zu Fällen von Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Schriftstellern, Oppositionspolitikern, Studenten, Künstlern und Nutzern sozialer Medien. Die Verbreitung oppositioneller Stimmen und das Recht auf freie Meinungsäußerung wird durch den zunehmenden Druck und die restriktiven Maßnahmen beeinträchtigt (EC 8.11.2023, S. 33f.).
Die Türkei verschlechterte sich im World Press Freedom Index 2023 im Vergleich zum Vorjahr [1. Rang = bester Rang] merklich innerhalb der Rangordnung der angeführten 180 Länder, nämlich um 16 Plätze, von Rang 149 auf Platz 165. Verschlechtert hat sich auch der absolute Wert von 41,25 auf 33,97 [100 ist der beste, statistisch zu erreichende Wert] (RSF 3.5.2023).
Presse- und Medienfreiheit - Medien als Instrument der Regierung
Die türkischen Mainstream-Medien, die einst für einen lebhafteren Ideenkonflikt sorgten, sind zum Glied einer straffen Befehlskette mit von der Regierung genehmigten Schlagzeilen, Titelseiten und Themen für Fernsehdebatten geworden. Die größten Medienmarken werden von Unternehmen und Personen kontrolliert, die Staatspräsident Erdoğan und seiner AK-Partei (AKP) nahestehen, nachdem diese seit 2008 eine Reihe von Übernahmen getätigt haben. Sie beeinflussen wesentlich die Berichterstattung. Der Trend verstärkte sich im Zuge des gescheiterten Putschversuches vom Juli 2016, als danach 150 vermeintlich der Gülen-Bewegung nahestehende Media-Outlets liquidiert wurden. Die letzte große Übernahme war 2018 jene der Tageszeitung Hürriyet sowie anderer Medien des regierungskritischen Verlegers und Milliardärs Aydin Doğan durch die regierungsnahe Demirören Gruppe (REU 31.8.2022). Somit gelten gegenwärtig 90 % der türkischen Medien (Print, Rundfunk, Fernsehen) personell und/oder finanziell mit der Regierungspartei AKP verbunden. Die restlichen 10 % werden finanziell ausgehungert, indem ihnen staatliche Werbeanzeigen entzogen werden (AA 28.7.2022, S. 9; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 37, FH 10.3.2023, D1). Wirtschaftseliten mit engen Verbindungen zu Erdoğan werden beschuldigt, Journalisten zu bestechen und eine negative Presse gegen die Opposition zu inszenieren (FH 10.3.2023, D1).
Da 90 % der nationalen Medien inzwischen von der Regierung kontrolliert werden, hat sich die Öffentlichkeit in den letzten fünf Jahren an den Rest der kritischen oder unabhängigen Medien verschiedener politischer Couleur gewandt, um sich über die Auswirkungen der wirtschaftlichen und politischen Krise auf das Land zu informieren. Dazu gehören lokale Fernsehsender wie Fox TV, Halk TV, Tele1 und Sözcü sowie internationale Nachrichten-Websites wie BBC Turkish, Voice of America (VOA) Turkish und die Deutsche Welle Turkish (RSF 3.5.2023).
Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu - RTÜK), die Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk, wurde zu einem Überwachungs- und Kontrollinstrument umfunktioniert. Lizenzen und Genehmigungen, die von Medien beantragt werden, müssen vom RTÜK abgesegnet werden (DW 4.5.2021). Die Mitglieder des RTÜK werden vom AKP-kontrollierten Parlament ernannt (FH 10.3.2023, D1)
Ein weiteres Instrument der Druckausübung ist die staatliche Presse-Anzeigenagentur [auch: Pressewerberat] (Basın İlan Kurumu - BİK). Diese ist für die Vergabe staatlicher Anzeigen nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel an die Printmedien und seit 18.10.2022 auch an digitale Medien zuständig, eine wichtige Einnahmequelle für die Medien. Medien sind vor allem nach kritischer Berichterstattung gegen Regierungsmitglieder immer wieder von Anzeigensperren betroffen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 43). Wenn die BİK feststellt, dass ein Medien-Artikel gegen seinen Ethikkodex verstößt, bestraft sie die betreffende Zeitung mit der Aussetzung der staatlichen Werbung, d. h. der Werbung der Regierung und der ihr nahestehenden Einrichtungen, wie z. B. der staatlichen Banken. So wurden 2020 fast alle Suspendierungen gegen die fünf bekanntesten unabhängigen Zeitungen verhängt. Zusammen wurden den fünf Zeitungen rund vier Millionen Lira an staatlichen Werbegeldern für das Jahr 2020 entzogen (REU 31.8.2022).
Das Europäische Parlament zeigte sich 2021 "zutiefst besorgt über die mangelnde Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von öffentlichen Einrichtungen wie dem Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) und die staatlichen Pressewerberat (BİK), der als Instrument benutzt werden, um als regierungskritisch geltende Medien willkürlich auszusetzen, zu verbieten, mit Geldstrafen zu belegen oder durch die Auferlegung finanzieller Bürden in ihrer Arbeit zu behindern, was ihr eine fast vollständige Kontrolle der Massenmedien ermöglicht" (EP 19.5.2021, S. 12, Pt. 27; vgl. RSF 3.5.2023). Zwischen Mitte Juni 2022 und März 2023 verhängte der RTÜK 1.768 Bußgelder gegen Medien. Im gleichen Zeitraum verhängten türkische Gerichte 128 Sendeverbote gegen TV-Stationen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 43f.; vgl. FH 10.3.2023, D1). Schon im Juni 2022 forderte das EP den Vorsitzenden des RTÜK auf, "die übermäßige Verhängung von Geldbußen und Sendeverboten, mit denen die legitime Meinungsfreiheit von Journalisten und Rundfunksender aus der Türkei eingeschränkt wird, einzustellen" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 14).
Anweisungen an die Nachrichtenredaktionen kommen, auch via Telefon oder Whatsapp, oft von Beamten aus der Direktion für Kommunikation (İletişim Başkanlığı), die für die Beziehungen zu den Medien zuständig ist. Die Direktion unter der Leitung von Fahrettin Altun ist eine Schöpfung Erdoğans und beschäftigt rund 1.500 Mitarbeiter. 48 Auslandsbüros in 43 Ländern beobachten überdies, wie im Ausland über die Türkei berichtet wird. Bei wichtigen Nachrichten, die Erdoğan oder seine Regierung in Bedrängnis bringen könnten - insbesondere bei Ereignissen, die die Wirtschaft oder das Militär betreffen - setzt sich Altun laut Reuters-Quelle regelmäßig mit Redakteuren und leitenden Korrespondenten in Verbindung, um einen Plan für die Berichterstattung aufzustellen (REU 31.8.2022).
Druck auf Medien und Verfolgung von Journalisten und anderen Kritikern
Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Webseiten weiterhin tätig sind, stehen sie unter enormen politischen Druck und werden routinemäßig strafrechtlich verfolgt (FH 10.3.2023, D1; vgl. BS 23.2.2022a, S. 10). Die Behörden ordnen regelmäßig die Löschung kritischer Online-Inhalte oder negativer Berichterstattung über Minister, den Staatspräsidenten und Mitglieder der Justiz an (HRW 11.1.2024).
Das massive Vorgehen gegen die Pressefreiheit und die systematische Unterdrückung unabhängiger Medien in der Türkei setzte sich nach den verheerenden Erdbeben im Februar 2023 und im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 fort. Die von der Europäischen Kommission finanzierte Medienbeobachtungsplattform Mapping Media Freedom (MFRR) verzeichnete im Zeitraum Jänner bis Juni 2023 eine Rekordzahl von Verstößen gegen die Presse- und Medienfreiheit im Land - 136 Fälle, an denen 172 Personen oder Medienunternehmen beteiligt waren. Willkürliche Verhaftungen, strafrechtliche Anklagen und Verurteilungen wurden immer wieder eingesetzt, um Journalisten einzuschüchtern und kritische und unabhängige Berichterstattung zum Schweigen zu bringen (EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12). Strafverfahren gegen Journalisten werden oft mit der "Beleidigung des Staatspräsidenten und der türkischen Nation", mit Terrorpropaganda (AA 28.7.2022, S. 9; vgl. EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12), "provokativen Inhalten" (AA 28.7.2022, S. 9), "Beleidigung von Amtsträgern" und "offene Aufstachelung zum Hass und zur Feindschaft" begründet (EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12).
Darüber hinaus gibt es Druck insbesondere auf Journalistinnen und Journalisten, die etwa negativ über nationalistische Gruppieren recherchieren oder (AA 28.7.2022, S. 9) über Korruption berichten (REU 31.8.2022; vgl. AA 28.7.2022, S. 9, FH 10.3.2023, D1). Am 1.11.2023 sind zum Beispiel die beiden Journalisten Tolga Şardan und Dinçer Gökçe wegen des Vorwurfs der "Verbreitung falscher Informationen" getrennt voneinander vorübergehend festgenommen und angeklagt worden. Einen Tag später verhaftete die Polizei den Online-Kolumnisten Cengiz Erdinç wegen desselben mutmaßlichen Tatbestands (Mit Stand Ende 2023 immer noch in Haft). Die drei Medienschaffenden hatten zuvor über Korruption in der türkischen Justiz berichtet (BAMF 31.12.2023, S. 5; vgl. BIRN 2.11.2023).
Die Türkei ist nach wie vor eines jener Länder weltweit, das am häufigsten Journalisten inhaftiert (EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12). Mit Stand 2.2.2024 waren laut Media and Law Studies Association (MLSA) mindestens 38 Journalisten und Medienmitarbeiter inhaftiert (MLSA 2.2.2024). Das Europäische Parlament verurteilte im September 2023 "die anhaltende Verfolgung, Zensur und Drangsalierung von Journalisten und unabhängigen Medien in der Türkei; [und war] außerdem besorgt darüber, dass gezielt gegen türkischstämmige Journalisten sowie politische Gegner in der EU vorgegangen wird" (EP 13.9.2023, Pt. 12).
Der Druck auf Journalisten dauert an. Ihre Arbeitssituation ist schwierig, die Arbeitslosigkeit in dieser Berufsgruppe sowie im Medienbereich allgemein hoch. Zukunftsängste und mangelnde Jobsicherheit begünstigen ebenso die Selbstzensur (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 43) wie die Furcht vor Repressionen durch rechtliche und wirtschaftliche Schritte im Falle von Kritik an der Regierung (USDOS 20.3.2023a, S. 33; vgl. BS 23.2.2022a, S. 10). Journalisten sehen sich Einschüchterungen, Festnahmen, Anklagen und Entlassungen ausgesetzt. Auch werden immer wieder gewaltsame Übergriffe gegen Journalisten verzeichnet, welche oftmals nicht geahndet werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 43; vgl. BS 23.2.2022a; S. 10, USDOS 20.3.2023a, S. 33). Tätlich angegriffen werden vor allem diejenigen, die über Politik, Korruption oder Verbrechen berichten (FH 10.3.2023, D1). Körperliche Übergriffe auf Journalisten erfolgen sowohl durch die Polizei als auch durch Privatpersonen, in seltenen Fällen auch mit tödlichen Folgen. - Im Februar 2022 wurde Güngör Arslan, Eigentümer und Chefredakteur einer Lokalzeitung, vor seinem Büro in Ízmit erschossen. Er prangerte die örtliche Korruption und die Mafia an (SZ 21.2.2022).
Journalisten wurden auch wegen der Berichterstattung über Proteste strafrechtlich verfolgt (FH 28.2.2022, D1). Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen, da deren journalistische Tätigkeiten als terrorismusbezogene Vergehen gewertet wurden (HRW 11.1.2024; vgl. IPI 30.11.2020). Hinzu kommt meist ein Reiseverbot (IPI 30.11.2020).
Journalisten, welche vormalige Aktionen der Regierung, die angeblich der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staates dienten - z. B. Waffenlieferungen nach Syrien - oder Missstände bei den Sicherheitskräften untersuchen, werden systematisch der "Spionage", der "terroristischen Propaganda", der "Diffamierung" des Justizsystems oder der Sicherheitskräfte oder sogar des "Angriffs auf einen Anti-Terror-Agenten" beschuldigt (RSF 15.6.2021). Im Allgemeinen kann öffentliche Kritik an Themen, die für die Regierung sensibel sind, strafrechtlich verfolgt werden. Journalisten, die beispielsweise über die militärischen Aktivitäten der Türkei in Syrien oder Libyen berichteten, wurden einer Reihe von Verbrechen angeklagt, darunter Verstöße gegen das Geheimhaltungsgesetz oder das Schüren von Hass (IPI 30.11.2020).
Auch die Kritik an der Wirtschaftspolitik kann zur Verhaftung führen. Am 12.12.2021 wurden drei Youtube-Journalisten in der türkischen Provinz Antalya verhaftet, nachdem sie Passanten auf der Straße zu deren Meinung zur Wirtschaftskrise in der Türkei interviewt hatten. Bei Razzien in ihren Wohnungen wurden Mobiltelefone und Computer beschlagnahmt. Den festgenommenen Personen wird vorgeworfen, "den Staat und die Regierung zu verunglimpfen". Sie wurden zwischenzeitlich wieder freigelassen, jedoch unter Hausarrest gestellt (BAMF 20.12.2021, S. 12; vgl. Independent 13.12.2021).
Verhaftet wegen Terrorunterstützung werden jedoch nicht nur Journalisten. - So wurde etwa die Vorsitzende des medizinischen Berufsverbands TTB, Şebnem Korur Fıncancı, nach einem TV-Interview der Terrorpropaganda beschuldigt und verhaftet, weil sie Aufklärung zu möglichen Chemiewaffen-Einsätzen der türkischen Armee im Nordirak forderte, nachdem eine Delegation der Organisation "Internationale Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkrieges" Ende September im Nordirak vermeintlich einige indirekte Indizien für mögliche Verletzungen der Chemiewaffenkonvention gefunden hatte. Staatspräsident Erdoğan beschuldigte Fincanci ihr Land beleidigt zu haben und "die Sprache der Terrororganisation" PKK zu sprechen (FR 27.10.2022; vgl. AP 27.10.2022). Am 11.1.2023 verurteilte das Gericht die Medizinerin zu zwei Jahren, acht Monaten und 15 Tagen Gefängnis. Allerdings wurde Fincanci im Anschluss an die Urteilsverkündung umgehend freigelassen. Haftstrafen von weniger als drei Jahren werden in der Türkei selten vollstreckt (Standard 11.1.2023; vgl. DW 11.1.2023).
Mitunter kommt es auch zum Publikationsverbot von Büchern. - Ein Gericht verbot im Herbst 2022 den Vertrieb und Verkauf eines Buches der ehemaligen, inhaftierten HDP-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ mit dem Titel "Mauern werden eingerissen", in dem es u.a. um die Ausgangssperren im Sommer 2015 geht, und zwar wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" (NaT 10.9.2022; vgl. Mezopotamya 8.9.2022).
Kurdische Journalisten und Medien
Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise betroffen. In einem Diyarbakır-Prozess gegen 18 kurdische Journalisten und Medienschaffende, die der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" beschuldigt wurden, verbrachten 15 von ihnen 13 Monate in Untersuchungshaft, bevor sie bei ihrer ersten Anhörung im Juli freigelassen wurden. In einem Prozess in Ankara gegen elf kurdische Journalisten verbrachten neun von ihnen sieben Monate in Untersuchungshaft, bevor sie im Mai bei ihrer ersten Anhörung freigelassen wurden (HRW 11.1.2024). - Berichte zum Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat ziehen die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich. Betroffen hiervon ist beispielsweise die kurdische Nachrichtenplattform "Mezopotamya Agency", laut deren Leiter jeder Mitarbeiter zumindest einmal festgenommen wurde (MBZ 2.3.2022, S. 23). Beispielsweise wurden Ende Oktober 2022 bei Razzien der Polizei in Ístanbul, Ankara und anderen türkischen Städten elf Journalisten pro-kurdischer Medien wegen angeblicher Verbindungen zu kurdischen Extremisten festgenommen, darunter der Chefredakteur sowie acht weitere Mitarbeiter von Mezopotamya News (AP 25.10.2022). Die Polizei erklärte, die Verdächtigten seien wegen ihrer journalistischen Beiträge festgenommen worden, welche die Öffentlichkeit zu Hass und Feindschaft aufstacheln sollen. In der Erklärung der Polizei von Ankara wurden die Razzien als "Anti-Terror-Operation" bezeichnet. Zudem wurde speziell Mezopotamya beschuldigt, als "Presserat" der PKK zu fungieren (BAMF 31.10.2022, S. 12). (Befristete) Publikationsverbote mit Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" treffen, mitunter wiederholt, vor allem kurdische Zeitungen oder solche des linken politischen Spektrums (AA 28.7.2022, S. 9).
Beweise zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft und terroristischer Anschuldigungen bestehen in erster Linie aus Produkten journalistischer Arbeit, einschließlich veröffentlichter Artikel und Fotos, Kontakten zu Quellen, Social Media-Posts oder TV-Auftritten (SCF 3.1.2022). Auch im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wurden Ende April 2023 kurdische Journalisten verhaftet. So zum Beispiel Sedat Yilmaz, Redakteur bei der Mezopotamia News Agency (MA), und Dicle Muftuoglu, Ko-Vorsitzender der Journalistenvereinigung Dicle Firat. Dies geschah zwei Tage, nachdem ein Gericht in Diyarbakır vier weitere kurdische Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhaften ließ (VOA 1.5.2023).
Urteile des Verfassungsgerichts
Das Verfassungsgericht allerdings, das mehrere Klagen der Zeitungen Sözcü, Cumhuriyet, BirGün und Evrensel bewertete, entschied in seinem Piloturteil vom August 2022, dass die von der staatlichen BİK verhängten Strafen gegen die Meinungs- und Pressefreiheit verstoßen. Den betroffenen Zeitungen mussten jeweils 10.000 Lira [ca. 550 Euro] Entschädigung gezahlt werden. Das Verfassungsgericht stellte zudem fest, dass die Verhängung von Geldstrafen für Werbung durch erstinstanzliche Gerichte ein systematisches Problem darstelle, und forderte infolgedessen das Parlament auf, sich mit dem entsprechenden Gesetzesartikel zu befassen, um dieses grundlegende Problem zu lösen (EI 13.8.2022; vgl. REU 31.8.2022). Als Folge gab die BİK bekannt, dass sie die Verhängung von Strafen für Verstöße gegen die Berufsethik ausgesetzt habe. Die Regierung schwieg zum Urteil des Verfassungsgerichts (REU 31.8.2022).
Am 8.4.2021 hob das türkische Verfassungsgericht einen Artikel eines Regierungsdekrets auf, das nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 erlassen wurde und zur Schließung von Dutzenden von Medienhäusern führte. Die Begründung hierfür und die anschließende Beschlagnahmung des Eigentums war die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" (CoE-PACE 22.4.2021, S. 4; vgl. CCRT 8.4.2021, TM 8.4.2021). Unbenommen der rechtlich möglichen Einschränkungen der Grundfreiheiten während des Ausnahmezustandes sah das Verfassungsgericht infolge der Beendigung des Letzteren die verfassungsmäßig garantierten grundlegenden Freiheiten ab diesem Zeitpunkt als verletzt an (CCRT 8.4.2021).
Meinungsfreiheit
Das Europäische Parlament (EP) bekräftigte im Mai 2022 seine ernste Besorgnis über die unverhältnismäßigen und willkürlichen Maßnahmen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko zivil- oder strafrechtlicher Klagen bzw. Ermittlungen in Kauf zu nehmen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Personen ein, die bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten wohlwollend gegenüberstehen. Sich zu heiklen Themen oder in regierungskritischer Weise zu äußern, zieht mitunter Ermittlungen, Geldstrafen, strafrechtliche Anklagen, Arbeitsplatzverlust und Haftstrafen nach sich. Auf regierungskritische Äußerungen reagiert die Regierung häufig mit Strafanzeigen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, Terrorismus oder sonstiger Gefährdung des Staates. Die Regierung hat Hunderte von Personen wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verurteilt und bestraft (USDOS 20.3.2023a, S. 33). Im Jahr 2021 betrafen laut Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allein 31 von insgesamt 76 Fällen von Verletzungen der EMRK durch die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung (ECHR 1.2022). Allerdings reduzierte sich der Anteil im Jahr 2023. Nur mehr zehn von 72 Fällen, bei denen zumindest ein Verstoß gegen die EMRK festgestellt wurde, betrafen die Meinungsfreiheit (ECHR 1.2024).
Die Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit sind Ausfluss des weit ausgelegten Terrorismusbegriffs in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelner Artikel des türkischen Strafgesetzbuches (z. B. Art. 301 – Verunglimpfung/ Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes). Diese Bestimmungen werden in den letzten Jahren häufiger herangezogen, um gegen kritische Stimmen vorzugehen. Die Justizreformstrategie sieht zwar eine Änderung von Art. 7(2) Antiterrorgesetz dahingehend vor, dass die Äußerung von Gedanken, die nur der Berichterstattung und/oder der Kritikausübung dienen, kein Vergehen mehr darstellen sollen. Sie wird aber weiterhin als zu vage gesehen und begünstigt willkürliche Auslegungen, weil der Terminus "terroristische Propaganda" nicht klar definiert wird. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 41). Problematisch ist die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs durch die Gerichte. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9).
Die geltenden Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten und das Strafgesetzbuch behindern die freie Meinungsäußerung und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards, so die Europäische Kommission. Die selektive und willkürliche Anwendung von Rechtsvorschriften gibt überdies weiterhin Anlass zur Sorge, da sie gegen die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und des Rechts auf ein faires Verfahren verstößt. Trotz gesetzlicher Änderungen, mit denen die Notwendigkeit einer soliden Beweisgrundlage bei "Katalogdelikten" eingeführt wurde, werden Fälle im Zusammenhang mit der freien Meinungsäußerung weiterhin in die Kategorie der Straftaten zugeordnet, die automatisch eine "Untersuchungshaft" erfordern (EC 8.11.2023, S. 34f.). Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) gab es keine Fortschritte bei der Auslegung der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung. Letztere stimmt nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) überein (CoE-PACE 22.4.2021, S. 3). Zwar stellt nunmehr Art. 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes klar, dass Meinungsäußerungen, welche die Grenze der Berichterstattung nicht überschreiten, keine Straftat darstellen, doch dies hat die politische Verfolgung unliebsamer Äußerungen in der Praxis nicht eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 9).
Eines der prominentesten Beispiele war die Verurteilung von vier Menschenrechtsverteidigern, darunter der ehemalige Vorsitzende von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation im Juli 2020 (FH 3.3.2021). Die Behörden hatten Kiliç im Juni 2017 unter dem Vorwurf festgenommen, Verbindungen zu Fethullah Gülen zu unterhalten. Der EGMR entschied Ende Mai 2022 einstimmig (inklusive des türkischen Richters), dass die Türkei bei der Inhaftierung von Kılıç rechtswidrig gehandelt hatte. Das Gericht fand keine Beweise dafür, dass Kılıç eine Straftat begangen hat. Das Gericht entschied außerdem, dass seine spätere Verurteilung wegen anderer Anschuldigungen in direktem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger stehe und sein Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigt wurde (DW 31.5.2022; vgl. AP 31.5.2022). Fünf Jahre nach der ersten Verhaftung erging im November 2022 das Urteil des Kassationsgerichts zu den Verurteilungen von Taner Kılıç (verurteilt zu sechs Jahren und drei Monaten Haft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation) und drei weiteren Menschenrechtsverteidigern (verurteilt zu 25 Monaten wegen Unterstützung einer Terrororganisation) im Fall Büyükada. Der Fall von Taner Kılıç wurde wegen "unvollständiger Ermittlungen" aufgehoben und an das Gericht der ersten Instanz zurückverwiesen (AI 22.11.2022).
Die Behörden klagen Bürger, darunter auch Minderjährige, wegen Beleidigung der Staatsführung und Verunglimpfung des "Türkentums" an. Fürsprecher der Meinungsfreiheit wiesen darauf hin, dass führende Politiker und Abgeordnete von Oppositionsparteien zwar regelmäßig mehrfach wegen solcher Beleidigungen angeklagt wurden, im umgekehrten Falle, nämlich der Beleidigung von Oppositionellen, AKP-Mitglieder und Regierungsbeamte nur selten strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023a, S. 42). Insbesondere Oppositionspolitiker, darunter gewählte Mandatare sehen sich mit Strafverfolgung und Verurteilung wegen Beleidigung von staatlichen Würdenträgern oder des türkischen Staates bzw. des Türkentums konfrontiert (FH 3.3.2021; vgl. Duvar 8.12.2022a, HRW 14.12.2022, Evrensel 14.12.2022).
Zum Thema Beleidigung des Staatspräsidenten, anderer staatlicher Würdenträger; des türkischen Staates und der türkischen Nation (Türkentum) siehe die Kapitel Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen (Abs. Beleidigung des Präsidenten als Strafbestand) sowie Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit/Opposition.
Auch gegen Rechtsanwälte wird vorgegangen. - Im Jänner 2021 erteilte das Justizministerium die Genehmigung zur Einleitung von Ermittlungen gegen zwölf Mitglieder der Anwaltskammer von Ankara. Die Anwälte wurden der "Beleidigung eines Amtsträgers" beschuldigt, weil sie homophobe und diskriminierende Äußerungen des Präsidenten der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, geäußert während eines Freitagsgebets, kritisiert hatten. Im April 2021 akzeptierte das zuständige Gericht in Ankara die Anklage. Im Juli 2021 wurden auch Ermittlungen gegen Mitglieder der Anwaltskammern von Ístanbul und Ízmir wegen "Beleidigung religiöser Werte" genehmigt (AI 29.3.2022a).
Ein Beispiel der Beleidigung der türkischen Nation, der Regierung und der Staatsorgane war im November 2022 der Präsident der Istanbuler Bäcker-Gewerkschaft, Cihan Kolivar. Dieser wurde festgenommen, weil er in einer Fernsehsendung den übermäßigen Brotkonsum der Türken und einen möglichen Anstieg der Brotpreise angesprochen hatte. - "Brot ist das Grundnahrungsmittel einer dummen Gesellschaft. Da unser Volk seinen Hunger mit Brot stillt, haben wir seit 20 Jahren [korrupte] Politiker in der Regierung", so Kolivar. Ein Sprecher der regierenden AKP bezeichnete Kolivars Äußerungen als Beispiel für Hassreden und sagte, dieser handele rücksichtslos, indem er mit seinen Äußerungen "unsere Nation und unser Brot beleidigt" (TM 9.11.2022).
Soziale Medien und Internet
Die Bedingungen für ein offenes und freies Internet sind laut Europäischer Kommission in der Türkei nicht gegeben. Websites und soziale Medien werden häufig für Personen gesperrt, die sich kritisch über die Regierung äußern (EC 8.11.2023, S. 37). Die Internetfreiheit hat weiter abgenommen. Die türkischen Behörden verfügen über ein ganzes Arsenal an Instrumenten zur Zensur von Online-Inhalten. Das Gesetz über soziale Medien aus dem Jahr 2020 wird genutzt, um Plattformen zu zwingen, Inhalte zu entfernen, vor allem von den Websites unabhängiger und kritischer Medienunternehmen. Tausende von Online-Nutzern, darunter auch Mitglieder der politischen Opposition, wurden wegen ihrer Aktivitäten in den sozialen Medien strafrechtlich belangt. Selbstzensur, die Verbreitung einerseits regierungsnaher Medien und die Sperrung von Websites unabhängiger Medien andererseits haben zu einem weniger vielfältigen Online-Raum geführt. Einsprüche gegen Entscheidungen über inhaltliche Beschränkungen sind selten wirksam. Darüber hinaus organisieren regierungsnahe Troll-Netzwerke Verleumdungskampagnen gegen engagierte Aktivisten, und prominente Journalisten sehen sich als Vergeltung für ihre Online-Berichterstattung körperlicher Gewalt ausgesetzt (FH 18.10.2022).
Kritische und uneinsichtige Nutzer sozialer Nutzer sozialer Medien werden häufig überprüft, strafrechtlich verfolgt und verurteilt (EC 8.11.2023, S. 37, vgl. MBZ 2.3.2022, S. 25). Alles, vom banalen Teilen bis hin zum Liken von Inhalten in sozialen Medien, die von anderen, z. B. auf Facebook, geteilt werden, kann zu strafrechtlichen Ermittlungen und/oder einer Strafverfolgung etwa wegen Beleidigung des Staatspräsidenten führen (ARTICLE19 8.4.2022). Online-Inhalte, die als kritisch gegenüber der regierenden AKP oder Präsident Erdoğan angesehen werden, werden von Webseiten und Social-Media-Plattformen entfernt. Online-Aktivisten, Journalisten und Social-Media-Nutzer wurden sowohl physisch als auch online wegen ihrer Social-Media-Beiträge schikaniert. Staatlich geförderte Medien und die Manipulation von Inhalten sozialer Medien durch die Regierung haben sich negativ auf die Online-Informationslandschaft ausgewirkt. Insbesondere die Medienberichterstattung über die kurdisch besiedelte südöstliche Region wird stark von der Regierung beeinflusst (FH 21.9.2021, B5).
Dem niederländischen Außenministerium zufolge ziehen folgende kritische Berichte in den sozialen Medien eine negative Aufmerksamkeit der türkischen Behörden nach sich: Präsident Erdoğan und seine Familie, die Coronavirus-Politik der Regierung, die militärischen Operationen der Türkei im In- und Ausland, die politischen und kulturellen Rechte der kurdischen Minderheit, der Konflikt zwischen der PKK und der türkischen Regierung, Gülen und seine Bewegung, der Islam und sexuelle Minderheiten. Beiträge dieser Art werden gesperrt oder entfernt, und jeder, der solche Nachrichten veröffentlicht oder weiter gibt, muss mit einem Strafverfahren rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 25; vgl. FH 18.10.2022). Websites können wegen "Obszönität" gesperrt werden oder wenn sie als verleumderisch für den Islam angesehen werden, was auch Inhalte einschließt, die den Atheismus fördern. Zusätzlich zu den weitverbreiteten Sperrungen fordern staatliche Behörden proaktiv die Löschung oder Entfernung von Inhalten. Die meisten Sperrungsverfügungen werden von der Telekommunikationsbehörde BTK (Bilgi Teknolojileri ve İletişim Kurumu) und nicht von den Gerichten erlassen (FH 18.10.2022).
Die Generaldirektion für Sicherheit teilte mit, dass im Jahr 2021 insgesamt 106.000 Social-Media-Konten in der Türkei aufgrund von Beiträgen untersucht wurden, die von den Behörden als problematisch eingestuft wurden. Die behördlichen Untersuchungen der Accounts richteten sich gegen Beleidigungen des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda oder Aufstachelung zu Feindschaft und Hass unter der Bevölkerung, wobei diesbezüglich 46.646 Nutzer identifiziert wurden (TM 15.3.2022). Anderen Angaben des Innenministeriums zufolge verdoppelten sich 2021 die Zahlen der untersuchten Konten sowie der Verfahren verglichen mit 2020. - 146.167 Konten in sozialen Medien wurden untersucht und rechtliche Schritte gegen 60.051 Personen eingeleitet. In der Folge wurden 1.911 Personen festgenommen und 73 inhaftiert (ARTICLE19 8.4.2022).
Das Europäische Parlament brachte im Jänner 2021 seine ernste Besorgnis über die Überwachung von Social-Media-Plattformen zum Ausdruck und verurteilte die Schließung von Social-Media-Konten durch die türkischen Behörden. Es betrachtete dies als eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit und als ein Instrument zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft (EP 21.1.2021). Freedom House sah die Türkei 2021 nur mehr bei 34 von 100 möglichen Punkten hinsichtlich der Freiheit im Internet (FH 21.9.2021).
Staatspräsident Erdogan bezeichnete im Dezember 2021 die sozialen Medien als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie und verkündete, dass die Regierung eine Gesetzgebung plane, um die Verbreitung von Fake News und Desinformationen im Internet zu kriminalisieren. Kritiker jedoch sahen die vorgeschlagenen Änderungen als Verschärfung der Einschränkung der Meinungsfreiheit (AP 11.12.2021; vgl. AlMon 13.12.2021).
Am 1.10.2020 trat in der Türkei das Gesetz Nr. 7253 über die Beschränkung von sozialen Medien in Kraft. Es zwingt Betreiber von Plattformen mit mehr als einer Million Nutzer täglich, mindestens einen Repräsentanten in der Türkei zu ernennen. Dieser muss türkischer Staatsbürger sein und seine Daten müssen auf der Webseite angegeben sein. Bei Nicht-Einhaltung der Vorgaben drohen Geldstrafen, Bandbreitenreduktion oder auch Verbot von Werbeanzeigen. Bei Anträgen von Einzelnen betreffend die Entfernung von Inhalten oder Zugriffsblockierung wegen Verletzungen der Privatsphäre muss der Provider dem Antragsteller innerhalb von längstens 48 Stunden antworten, andernfalls kann die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie eine Strafe von fünf Mio. Lira verhängen. Wenn ein Gericht oder Richter feststellt, dass ein veröffentlichter Inhalt das Gesetz verletzt, und der Provider innerhalb von 24 Stunden den Inhalt nicht entfernt oder nicht sperrt, haftet er für die entstandenen Schäden. Das Gesetz fordert, dass Unternehmen alle Daten türkischer Kunden in der Türkei speichern müssen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 41f.). Die betroffenen Online-Plattformen sind gezwungen, Berichte an die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (Bilgi Teknolojileri ve İletişim Kurumu - BTK) über ihre Reaktion auf Anfragen von Verwaltungs- oder Justizbehörden hinsichtlich Zensur oder Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten zu senden. Auf Anordnung eines Richters oder der BTK ist die Union der Zugangsanbieter (ESB) auch verpflichtet, Internet-Hosts oder Suchmaschinen anzuweisen, Entscheidungen über Zugangssperren innerhalb von vier Stunden unter Androhung einer Verwaltungsstrafe zu vollstrecken. Empfindliche Geldstrafen drohen auch, wenn die Internet-Plattformen Benutzerdaten nicht speichern (RSF 1.10.2020). Trotz Bestimmungen zum Schutz persönlicher Rechte ist zu befürchten, dass - vor allem angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz - durch das neue Gesetz die Regierung die Kontrolle über die Medienlandschaft weiter ausbauen und die Möglichkeiten zur Meinungsäußerung reduzieren wird. Kritik in sozialen Medien soll eingeschränkt und die Identität von anonymen Nutzern schnell ausfindig gemacht werden können (ÖB Ankara 30.11.2022, S. 34). Bereits einen Monat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen wurden jeweils 10 Millionen Lira (1,17 Mio. US-Dollar) an Bußgeldern gegen Social Media-Giganten wie Facebook, Twitter, Instagram, TikTok und YouTube verhängt, weil sie gegen das Gesetz verstoßen hatten (TM 4.11.2020), gefolgt von einer erneuten Strafe im Ausmaß von 30 Mio. Lira, weil die Firmen immer noch keinen offiziellen Repräsentanten, wie vom Gesetz verlangt, ernannt hatten (BIRN 11.12.2020).
Das sog. "Desinformationsgesetz" (2022)
Am 18.10.2022 trat das Gesetz zur Bekämpfung von Desinformation in Kraft, kurz: Desinformationsgesetz, welches bei vorsätzlicher Veröffentlichung von Falsch- oder Desinformationen zur nationalen und äußeren Sicherheit, zur öffentlichen Ordnung oder zur allgemeinen Gesundheit, die die öffentliche Ruhe stören und alleinig zum Ziel haben, Sorge, Angst oder Panik auszulösen, Freiheitsstrafen von ein bis drei Jahren vorsieht. Die Bewertung, ob eine "Des- oder Falschinformation" vorliegt, obliegt den Gerichten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 42; vgl. DW 14.10.2022, Guardian 13.10.2022). Das Gesetz richtet sich neben Zeitungen, Radio und Fernsehen vor allem gegen Onlinenetzwerke und Onlinemedien. Sie sind verpflichtet, Nutzer, denen die Verbreitung von Falschnachrichten vorgeworfen wird, an die Behörden zu melden und deren Daten weiterzugeben (Zeit online 14.10.2022). Das Gesetz verpflichtet auch Messenger-Dienste, wie WhatsApp, dazu, dem Staat Nutzerdaten zur Verfügung zu stellen, wenn die staatliche Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien dies verlangt. Emre Kızılkaya, Leiter des türkischen Zweigs des Internationalen Presseinstituts mit Sitz in Wien, nimmt an, dass dieses Gesetz auch digitale Plattformen wie Google News oder Facebook dazu zwingen wird, der Regierung ihre Algorithmen offenzulegen (Guardian 13.10.2022). Journalistenverbände warnten, der Gesetzentwurf könne zu einem der strengsten Zensur- und Selbstzensurmechanismen in der türkischen Geschichte werden (Zeit online 14.10.2022). Auf dringendes Ersuchen des Monitoring-Ausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) hatte die Venedig-Kommission eine Stellungnahme zu den Änderungsentwürfen des Gesetzes veröffentlicht. Die Venedig-Kommission sah einen Eingriff in das durch Artikel 10 EMRK geschützte Recht auf freie Meinungsäußerung vorliegen und wies darauf hin, dass es alternative, weniger einschneidende Maßnahmen als die strafrechtliche gibt, um das Delikt der Verbreitung von Falschinformationen zu bekämpfen (CoE 10.10.2022).
Urteile des Verfassungsgerichts
Klagen gegen Internetzensur vor dem Verfassungsgericht werden meist zugunsten der Kläger entschieden, jedoch fällt das Verfassungsgericht jährlich nur wenige Urteile. Darüber hinaus besteht das Problem darin, dass der vom Verfassungsgericht entwickelte prinzipielle Ansatz im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit von den Friedensrichtern in Strafsachen in deren Rechtssprechung ignoriert wird. Diese verhängen Sperren regelmäßig so, als ob das Verfassungsgericht kein Urteil zu irgendeiner Praxis in dieser Angelegenheit erlassen hätte (IFÖD 10.2021, S. 101-104; vgl. LoC 7.1.2022).
Die Generalversammlung des Verfassungsgerichts stellte allerdings am 7.1.2022 fest, dass die Regierung das verfassungsmäßige Recht auf freie Meinungsäußerung und das verfassungsmäßige Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betreffend die Sperrung des Zugangs zu Online-Nachrichten-Webseiten durch untergeordnete Gerichte verletzt hatte. Das Verfassungsgericht konsolidierte neun Fälle, in denen insgesamt 129 URL-Adressen durch Entscheidungen von Friedensrichtern gemäß Artikel 9 des Gesetzes Nr. 5651 gesperrt worden waren. In allen neun Fällen hatten die Richter den Zugang zu den betreffenden Nachrichtenartikeln aufgrund von Beschwerden jener Personen gesperrt, die Gegenstand der Nachrichtenartikel waren und die geltend machten, dass bestimmte Aussagen in den Nachrichtenartikeln ihren Ruf und ihr Ansehen unrechtmäßig schädigten. - Die Problematik des Artikels 9, u. a. von der Venedig Kommission des Europarates beanstandet, liegt darin, dass eine diesbezügliche Sperrung durch den Spruch eines Friedensrichters, zeitlich unbegrenzt und ohne Anhörung, erfolgt, nur auf Einspruch hin von einem anderen Friedensrichter überprüft, jedoch nicht bei höheren Gerichten angefochten werden kann. Der einzige Rechtsbehelf ist eine Individualbeschwerde vor dem Verfassungsgericht (LoC 7.1.2022). In seinem Urteil stellte das Verfassungsgericht nicht nur einen offensichtlichen Eingriff in die durch Artikel 26 und 28 der Verfassung geschützte Meinungs- und Pressefreiheit durch die Sperrung des Zugangs zu den betroffenen Nachrichtenseiten fest, sondern auch die unverhältnismäßige und unbegründete Blockierung der Inhalte auf unbestimmte Zeit sowie die Nicht-Beachtung der verfassungsrechtlichen Grundsätze durch die Vorinstanzen. Außerdem beklagte das Verfassungsgericht den Mangel an Rechtsmitteln. In Anbetracht der Tatsache, so das Verfassungsgericht, dass die Entscheidungen der untergeordneten Gerichte auf das Vorhandensein eines systematischen Problems hinweisen, das unmittelbar durch eine gesetzliche Bestimmung verursacht wurde, ist es offensichtlich, dass das derzeitige System überdacht werden muss, um ähnliche Verstöße zu verhindern. Deshalb wurde seitens des Gerichts ein sogenanntes Pilotverfahren (pilot judgment) beschlossen (CCRT 7.1.2022). - Das Verfahren wird angewandt, wenn das Gericht feststellt, dass die Verletzung eines Grundrechts in einem bestimmten Fall auf ein strukturelles Problem zurückzuführen ist, das bereits zu anderen Anträgen geführt hat und von dem zu erwarten ist, dass es in Zukunft zu weiteren Anträgen führen wird. Wenn das Gericht beschließt, über einen Antrag im Rahmen des Piloturteilsverfahrens zu entscheiden, kann es alle anderen bei ihm anhängigen Verfahren, die dasselbe strukturelle Problem betreffen, aussetzen. Sobald ein Piloturteil ergangen ist, müssen die Verwaltungsbehörden das Urteil in den entsprechenden Anträgen, die bei ihnen eingereicht werden, anwenden, oder bei Fällen, die das Verfassungsgericht erreichen, kann das Gericht die Fälle zusammenfassen und im Einklang mit dem Piloturteil entscheiden (LoC 7.1.2022).
Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023
Journalisten, die seit dem schweren Erdbeben vom 6. Februar versuchten, über die Lage vor Ort in der Türkei zu berichten, wurden von den türkischen Behörden wiederholt und auf vielfältige Weise behindert. Zu den beobachteten Verletzungen der Pressefreiheit gehören: physische Gewalt, Verhaftungen, Gerichtsverfahren, verbale Online-Angriffe, etwa durch Internet-Trolle, aber auch Politiker, und Einschränkungen des Zugangs zu Twitter. Journalisten wurden beschuldigt, "die Polizei oder den Staat zu diffamieren". Der Hohe Rundfunkrat (RTÜK) - der von der regierenden AKP und ihrem Koalitionspartner, der MHP, dominiert wird - schlug bereits wenige Stunden nach dem Erdbeben am 6. Februar einen aggressiven Ton an und sprach eine strenge Warnung an kritische Medien aus, welche die zunehmenden Reaktionen und Hilferufe aus den von der Katastrophe betroffenen Regionen in Südostanatolien wiedergaben. Versuche, die Berichterstattung über die Katastrophe und das Verhalten der Behörden zu kontrollieren, wurden laut Reporter ohne Grenzen (RSF) immer deutlicher (RSF 14.2.2023). So wurden laut kritischen Journalisten keine Aufnahmen von bedürftigen Menschen oder frierenden Kindern gezeigt. Etliche Sendungen mit Interviews wurden unterbrochen, als die Befragten Kritik an der Regierung äußerten (FAZ 14.2.2023). Am 22.2.2023 verhängte der RTÜK gegen Fox-TV Bußgelder wegen eines Berichts, wonach die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD verhindert habe, dass Hilfe von Nichtregierungsgruppen die von Erdbeben betroffenen Gebiete erreicht. Zwei weitere unabhängige Sender, Halk TV und TELE1, wurden beide mit einer Geldstrafe belegt und vorübergehend vom Äther genommen (AlMon 22.2.2023; vgl. Duvar 22.2.2023).
Bereits unmittelbar nach dem Erdbeben verhaftete die türkische Polizei im Zusammenhang mit Beiträgen in sozialen Medien 37 Nutzer. Sie hätten Beiträge geteilt, "mit dem Ziel, Angst und Panik unter der Bevölkerung zu verbreiten", so die Polizei (RND 10.2.2023; vgl. MLSA 9.2.2023). Mitte Februar gab die türkische Generaldirektion für Sicherheit bekannt, 613 Personen identifiziert zu haben, die der Veröffentlichung provokativer Beiträge beschuldigt wurden, und gegen 293 seien rechtliche Schritte eingeleitet worden. Von dieser Gruppe hat der Generalstaatsanwalt die Verhaftung von 78 Personen angeordnet, wobei über 20 von ihnen eine Untersuchungshaft verhängt wurde (REU 15.2.2023).
Zwischen dem 6. und 9.2.2023 wurden mindestens vier Journalisten vorübergehend festgenommen, als sie versuchten, vor Ort von den Ereignissen zu berichten, meist unter dem Vorwand keine Dreherlaubnis oder Pressekarte zu besitzen (MLSA 9.2.2023). Zwischenzeitlich war Twitter in der Türkei gesperrt. Oppositionelle warfen der Regierung vor, damit auch Kritik am Krisenmanagement unterdrücken zu wollen (RND 10.2.2023; vgl. MLSA 9.2.2023, NetBlocks 8.2.2023). Überdies wurde am 8.2.2023 der Zugang zu Mediaplattformen im Internet gedrosselt (MLSA 9.2.2023).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AI - Amnesty International (22.11.2022): Türkiye: Justice prevails as convictions of four human rights defenders overturned, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2022/11/turkiye-justice-prevails-as-convictions-of-four-human-rights-defenders-overturned/ , Zugriff 20.2.2024;
AI - Amnesty International (29.3.2022a): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070315.html , Zugriff 16.10.2023;
AP - Associated Press (27.10.2022): Turkey: Top doctor jailed on terror propaganda charges, https://apnews.com/article/europe-middle-east-arrests-turkey-istanbul-24fd3c95a6a86f50f67a80f79ac43616 , Zugriff 20.2.2024;
AP - Associated Press (25.10.2022): Turkey detains 11 journalists working for pro-Kurdish media, https://apnews.com/article/middle-east-business-europe-70e07058bd51ff2951fa85c244aa07ed , Zugriff 20.2.2024;
AP - Associated Press (31.5.2022): European Rights Court: Turkey unlawfully jailed Amnesty head, https://apnews.com/article/politics-turkey-amnesty-international-ankara-3574743ac9abb6b65dc10b7cb6c1a5ea , Zugriff 20.2.2024;
AP - Associated Press (11.12.2021): Turkey’s Erdogan says social media a ‘threat to democracy’, https://apnews.com/article/technology-business-middle-east-media-europe-7bf68ea4856d9e1f5db48cead82446e0 , Zugriff 21.2.2024;
ARTICLE19 - ARTICLE19 (8.4.2022): Blog: COVID-19, social media and freedom of expression in Turkey, https://www.article19.org/resources/pandemic-social-media-freedom-of-expression-turkey/ , Zugriff 20.2.2024;
AlMon - Al Monitor (22.2.2023): Uproar in Turkey as religious body greenlights marriage with quake orphans, https://www.al-monitor.com/originals/2023/02/uproar-turkey-religious-body-greenlights-marriage-quake-orphans?utm_medium=email&utm_campaign=daily%2022223%20February%2022%202023%20327&utm_content=daily%2022223%20February%2022%202023%20327+CID_24469e56457f94035c0107c2bd51a823&utm_source=campmgr&utm_term=Uproar%20in%20Turkey%20as%20religious%20body%20green%20lights%20marriage%20with%20quake%20orphans , Zugriff 29.1.2024 [kostenpflichtig, Login erforderlich];
AlMon - Al Monitor (13.12.2021): Turkey cracks down on independent journalists once again, https://www.al-monitor.com/originals/2021/12/turkey-cracks-down-independent-journalists-once-again , Zugriff 20.2.2024;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (31.12.2023): Briefing Notes Zusammenfassung - Türkei – Juli bis Dezember 2023, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetchcsui/%2D29187693/Deutschland%2E_Bundesamt_f%Fcr_Migration_und_Fl%Fcchtlinge%2C_Briefing_Notes_Zusammenfassung_%2D_T%Fcrkei%2C_Juli_bis_Dezember_2023%2C_31%2E12%2E2023%2Epdf , Zugriff 21.2.2024;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (31.10.2022): Briefing Notes, KW 34, Verhaftung von Medienschaffenden, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw44-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 21.2.2024;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (20.12.2021): Briefing Notes, KW 51, Verhaftung von Social-Media-Persönlichkeiten, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw51-2021.html , Zugriff 21.2.2024;
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (2.11.2023): Turkish Journalists’ Unions Call for Corruption Reporter’s Release, https://balkaninsight.com/2023/11/02/turkish-journalists-unions-call-for-corruption-reporters-release , Zugriff 21.2.2024;
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (11.12.2020): Turkey Fines Social Media Giants Second Time For Defying Law, https://balkaninsight.com/2020/12/11/turkey-fines-social-media-giants-second-time-for-defying-law/ , Zugriff 21.2.2024;
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022a): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf , Zugriff 16.10.2023;
CCRT - The Constitutional Court of the Republic of Turkey [Turkey] (7.1.2022): Case-Law Summary - 27 December 2021 - 7 January 2022, https://www.anayasa.gov.tr/en/case-law-summary/ , Zugriff 21.2.2024;
CCRT - The Constitutional Court of the Republic of Turkey [Turkey] (8.4.2021): Constitutionality Review - Press Release concerning the Decision Annulling the Provision Enabling the Closure of Media Outlets Associated with Organisations Found Established to Pose a Threat to the National Security, https://www.anayasa.gov.tr/en/news/constitutionality-review/press-release-concerning-the-decision-annulling-the-provision-enabling-the-closure-of-media-outlets-associated-with-organisations-found-established-to-pose-a-threat-to-the-national-security/ , Zugriff 22.1.2024;
CoE - Council of Europe (10.10.2022): Türkiye: Draft criminal provision on "false or misleading information" interferes with freedom of expression (Article 10 ECHR), says urgent opinion from the Venice Commission [Ref. DC 205(2022)], https://search.coe.int/directorate_of_communications/Pages/result_details.aspx?ObjectId=0900001680a8693e , Zugriff 21.2.2024;
CoE-PACE - Council of Europe - Parliamentary Assembly (22.4.2021): The functioning of democratic institutions in Turkey, Resolution 2376 (2021), https://pace.coe.int/files/29189/pdf , Zugriff 16.10.2023 [Login erforderlich];
DW - Deutsche Welle (11.1.2023): Türkische Ärztepräsidentin wegen Terrorpropaganda verurteilt, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkische-%C3%A4rztepr%C3%A4sidentin-wegen-terrorpropaganda-verurteilt/a-64353877 , Zugriff 21.2.2024;
DW - Deutsche Welle (14.10.2022): Türkisches Parlament erlässt Desinformationsgesetz, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkisches-parlament-erl%C3%A4sst-desinformationsgesetz/a-63437936 , Zugriff 21.2.2024;
DW - Deutsche Welle (31.5.2022): European court condemns Turkey over Amnesty head's detention, https://www.dw.com/en/european-court-condemns-turkey-over-amnesty-heads-detention/a-61987217 , Zugriff 21.2.2024;
DW - Deutsche Welle (4.5.2021): Medien in der Türkei: Einheit statt Vielfalt, https://www.dw.com/de/medien-in-der-t%C3%BCrkei-einheit-statt-vielfalt/a-57387362 , Zugriff 21.2.2024;
Duvar - Duvar (22.2.2023): Turkey’s media watchdog fines opposition channels for quake broadcasts, https://www.duvarenglish.com/turkeys-media-watchdog-fines-opposition-channels-for-quake-broadcasts-news-61897 , Zugriff 21.2.2024;
Duvar - Duvar (8.12.2022a): HDP politicians indicted over Armenian Genocide remark: ‘Against national interests’, https://www.duvarenglish.com/hdp-politicians-indicted-over-armenian-genocide-remark-against-national-interests-news-61607 , Zugriff 21.2.2024;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
ECHR - European Court of Human Rights (1.2024): Violations by Article and by State, https://www.echr.coe.int/documents/d/echr/stats-violation-2023-eng , Zugriff 9.2.2024;
ECHR - European Court of Human Rights (1.2022): Violations by Article and by State, https://echr.coe.int/Documents/Stats_violation_2021_ENG.pdf , Zugriff 21.2.2024;
EFJ/IPI/ECPMF - European Federation of Journalists, International Press Institute, European Centre for Press and Media Freedom (25.10.2023): Monitoring Report - Mapping Media Freedom, January - June 2023, https://www.mappingmediafreedom.org/wp-content/uploads/2023/10/MFRR-Monitoring-Report-%E2%80%93-Jan-June-2023.pdf , Zugriff 21.2.2024;
EI - Expression Interrupted (13.8.2022): Freedom of Expression and the Press in Turkey – 358, https://www.expressioninterrupted.com/freedom-of-expression-and-the-press-in-turkey-358/ , Zugriff 21.2.2024;
EP - Europäisches Parlament (13.9.2023): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2023 zu dem Bericht 2022 der Kommission über die Türkei (2022/2205(INI), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0320_DE.pdf , Zugriff 25.10.2023;
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023;
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 29.9.2023;
EP - Europäisches Parlament (21.1.2021): Human rights situation in Turkey, in particular the case of Selahattin Demirtaş and other prisoners of conscience [(2021/2506(RSP)], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0028_EN.pdf , Zugriff 21.2.2024;
Evrensel - Evrensel (14.12.2022): Court sentences İstanbul Mayor Ekrem İmamoğlu to prison and imposed a political ban, https://www.evrensel.net/daily/477037/court-sentences-istanbul-mayor-ekrem-imamoglu-to-prison-and-imposed-a-political-ban , Zugriff 21.2.2024;
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.2.2023): Zeig keine frierenden Kinder!, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/buelent-mumay-ueber-erdogans-versagen-in-der-erdbebenkatastrophe-18678310.html , Zugriff 21.2.2024;
FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2023 , Zugriff 28.4.2023;
FH - Freedom House (18.10.2022): Freedom on the Net 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2081839.html , Zugriff 20.2.2024;
FH - Freedom House (28.2.2022): Freedom in the World 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2068831.html , Zugriff 20.2.2024;
FH - Freedom House (21.9.2021): Freedom on the Net 2021 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2060889.html , Zugriff 20.2.2024;
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046544.html , Zugriff 20.2.2024;
FR - Frankfurter Rundschau (27.10.2022): Erdogan lässt Ärztefunktionärin verhaften, https://www.fr.de/hintergrund/erdogan-laesst-aerztefunktionaerin-verhaften-91878733.html , Zugriff 21.2.2024 [Login erforderlich];
Guardian - The Guardian (13.10.2022): Turkey: new ‘disinformation’ law could jail journalists for three years, https://www.theguardian.com/world/2022/oct/13/turkey-new-disinformation-law-could-jail-journalists-for-3-years , Zugriff 19.10.2022;
HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Türkiye, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103139.html , Zugriff 17.1.2024;
HRW - Human Rights Watch (14.12.2022): Turkey: Court Convicts Istanbul Mayor Ekrem İmamoğlu, https://www.hrw.org/news/2022/12/14/turkey-court-convicts-istanbul-mayor-ekrem-imamoglu , Zugriff 20.2.2024;
IFÖD - Freedom of Expression Association - İfade Özgürlüğü Derneği (10.2021): ENGELLİWEB 2020: Fahrenheit 5651 - The Scorching Effect Of Censorship, https://ifade.org.tr/reports/EngelliWeb_2020_Eng.pdf , Zugriff 21.2.2024;
IPI - International Press Institute (30.11.2020): Turkey's Journalists on the Ropes: Joint International Press Freedom Mission to Turkey (October 6 – 9, 2020) – Mission Report, https://freeturkeyjournalists.ipi.media/wp-content/uploads/2020/11/20201125_Turkey_PF_Mission_Report_ENG.pdf , Zugriff 21.2.2024;
Independent - Independent, The (13.12.2021): Turkey arrests YouTubers who talk to the public about financial woes, https://www.independent.co.uk/news/world/europe/turkey-arrests-youtube-journalists-economy-b1975116.html , Zugriff 21.2.2024;
LoC - Library of Congress [USA] (7.1.2022): Turkey: Constitutional Court Issues New Pilot Judgment on Online News Blocking, https://www.loc.gov/item/global-legal-monitor/2022-01-25/turkey-constitutional-court-issues-new-pilot-judgment-on-online-news-blocking/ , Zugriff 21.2.2024;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General+COI+report+Turkiye+%28August+2023%29.pdf , Zugriff 13.11.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023;
MLSA - Media and Law Studies Association (2.2.2024): Imprisoned Journalists and Media Employees in Turkey, https://www.mlsaturkey.com/en/cezaevindeki-gazeteciler-ve-medya-calisanlari-listesi-2 , Zugriff 21.2.2024;
MLSA - Media and Law Studies Association (9.2.2023): Turkey: Journalists detained reporting on earthquake aftermath, https://www.mlsaturkey.com/en/turkey-journalists-detained-reporting-on-earthquake-aftermath/ , Zugriff 21.2.2024;
Mezopotamya - Mezopotamya (8.9.2022): Book of former HDP Co-chair banned to be disposed of, http://mezopotamyaajansi35.com/en/search/content/view/181819?page=1&key=b91127605a2e9c740d2038194dca173c , Zugriff 21.2.2024;
NaT - News about Turkey (10.9.2022): Turkish court bans poetry book by jailed former HDP co-chair Figen Yüksekdağ, https://newsaboutturkey.com/2022/09/10/turkish-court-bans-poetry-book-by-jailed-former-hdp-co-chair-figen-yuksekdag/ , Zugriff 21.2.2024;
NetBlocks - NetBlocks (8.2.2023): Twitter restricted in Turkey in aftermath of earthquake, https://netblocks.org/reports/twitter-restricted-in-turkey-in-aftermath-of-earthquake-oy9LJ9B3 , Zugriff 21.2.2024;
REU - Reuters (15.2.2023): Turkey arrests 78 over earthquake social media posts, https://www.reuters.com/world/middle-east/turkey-arrests-78-over-earthquake-social-media-posts-2023-02-15/ , Zugriff 21.2.2024 [Login erforderlich];
REU - Reuters (31.8.2022): Insiders reveal how Erdogan tamed Turkey’s newsrooms (special report), https://www.reuters.com/investigates/special-report/turkey-erdogan-media/ , Zugriff 21.2.2024 [Login erforderlich];
RND - RedaktionsNetzwerk Deutschland (10.2.2023): 37 Festnahmen wegen Beiträgen in sozialen Medien nach Erdbeben in der Türkei, https://www.rnd.de/panorama/erdbeben-in-der-tuerkei-37-festnahmen-wegen-beitraegen-in-sozialen-medien-4WFAUNRJ2XBSEFEQ6VPHKT5RWE.html , Zugriff 21.2.2024;
RSF - Reporter ohne Grenzen (3.5.2023): The 2023 World Press Freedom Index - Türkiye, https://rsf.org/en/country-t%C3%BCrkiye , Zugriff 21.2.2024;
RSF - Reporter ohne Grenzen (14.2.2023): RSF reports many press freedom violations since Türkiye’s earthquake, https://rsf.org/en/rsf-reports-many-press-freedom-violations-t%C3%BCrkiye-s-earthquake , Zugriff 21.2.2024;
RSF - Reporter ohne Grenzen (15.6.2021): Turkey using terrorism legislation to gag and jail journalists, https://www.ecoi.net/de/dokument/2053860.html , Zugriff 21.2.2024;
RSF - Reporter ohne Grenzen (1.10.2020): Tighter control over social media, massive use of cyber-censorship, https://rsf.org/en/news/tighter-control-over-social-media-massive-use-cyber-censorship-0 , Zugriff 21.2.2024;
SCF - Stockholm Center for Freedom (3.1.2022): Press Freedom in Turkey: 2021 in Review, https://stockholmcf.org/press-freedom-in-turkey-2021-in-review/ , Zugriff 21.2.2024;
SZ - Süddeutsche Zeitung (21.2.2022): "Er war ein ausgesprochen mutiger Journalist", https://www.sueddeutsche.de/medien/journalistenmord-guengoer-arslan-izmit-akp-1.5533488 , Zugriff 21.2.2022;
Standard - Standard, Der (11.1.2023): Ärztepräsidentin in der Türkei zu über zwei Jahren Haft verurteilt, https://www.derstandard.at/story/2000142474120/aerztepraesidentin-in-der-tuerkei-zu-ueber-zwei-jahren-haft-verurteilt , Zugriff 21.2.2024;
TM - Turkish Minute (9.11.2022): Union chair arrested on Erdoğan insult charges after remarks on bread consumption, https://www.turkishminute.com/2022/11/09/arrested-on-erdogan-insult-charges-after-remarks-on-bread-consumption/ , Zugriff 21.2.2024;
TM - Turkish Minute (15.3.2022): Turkish police investigated 106,000 social media accounts in 2021, https://www.turkishminute.com/2022/03/15/rkish-police-investigated-106000-social-media-accounts-in-2021/ , Zugriff 21.2.2024;
TM - Turkish Minute (8.4.2021): Top court annuls state of emergency decree that closed down media outlets, https://www.turkishminute.com/2021/04/08/top-court-annuls-state-of-emergency-decree-that-closed-down-media-outlet/ , Zugriff 21.2.2024;
TM - Turkish Minute (4.11.2020): Turkey fines social media giants for not complying with controversial law, https://www.turkishminute.com/2020/11/04/turkey-fines-social-media-giants-for-not-complying-with-controversial-law/ , Zugriff 21.2.2024;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
VOA - Voice of America (1.5.2023): Turkey Detains Two Kurdish Journalists Over Terror Allegations, https://www.voanews.com/a/turkey-detains-two-kurdish-journalists-over-terror-allegations/7074226.html , Zugriff 21.2.2024;
Zeit online - Zeit online (14.10.2022): Türkei führt Haftstrafen für Verbreitung von "Falschnachrichten" ein, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-10/tuerkei-parlament-desinformation-gesetz-haftstrafen , Zugriff 21.2.2024;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (30.11.2022): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087260/TUER_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
10. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Letzte Änderung 2024-03-07 13:56
Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. In der Praxis sind diese Rechte jedoch stark beschränkt. Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung unbewaffnet und gewaltfrei Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind (AA 28.7.2022, S. 8; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 16, 27). Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD-HRA 5.2021).
Im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es keine Fortschritte. Verbote friedlicher Versammlungen sind weit verbreitet, und öffentliche Veranstaltungen werden von der Polizei oft mit unverhältnismäßiger Gewaltanwendung aufgelöst. Gegen Demonstranten werden häufig Ermittlungen, Gerichtsverfahren und Bußgelder wegen des Vorwurfs des Terrorismus oder des Verstoßes gegen das Gesetz über Demonstrationen und Aufmärsche eingeleitet. Angriffe auf Versammlungen und Räumlichkeiten der Opposition werden häufig weder untersucht noch strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 6, 38; vgl. EP 7.6.2022, S. 9, Pt. 12). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung stehen nicht im Einklang mit der türkischen Verfassung, den europäischen Standards und den internationalen Konventionen (EC 8.11.2023, S. 6, 37f.). Infolgedessen haben viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD-HRA 5.2021). Beispielsweise intervenierten die Sicherheitskräfte laut Jahresstatistik 2022 der türkischen Menschenrechtsvereinigung bei 571 Protesten, wobei 4.553 Personen durch das gewaltsame Einschreiten geschlagen und verletzt wurden (İHD/HRA 27.9.2023b, S. 4, 6).
Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, werden regierungskritische Versammlungen routinemäßig verboten (FH 10.3.2023, E1). Proteste und Demonstrationen für Menschenrechte, Umweltrechte sowie politische und sozioökonomische Rechte wurden mehrfach von der Polizei verboten und aufgelöst (u.a. Demonstrationen von entlassenen Beamten, anlässlich des Internationalen Frauentags und von Müttern von Verschwundenen). Die Rechtsvorschriften über Versammlungen und Demonstrationen erlaubten es den Behörden, Versammlungen und Demonstrationen auf der Grundlage vager und willkürlicher Kriterien zu verbieten. Im April 2023 wurden alle Aktivitäten im Zusammenhang mit dem "Tag des Gedenkens an den Völkermord an den Armeniern" untersagt. Alle Aktivitäten und Versammlungen zur Bekämpfung von Homophobie und zum Pride-Monat im Mai und Juni 2023 wurden ebenfalls verboten (EC 8.11.2023, S. 38).
Polizeiliche Gewalt bei Versammlungen
Auch im Jahr 2022 setzten die Sicherheitskräfte Tränengas und andere gewaltsame Mittel ein, um Demonstranten bei den Aufmärschen zum 1. Mai, den LGBTIQ+-Paraden in Istanbul und Ankara, den Feierlichkeiten zum Frauentag, den Demonstrationen gegen geschlechtsspezifische Gewalt, den Protesten gegen Preiserhöhungen und die steigende Inflation sowie anderen Großveranstaltungen auseinanderzutreiben (FH 10.3.2023, E1). Einige konkrete Beispiele der letzten Monate: In Istanbul gingen Bereitschaftspolizisten mit Pfefferspray gegen Teilnehmerinnen einer Demonstration anlässlich des Internationalen Frauentages 2023 vor (Spiegel 8.3.2023). Mindestens 50 Personen wurden am 25.6.2023 während der jährlichen Pride-Parade in Istanbul von der Polizei festgenommen. Die Demonstration wurde von der Polizei gewaltsam aufgelöst. In Izmir nahm die Polizei mindestens 44 Personen fest, nachdem die Behörden den Pride-Marsch verboten hatten (BAMF 12.6.2023, S. 12; vgl. Zeit online 25.6.2023). In Istanbul hat die Polizei Demonstranten darin gehindert, den zentralen Taksim-Platz zu erreichen, um dort anlässlich des Maifeiertages zu protestieren. Lokalen Medienberichten zufolge, wurden Dutzende Demonstranten festgenommen. Journalisten, welche die Proteste filmen wollten, wurden von der Polizei gewaltsam entfernt oder verhaftet (EN 1.5.2023). Die sogenannten Samstagsmütter/-leute werden Woche für Woche daran gehindert, sich friedlich auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul zu versammeln und an diesem für sie symbolträchtigen Ort Gerechtigkeit für ihre "verschwundenen" Angehörigen zu fordern. Im Herbst 2023 hat die Bereitschaftspolizei bei Festnahmen erneut unnötige Gewalt angewandt (AI 27.10.2023).
Versammlungsverbote durch die Gouverneure
Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt, sodass mittlerweile auch friedliche Kundgebungen mit langer Tradition verboten werden. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 44; vgl., USDOS 20.3.2023a, S. 51). Die Provinzbehörden verbieten regelmäßig Proteste und Versammlungen von regierungskritischen Gruppen, wobei sie sich häufig über die Urteile der nationalen Gerichte hinwegsetzen, die solche Verbote als unverhältnismäßig einstufen (HRW 11.1.2024). Das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz erlaubt es der Verwaltung, Versammlungen und Demonstrationen auf der Grundlage von vagen, ermessensabhängigen und willkürlichen Kriterien zu verbieten (EC 12.10.2022, S. 39).
Sicherheitsgesetz 2015, Strafgesetz und Urteile der Höchstgerichte
Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (AnA 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei, nicht nur gefärbtes Wasser zur späteren Identifikation von Demonstranten anzuwenden, sondern auch Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in "Schutzhaft" zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 20.3.2023a, S. 51).
Am 30.4.2021 erließ das Innenministerium ein Verbot der Sprach- und Filmaufnahme von Polizeibeamten während Protesten und Demonstrationen. Verstöße gegen das Verbot sollten künftig strafrechtlich geahndet werden (BAMF 3.5.2021, S. 12; vgl. BIRN 30.4.2021). Allerdings entschied der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] am 15.12.2021 infolge einer Klage der Media and Law Studies Association (MLSA), dass der Vollzug des Rundschreibens auszusetzen sei, weil dieses die Informations- und Pressefreiheit einschränke. Der Staatsrat wies in seinem Urteil darauf hin, dass Einschränkungen der Grundrechte nur in vom Gesetzgeber vorgesehenen Fällen verhängt werden können. Außerdem verstoße das Rundschreiben gegen Artikel 7 der türkischen Verfassung, nach dem jegliche Handlungen verboten sind, die keine Grundlage in der Verfassung haben, sowie gegen Artikel 13, der die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger schützt (FNS 1.2.2022; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 18). Im Mai 2022 wies die Verwaltungskammer des Staatsrates letztendlich den Einspruch des Innenministeriums und der Generaldirektion für Sicherheit gegen die Entscheidung des Staatsrates, den Vollzug des Rundschreibens auszusetzen, zurück (MLSA 10.5.2022).
Die extensive Auslegung des unklar formulierten Art. 220 des Strafgesetzbuches hinsichtlich krimineller Vereinigungen durch den Kassationsgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Teilnehmer müssen, auch bei Demonstrationen im Ausland, mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen (AA 28.7.2022).
Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies war das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020, S. 37). In einem weiteren Fall urteile das Verfassungsgericht am 8.9.2021, dass das vom Gouverneursamt verhängte Verbot aller Proteste in der südöstlichen Stadt Kahramanmaraş das verfassungsmäßige Recht der Kläger auf Versammlung und Demonstration verletzt habe. Das Verfassungsgericht ordnete zudem eine Schadensersatzzahlung an jeden der vier Kläger an, welche eine Klage beim Verfassungsgericht einbrachten, nachdem andere Rechtsmittel nicht dazu geführt hatten, dass die Entscheidung des Gouverneursamtes von Kahramanmaraş, alle Proteste in der Stadt für einen Monat zu verbieten und anschließend viermal zu verlängern, aufgehoben wurde (BAMF 13.9.2021, S. 16f; vgl. TM 8.9.2021).
Zum Thema Versammlungsfreiheit siehe auch die Kapitel: Folter und unmenschliche Behandlung, "Frauen" sowie "Sexuelle Minderheiten"
Vereinigungsfreiheit
Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte (USDOS 20.3.2023a, S. 54).
Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020, S. 15). Diese Gesetzesänderung verpflichtet die Vereine, die lokalen Verwaltungsbehörden innerhalb von 30 Tagen über Änderungen in der Mitgliedschaft zu informieren, sonst drohen Strafen (USDOS 30.3.2021, S. 44).
Gesetze und Verordnungen erlegen Vereinigungen zahlreiche administrative Anforderungen auf. Komplexe Bestimmungen, die unterschiedlich ausgelegt werden können und über verschiedene Rechtsvorschriften verstreut sind, sowie der Mangel an Fachleuten, die sich mit diesem Bereich befassen, führen dazu, dass Vereinigungen in ihrem Bemühen um die Einhaltung der Gesetze in einem Zustand der Unsicherheit verharren. Die Vereinigungen unterliegen der Prüfung durch mehrere Behörden, darunter das Finanzamt, die Nationale Bildungsdirektion, die zuständigen Gouvernements sowie die Direktion für Zivilgesellschaft, zuständig für Vereinigungen im Innenministerium sowie die Generaldirektion für Stiftungen im Kulturministerium (FIDH/OMCT/İHD-HRA 5.2021, S. 26).
Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarates stellte in ihrem 2020 veröffentlichten Bericht zu ihrem Besuch der Türkei 2019 fest, dass die völlige Schließung einer großen Zahl von NGOs sowie die Liquidation ihres Vermögens durch Notverordnungen, und zwar durch eine einfache Entscheidung der Exekutive ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Kontrolle, ein besonderes Vermächtnis des Ausnahmezustands war. Trotz des dringenden Aufrufs bereits des vormaligen Kommissars gleich zu Beginn des Ausnahmezustands, diese Praxis unverzüglich zu beenden, schlossen die Behörden, ohne Erklärung oder Begründung 1.410 Vereine, 109 Stiftungen und 19 Gewerkschaften (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. ICSEM 1.2023, S. 9). Laut Abschlussbericht der Berufungskommission zum Ausnahmezustand [türk. OHAL] betrafen mit Jahresende 2022 von 17.960 aller positiven Entscheidungen der Kommission 72 die Wiedereröffnung geschlossener Institutionen, wie Vereinigungen und Stiftungen (ICSEM 1.2023, S. 9/ Tab, 26). Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verliefen intransparent und blieben unwirksam (USDOS 20.3.2023a, S. 54).
Gewerkschaftsaktivitäten, einschließlich des Streikrechts, sind gesetzlich und in der Praxis eingeschränkt. Gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten der Arbeitgeber sind weit verbreitet, und der gesetzliche Schutz wird nur unzureichend durchgesetzt. Kollektivverhandlungsrechte der Gewerkschaften sind eingeschränkt. Gewerkschaften und Berufsverbände sehen sich mit staatlichen Eingriffen und Vergeltungsmaßnahmen für Aktivitäten konfrontiert, die den Wünschen der Behörden zuwiderlaufen, wie etwa bei der Auflösung eines Streiks im Jahr 2018 ersichtlich, mit dem gegen unsichere Arbeitsbedingungen auf der Baustelle des neuen Istanbuler Flughafens protestiert wurde (FH 10.3.2023, E3). Das Gesetz erlaubt es der Regierung, das Streikrecht in jeder Situation zu untersagen, wenn eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Das Gesetz verlangt von den Gewerkschaften zudem, dass sie ihre Versammlungen oder Kundgebungen, die in offiziell ausgewiesenen Bereichen stattfinden müssen, bei der Regierung anmelden, und erlaubt es Regierungsvertretern, Gewerkschaftsversammlungen beizuwohnen und deren Verlauf aufzuzeichnen (USDOS 20.3.2023a, S. 97f.).
Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 20.3.2023a, S. 54).
Siehe auch Kapitel: Nichtregierungsorganisationen (NGOs).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AI - Amnesty International (27.10.2023): Türkei: Versammlungsverbot aufheben!, https://www.amnesty.de/mitmachen/urgent-action/tuerkei-versammlungsverbot-aufheben-2023-10-27 , Zugriff 20.2.2024;
AnA - Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-parliament-approves-domestic-security-package/63105 , Zugriff 6.10.2023;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (12.6.2023): Briefing Notes, KW 26, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw26-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 20.2.2024;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (13.9.2021): Briefing Notes, KW 37/2021, Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs gegen Demonstrationsverbo, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw37-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 9.2.2024;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (3.5.2021): Briefing Notes KW 18, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw18-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 20.2.2024;
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (30.4.2021): Turkey Bans Citizens From Filming Police at Protests, https://balkaninsight.com/2021/04/30/turkey-bans-citizens-from-filming-police-at-protests/ , Zugriff 20.2.2024;
CoE-CommDH - Council of Europe – Commissioner for Human Rights (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 31.10.2023;
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
EC - Europäische Kommission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 31.10.2023;
EC - Europäische Kommission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 17.10.2023;
EN - Euronews (1.5.2023): Polizei verhindert mit Gewalt Mai-Demo am Taksim-Platz, https://de.euronews.com/2023/05/01/istanbul-polizei-verhindert-mit-gewalt-mai-demo-am-taksim-platz , Zugriff 20.2.2024;
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023;
FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2023 , Zugriff 28.4.2023;
FIDH/OMCT/İHD/HRA - International Federation for Human Rights, World Organisation Against Torture, İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (5.2021): TURKEY PART II - Turkey’s Civil Society on the Line: A Shrinking Space for Freedom of Association, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2021/05/OBS-%C4%B0HD-TURKEY.pdf , Zugriff 31.10.2023;
FNS - Friedrich Naumann Stiftung (1.2.2022): Das türkische Justizsystem: Ein seltener Fall von guten Nachrichten, https://www.freiheit.org/de/tuerkei/das-tuerkische-justizsystem-ein-seltener-fall-von-guten-nachrichten?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter+2021-12-08T17%3A03%3A25%2B01%3A00_Duplikat_Duplikat , Zugriff 20.2.2024;
HDN - Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338 , Zugriff 6.10.2023;
HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Türkiye, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103139.html , Zugriff 17.1.2024;
ICSEM - Inquiry Commission on the State of Emergency Measures [Türkei] (1.2023): THE INQUIRY COMMISSION ON THE STATE OF EMERGENCY MEASURES ACTIVITY REPORT (2017 - 2022), https://soe.tccb.gov.tr/Docs/SOE_Report_20172022.pdf , Zugriff 9.2.2024 [Login erforderlich];
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023;
MLSA - Media and Law Studies Association (10.5.2022): The Council of State’s decision to suspend the execution of the circular banning audio-visual recording of protests is finalized, https://www.mlsaturkey.com/en/the-council-of-states-decision-to-suspend-the-execution-of-the-circular-banning-audio-visual-recording-of-protests-is-finalized/ , Zugriff 20.2.2024;
Spiegel - Spiegel, Der (8.3.2023): Türkische Polizei setzt Pfefferspray gegen Frauentagsdemo ein, https://www.spiegel.de/ausland/tuerkei-polizei-setzt-pfefferspray-gegen-frauentags-demo-ein-a-8915f2b9-df31-478c-a8fd-5b63ee3c54a6 , Zugriff 20.2.2024;
TM - Turkish Minute (8.9.2021): Turkey’s top court rules blanket ban violated rights of protestors, https://www.turkishminute.com/2021/09/08/urkeystop-court-rules-blanket-ban-violated-rights-of-protestors/ , Zugriff 9.2.2024;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.11.2023;
Zeit online - Zeit online (25.6.2023): Türkei: Polizei nimmt in Istanbul Teilnehmer von Pride-Parade fest, https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-06/tuerkei-istanbul-pride-festnahmen , Zugriff 20.2.2024;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (27.9.2023b): IHD’s Annual Human Rights Violations Report for 2022 – HRA, https://ihd.org.tr/en/ihds-annual-human-rights-violations-report-for-2022 , Zugriff 30.1.2024;
Opposition
Letzte Änderung 2024-03-07 13:54
Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein. Unter anderem werden die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer und Funktionäre limitiert. Dies geschieht zudem durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt (USDOS 20.3.2023a, S. 69). Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich in einer Entschließung vom 7.6.2022 "zutiefst besorgt über die anhaltenden Übergriffe auf die Oppositionsparteien, insbesondere auf die [...] HDP und andere Parteien, einschließlich der [...] CHP, indem etwa Druck auf sie ausgeübt, ihre Auflösung erzwungen und ihre Mitglieder inhaftiert werden, wodurch das ordnungsgemäße Funktionieren des demokratischen Systems untergraben wird" (EP 7.6.2022, S. 16f., Pt. 22). Im September 2023 wiederholte das EP seine Missbilligung in Bezug auf "das gezielte Vorgehen gegen politische Parteien und Mitglieder der Opposition, die zunehmend unter Druck geraten; [und] erklärt[e] sich besorgt darüber, dass die Unterdrückung und die Verfolgung der politischen Opposition nach den jüngsten Wahlen aufgrund der schlechter werdenden wirtschaftlichen Lage des Landes zunehmen werden; [und war] besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker" (EP 13.9.2023, Pt. 13).
Während die Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi - HDP) mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind - so werden die Büros der HDP regelmäßig von der Polizei durchsucht und von rechtsextremen Gruppen angegriffen - erleben auch andere Oppositionsführer politisch motivierte Verfolgung und gewalttätige Angriffe (FH 10.3.2023, B1). Die Justiz geht auch weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben (EC 8.11.2023, S. 14; vgl. BIRN 1.2.2022).
Vorgehen gegen die CHP und andere Oppositionsparteien (Beispiele)
Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, wurde im September 2019 zu fast zehn Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 3.3.2021), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017 (Zeit online 23.6.2020; vgl. FH 3.3.2021). Im Dezember 2020 erfolgte eine weitere Anklage wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und wegen des "Lobens einer Straftat und eines Verbrechers" (Duvar 14.12.2020). Am 12.5.2022 bestätigte der Kassationsgerichtshof die Verurteilung in drei Anklagepunkten: "Beleidigung eines Beamten", "Beleidigung des Präsidenten" und "Beleidigung des türkischen Staates". Dies hatte eine Haftstrafe von fast fünf Jahren zur Folge. Die Anklagen wegen Terrorpropaganda und Volksverhetzung wurden fallen gelassen (Ahval 12.5.2022; vgl. BAMF 16.5.2022, S. 12f.). Kaftancıoğlu wurde am 31.5.2022 ins Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul gebracht, jedoch noch am selben Tage wieder freigelassen. Sie wurde jedoch von einer Kandidatur bei den damals anstehenden Wahlen ausgeschlossen (FAZ 1.6.2022; vgl. MEE 31.5.2022). Ende April 2023, schlussendlich, entschied das Strafgericht auf Freispruch, da ihre Äußerungen nicht als "beleidigend" angesehen wurden (Duvar 26.4.2023).
Im November 2022 hat die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara ein Eilverfahren gegen den CHP-Abgeordneten Sezgin Tanrıkulu eingeleitet. Ihm wurde vorgeworfen, "Propaganda für eine terroristische Organisation" gemacht zu haben, weil er sich zu den Vorwürfen geäußert hat, die türkischen Streitkräfte hätten bei ihren Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) chemische Waffen eingesetzt. Laut der Generalstaatsanwaltschaft steht Tanrıkulus Äußerung im Einklang mit den strategischen Zielen der PKK und dem entsprechenden Diskurs und den Aktionen in diesem Zusammenhang (Duvar 7.11.2022).
Ende 2023 hat ein Istanbuler Gericht den Bürgermeister der Stadt Istanbul, Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), zum zweiten Mal vom Vorwurf der "öffentlichen Beleidigung eines Amtsträgers" freigesprochen, der erhoben wurde, weil er sich in seiner Rede zur Eröffnung einer Kläranlage im Jahr 2022 über den Bürgermeister des Istanbuler Bezirks Tuzla, Şadi Yazıcı, geäußert hatte (Duvar 15.12.2023). Allerdings brachte das Innenministerium eine neue Klage gegen İmamoğlu bei Gericht ein, und zwar wegen vermeintlicher Vetternwirtschaft. Das Innenministerium hatte eine Untersuchung über eine Ausschreibung eingeleitet, die 2015 während der Amtszeit von Ekrem İmamoğlu, damals noch Bürgermeister der Gemeinde Beylikdüzü, stattfand. Imamoglu und sechs weiteren Angeklagten wird die Manipulation der Ausschreibung vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft fordert für den Istanbuler Bürgermeister daher eine Haftstrafe von drei bis sieben Jahren und ein politisches Betätigungsverbot. Das Gericht setzte die Fortsetzung des Prozesses auf den 25.4.2024 fest (FR 30.11.2023).
Das türkische Innenministerium gab am 24.12.2022 bekannt, dass es Strafanzeige gegen die von der CHP-Opposition geführte Stadtverwaltung von Istanbul erstattet hat, nachdem es davon ausgeht, dass 1.668 Mitarbeiter mit Verbindungen zu "terroristischen Organisationen" in der Stadtverwaltung beschäftigt sind. Das Innenministerium hatte bereits seit einem Jahr behauptet, dass Hunderte von Mitarbeitern der Stadtverwaltung im Verdacht stünden, Verbindungen zu "terroristischen Gruppen" zu haben, darunter die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die Revolutionäre Volksbefreiungspartei/Front (DHKP/C) sowie die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) - und sogar Mitglieder der Gülen-Bewegung dort tätig sind (Duvar 25.12.2022; vgl. FH 10.3.2023, B1).
Der Oppositionspolitiker Metin Gürcan, Mitbegründer der oppositionellen Demokratie- und Fortschrittspartei (DEVA), war am 13.5.2022, einen Tag nach seiner Freilassung, wegen Spionagevorwürfen erneut verhaftet worden. Ihm drohten bis zu 35 Jahre Haft. Dem Politiker und Militäranalysten wurde vorgeworfen, mutmaßlich geheime Informationen an ausländische Diplomaten verkauft zu haben (FH 10.3.2023, B1; vgl. BAMF 16.5.2022, S. 12f.).
Am 25.10.2023 entschied das Verfassungsgericht, dass der inhaftierte Politiker der TİP (Türkiye İşçi Partisi - Arbeiterpartei der Türkei) und Menschenrechtsanwalt Can Atalay, der bei den Parlamentswahlen im Mai 2023 zum Abgeordneten gewählt worden war, in seinem Recht zu wählen und gewählt zu werden, sowie in seinem Recht auf persönliche Sicherheit und Freiheit verletzt wurde und ordnete dessen Freilassung an. Das zuständige Strafgericht setzte das Urteil nicht um, sondern verwies den Fall an das Kassationsgericht. Dieses entschied am 9.11.2023 in Überschreitung seiner Zuständigkeit, dass das Urteil nicht rechtserheblich und daher nicht umzusetzen sei, mit der Begründung, dass das Verfassungsgericht seine Kompetenzen überschritten habe (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11). Staatspräsident Erdoğan äußerte sich ähnlich und brachte eine Verfassungsreform ins Gespräch, um diese Justizkrise zu lösen. - Atalay war im April 2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt und inhaftiert worden. Trotzdem wurde er bei den Parlamentswahlen im Mai 2023 zum Abgeordneten gewählt. Dies war möglich, weil das oberste Berufungsgericht das Urteil zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestätigt hatte, und es somit noch nicht rechtskräftig war (Spiegel 31.1.2024).
Vorgehen gegen die HDP und ihre Nachfolgeparteien
Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş, als Terroristen (TM 25.11.2020) und Anfang November 2021 als Marionette der PKK (Ahval 6.11.2021). Der damalige Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Dazu beigetragen hat, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) geäußert hatten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen, diese systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI/Koontz 3.2.2020). Auch während des Wahlkampfes 2023 versuchte die Regierung die HDP bzw. die YSP [Yeşil Sol Parti - Grüne Linkspartei] als politischen Arm der PKK zu inkriminieren (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 5).
Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 10.2019, S. 69). Das Europäische Parlament "fordert[e] die türkischen Staatsorgane auf, davon Abstand zu nehmen, zur Aufwiegelung gegen die HDP weiter anzustacheln" (EP 8.7.2021, Pt. 5).
Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah", stellen nach wie vor, auch unter Berufung auf Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Vertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar. Inzwischen verwendet Daily Sabah durchgehend die Bezeichnung "pro-PKK HDP". - Jüngste Beispiele: So soll laut Daily Sabah Anfang April 2023 ein bei einer Anti-Terror-Operation in der südöstlichen türkischen Provinz Diyarbakır Verhafteter gestanden haben, dass er in der HDP-Zentrale ausgebildet wurde, um sich danach der PKK anzuschließen (DS 3.4.2023). Und anlässlich des Rückzuges der HDP von den Parlamentswahlen 2023 angesichts des laufenden Verbotsverfahrens und Kandidatur ihrer Politiker auf der Liste der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti - YSP) vermeldete Daily Sabah, dass trotz Namensänderung die Ideologie dieselbe geblieben sei, da das Manifest Verbindung zur PKK-Terrorgruppe offenlegen würde. Als Beweis führte die Zeitung die Ankündigung Partei an, wonach im Falle einer Machtübernahme die Anti-Terror-Operationen der Türkei im Irak und in Syrien beendet und der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan auf Bewährung freigelassen zu würde (DS 31.3.2023).
Nicht nur die angebliche Beleidigung des Staatspräsidenten [siehe weiter unten zum Urteil gegen Demirtaş], sondern auch die vermeintliche Herabwürdigung der türkischen Nation führen zur strafrechtlichen Verfolgung von HDP-Führungskadern. So hat die Generalstaatsanwaltschaft Ankara im Dezember 2022 eine Klage gegen elf ehemalige Mitglieder des Zentralen Vorstands der HDP eingereicht, mit der Forderung, dass diese wegen einer Presseerklärung vom 24.4.2021, in der sie den Begriff "Völkermord an den Armeniern" erwähnten, nach Art. 301 des Strafgesetzbuchs - "Beleidigung des Türkentums" - verurteilt werden (Duvar 8.12.2022b).
Mehr als 15.000 HDP-Mitglieder wurden seit 2015 inhaftiert und etwa 5.000 befinden sich noch immer in Haft (Medya 3.7.2022; vgl. EC 8.11.2023, S. 14, AA 28.7.2022, S. 8). Demnach saßen 2022 rund 12 % aller HDP-Mitglieder im Gefängnis, denn laut offiziellen Zahlen des Kassationsgerichtes hatte die HDP mit Stand 4.10.2021 genau 41.022 Mitglieder (MBZ 2.3.2022, S. 46f.). Im Oktober 2023 führte die HDP an, dass seit 2015 sogar 22.818 Parteimitglieder verhaftet wurden und mindestens 4.334 im Gefängnis landeten (Duvar 18.12.2023).
Für 2023 gab die DEM-Partei als Nachfolgerin der HDP bekannt, dass 2.906 Personen, die mit der Partei in Verbindung stehen, verhaftet wurden, darunter 60 Provinz- und Bezirksvorsitzende. Die türkischen Gerichte brachten 319 Personen in den Arrest (Duvar 18.12.2023). Für 2022 hatte die Partei eine ähnlich hohe Zahl von Verhaftungen, nämlich 2.465, angegeben. Überdies sollen seit 2015 mindestens 340 physische Angriffe auf Gebäude, Stände, Kundgebungen und Demonstrationen der HDP in den Provinzen und Bezirken sowie auf die für diese Veranstaltungen verantwortlichen Personen verübt worden sein (HDP 10.12.2022).
Davon abgesehen leben Tausende HDP-Mitglieder im Ausland, darunter Abgeordnete und ehemalige Ko-Bürgermeister, die nach HDP-Angaben vor politisch motivierten Haftbefehlen der AKP-nahen Justiz fliehen mussten (HDP 18.5.2021).
Siehe auch die Kapitel: Haftbedingungen und Kurden; politische Lage
Vorgehen gegen einfache HDP-Mitglieder und deren Familienmitglieder
Eine Mitgliedschaft in der HDP allein ist kein Grund für die Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen. Die Aufnahme von strafrechtlichen Ermittlungen ist immer einzelfallabhängig (AA 28.7.2022, S. 8; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 47). Die Entscheidung allerdings, welche HDP-Mitglieder verhaftet und inhaftiert werden und welche nicht, wird demzufolge zufällig und willkürlich getroffen. Diese Willkür diene laut Quellen wahrscheinlich dem Zweck, Angst und Unsicherheit zu verbreiten und die Menschen davon abzuhalten, aktiv für die HDP zu arbeiten. Aus vertraulichen Quellen des niederländischen Außenministeriums geht hervor, dass eine Reihe von Umständen und Aktivitäten in der Praxis eine Rolle bei Festnahmen, Inhaftierungen, strafrechtlichen Ermittlungen und Verurteilungen spielen können. Dies bedeutet nicht, dass diese Umstände und Aktivitäten bei allen HDP-Mitgliedern, Mitarbeitern, Aktivisten und/oder Sympathisanten zu persönlichen Problemen mit den türkischen Behörden führen. Faktoren, die zu negativer Aufmerksamkeit seitens der türkischen Behörden führen können (Die Liste ist keineswegs als erschöpfend anzusehen): die HDP-Mitgliedschaft an sich; die Wahlbeobachtungen; die Teilnahme an HDP-Demonstrationen, an HDP-Pressekonferenzen, an HDP-Wahlkampagnen, an HDP-Versammlungen; das Posten und Teilen von Pro-HDP-Posts in sozialen Medien (z. B. das Posten von Bildern des inhaftierten ehemaligen Ko-HDP-Vorsitzenden Demirtaş); der Besitz und die Verteilung von HDP-Pamphleten; der Besitz bestimmter Arten von Literatur (z. B. Bücher über "Konföderalismus", d. h., das Streben nach Selbstverwaltung und Autonomie für die Kurden) (MBZ 2.3.2022, S. 47); die Abgabe von Erklärungen gegenüber der Presse (z. B. zur Unterstützung des kurdischsprachigen Unterrichts) oder das Senden von Geld an einen inhaftierten Verwandten (was als finanzielle Hilfe für die PKK betrachtet werden kann) (MBZ 31.8.2023, S. 54). Zum Vorgehen seitens der türkischen Behörden gehören auch nächtliche, mit unter gewaltsame Razzien am Wohnort (MBZ 2.3.2022, S. 47).
Auch Angehörige von HDP-Mitgliedern, die selbst nicht formell der HDP angehören, werden von den türkischen Behörden misstrauisch beäugt, was in Folge zu diversen Problemen führen kann. Zum Beispiel können Angehörigen von HDP-Mitgliedern bestimmte Dienstleistungen verweigert werden, wie zum Beispiel ein Kredit, ein Bankkonto, eine Baugenehmigung oder eine Subvention. Es kann auch vorkommen, dass der Passantrag eines Angehörigen eines HDP-Mitglieds absichtlich verzögert wird, und in einigen Fällen können Angehörige von HDP-Mitgliedern ihren Arbeitsplatz verlieren bzw. keinen bekommen, nur weil ihr Verwandter für die HDP aktiv ist (MBZ 2.3.2022, S. 49). Gemäß Quellen des niederländischen Außenministeriums gehen die türkischen Behörden bei einer aktiven Mitgliedschaft in der HDP automatisch davon aus, dass die gesamte Familie die Partei unterstützt. Die Verwandten von HDP-Mitgliedern und -Anhängern werden auch polizeilichen Verhören unterzogen und ihre Wohnungen werden durchsucht. Vor allem in ländlichen Dörfern sind Hausdurchsuchungen mit Einschüchterung und Gewalt verbunden. Mitunter werden auch gegen nicht-politisch aktive Verwandte von HDP-Mitgliedern und -Anhängern strafrechtliche Ermittlungen, Festnahmen, Inhaftierungen und Strafverfahren eingeleitet (MBZ 31.8.2023, S. 54f.).
Laut dem Direktor einer türkischen Organisation mit Sitz im Vereinigten Königreich sind Angehörige von HDP-Mitgliedern gefährdet, wenn sie sich für das Gerichtsverfahren ihres Verwandten interessieren, sich in den sozialen Medien politisch äußern oder an politischen Kundgebungen teilnehmen. Handelt es sich um ein HDP-Mitglied mit hohem Bekanntheitsgrad, nehmen die Behörden zuerst das schwächste Familienmitglied ins Visier, um dann, wenn nötig, zu einem anderen Familienmitglied überzugehen. Ist das HDP-Mitglied unauffällig, kann versucht werden, einen Verwandten zu zwingen, ein Informant für die Behörden zu werden; weigert er sich, wird er mitunter inhaftiert oder ist physischer Gewalt ausgesetzt. Ein Menschenrechtsanwalt bestätigte das behördliche Vorgehen, wonach Familienmitglieder von Menschen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, ins Visier genommen werden. Und so die Polizei die gesuchte Person nicht findet, nimmt sie ein anderes Familienmitglied mit. Dies war während des Notstands sehr häufig der Fall. Die Familien wurden telefonisch bedroht und ihre Häuser wurden durchsucht (UKHO 10.2019, S. 20).
Behördliches Vorgehen gegen Parlamentarier insbesondere der HDP
Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Mitglieder der Oppositionsparteien im Parlament, insbesondere der HDP, wegen angeblicher terroristischer Straftaten vor, was den politischen Pluralismus untergräbt. Neun (ehemalige) HDP-Abgeordnete sind derzeit in Haft (Stand Ende 2023). Die ehemaligen Ko-Parteivorsitzenden Demirtaş und Yüksekdağ sind weiterhin inhaftiert [Stand: Ende Februar 2024]; sie besitzen keinen Abgeordnetenstatus mehr (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 48).
Das parlamentarische Immunitätssystem bietet laut Europäischer Kommission keinen angemessenen Rechtsschutz, der es den oppositionellen Parlamentariern ermöglicht, ihre Position im Rahmen der Meinungsfreiheit zu äußern. Ein HDP-Politiker erhielt im Juli 2021 seinen Status als Abgeordneter zurück, nachdem das Verfassungsgericht entschieden hatte, dass seine Rechte verletzt worden waren. Die Immunität eines anderen HDP-Parlamentariers wurde jedoch im März 2022 vom Parlament aufgehoben. Vier weiteren Oppositionsabgeordneten wurde die parlamentarische Immunität entzogen und sie wurden während der laufenden Legislaturperiode wegen Terrorismusvorwürfen inhaftiert (EC 12.10.2022, S. 13). In den Folgemonaten wurden keine weiteren parlamentarischen Immunitäten aufgehoben, jedoch saßen mit Stand Herbst 2023 noch die beiden ehemaligen Vorsitzenden der HDP und etliche HDP-Parlamentarier im Gefängnis (EC 8.11.2023, S. 14).
Seit der Verfassungsänderung vom 20.5.2016, welche die vollständige Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Abgeordneten ermöglichte, wurden mehr als 600 Anklagen gegen Parlamentarier der HDP erhoben. Anklagen erfolgten wegen terrorismusbezogener Taten, Verleumdung des Präsidenten, der Regierung oder des Staates. Seit 2018 wurden mehr als 30 Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu Freiheitsstrafen verurteilt (IPU 15.10.2022, S. 37). Die Anzahl der inhaftierten hat sich durch die Entlassung von zwei ehemaligen HDP-Abgeordneten verringert. - Mitte Oktober 2022 wurde Gülser Yıldırım entlassen. Sie war am 4.11.2016 verhaftet und wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Gemäß Gesetz (Nr. 7242) hätte sie nach Zwei-Drittel der Strafverbüßung entlassen werden sollen, doch wurde sie erst vier Monaten später enthaftet (Bianet 18.10.2022). Anfang April 2023 wurde der ehemalige HDP-Abgeordnete İdris Baluken nach fast sieben Jahren Haft wegen Terrorismus-Unterstützung freigelassen. Baluken war am 4.11.2016 festgenommen und inhaftiert worden (Duvar 5.4.2023; vgl. NTV 5.4.2023). Andererseits verurteilte das Gericht in Diyarbakır im Oktober 2022 die ehemalige Parlamentarierin, Leyla Güven, die bereits 2018 festgenommen und 2020 nach Entzug ihrer parlamentarischen Immunität verurteilt wurde, zu elf Jahren und sieben Monaten Gefängnis wegen terroristischer Propaganda für die PKK in einem halben Dutzend Reden, die sie als Abgeordnete der HDP zwischen 2015 und 2019 gehalten hatte. In Summe büßt die 58-Jährige eine 22-jährige Gefängnisstrafe wegen zweier getrennter Delikte ab (Ahval 17.10.2022).
HDP-Parlamentarier sind auch von physischen Übergriffen durch die Polizei nicht ausgenommen. - Am 9.10.2022 demonstrierten die HDP und einige Verbände in verschiedenen Provinzen gegen die Isolation des inhaftierten Führers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan. Die Demonstranten sahen sich mit harter Polizeigewalt konfrontiert, wobei es zu mehreren Festnahmen kam und dem Abgeordneten Habip Eksik hierbei ein Bein gebrochen wurde. Die Polizei verteidigend, gab das Büro des Gouverneurs von Hakkari später eine Erklärung ab, wonach Eksik sich auf den Boden geworfen habe, um den Eindruck zu erwecken, dass die Polizei übermäßige Gewalt angewendet hätte (Duvar 10.10.2022; vgl. Ahval 10.10.2022).
Ein Prozessbeobachter der Interparlamentarischen Union (IPU) kam bereits 2018 zu dem Schluss, dass die Aussichten auf faire Gerichtsverfahren für die HDP-Abgeordneten Yüksekdağ und Demirtaş gering seien und dass der politische Charakter beider Verfahren offensichtlich sei. Eine ebenfalls 2018 von der IPU durchgeführte Überprüfung von zwölf Gerichtsurteilen gegen HDP-Mitglieder kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen, unter anderem, dass die Justiz in der Türkei - von den erstinstanzlichen Gerichten bis hin zum Verfassungsgericht - die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und das Grundsatzurteil des türkischen Verfassungsgerichts in Bezug auf die Meinungsfreiheit bei der Bewertung, ob eine Äußerung eine Aufstachelung zur Gewalt oder eine der anderen Straftaten darstellt, derer die Parlamentsabgeordneten angeklagt waren, völlig außer Acht gelassen hätte (IPU 15.10.2022, S. 38).
Behördliches Vorgehen gegen gewählte HDP-Mandatare auf lokaler Ebene
Die Regierung suspendierte demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen. Diese wurden durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses Vorgehen richtete sich am häufigsten gegen Politiker und Politikerinnen der HDP und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP). Die Regierung hat 81 % der HDP-Bürgermeister, die bei den Lokalwahlen 2019 gewählt wurden, suspendiert und seit 2016 88 % der gewählten HDP-Amtsinhaber entfernt (USDOS 20.3.2023a, S. 73). Laut dem damaligen Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister (zusammengerechnet in den beiden Perioden nach den Lokalwahlen 2014 und 2019), fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020b). 48 HDP-Bürgermeister wurden seit den letzten Lokalwahlen 2019 wegen angeblicher terrorismusbezogener Aktivitäten ihres Amtes enthoben (EC 8.11.2023, S. 15; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 21). - Außerdem wurde ein Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung abberufen (EC 12.10.2022, S. 14). - Von 48 suspendierten Bürgermeistern wurden 39 arretiert (USDOS 20.3.2023a, S. 21).
Bei den Lokalwahlen Ende März 2019 wurden im ersten Fall HDP-Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl zunächst als gültig erklärt worden war (CoE-VC 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 28.7.2022, S. 7f.). Diesbezüglich wurden keine Maßnahmen ergriffen, trotz der Kritik der Venedig-Kommission des Europarates vom Juni 2020 an der Entscheidung Kandidaten der HDP, die bei den Kommunalwahlen im März 2019 in sechs Gemeinden die meisten Stimmen erhalten hatten, das Bürgermeisteramt zu verweigern und stattdessen die zweitplatzierten AKP-Kandidaten damit zu betrauen (EC 12.10.2022, S. 12). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismus-bedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE-VC 19.6.2020; vgl. AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019). Sechs HDP-Bürgermeister durften demnach ihr Amt nach den Wahlen 2019 nicht antreten (USDOS 20.3.2023a, S. 21).
Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (Zeit online 19.8.2019; vgl. DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt (Bianet 9.3.2020), ehe er Ende September 2021 vom Vorwurf der "Propaganda für eine Terrororganisation" freigesprochen wurde (Bianet 30.9.2021). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer groß angelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in Mardin, Van, Diyarbakır und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakır gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppeln vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AlMon 21.1.2020). Fälle polizeilicher Gewaltanwendung gegenüber Mitgliedern und Funktionären der HDP kommen weiterhin vor. So griff die Polizei in die von der HDP und dem Demokratischen Volkskongress (HDK) organisierte Presseerklärung am 18.4.2022 im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu zum bevorstehenden 1. Mai ein und nahm 26 Personen, darunter die Ko-Vorsitzende der HDP und die Ko-Sprecher des HDK, unter Anwendung körperlicher Gewalt fest (Die festgenommenen Personen wurden noch am selben Tag wieder freigelassen). Zudem wandte die Polizei körperliche Gewalt gegenüber Journalisten an, um diese zu vertreiben (TİHV/HRFT 19.4.2022).
In Folge setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDP-Bürgermeistern ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (Zeit online 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP Mitte Mai 2020 wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt (Duvar 19.5.2020). Im Juli 2020 wurden mehr als 50 Personen in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, wurden Verbindungen zur PKK vorgeworfen (AlMon 14.7.2020). Am 26.1.2023 fand vor dem Schweren Strafgericht Nr. 2 in Hakkâri die letzte Verhandlung im Fall von Cihan Karaman, dem HDP-Bürgermeister von Hakkâri, der durch einen Treuhänder ersetzt wurde, statt. Das Gericht verurteilte Cihan Karaman wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu einer Haftstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten (TİHV/HRFT 26.1.2023; vgl. Sabah 26.1.2023).
Der Kobanê-Massenprozess
Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobanê einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobanê zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet (FAZ 27.9.2020; vgl. HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellt), im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten von 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vgl. SZ 7.1.2021). Ende Februar 2022 fand die zehnte Anhörung statt (Bianet 28.2.2022). Am 12.4.2022 ordneten die Behörden die Verhaftung von weiteren 91 Personen im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten an, darunter auch Mitglieder der HDP. Sie wurden beschuldigt an der finanziellen Organisierung der Vorfälle beteiligt gewesen zu sein und den Familien von toten oder verletzten PKK-Mitgliedern finanzielle Unterstützung zukommen gelassen zu haben (BIRN 12.4.2022; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 22).
Aktuelle Beispiele für Verhaftungen und Verurteilungen von HDP-Funktionären und einfachen HDP-Mitgliedern
Zu Beispielen vor dem Jahr 2023, bitte auf Vorgängerversionen der Länderinformationen zurückzugreifen.
Am Vorabend der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wurden am 25.4.2023, je nach Quelle, bis zu 150 Personen, darunter Dutzende HDP-Mitglieder und hochrangige Funktionäre wie die stellvertretende Co-Vorsitzende Özlem Gündüz, verhaftet. Doch gingen die Behörden auch gegen Anwälte und Zeitungs- sowie Agenturjournalisten vor. Nach HDP-Angaben wurden in 21 Provinzen Razzien im Rahmen einer Untersuchung der Staatsanwaltschaft Diyarbakır durchgeführt. Die Verhafteten wurden verdächtigt, die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu finanzieren, z.B. aus dem Gemeindebudget, oder neue Mitglieder für diese anzuwerben (DW 25.4.2023; vgl. WZ 25.4.2023, HDP 25.4.2023, FAZ 25.4.2023). In einer Aussendung vom 5.5.2023 sprach die HDP davon, dass es am Vorabend zu den Parlamentswahlen innerhalb eines Monats zu mindestens 295 Festnahmen bzw. 61 Verhaftungen von HDP-Mitgliedern kam, darunter auch Funktionäre, wie der stellvertretende HDP-Vorsitzende der Provinz Urfa (Bereits am 4.3.2023) oder der Ko-Vorsitzende des Distrikts Gebze, inklusive vier seiner Parteimitarbeiter (HDP 5.5.2023).
In Ankara wurde im Juni 2023 Doğan Erbaş, Mitglied des HDP-Parteirats und Menschenrechtsaktivist, festgenommen und anschließend zur Verbüßung einer zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt, die er wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Verbreitung terroristischer Propaganda für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans und die Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), eine Dachorganisation der PKK, verbüßen muss. Erbaş war im Dezember 2022 von einem hohen Strafgericht in Istanbul verurteilt worden und war nach Angaben der türkischen Behörden auf freiem Fuß (SCF 13.6.2023; vgl. DW 13.6.2023).
Laut HDP kam es Anfang Oktober 2023 bei Razzien der Polizei in Istanbul und Kırklareli zur Festnahme von Dutzenden Anhängern, darunter Mitglieder der Parteileitung, Ko-Vorsitzende der Bezirke, Provinz- und Bezirksverwalter. Innenminister Yerlikaya bestätigte die Festnahme von 20 Personen, darunter der Sprecher der HDP auf Provinzebene und Bezirksvorsitzende (Bianet 2.10.2023).
Aktuelle Beispiele für Entscheidungen des Europäische Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und des türkischen Verfassungsgerichts
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität vor Strafverfolgung aufgehoben hatte. Der Beschluss zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 40 Abgeordneten der HDP (im Mai 2016), darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, verstößt laut EGMR gegen die türkische Verfassung (BIRN 1.2.2022; vgl. Evrensel 2.2.2022). Schon zuvor verlangte das Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 die unverzügliche Freilassung von Demirtaş (CoE-CM 2.12.2021). Nach 2021 forderte auch das Europäische Parlament (EP) im Juni 2022 neuerlich auf Basis des EGMR-Urteils das Fallenlassen aller Anklagepunkte und die sofortige Freilassung sowohl von Demirtaş als auch von Yüksekdağ sowie auch anderer HDP-Mitglieder, die sich seit November 2016 in Haft befinden (EP 7.6.2022, S. 16, Pt. 23, EP 19.5.2021, S. 13, Pt. 33). Zudem verurteilte das EP die Entscheidung des 46. Strafgerichtshofs erster Instanz in Istanbul, Selahattin Demirtaş zur maximalen Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren für die angebliche Beleidigung des Präsidenten zu bestrafen (EP 19.5.2021, S. 13, Pt. 33). Dieses Urteil wurde im Februar 2022 durch ein Gericht in Istanbul bekräftigt (Duvar 21.2.2022).
Am 14.9.2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der unrechtmäßigen Amtsenthebung und Inhaftierung des Bürgermeisters von Siirt, Tuncer Bakırhan, zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 10.000 EUR und einer Aufwandsentschädigung von 3.000 EUR. Das Gericht erklärte die Amtsenthebung und Verhaftung im November 2016 sei unverhältnismäßig gewesen und eine Verletzung seiner Freiheit (Art. 5 EMRK) und seines Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK). Bakırhan, ein Mitglied der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), der Vorgängerin der HDP, wurde beschuldigt, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzugehören, und saß zwei Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft. Im Oktober 2019 wurde er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt (ECHR 14.9.2021; vgl. BAMF 20.9.2021, S. 14f.).
Am 22.3.2022 wies das Verfassungsgericht den Antrag der HDP-Abgeordneten Semra Güzel ab, die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität wegen Terrorvorwürfen rückgängig zu machen. Güzel wurde wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in zwei Fällen angeklagt, nachdem Fotos in den Medien erschienen waren, auf denen sie mit einem PKK-Mitglied mutmaßlich in einem Lager der Gruppe posierte (BAMF 28.3.2022, S. 9; vgl. Ahval 24.3.2022). Anfang September 2022 wurde Güzel laut damaligen Innenminister Soylu mit einem gefälschten Pass auf dem Weg nach Griechenland gemeinsam mit einem Schlepper verhaftet (Duvar 2.9.2022). Anfang Oktober 2022 forderte die Staatsanwaltschaft 15 Jahre Haft für Güzel (HDN 1.10.2022). Ein Strafgericht in Ankara ordnete im Dezember 2023 die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Nach der aktuellen Sach- und Beweislage sei die Beschuldigte weiterhin der Mitgliedschaft in einer "Terrororganisation" dringend verdächtig. Die Fluchtgefahr bestehe weiterhin (ANF 11.12.2023).
Der 75-jährige, ehemalige Abgeordnete der HDP, Halil Aksoy, wurde in einem Fall, in dem er vor 13 Jahren freigesprochen worden war, am 26.4.2022 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Entgegen dem damaligen Freispruch verurteilte dasselbe 11. Hohe Strafgericht Gericht in Istanbul Aksoy wegen Propaganda für eine terroristische Organisation. Das Gericht lehnte auch einen Aufschub seiner Strafe ab (Mezopotamya 27.4.2022). Entlassen hingegen wurde nach fünf Jahren Anfang Jänner 2022 der ehemalige HDP-Abgeordnete Abdullah Zeydan, nachdem das Oberste Berufungsgericht die Haftstrafe von acht Jahren und 45 Tagen wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Verbreitung terroristischer Propaganda aufgehoben hatte (BAMF 10.1.2022, S. 15; vgl. Ahval 6.1.2022).
Der EGMR entschied am 8.11.2022, dass die Türkei die Rechte von 13 ehemaligen Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie 2016, bzw. in einem Fall 2017, wegen Verbindungen zur verbotenen PKK in Untersuchungshaft genommen wurden, um den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Der EGMR entschied, dass die Untersuchungshaft der Antragsteller willkürlich und mit dem innerstaatlichen Recht unvereinbar sei, da die Betroffenen Anspruch auf parlamentarische Immunität hätten. Das Straßburger Gericht entschied auch, dass es keine Beweise gab, die den Verdacht begründeten, dass sie eine Straftat begangen hatten, die ihre Inhaftierung rechtfertigte. Der EGMR ordnete die Freilassung jener zwei noch in Haft Verbliebenen, nämlich von İdris Baluken und Figen Yüksekdağ, der ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, an (SCF 9.11.2022; vgl. Bianet 8.11.2022, ECHR 8.11.2022).
Der ehemalige HDP-Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtaş blieb trotz zweier endgültiger EGMR-Urteile, in denen seine sofortige Freilassung befürwortet wurde, im Gefängnis. Im März 2023 forderte das Ministerkomitee des Europarats die Türkei auf, Demirtaş im Einklang mit den EGMR-Urteilen freizulassen. Das Urteil des Verfassungsgerichts vom Juni 2020 über die Verletzung des Rechts von Herrn Demirtaş auf Freiheit und Sicherheit wurde nicht umgesetzt (EC 8.11.2023, S. 19).
Siehe auch das Kapitel: Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Verbotsverfahren gegen die HDP
Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichts, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex-officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB Ankara 18.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). Der amtierende Generalstaatsanwalt wurde erst 2020 von Staatspräsident Erdoğan ernannt (SWP/Can 10.6.2021; S. 3). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u. a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vgl. DS DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Kandil-Bergen im Nordirak ansässige PKK-Führung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDP-Mitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AlMon 9.4.2021). Der Generalstaatsanwalt beantragte den Ausschluss von jeglicher staatlicher finanzieller Unterstützung (DS 18.3.2021) und die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus forderte er ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDP-Mitglieder. Darunter befinden sich Abgeordnete und Mitglieder des Vorstands (DW 20.3.2021a; vgl. Duvar 18.3.2021).
In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (REU 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB Ankara 18.3.2021). Die EU erklärte, dass die Schließung der zweitgrößten Oppositionspartei die Rechte von Millionen von Wählern in der Türkei verletzen würde. Zudem verstärke dies die Besorgnis der EU über den Rückschritt bei den Grundrechten in der Türkei und untergrübe die Glaubwürdigkeit des erklärten Engagements der türkischen Behörden für Reformen (EEAS 18.3.2021).
Nachdem das Verfassungsgericht am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (Zeit online 31.3.2021; vgl. AlMon 9.4.2021) verwiesen hatte, erfolgte am 7.6.2021 ein neuer Antrag zwecks Verbot der HDP, der Konfiszierung der Bankkonten der Partei sowie zwecks eines Politikverbots für mehrere Hundert Mitglieder der HDP (FAZ 8.6.2021; vgl. Duvar 7.6.2021a). Die 843-seitige Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes forderte, dass nunmehr 451 Personen aus der Politik verbannt werden. Außerdem sind 69 HDP-Mitglieder wegen ihrer vermeintlichen Pro-Terror-Aussagen in der Anklageschrift namentlich aufgeführt (HDN 10.6.2021). Am 21.6.2021 nahm das Verfassungsgericht einstimmig die Anklage an, ohne jedoch dem Begehr der Generalstaatsanwaltschaft nach Schließung der HDP-Parteikonten nachzukommen (Duvar 21.6.2021). Wie bereits im Juli 2021 (EP 8.7.2021, Pt. 2) verurteilte das Europäische Parlament "aufs Schärfste die vom Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts der Türkei eingereichte und vom Verfassungsgericht der Türkei im Juni 2021 einstimmig angenommene Anklageschrift, mit der die Auflösung der Partei HDP und der Ausschluss von 451 Personen vom politischen Leben, darunter die meisten derzeitigen Mitglieder der Führungsebene der HDP, angestrebt werden und durch die die betroffenen Personen daran gehindert werden, in den nächsten fünf Jahren irgendeiner politischen Tätigkeit nachzugehen" (EP 7.6.2022, S. 16, Pt. 23).
Für ein Verbot der HDP ist eine Zweidrittelmehrheit der 15 Richter erforderlich (FAZ 8.6.2021). Das Gericht kann je nach Schwere der Verstöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen. Im zweiten Fall kann es anordnen, die Unterstützung im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung teilweise oder vollständig zu versagen. Funktionären, wie in der Anklageschrift angestrebt, darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich politisch zu betätigen (SWP/Can 10.6.2021, S. 4). Am 5.1.2023 sperrte das türkische Verfassungsgericht die Bankkonten der (HDP) zunächst vorübergehend für 30 Tage (DW 6.1.2023), um am 9.3.2023 die Blockade der Konten wieder aufzuheben (Tagesspiegel 9.3.2023). Der Vorsitzende der ultranationalistische MHP, Devlet Bahçeli, Partner der regierenden AKP, bezeichnete daraufhin das Verfassungsgericht als "Hinterhof der separatistischen Terrororganisation", welcher "nicht das Gericht der türkischen Nation" sei (Duvar 11.3.2023). Laut staatlichem Fernsehen TRT sollte die HDP 27 Millionen Euro an staatlicher Parteienförderung für den Wahlkampf bekommen (DTJ 6.1.2023).
Das Verfassungsgericht verkündete Ende Jänner, dass es den Antrag der HDP auf Verschiebung des Verbotsverfahrens gegen die Partei abgelehnt habe und dass das Verfahren wie geplant fortgesetzt werde (HDN 26.1.2023). In einer für den 11.4.2023 anberaumten Anhörung machte die HDP von ihrem Recht auf eine Stellungnahme vor dem Verfassungsgericht keinen Gebrauch, da sie den Fall als politisch motiviert bezeichnete. Es gibt keine Frist für eine Entscheidung des Gerichts (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S. 4/FN 4).
Gewaltakte nicht-staatlicher Akteure gegen die HDP und ihre Vertreter
In Izmir hat ein Angreifer Mitte Juni 2021 ein Büro der Oppositionspartei HDP gestürmt und dabei eine Mitarbeiterin erschossen. Zur Tatzeit hätten sich eigentlich 40 Politiker darin befinden sollen. Der HDP-Ko-Vorsitzende Mithat Sancar sah auch die Regierung in der Verantwortung, weil diese durch ihre Daueranschuldigungen, wonach die HDP ein nationales Sicherheitsrisiko und verlängerter Arm der PKK sei, die Stimmung angeheizt hätte (AlMon 17.6.2021; vgl. Zeit online 17.6.2021). Am 14.7.2021 verübte ein später festgenommener Täter in der Stadt Marmaris mit einem Schrotgewehr einen Anschlag auf das HDP-Büro. Der Täter hatte 2018 schon einmal das HDP-Büro angegriffen (Bianet 14.7.2021; vgl. PIME-AN 15.7.2021). In Istanbul hat ein bewaffneter Mann Ende Dezember 2021 ein HDP-Büro angegriffen. Dabei seien laut HDP zwei Mitglieder der Partei verletzt worden. Der Angreifer wurde festgenommen (Zeit online 28.12.2021; vgl. Bianet 28.12.2021). Nicht identifizierte Personen verübten im Februar 2022 einen Angriff mit einem Molotowcocktail auf das Gebäude der HDP-Bezirksorganisation Yüreğir in Adana (Duvar 17.2.2022; Bianet 17.2.2022). Am 27.3.2022 gab es einen bewaffneten Angriff auf das Büro der HDP im Bezirk Erdemli in Mersin von einer oder mehreren unbekannten Personen, der Sachschaden im Büro verursachte (TİHV/HRFT 28.3.2022). Am 17.4.2022 wurde von Unbekannten ein Anschlag auf das HDP-Büro im Bezirk Çukurova in Adana verübt, bei dem Sachschaden entstand (TİHV/HRFT 18.4.2022). Mitunter kommt es zu physischen Attacken auf Vertreter und Vertreterinnen der HDP. So wurde im September 2021 die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları in Ankara angegriffen, als zwei Männer sich als "Zivilpolizisten" ausgaben und versuchten, in ihr Haus einzubrechen. In einer Pressekonferenz sagte Hatimoğulları, die Staatsanwaltschaft habe ihren Fall vor Gericht nicht anerkannt (WKI 28.9.2021).
Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023
Angesichts der Folgen des Erdbebens im Februar 2023 wurden von der Opposition entsandte Busse mit Hilfslieferungen gestoppt und erst in die Städte gelassen, nachdem sie mit Plakaten der staatlichen Präfekturen überklebt (FAZ 14.2.2023) oder deren LKWs mit Bannern der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD versehen worden waren (DW 17.2.2023). Die Opposition wurde diffamiert und an der Arbeit gehindert. So wurde etwa die Krisenzentrale der HDP im Epizentrum unter Zwangsverwaltung gestellt (DW 17.2.2023). Der zuständige Bezirksgouverneur von Pazarcık, Mustafa Hamit Kıyıcı, beschlagnahmte zusammen mit der Gendarmerie das HDP-Verteilungszentrum für Hilfsgüter mit dem Argument, wonach die staatliche Autorität gelten müsse (Duvar 16.2.2023), und die Verteilung durch die staatliche AFAD zu erfolgen habe (TM 16.2.2023). Laut der Ko-Vorsitzenden der HDP, Pervin Buldan, wurde Volontären überdies mit der Verhaftung gedroht (Duvar 16.2.2023).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_B3richt_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 6.11.2022 [Login erforderlich];
ANF - Firat News Agency (11.12.2023): Kurdische Politikerin Semra Güzel bleibt in Untersuchungshaft, https://anfdeutsch.com/frauen/kurdische-politikerin-semra-guzel-bleibt-in-untersuchungshaft-40171 , Zugriff 23.2.2024;
Ahval - Ahval (17.10.2022): Jailed Kurdish politician sentenced to 11 more years on terror charges, https://ahvalnews.com/leyla-guven/jailed-kurdish-politician-sentenced-11-more-years-terror-charges , Zugriff 22.2.2024 [Login erforderlich];
Ahval - Ahval (10.10.2022): Turkish governor's office says Kurdish MP injured by police staged attack, https://ahvalnews.com/hdp/turkish-governors-office-says-kurdish-mp-injured-police-staged-attack , Zugriff 22.2.2024 [Login erforderlich];
Ahval - Ahval (12.5.2022): Top Turkish court upholds jail term for opposition Istanbul chairwoman, https://ahvalnews.com/canan-kaftancioglu/top-turkish-court-upholds-jail-term-opposition-istanbul-chairwoman , Zugriff 22.2.2024 [Login erforderlich];
Ahval - Ahval (24.3.2022): Turkey issues arrest warrant for pro-Kurdish HDP deputy Semra Güzel, https://ahvalnews.com/hdp/turkey-issues-arrest-warrant-pro-kurdish-hdp-deputy-semra-guzel , Zugriff 22.2.2024 [Login erforderlich];
Ahval - Ahval (6.1.2022): Former HDP MP released after 5 years in jail, https://ahvalnews.com/kurdish-politicians/turkish-court-orders-release-kurdish-former-deputy , Zugriff 22.2.2024 [Login erforderlich];
Ahval - Ahval (6.11.2021): Erdoğan vows to save Turkey from 'PKK puppet' pro-Kurdish HDP, https://ahvalnews.com/hdp/erdogan-vows-save-turkey-pkk-puppet-pro-kurdish-hdp , Zugriff 22.2.2024 [Login erforderlich];
AlMon - Al Monitor (17.6.2021): Gunman kills woman volunteering for Turkey’s pro-Kurdish party, https://www.al-monitor.com/originals/2021/06/gunman-kills-woman-volunteering-turkeys-pro-kurdish-party , Zugriff 22.2.2024;
AlMon - Al Monitor (9.4.2021): Will Turkey’s third largest party survive closure case, https://www.al-monitor.com/originals/2021/04/will-turkeys-third-largest-party-survive-closure-case , Zugriff 2.3.2022;
AlMon - Al Monitor (14.7.2020): Another pro-Kurdish mayor replaced as detentions continue in southeast Turkey, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/07/hdp-mayor-replace-turkey-southeast.html , Zugriff 22.2.2024;
AlMon - Al Monitor (21.1.2020): Turkey attacks Kurdish protesters as world shrugs, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/08/protests-turkey-kurdish-mayors-police-brutality.html , Zugriff 23.2.2024;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (16.5.2022): Briefing Notes, Urteil im Fall der CHP-Politikerin Kaftancioglu/ DEVA-Politiker Gürcan erneut verhaftet, KW 20, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw20-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 22.2.2024;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (28.3.2022): Briefing Notes, Urteil des Verfassungsgerichtshofs im Fall der Abgeordneten Semra Güze, KW 13, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw13-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 22.2.2024;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (10.1.2022): Briefing Notes, Verfahren zur Aufhebung der Immunität von Abgeordneten, KW 2, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw02-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 22.2.2024;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (20.9.2021): Briefing Notes, KW 38, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw38-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 22.2.2024;
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (22.3.2021): Briefing Notes KW 12, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw12-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 22.2.2024;
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (12.4.2022): Kurdish Politicians among Dozens Sought by Turkey over 2014 Protests, https://balkaninsight.com/2022/04/12/kurdish-politicians-among-dozens-sought-by-turkey-over-2014-protests/ , Zugriff 22.2.2024;
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (1.2.2022): Turkey Violated Pro-Kurdish MPs’ Rights, European Court Rules, https://balkaninsight.com/2022/02/01/turkey-violated-pro-kurdish-mps-rights-european-court-rules/ , Zugriff 17.10.2023;
Bianet - Bianet (2.10.2023): HDP officials, members detained in raids in Istanbul, Krklareli, https://bianet.org/haber/hdp-officials-members-detained-in-raids-in-istanbul-kirklareli-285647 , Zugriff 23.2.2024;
Bianet - Bianet (8.11.2022): ECtHR: Arrest of 13 HDP deputies was 'politically motivated', https://bianet.org/english/politics/269659-ecthr-arrest-of-13-hdp-deputies-was-politically-motivated , Zugriff 22.2.2024;
Bianet - Bianet (18.10.2022): Former HDP deputy Gülser Yıldırım released four months after completing sentence, https://bianet.org/english/politics/268663-former-hdp-deputy-gulser-yildirim-released-four-months-after-completing-sentence , Zugriff 22.2.2024;
Bianet - Bianet (28.2.2022): Kobanî trial | ‘Forensic medical report on Aysel Tuğluk not signed by a neurologist’, https://m.bianet.org/english/law/258393-kobani-trial-forensic-medical-report-on-aysel-tugluk-not-signed-by-a-neurologist, Zugriff 22.2.2024;
Bianet - Bianet (17.2.2022): Armed attack on HDP Yüreğir office in Adana, https://bianet.org/english/politics/257859-armed-attack-on-hdp-yuregir-office-in-adana , Zugriff 22.2.2024;
Bianet - Bianet (28.12.2021): Attack on HDP office in İstanbul leaves two injured, https://bianet.org/english/human-rights/255441-attack-on-hdp-office-in-istanbul-leaves-two-injured , Zugriff 22.2.2024;
Bianet - Bianet (30.9.2021): Dismissed and arrested, Diyarbakır Co-Mayor Mızraklı acquitted of ‘terror propaganda’, https://m.Bianet.org/english/law/251077-dismissed-and-arrested-diyarbakir-co-mayor-mizrakli-acquitted-of-terror-propaganda, Zugriff 22.2.2024;
Bianet - Bianet (14.7.2021): Second armed attack on HDP in a month, https://Bianet.org/5/94/247237-second-armed-attack-on-hdp-in-a-month , Zugriff 22.2.2024;
Bianet - Bianet (9.3.2020): Ousted Diyarbakır Mayor Selçuk Mızraklı Handed Prison Sentence on 'Terrorism' Charges, https://Bianet.org/english/politics/221145-ousted-diyarbakir-mayor-selcuk-mizrakli-handed-prison-sentence-on-terrorism-charges , Zugriff 22.2.2024;
CoE-CM - Council of Europe - Committee of Ministers (2.12.2021): Interim Resolution CM/ResDH(2021)428, Execution of the judgment of the European Court of Human Rights, Selahattin Demirtaş v. Turkey (No. 2), https://search.coe.int/cm/pages/result_details.aspx?objectid=0900001680a4b407 , Zugriff 17.10.2023;
CoE-VC - Council of Europe - Venice Commission (19.6.2020): Venice Commission calls on government to repeal decisions that have undermined democratic self-government in South-East Turkey, https://rm.coe.int/09000016809ec13e , Zugriff 22.2.2024;
DS - Daily Sabah (3.4.2023): HDP trained prospective PKK terrorists in Türkiye: Confession, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/hdp-trained-prospective-pkk-terrorists-in-turkiye-confession , Zugriff 22.2.2024;
DS - Daily Sabah (31.3.2023): HDP sticks to pro-PKK stance under new name for Turkish vote, https://www.dailysabah.com/politics/elections/hdp-sticks-to-pro-pkk-stance-under-new-name-for-turkish-vote , Zugriff 22.2.2024;
DS - Daily Sabah (18.3.2021): Prosecutor's indictment notes no difference between HDP, PKK, https://www.dailysabah.com/politics/legislation/prosecutors-indictment-notes-no-difference-between-hdp-pkk , Zugriff 22.2.2024;
DS - Daily Sabah (30.12.2019): HDP uses offices as recruitment centers for PKK terrorists, Soylu says, https://www.dailysabah.com/war-on-terror/2019/12/30/hdp-uses-offices-as-recruitment-centers-for-pkk-terrorists-soylu-says , Zugriff 22.2.2024;
DTJ - Deutsch Türkisches Journal (6.1.2023): Türkei im Wahljahr: HDP-Konten gesperrt – Verbot nur noch Frage der Zeit?, https://dtj-online.de/tuerkei-im-wahljahr-hdp-konten-gesperrt-verbot-nur-noch-frage-der-zeit/ , Zugriff 22.2.2024;
DW - Deutsche Welle (13.6.2023): HDP'li Doğan Erbaş gözaltına alındı, https://www.dw.com/tr/hdpli-do%C4%9Fan-erba%C5%9F-g%C3%B6zalt%C4%B1na-al%C4%B1nd%C4%B1/a-65897127 , Zugriff 23.2.2024;
DW - Deutsche Welle (25.4.2023): 110 Festnahmen wegen angeblicher PKK-Kontakte in der Türkei, https://www.dw.com/de/110-festnahmen-wegen-angeblicher-pkk-kontakte-in-der-t%C3%BCrkei/a-65425573 , Zugriff 12.9.2023;
DW - Deutsche Welle (17.2.2023): Erdbeben in der Türkei: Verschiebt Erdogan die Wahlen?, https://www.dw.com/de/erdbeben-in-der-t%C3%BCrkei-verschiebt-erdogan-die-wahlen/a-64728183 , Zugriff 22.2.2024;
DW - Deutsche Welle (6.1.2023): Türkei: Kein Geld mehr für Kurdenpartei HDP, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-kein-geld-mehr-f%C3%BCr-kurdenpartei-hdp/a-64298462 , Zugriff 22.2.2024;
DW - Deutsche Welle (20.3.2021a): Gastkommentar: Erdogan will Millionen Kurden die Stimme nehmen, https://www.dw.com/de/gastkommentar-erdogan-will-millionen-kurden-die-stimme-nehmen/a-56934013 , Zugriff 22.2.2024;
DW - Deutsche Welle (20.8.2019): Türkei unterbindet Proteste gegen Bürgermeister-Entlassung, https://www.dw.com/de/t%C3%Bcrkei-unterbindet-proteste-gegen-b%C3%Bcrgermeister-entlassung/a-50102492 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (18.12.2023): Turkish authorities detain 2,906 DEM Party members in 2023, https://www.duvarenglish.com/turkish-authorities-detain-2906-dem-party-members-in-2023-news-63513 , Zugriff 23.2.2024;
Duvar - Duvar (15.12.2023): Court once again acquits Istanbul Mayor Imamoglu in ’insulting public official’ case, https://www.duvarenglish.com/court-once-again-acquits-istanbul-mayor-imamoglu-in-insulting-public-official-case-news-63499 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (26.4.2023): Turkish court acquits CHP Istanbul chair sued for calling Erdoğan 'dictator', https://www.duvarenglish.com/aid-packages-of-state-run-afad-spotted-at-family-minister-yaniks-election-bus-news-62283 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (5.4.2023): Former HDP MP İdris Baluken released from jail seven years later, https://www.duvarenglish.com/kilicdaroglu-imamoglu-hold-joint-rally-if-you-are-looking-for-real-vein-of-nationalism-that-is-us-news-62157 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (11.3.2023): Turkish far-right MHP leader Bahçeli deems Constitutional Court 'backyard of terrorist organization', https://www.duvarenglish.com/turkish-far-right-mhp-leader-bahceli-deems-constitutional-court-backyard-of-terrorist-organization-news-62006 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (16.2.2023): Turkish governor’s office takes over HDP quake aid center’s operations, https://www.duvarenglish.com/turkish-governors-office-takes-over-hdp-quake-aid-centers-operations-news-61855 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (25.12.2022): Interior Ministry files criminal complaint against Istanbul Municipality after 'terror' investigation, https://www.duvarenglish.com/interior-ministry-files-criminal-complaint-against-istanbul-municipality-after-terror-investigation-news-61645 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (8.12.2022b): HDP politicians indicted over Armenian Genocide remark: ‘Against national interests’, https://www.duvarenglish.com/hdp-politicians-indicted-over-armenian-genocide-remark-against-national-interests-news-61607 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (7.11.2022): Summary of proceedings launched against CHP MP for ‘chemical weapon’ remark, https://www.duvarenglish.com/summary-of-proceedings-launched-against-chp-mp-for-chemical-weapon-remark-news-61510 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (10.10.2022): Turkish governor’s office defends police violence against HDP MP: ‘Proportional force’, https://www.duvarenglish.com/turkish-governors-office-defends-police-violence-against-hdp-mp-proportional-force-news-61409 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (2.9.2022): Turkish police detain HDP MP Semra Güzel, https://www.duvarenglish.com/turkish-police-detain-hdp-mp-semra-guzel-news-61209 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (21.2.2022): Turkish court upholds jail sentence against Demirtaş for ‘insulting’ Erdoğan, https://www.duvarenglish.com/turkish-court-upholds-jail-sentence-against-demirtas-for-insulting-erdogan-news-60425 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (17.2.2022): Armed attack carried out on HDP district office in southern Adana, https://www.duvarenglish.com/armed-attack-carried-out-on-hdp-district-office-in-southern-adana-news-60399 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (21.6.2021): Turkish court accepts indictment seeking ban of pro-Kurdish HDP, https://www.duvarenglish.com/turkish-mafia-boss-says-he-was-warned-by-uae-not-to-share-videos-due-to-security-risks-news-57874 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (7.6.2021a): Turkey’s top prosecutor resubmits indictment for HDP's closure, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-prosecutor-resubmits-indictment-for-hdps-closure-news-57746 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (18.3.2021): Turkish prosecutor seeks political ban on 687 pro-Kurdish politicians, https://www.duvarenglish.com/turkish-prosecutor-seeks-political-ban-on-687-pro-kurdish-politicians-news-56691 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (7.1.2021): Turkish court accepts indictment against 108 people, including Demirtaş and Yüksekdağ, over Kobane protests, https://www.duvarenglish.com/turkish-court-accepts-indictment-against-108-people-including-former-hdp-co-chairs-demirtas-and-yuksekdag-over-kobane-protests-news-55777 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (14.12.2020): Prosecutors ask up to 10 years in jail for main opposition Istanbul chair after Erdoğan aide's complaint, https://www.duvarenglish.com/turkish-prosecutors-ask-up-to-10-years-in-jail-for-main-opposition-istanbul-chair-kaftancioglu-in-spat-over-erdogan-aide-fahrettin-altuns-illegal-construction-news-55468 , Zugriff 22.2.2024;
Duvar - Duvar (19.5.2020): EU's top diplomat criticizes Ankara for undermining local democracy after dismissal of more HDP mayors, https://www.duvarenglish.com/politics/2020/05/19/eus-top-diplomat-criticizes-ankara-for-undermining-local-democracy-after-dismissal-of-more-hdp-mayors/ , Zugriff 22.2.2024;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
EC - Europäische Kommission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 31.10.2023;
ECHR - European Court of Human Rights (8.11.2022): DEUXIÈME SECTION, AFFAIRE YÜKSEKDAĞ ŞENOĞLU ET AUTRES c. TÜRKİYE (Requête no 14332/17 et 12 autres requêtes – voir liste en annexe) - ARRÊT, https://hudoc.echr.coe.int/eng# {%22itemid%22:[%22001-220958%22]}, Zugriff 22.2.2024;
ECHR - European Court of Human Rights (14.9.2021): Pre-trial detention of the mayor of a city in south-east Turkey was unjustified and breached his right to freedom of expression ]ECHR 270 (2021)], https://hudoc.echr.coe.int/app/conversion/pdf/?library=ECHR&id=003-7116033-9638381&filename=Judgment%20Tuncer%20Bakirhan%20v.%20Turkey%20-%20%20pre-trial%20detention%20of%20mayor%20of%20a%20city%20in%20south-east%20Turkey%20on%20account%20of%20his%20activities%20and%20statements.pdf , Zugriff 22.2.2024;
EEAS - European Union / European External Action Service (18.3.2021): Turkey: Joint Statement by High Representative/Vice-President Josep Borrell and Neighbourhood and Enlargement Commissioner Olivér Várhelyi on latest actions regarding the Peoples’ Democratic Party (HDP), https://eeas.europa.eu/topics/migration/95243/turkey-joint-statement-high-representativevice-president-josep-borrell-and-neighbourhood-and_en , Zugriff 22.2.2024;
EP - Europäisches Parlament (13.9.2023): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2023 zu dem Bericht 2022 der Kommission über die Türkei (2022/2205(INI), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0320_DE.pdf , Zugriff 25.10.2023;
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023;
EP - Europäisches Parlament (8.7.2021): Unterdrückung der Opposition in der Türkei, insbesondere der HDP [PE695.990] - Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Juli 2021 zur Unterdrückung der Opposition in der Türkei, insbesondere der Demokratischen Partei der Völker (HDP) (2021/2788(RSP)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0360_DE.html , Zugriff 22.2.2024;
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 29.9.2023;
Evrensel - Evrensel (2.2.2022): ECHR has ruled that Turkey violated 40 HDP MPs' rights by lifting of their immunity, https://www.evrensel.net/daily/454074/echr-has-ruled-that-turkey-violated-40-hdp-mps-rights-by-lifting-of-their-immunity , Zugriff 22.2.2024;
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (25.4.2023): Mehr als 100 Festnahmen in der Türkei, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tuerkei-mehr-als-100-festnahmen-drei-wochen-vor-den-wahlen-18846753.html , Zugriff 22.2.2024;
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.2.2023): Zeig keine frierenden Kinder!, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/buelent-mumay-ueber-erdogans-versagen-in-der-erdbebenkatastrophe-18678310.html , Zugriff 21.2.2024;
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (1.6.2022): Türkische Oppositionspolitikerin wieder frei, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tuerkei-oppositionspolitikerin-kaftancioglu-wieder-frei-18072503.html , Zugriff 22.2.2024;
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.6.2021): Neuer Verbotsantrag gegen prokurdische HDP, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tuerkei-neuer-verbotsantrag-gegen-prokurdische-hdp-17378457.html , Zugriff 22.2.2024;
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.9.2020): Türkische Justiz geht gegen prokurdische HDP vor, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tuerkei-neue-repressionen-gegen-kurdische-politiker-16974129.html , Zugriff 22.2.2024;
FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2023 , Zugriff 28.4.2023;
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046544.html , Zugriff 20.2.2024;
FR - Frankfurter Rundschau (30.11.2023): Erdogan zu Politikverbots-Urteil: "Die türkische Justiz ist unabhängig", https://www.fr.de/politik/tuerkei-ostanbul-imamoglu-korruption-prozess-buergermeister-haft-politikverbot-zr-92704710.html , Zugriff 22.2.2024;
FR - Frankfurter Rundschau (21.8.2019): Erdogan nimmt Rache an kurdischen Bürgermeistern, https://www.fr.de/politik/rache-erdogans-12927195.html , Zugriff 22.2.2024;
HDN - Hürriyet Daily News (26.1.2023): Top court rejects HDP’s demand to postpone closure case, https://www.hurriyetdailynews.com/top-court-rejects-hdps-demand-to-postpone-closure-case-180422 , Zugriff 22.2.2024;
HDN - Hürriyet Daily News (1.10.2022): Prosecutors seek up to 15 years for HDP deputy, https://www.hurriyetdailynews.com/prosecutors-seek-up-to-15-years-for-hdp-deputy-177345 , Zugriff 22.2.2024;
HDN - Hürriyet Daily News (10.6.2021): Prosecutor demands 451 HDP members to be banned from politics, https://www.hurriyetdailynews.com/prosecutor-demands-451-hdp-members-to-be-banned-from-politics-165436 , Zugriff 22.2.2024;
HDP - People's Democratic Party - Halkların Demokratik Partisi (5.5.2023): Özdoğan: İktidarın şiddet bilançosu: Son 1 ayda 295 gözaltı ve 61 tutuklama [Özdogan Die Bilanz der Gewalt der Regierung: 295 Verhaftungen und 61 Festnahmen in den letzten 1 Monat], https://hdp.org.tr/tr/ozdogan-iktidarin-siddet-bilancosu-son-1-ayda-295-gozalti-ve-61-tutuklama/17359/ , Zugriff 22.2.2024;
HDP - People's Democratic Party - Halkların Demokratik Partisi (25.4.2023): A new stage in Erdogan’s election labyrinth: At least 110 journalists, politicians, artists, lawyers detained, https://hdpeurope.eu/2023/04/a-new-stage-in-erdogans-election-labyrinth-at-least-110-journalists-politicians-artists-lawyers-detained/ , Zugriff 22.2.2024;
HDP - People's Democratic Party - Halkların Demokratik Partisi (10.12.2022): Eren: 2015’ten beri partimize yönelik saldırılarda 16 bin kişi gözaltına alındı, 5 bin arkadaşımız tutuklandı [Eren: 2015’ten beri partimize yönelik saldırılarda 16 bin kişi gözaltına alındı, 5 bin arkadaşımız tutuklandı], https://hdp.org.tr/tr/eren-2015ten-beri-partimize-yonelik-saldirilarda-16-bin-kisi-gozaltina-alindi-5-bin-arkadasimiz-tutuklandi/16953/ , Zugriff 22.2.2024;
HDP - People's Democratic Party - Halkların Demokratik Partisi (18.5.2021): Systematic Oppression as the Basis for Erdogan’s ‘New Turkey’, https://hdpeurope.eu/2021/05/systematic-oppression-as-the-basis-for-erdogans-new-turkey/ , Zugriff 22.2.2024;
HDP - People's Democratic Party - Halkların Demokratik Partisi (18.11.2019): We urge Turkey's larger political opposition and the international democratic community to lose no time in acting against appointed trustees coup, https://www.hdp.org.tr/en/we-urge-turkeys-larger-political-opposition-and-the-international-democratic-community-to-lose-no-time-in-acting-against-appointed-trustees-coup/13722/ , Zugriff 22.2.2024;
HRW - Human Rights Watch (2.10.2020): Turkey: Politicians and Activists Detained, https://www.ecoi.net/de/dokument/2038516.html , Zugriff 22.2.2024;
IPU - Inter-Parliamentary Union (15.10.2022): 210th Session of the IPU Governing Council (Kigali, 15 October 2022) [CL/210/14(c)-R.1] - Türkiye, https://www.ipu.org/file/15415/download , Zugriff 22.2.2024;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General+COI+report+Turkiye+%28August+2023%29.pdf , Zugriff 13.11.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023;
MEE - Middle East Eye (31.5.2022): Turkey: Leading opposition figure jailed and then freed for insulting Erdogan, https://www.middleeasteye.net/news/turkey-leading-opposition-figure-jailed-insulting-erdogan , Zugriff 22.2.2024;
MEE - Middle East Eye (19.8.2019): Three pro-Kurdish mayors replaced in southeastern Turkey, https://www.middleeasteye.net/news/three-pro-kurdish-mayors-replaced-southeastern-turkey , Zugriff 22.2.2024;
MEI/Koontz - Koontz, Kayla (Autor), Middle East Institute (Herausgeber) (3.2.2020): Turkey’s Parliamentary Purge and the HDP’s Dilemma, https://www.mei.edu/sites/default/files/2020-02/Turkey%E2%80%99s%20Parliamentary%20Purge%20and%20the%20HDP%E2%80%99s%20Dilemma_Feb.%203%2C2020.pdf , Zugriff 22.2.2024;
Medya - MedyaNews (3.7.2022): MP Hişyar Özsoy speaks to Sarah Glynn on the eve of the HDP Congress, https://medyanews.net/mp-hisyar-ozsoy-speaks-to-sarah-glynn-on-the-eve-of-the-hdp-congress/ , Zugriff 22.2.2024;
Mezopotamya - Mezopotamya (27.4.2022): Acquitted 13 years ago, former HDP deputy sentenced to prison, http://mezopotamyaajansi35.com/en/search/content/view/169345?page=1&key=77957b1a8d902ba70aaa13d50b5ce83f , Zugriff 22.2.2024;
NTV - ntv Nachrichtenfernsehen GmbH (5.4.2023): "Zu Unrecht in Haft" Prokurdischer Politiker aus Haft in der Türkei entlassen, https://www.n-tv.de/incoming/Prokurdischer-Politiker-aus-Haft-in-der-Tuerkei-entlassen-article24035202.html , Zugriff 22.2.2024;
NZZ - Neue Zürcher Zeitung (7.1.2016): Erdogan verschärft den Ton gegenüber der HDP, https://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/erdogan-verschaerft-den-ton-gegenueber-hdp-abgeordneten-1.18673099 , Zugriff 22.2.2022;
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe / Office for Democratic Institutions and Human Rights (15.5.2023): Türkiye, General Elections, 14 May 2023: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/files/f/documents/6/2/543543.pdf , Zugriff 6.10.2023;
PIME-AN - PIME - Asia News (15.7.2021): Second opposition Kurdish HDP office targeted, http://www.asianews.it/news-en/Second-opposition-Kurdish-HDP-office-targeted-53646.html , Zugriff 22.2.2024;
REU - Reuters (18.3.2021): Turkey's move to shut pro-Kurdish party worries Western allies, https://www.reuters.com/article/uk-turkey-politics-kurds-idUKKBN2BA0S3 , Zugriff 22.2.2024 [Login erforderlich];
SCF - Stockholm Center for Freedom (13.6.2023): Turkey arrests 3 more Kurdish politicians - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/turkey-arrests-3-more-kurdish-politicians , Zugriff 23.2.2024;
SCF - Stockholm Center for Freedom (9.11.2022): ECtHR says Turkey arrested pro-Kurdish politicians to stifle pluralism, orders their release, https://stockholmcf.org/ecthr-says-turkey-arrested-pro-kurdish-politicians-to-stifle-pluralism-orders-their-release/ , Zugriff 22.2.2024;
SCF - Stockholm Center for Freedom (1.2018): Kurdish political movement under crackdown in Turkey The case of the HDP, https://stockholmcf.org/wp-content/uploads/2018/01/Kurdish-political-movement-under-crackdown-in-Turkey-The-case-of-the-HDP_Jan-28-2018.pdf , Zugriff 22.2.2024;
SWP/Can - Can, Osman (Autor), Stiftung Wissenschaft und Politik (Herausgeber) (10.6.2021): Der Antrag auf das Verbot der prokurdischen HDP beim türkischen Verfassungsgericht, SWP-Aktuell 2021/A 44, https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2021A44_HDP_Tuerkei.pdf ,%20Zugriff%202.3.2022https:/www.tagesspiegel.de/internationales/pro-kurdische-oppositionspartei-erhalt-doch-geld-turkisches-verfassungsgericht-hebt-blockade-von-hdp-parteikonten-auf-9475943.html, Zugriff 22.2.2024 [Login erforderlich];
SZ - Süddeutsche Zeitung (7.1.2021): Neue Anklage gegen Demirtaş, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-neue-anklage-gegen-demirtas-1.5167137 , Zugriff 22.2.2024;
Sabah - Sabah (26.1.2023): Eski Hakkari Belediye Başkanı HDP’li Cihan Karaman’a 10,5 yıl hapis cezası [Ehemaliger Bürgermeister von Hakkari, Cihan Karaman, zu 10,5 Jahren Gefängnis verurteilt], https://www.sabah.com.tr/gundem/2023/01/26/eski-hakkari-belediye-baskani-hdpli-cihan-karamana-105-yil-hapis-cezasi , Zugriff 22.2.2024;
Spiegel - Spiegel, Der (31.1.2024): Wegen regierungskritischer Proteste inhaftiert: Türkisches Parlament entzieht Menschenrechtsanwalt Mandat, https://www.spiegel.de/ausland/tuerkei-parlament-entzieht-menschenrechtsanwalt-can-atalay-mandat-a-8a59f973-5e64-499c-8d75-6f6e5945e0cb , Zugriff 23.2.2024;
TM - Turkish Minute (16.2.2023): District governor obstructs relief efforts by pro-Kurdish party at earthquake’s epicenter, https://www.turkishminute.com/2023/02/16/district-governor-obstruct-relief-effort-by-pro-kurdish-party-at-earthquakes-epicenter/ , Zugriff 23.2.2024;
TM - Turkish Minute (26.11.2020b): Turkey has removed 151 mayors on 'terror charges' since 2014: Interior Ministry, https://www.turkishminute.com/2020/11/26/turkey-has-removed-151-mayors-on-terror-charges-since-2014-interior-ministry/ , Zugriff 23.2.2024;
TM - Turkish Minute (25.11.2020): Erdoğan calls Demirtaş a 'terrorist', denies existence of a Kurdish problem in Turkey, https://www.turkishminute.com/2020/11/25/erdogan-calls-demirtas-a-terrorist-denies-existence-of-a-kurdish-problem-in-turkey/ , Zugriff 23.2.2024;
Tagesspiegel - Tagesspiegel (9.3.2023): Pro-kurdische Oppositionspartei erhält doch Geld: Türkisches Verfassungsgericht hebt Blockade von HDP-Parteikonten auf, https://www.tagesspiegel.de/internationales/pro-kurdische-oppositionspartei-erhalt-doch-geld-turkisches-verfassungsgericht-hebt-blockade-von-hdp-parteikonten-auf-9475943.html , Zugriff 22.2.2024;
TİHV/HRFT - Türkiye İnsan Hakları Vakfı / Human Rights Foundation Turkey (26.1.2023): 26 January 2023 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report (1/203), https://en.tihv.org.tr/documentation/26-january-2023-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 23.2.2024;
TİHV/HRFT - Türkiye İnsan Hakları Vakfı / Human Rights Foundation Turkey (19.4.2022): 19 April 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/19-april-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 23.2.2024;
TİHV/HRFT - Türkiye İnsan Hakları Vakfı / Human Rights Foundation Turkey (18.4.2022): 16 – 18 April 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/16-18-april-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 23.2.2024;
TİHV/HRFT - Türkiye İnsan Hakları Vakfı / Human Rights Foundation Turkey (28.3.2022): 26 – 28 March 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/26-28-march-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 23.2.2024;
UKHO - United Kingdom Home Office [United Kingdom] (10.2019): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17 June to 21 June 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPORT_2019.odt , Zugriff 31.10.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
WKI - Washington Kurdish Institute (28.9.2021): Kurdistan’s Weekly Brief September 28, 2021 – Turkey, https://dckurd.org/2021/09/28/kurdistans-weekly-brief-september-28-2021/ , Zugriff 23.2.2024;
WZ - Wiener Zeitung (25.4.2023): Neue Verhaftungswelle in der Türkei, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2186365-Neue-Verhaftungswelle-in-der-Tuerkei.html , Zugriff 23.2.2024;
Zeit online - Zeit online (28.12.2021): Zwei Verletzte bei Angriff auf Büro der HDP in Istanbul, https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-12/tuerkei-istanbul-hdp-buero-angriff , Zugriff 23.2.2024;
Zeit online - Zeit online (17.6.2021): Eine Tote bei Angriff auf Büro der pro-kurdischen HDP, https://www.zeit.de/politik/2021-06/tuerkei-hdp-kurdisch-oppositionspartei-angriff-tote , Zugriff 23.2.2024;
Zeit online - Zeit online (31.3.2021): Türkei: Verfassungsgericht gibt HDP-Verbotsklage zurück, https://www.zeit.de/news/2021-03/31/tuerkei-verfassungsgericht-gibt-hdp-verbotsklage-zurueck , Zugriff 23.2.2024;
Zeit online - Zeit online (23.6.2020): Türkisches Gericht bestätigt Urteil gegen Oppositionspolitikerin, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/canan-kaftancioglu-tuerkei-oppositionspolitikerin-chp-haststrafe-gericht-bestaetigung-urteil , Zugriff 23.2.2024;
Zeit online - Zeit online (24.3.2020): Acht Bürgermeister der prokurdischen HDP abgesetzt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/tuerkei-buergermeister-hdp-pro-kurdisch-terrorvorwuerfe-razzien , Zugriff 23.2.2024;
Zeit online - Zeit online (19.8.2019): Recep Tayyip Erdoğan setzt drei prokurdische Bürgermeister ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/tuerkei-buergermeister-hdp-amtsenthebung-kurden-opposition , Zugriff 23.2.2024;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (18.3.2021): Türkei: Repressionsmaßnahmen gegen HDP, per E-Mail;
11. Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland
Letzte Änderung 2024-03-05 11:06
Der UN-Menschenrechtsrat veröffentlichte Mitte September 2020 einen Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien, wonach letztere Informationen erhielt, die darauf hindeuten, dass syrische Staatsangehörige, darunter auch Frauen, die von der (pro-türkischen) Syrischen Nationalarmee (SNA) in der Region Ra's al-'Ayn festgenommen wurden, anschließend von türkischen Streitkräften in die Türkei überstellt, und dort nach türkischem Strafrecht wegen vermeintlicher Verbrechen in der syrischen Region Ra's al-'Ayn angeklagt wurden, unter anderem wegen Mordes oder der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Kommission stellte ferner fest, dass die Überstellung von Syrern, die von der SNA inhaftiert wurden, auf türkisches Hoheitsgebiet dem Kriegsverbrechen der unrechtmäßigen Deportation geschützter Personen gleichkommen kann (UNHRC 14.8.2020). Sowohl Araber als auch Kurden wurden zwischen Oktober und Dezember 2019 im Nordosten Syriens festgenommen, nachdem die Türkei nach ihrem Einmarsch in Nordsyrien die effektive Kontrolle über das Gebiet übernommen hatte (HRW 3.2.2021). Die Verhaftungen erfolgten hauptsächlich in den Vororten von Tell Abyad und Ra's al-'Ayn. Bei den Betroffenen handelte es sich auch um Personen, die für die Institutionen der Autonomieverwaltung arbeiteten, und andere, die keinerlei militärische oder politische Verbindungen zu dieser hatten. Unter den in die Türkei Überstellten befanden sich auch Kämpfer der Volksschutzeinheiten (YPG) und der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (STJ 10.7.2020; vgl AlMon 14.5.2020). Die Gefangenen wurden in das Hochsicherheitsgefängnis in Hilvan in der türkischen Provinz Şanlıurfa transferiert (AlMon 14.5.2020; vgl. HRW 3.2.2021). Bereits Ende April 2020, anlässlich der Überstellung von 90 festgenommenen Syrern in die Türkei, richteten 41 Organisationen einen Appell an den UN-Generalsekretär und an die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, u.a. willkürliche Gerichtsverfahren zu verhindern und die Freilassung bzw. Rückkehr der Gefangenen zu erwirken (STJ 10.7.2020). Human Rights Watch geht davon aus, dass (Stand: Jahresbeginn 2021) bis zu 200 Syrer in Syrien festgenommen und in die Türkei verbracht wurden. Im Oktober 2020 wurden 63 Syrer vom Schwurgericht in Şanlıurfa verurteilt, fünf von ihnen zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit auf Begnadigung (HRW 3.2.2021). Ähnliche Urteile folgten 2021. So wurde am 23.3.2021 ein weibliches Mitglied der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Dozgin Temmo, bekannt als Cicek Kobani, von einem türkischen Gericht zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt (NPA 24.3.2021). Im Juni 2021 wurden drei Mitglieder des sog. Militärrats der Suryoye (MFS), einer christlichen, assyrischen-aramäischen Miliz der SDF, die 2019 von pro-türkischen Kämpfern in Nordsyrien festgenommen worden waren, von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt (Rudaw 30.6.2021). Laut Aussagen des Vorsitzenden der Menschenrechtsvereinigung (İHD) in Urfa kommt es weiterhin zu Misshandlungen und Folter von syrischen Kurden, welche illegal in die Türkei verbracht und verurteilt wurden. Es gibt keine offiziellen Zahlen, aber nach Angaben von İHD und Anwälten befinden sich insgesamt 128 Gefangene in den Gefängnissen von Urfa und Hatay. Neben dem Besuchsrecht haben Häftlinge normalerweise das Recht, zehn Minuten pro Tag zu telefonieren. Die Gefangenen aus Nordostsyrien können jedoch keines dieser Rechte in Anspruch nehmen (Medya 24.3.2022). In diesem Sinne berichtete die von den Vereinten Nationen eingesetzte "Unabhängige Internationale Untersuchungskommission" im September 2022, dass auch Familienangehörige von in die Türkei überstellten Gefangenen keine Informationen über deren Verbleib erhalten hatten (UNHRC 14.9.2022, S. 12, Pt. 70).
Das Europäische Parlament verurteilt in einer Entschließung vom März 2021, "dass die Türkei kurdische Syrer aus dem besetzten Nordsyrien zum Zwecke der Inhaftierung und Strafverfolgung rechtswidrig in die Türkei überführt und dadurch gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes im Rahmen der Genfer Konventionen verstößt; fordert nachdrücklich, dass alle syrischen Häftlinge, die in die Türkei verbracht wurden, unverzüglich in die besetzten Gebiete in Syrien zurückgeführt werden" (EP 11.3.2021, Pt. 7). Im Juni 2022 verurteilte das EP, "dass die Türkei syrische Staatsangehörige weiterhin illegal in die Türkei verbringt, um sie dort wegen Terrorismus anzuklagen, was eine lebenslange Haftstrafe zur Folge haben kann" (EP 7.6.2022, S. 27, Pt. 46).
Die pro-kurdische Nachrichten Agentur NPA meldete auch im Herbst 2023, dass die türkischen Behörden in Zusammenarbeit mit der von der Türkei unterstützten Militärpolizei der Syrischen Nationalarmee (SNA) sieben Gefangene aus der Stadt Ra's al-'Ain (kurd.: Sere Kaniye) im Norden Syriens im Oktober 2023 in ein Gefängnis in der türkischen Provinz Urfa verlegt hatten. Ebenso seien zuvor im September mindestens zweimal syrische Gefangene aus Ra's al-'Ain auf türkisches Hoheitsgebiet verbracht worden, was laut NPA einen Verstoß gegen die Vierte Genfer Konvention darstelle (NPA 12.10.2023).
Quellen
AlMon - Al Monitor (14.5.2020): Syrians held in Turkish prison 'in breach of international law,' advocates say, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/05/syria-turkey-detainees-prison-breach-international-law.html , Zugriff 25.10.2023;
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023;
EP - Europäisches Parlament (11.3.2021): Der Konflikt in Syrien: 10 Jahre nach dem Aufstand - Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. März 2021 zu dem Konflikt in Syrien zehn Jahre nach dem Aufstand (2021/2576(RSP)) [P9_TA(2021)0088], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0088_DE.pdf , Zugriff 25.10.2022;
HRW - Human Rights Watch (3.2.2021): Illegal Transfers of Syrians to Turkey, https://www.hrw.org/news/2021/02/03/illegal-transfers-syrians-turkey , Zugriff 20.9.2023;
Medya - MedyaNews (24.3.2022): What happened to Afrin Kurds Imprisoned in Turkey, https://medyanews.net/what-happened-to-afrin-kurds-imprisoned-in-turkey/ , Zugriff 25.10.2023;
NPA - North Press Agency (12.10.2023): Turkey transfers 7 detainees from Syria’s Sere Kaniye to Urfa, https://npasyria.com/en/106100 , Zugriff 18.1.2024;
NPA - North Press Agency (24.3.2021): Turkey sentences Syrian Kurdish SDF member to life imprisonment, https://npasyria.com/en/56509/ , Zugriff 25.10.2023;
Rudaw - Rudaw Media Network (30.6.2021): Three Syriac fighters from Rojava sentenced to life terms in Turkey, https://www.rudaw.net/english/middleeast/30062021 , Zugriff 25.10.2023;
STJ - Syrians for Truth and Justice (16.7.2021): Illegal transfer of Dozens of Syrian detainees into Turkey following Operation Peace Spring - Syrians for Truth and Justice, https://stj-sy.org/en/illegal-transfer-of-dozens-of-syrian-detainees-into-turkey-following-operation-peace-spring/#_ftnref11 , Zugriff 25.10.2023;
UNHRC - United Nations Human Rights Council (14.9.2022): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [A/HRC/51/45], https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G22/463/09/PDF/G2246309.pdf?OpenElement , Zugriff 24.10.2023;
UNHRC - United Nations Human Rights Council (14.8.2020): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [A/HRC/45/31], https://www.ecoi.net/en/file/local/2037646/A_HRC_45_31_E.pdf , Zugriff 25.10.2023;
12. Haftbedingungen
Letzte Änderung 2024-03-07 13:55
Zustand der Gefängnisse und externe Überprüfung
Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 14). Die Haftbedingungen sind, abhängig vom Alter, Typ und Größe usw. unterschiedlich. In vielen türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Bei Überbelegung einzelner Haftanstalten kann es zu Einschränkungen in der gesundheitlichen Versorgung sowie der Infrastruktur der Haftanstalt kommen (AA 28.7.2022, S. 18; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 14).
Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund gravierender Menschenrechtsverletzungen, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u. a. die Einrichtungen in: Ankara Sincan (Strafvollzugsanstalt für Frauen), Amasya, Aksaray, Kayseri, Malatya, Mersin Tarsus (geschlossene Strafvollzugsanstalt für Frauen) und Van (Hochsicherheitsgefängnis). Die Strafvollzugsanstalten in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa sind wiederum chronisch überbelegt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 14f.).
Die Gefängnisse erfüllen im Allgemeinen die baulichen Standards, d.h. Infrastruktur und Grundausstattung, aber erhebliche Probleme mit der Überbelegung führen in vielen Gefängnissen zu Bedingungen, die nach Ansicht des Europäisches Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, kurz: Anti-Folter-Komitee (Committee for the Prevention of Torture - CPT) des Europarats als unmenschlich und erniedrigend angesehen werden können (USDOS 20.3.2023a, S. 9). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem CPT des Europarats besucht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 14), allerdings wurde der letzte CTP-Bericht von 2021 nicht veröffentlicht (USDOS 20.3.2023a). Im September 2022, beispielsweise, zeigten sich Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem Besuch besorgt wegen der Lebensbedingungen in Hafteinrichtungen, einschließlich der Überbelegung, sowie über die Situation von Migranten in Abschiebezentren (OHCHR 21.9.2022).
Die Regierung gestattet es unabhängigen NGOs nicht, Gefängnisse zu inspizieren (USDOS 20.3.2023a, S. 11; vgl. OMCT 2022). NGOs, wie die World Organisation Against Torture (OMCT), orten ein Fehlen einer unabhängigen Überwachung der türkischen Gefängnisse, wodurch die Situation in diesen Gefängnissen verschleiert wird. Hinzu kommt, dass die verfügbaren nationalen Mechanismen wie die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (engl.: HREI bzw. türk.: TİHEK), die die Türkei als nationalen Präventionsmechanismus (NPM) im Rahmen des OPCAT eingerichtet hatte, und die 2011 eingerichteten Gefängnisüberwachungsausschüsse, aufgrund der Defizite bei den Nominierungsverfahren der Mitglieder und des Mangels an politischer Unabhängigkeit sowie einer soliden Methodik, unwirksam sind (OMCT 2022). Auch die Europäische Kommission charakterisierte die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen als weitgehend wirkungslos und speziell die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung als nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt. Obwohl mit der Rolle des Nationalen Präventionsmechanismus (NPM) betraut, erfüllt die HREI/TİHEK nicht die wichtigsten Anforderungen des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (OPCAT) und hat Fälle, die an sie verwiesen wurden, nicht wirksam bearbeitet (EC 8.11.2023, S. 30f.).
Häftlingsstatistik
In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, S. 38). Zum 1.2.2024 gab es insgesamt 403 Strafvollzugsanstalten, darunter 272 geschlossene und 99 offene Strafvollzugsanstalten, vier Kindererziehungszentren, zehn geschlossene und acht offene Frauenvollzugsanstalten, und neun geschlossene Jugendvollzugsanstalten. Die Kapazität dieser Anstalten betrug 295.702 Plätze (ABC-TGM 1.2.2024). Die tatsächliche Zahl der Insassen betrug laut Justizministerium mit Stand 2.1.2024: 292.282 (Dez. 2022 336.315), davon waren 15,6 % Untersuchungshäftlinge (nur "pre-trial"). Mit 1.2.2024 wurden 340 Inhaftierte pro 100.000 Einwohner gezählt [zum Vergleich: Österreich: 98]. Die Belegung betrug mit Ende des Jahres 2022 117,8 % (ICPR 1Q.2024).
Menschenrechtsverletzungen
Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EP 7.6.2022, S. 19f., Pt. 32; vgl. EC 8.11.2023, S. 31, ÖB Ankara 28.12.2023, S. 15). Bildungs-, Rehabilitations- und Resozialisierungsprogramme blieben begrenzt (EC 8.11.2023, S. 31). Praktiken wie das Verprügeln von Gefangenen aus verschiedenen Gründen, wie z.B. wegen Verweigerung der Leibesvisitation, ärztlicher Untersuchung in Handschellen, erzwungener Anwesenheit bei ständigen Appellen oder die Titulierung von Personen, die wegen politischer Vergehen inhaftiert wurden, als "Terroristen" und das Verprügeln aus diesem Grund haben der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" İHD zufolge ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht (İHD/HRA 6.11.2022a, S. 14). Laut Rechtsanwaltskammer Ankara sollen Festgehaltene in der Polizeidirektion Ankara regelmäßig Leibesvisitationen, Folter und Misshandlungen ausgesetzt sein (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 15). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt (DIS 31.3.2021, S. 1; İHD/HRA 6.11.2022a, S. 14). NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBT-Personen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, S. 1). 2022 kam es in einigen Gefängnissen zu Hungerstreiks, um ein Ende der Verletzungen der Rechte der Häftlinge zu erwirken (EC 12.10.2022, S. 34; vgl. İHD/HRA 6.11.2022a, S. 15). Immer wieder soll es auch vorkommen, dass Inhaftierten das Recht verweigert wird, aufgrund guter Führung auf freien Fuß gesetzt oder in den offenen Strafvollzug verlegt zu werden. Rechtsanwaltskammern und NGOs bemängeln, dass die seit November 2021 zur entsprechenden Beurteilung eingesetzten Anstaltsverwaltungen und Überwachungsausschüsse intransparente Beschlüsse fassen und keiner ausreichenden externen Kontrolle unterliegen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 15).
Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung sowie über den Umstand beschwert, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, S. 1; EC 8.11.2023, S. 26). Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der "Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens" darstellt (EC 6.10.2020, S. 32). Eines der prominentesten Beispiele ist der ehemalige Ko-Vorsitzende der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker - HDP, der seit 2016 im Gefängnis von Edirne in der Westtürkei sitzt, dass sich über 1.700 von seiner Heimatstadt Diyarbakır befindet (Stand: Feb. 2024). Seine Frau Başak Demirtaş muss jede Woche 3.500 Kilometer für einen einstündigen Besuch zurücklegen (3Sat 6.5.2023; vgl. DTJ 4.12.2020).
Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 20.3.2023a, S. 9; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z. B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, S. 29). Außerdem weisen zwei Quellen des niederländischen Außenministeriums darauf hin, dass einige Ärzte sich weigerten, tatsächliche oder angebliche Gülenisten und PKK-Mitglieder zu behandeln, aus Angst, mit der PKK oder der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht zu werden (MBZ 2.3.2022, S. 30; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 10). Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 20.3.2023a, S. 10).
Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter Übergriffen, darunter lange Einzelhaft, unnötige Entkleidungen und Leibesvisitationen, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Gefängnis-Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung. Berichten zufolge waren auch Besucher von Häftlingen mit Terrorismusbezug Übergriffen, wie Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter, ausgesetzt. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 20.3.2023a, S. 23). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, S. 19).
Ein Problem bei der strafrechtlichen Prüfung von Verdachtsfällen bleibt die Nachweisbarkeit von Folter und Misshandlungen. Menschenrechtsorganisationen zufolge wird Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert, sodass eine unabhängige Überprüfung nur schwer möglich ist (AA 28.7.2022, S. 17).
Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft (CoE-CPT 5.8.2020), denn seit Januar 2004 gilt die Regelung, dass außer auf Verlangen des Arztes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Personen in Gewahrsam bzw. Haft anwesend sein dürfen (AA 28.7.2022, S. 17). Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei Weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden zu sein (CoE-CPT 5.8.2020).
Laut der Menschenrechtsvereinigung (İHD) ist eines der größten Probleme in den türkischen Gefängnissen die Verletzung der Rechte kranker Gefangener. Die İHD konnte mit Stand Ende April 2022 1.517 kranke Gefangene dokumentieren. 651 von ihnen sollen sich in einem schlechten Zustand befunden haben. Und 2021 starben mindestens 52 Personen in Haft (İHD/HRA 6.2022, S. 10, 13).
Kurdische Häftlinge
Es gibt weiterhin Probleme wie beispielsweise die behördliche Ablehnung von Anträgen auf Verlegung seitens der Häftlinge (meist wegen der großen Distanz zum Heimatort bzw. zur Familie) und umgekehrt die Praxis der Zwangsverlegung entgegen den Forderungen der Gefangenen. Laut der NGO CİSST kam es auch 2021 zu Zwangsverlegungen, die mit dem Ausnahmezustand begannen und zu einem Mittel der Misshandlung und Diskriminierung insbesondere kurdischer politischer Gefangener einsetzten (CİSST 26.12.2022, S. 26). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren, und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, S. 30, 68; vgl. İHD/HRA 6.2022, S. 23). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, sofern diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, S. 30; 68) sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, S. 30; 68; vgl. S. 7, SCF 26.11.2020). Beispielsweise beschwerten sich 13 Insassen des Frauengefängnisses in Van in einem Brief an einen Parlamentsabgeordneten der pro-kurdischen HDP, dass ihre Notizbücher - nebenbei auch kurdische Novellen und Gedichtsammlungen - mit dem Argument beschlagnahmt wurden, dass die Gefängnisverwaltung keinen Kurdisch-Türkisch-Dolmetscher habe (Duvar 23.11.2020). Kurden, die im Westen des Landes inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, S. 55). Ende August 2021 wurde die ehemalige HDP-Abgeordnete, Leyla Güven, mit Disziplinarmaßnahmen belegt, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde deswegen ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ein einmonatiges Verbot von Telefongesprächen und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021a).
Hochsicherheitsgefängnisse
In den Hochsicherheitsgefängnissen, einschließlich der F-Typ-, D-Typ- und T-Typ-Gefängnisse, sind Personen untergebracht, die wegen Verbrechen im Rahmen des türkischen Anti-Terror-Gesetzes verurteilt oder angeklagt wurden, Personen, die zu einer schweren lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und Personen, die wegen der Gründung oder Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt oder angeklagt wurden oder im Rahmen einer solchen Organisation aufgrund eines der folgenden Abschnitte des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt oder angeklagt wurden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Drogenherstellung und -handel, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und deren Funktionieren. Darüber hinaus können Gefangene, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, gegen die Ordnung verstoßen oder sich Rehabilitationsmaßnahmen widersetzen, in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden (DIS 31.3.2021, S. 11-13).
Die seit dem Jahr 2000 eingeführte Praxis, Häftlinge in kleinen Gruppen oder einen einzelnen Häftling in Isolationshaft zu halten - eine Praxis, die insbesondere in F-Typ-Gefängnissen zu beobachten ist - hat rasant zugenommen, was die physische und psychische Integrität der Häftlinge ernsthaft beeinträchtigt (TOHAV/CİSST/ÖHD 1.7.2019, S. 4). Bei Anklage oder Verurteilung wegen organisierter Kriminalität oder Terrorismus wird der Zugang zu Nachrichten und Büchern verwehrt (UKHO 10.2019, S. 70). Viele HDP-Mitglieder oder deren hochrangige Persönlichkeiten befinden sich in der Türkei in Gefängnissen der F-Kategorie, in denen die Menschen entweder in Isolation oder mit maximal zwei anderen Personen interniert sind. Sie dürfen nur andere HDP-Mitglieder oder Unterstützer sehen (UKHO 10.2019, S. 36). Laut den türkischen Soziologen Çağatay und Bekiroğlu basieren F-Typ-Gefängnis auf Isolation, Trennung und Reduzierung mit strengen Regeln und Vorschriften. Jede Zelle ist als ein isolierter und separater Ort mit seiner reduktiven Logik. Das Hauptmerkmal der F-Typ-Gefängnisse ist mitunter seine Architektur, die darauf abzielt, jede Art von Kommunikation zwischen den Insassen der verschiedenen Zellen zu verhindern. In diesem Sinne sind gemäß Çağatay und Bekiroğlu F-Typ-Gefängnisse ein direkter Angriff auf die soziale Existenz der Gefangenen (ACCORD 5.4.2023, S. 38).
Die neuen Sicherheitsgefängnisse des Typs S führen zu einer verstärkten Isolation der Insassen. Gemeinsame Aktivitäten blieben begrenzt und willkürlich. Die Verlegung in abgelegene Gefängnisse wurde fortgesetzt, manchmal ohne Vorwarnung. Solche Verlegungen wirkten sich negativ auf Familienbesuche aus, insbesondere für arme Familien und jugendliche Gefangene (EC 8.11.2023, S. 31).
Isolationshaft
Die Einzelhaft wird durch das Strafvollzugsgesetz geregelt, das eine Vielzahl von Handlungen festlegt, die mit Einzelhaft disziplinarisch geahndet werden können. Das Gesetz legt außerdem eine Obergrenze von 20 Tagen Einzelhaft fest. Das CPT betonte allerdings, dass diese Höchstdauer überhöht ist, und nicht mehr als 14 Tage für ein bestimmtes Vergehen betragen sollte (DIS 31.3.2021, S. 26). Zur vermehrten Verhängung der Einzelhaft kommt es in den 14 F-Typ-, 13 Hochsicherheits- und fünf S-Typ-Gefängnissen (İHD/HRA 6.2022, S. 21). Bei der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) machten 2020 die Beschwerden hinsichtlich der Verhängung der Einzelhaft rund 11 % aller Gefängnisbeschwerden aus. Laut der türkischen NGO CİSST gibt es Fälle, in denen die Isolationshaft die gesetzlichen 20 Tage überschritten hat. Die İHD merkte an, dass Isolationshaft über Monate hinweg gegen Untersuchungshäftlinge verhängt werden kann, wenn gegen sie ein Verfahren läuft, welches eine erschwerte lebenslängliche Haftstrafe nach sich zieht. Darüber hinaus betrachtet es die İHD als Isolation, wenn Gefangene, einschließlich der zu schwerer lebenslanger Haft Verurteilten, in Hochsicherheitsgefängnissen des Typs F keine Gemeinschaftsräume nutzen dürfen bzw. nur für eine Stunde pro Woche (DIS 31.3.2021, S. 26). In einigen Gefängnissen wurden verschiedene Gruppen von Gefangenen ohne rechtliche Begründung in Einzelzellen verlegt. In einigen Fällen wurden sogar Gefangene mit einem ärztlichen Gutachten, dem zufolge sie nicht in Einzelhaft untergebracht werden können, in Ein-Personen-Zellen gesperrt (CİSST 26.3.2021, S. 25). Angehörige sexueller Minderheiten werden als Häftlinge de facto isoliert. Laut Informationen der NGO CİSST werden LGBTI+-Gefangene in speziellen Räumen oder Abteilungen untergebracht. LGBTI+-Gefangene können nicht von sozialen und körperlichen Aktivitäten profitieren, die andere Gefangene nutzen können. In einigen Gefängnissen können Transfrauen/Transmänner oder schwule/bisexuelle männliche Gefangene in eigenen Abteilungen untergebracht werden, wenn die Anzahl und die Bedingungen ausreichend sind. CİSST wurde jedoch von Betroffenen berichtet, dass männliche transsexuelle Gefangene unter allen Umständen de facto isoliert wurden, unabhängig davon, ob sie in Frauen- oder Männergefängnissen untergebracht waren. Diese Gefangenen gaben auch an, dass sie aufgrund ihrer Geschlechtsidentität Gewalt durch die Gefängnisverwaltung und das Personal ausgesetzt waren (CİSST 26.12.2022, S. 57). Im Mai 2021 forderte das Europäische Parlament "die Türkei auf, alle Isolationshaft und die Inhaftierung in inoffiziellen Haftanstalten zu beenden" (EP 19.5.2021).
Frauen
Mit Stand Anfang Februar 2024 gab es in der Türkei 12.062 oder 4,1 % weibliche Gefangene, was nahezu eine Verdoppelung zum Jahr 2015 (6.289 weibliche Insassen bzw. 3,6 %) ausmachte (ICPR 1Q.2024 ). Diese Häftlinge sind in zehn geschlossenen und sieben offenen Gefängnissen für Frauen sowie in vielen anderen Haftanstalten in Frauenabteilungen untergebracht (İHD/HRA 6.2022, S. 34). Laut der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" (İHD) sind Gefängnisse einer der Orte, an denen Frauen Gewalt, Folter und Misshandlung ausgesetzt sind. Weibliche Häftlinge werden beleidigt, bedroht, körperlich gequält und misshandelt, und zwar sowohl von Justizvollzugsbeamten und Verwaltungsangestellten innerhalb der Einrichtung als auch von den Strafverfolgungsbehörden bei der Verlegung in Krankenhäuser und Gerichtsgebäude (İHD/HRA 2.8.2022, S. 3). Die Leibesvisitation ist eines der Hauptprobleme bei Vorwürfen von Folter und Misshandlung. Die Antragsteller geben an, dass die erzwungene Leibesvisitation manchmal auf eine körperliche Untersuchung hinausläuft, während Gefangene, die sich der Leibesvisitation widersetzen, geschlagen, gefoltert oder disziplinarisch bestraft werden (İHD/HRA 6.2022, S. 35). Das Versäumnis, Ermittlungen gegen diese Gewalttäter einzuleiten, welche Straffreiheit genießen, ebnet der İHD zufolge den Weg für eine Eskalation der Zahl solcher Fälle (İHD/HRA 2.8.2022, S. 3).
Kinder und Minderjährige
In der Türkei beginnt die Strafmündigkeit im Alter von zwölf Jahren. Zu den Kinderhäftlingen gehören demnach Gefangene im Alter von zwölf bis 18 Jahren. Kindergefangene werden in Jugend- und Jugendstrafvollzugsanstalten, Jugendstrafanstalten und bei Überkapazität in Jugendabteilungen von Erwachsenengefängnissen untergebracht. Neben den Kindern, die wegen eines Konflikts mit dem Gesetz inhaftiert sind, gibt es in türkischen Gefängnissen auch Kinder im Alter von null bis sechs Jahren, die aufgrund der Urteilsakten ihrer Mütter inhaftiert sind. Diese Kinder sind zusammen mit ihren Müttern in geschlossenen Frauengefängnissen oder in Frauenabteilungen von Männergefängnissen untergebracht (CİSST 26.12.2022, S. 43).
Einer der allgemeinen Kritikpunkte, z.B. der Civil Society in the Penal System Association (CİSST), ist der Umstand, dass der Zugang zu jugendlichen Strafgefangenen aufgrund der Politik des Staates im Bereich der Zivilgesellschaft und der Strafjustiz sehr eingeschränkt ist. Das Fehlen einer unabhängigen Überwachung durch nicht-staatliche oder professionelle Organisationen sowie die Tatsache, dass jugendliche Häftlinge nur eine sehr eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeit mit der Außenwelt haben, und der fehlende Zugang zu einer auf Rechten basierenden Unterstützung im Gefängnis selbst führen dazu, dass Rechtsverletzungen in den Gefängnissen nicht aufgedeckt und daher nicht verhindert werden (CİSST 6.2022, S. 7, 16).
Insgesamt waren mit Stand Frühjahr 2021 offiziell 2.076 Kinder zwischen zwölf und 18 Jahren in vier Erziehungsanstalten für Kinder und acht geschlossenen Strafvollzugsanstalten für Kinder inhaftiert (İHD/HRA 6.2022, S. 34). Obwohl der Aktionsplan der Regierung darauf abzielte, das Jugendstrafsystem mit Methoden zu verbessern, die das Kind aus dem Strafvollzug herausführen, wurde CİSST zufolge in der Praxis keine Verbesserung festgestellt. - Der Rückgang der Zahl der jugendlichen Gefangenen im Jahr 2021 war auf Änderungen der Vollzugsgesetze unter dem Einfluss des Coronavirus zurückzuführen. Jeder Tag, den Jugendliche im Alter von 12-15 Jahren im Gefängnis verbracht hatten, wurde als drei Tage, und jeder Tag, den Jugendliche im Alter von 15-18 Jahren im Gefängnis verbrachten, doppelt gezählt. Während dies für viele Kinder und Jugendliche die vorzeitige Entlassung bedeutete, wurde keine Regelung für die Überwachung der verbliebenen verurteilten Kinder und Jugendliche durch alternative Mittel getroffen (CİSST 6.2022, S. 8f.).
An Orten, an denen es keine speziellen Gefängnisse gibt, werden Minderjährige in getrennten Abteilungen innerhalb der Gefängnisse für männliche und weibliche Erwachsene untergebracht. Kinder unter sechs Jahren können bei ihren inhaftierten Müttern bleiben (USDOS 20.3.2023a, S. 9; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Zahlen hinsichtliche der Kinder unter sechs Jahren, welche bei ihren Müttern ihr Leben im Gefängnis verbringen, variiert je nach Quelle bis zu 800 (FP 8.8.2021). Die NGO "Civil Sciety in the Penal System" schätzte, dass im August (2022) 383 Kinder mit ihren Müttern eingesperrt waren (USDOS 20.3.2023a, S. 9). Das türkische Strafgesetzbuch sieht außerdem vor, dass Haftstrafen zwar für Mütter mit Kindern unter sechs Monaten ausgesetzt werden, nicht jedoch, wenn Personen wegen Verbindungen zu einer terroristischen Vereinigung verurteilt werden (DW 23.6.2019). Einer Studie der Right to Life Association zufolge sind die Kleinkinder durch Leibesvisitationen traumatisiert. Sie werden nicht gut ernährt und erhalten keine ausreichende medizinische Versorgung. Sie haben auch Schwierigkeiten, Zeit zum Spielen zu finden (SCF 12.10.2021). Die Kinder im zentraltürkischen Keskin-Gefängnis haben monatelang keine Milch, keine Eier und kein Spielzeug bekommen, wie ein Bericht des parlamentarischen Unterausschusses für die Rechte der Häftlinge zeigt. Die weiblichen Gefangenen berichteten, dass sie ihre Kinder nur ein paar Mal im Jahr in die Kindertagesstätte des Gefängnisses bringen können und dass sie ihre Kinder nicht sehen dürfen, wenn sie es wollen (Duvar 18.2.2021).
Die "Ankara Medical Chamber" ATO kritisierte, dass im Strafvollzugssystem mehrere Vorkehrungen getroffen werden, ohne die Rechte und Bedürfnisse von Kindern zu berücksichtigen. Kinder würden verhaftet, ohne eine ausreichende Risiko- und Bedarfsanalyse durchgeführt oder wirksame Maßnahmen zu ergriffen zu haben. Zudem wären Kinder aufgrund der schlechten physischen Bedingungen, der sozialen Isolation und der Disziplinarstrafen im Gefängnis einer sekundären Bestrafung ausgesetzt (Bianet 7.1.2022). Während das Gesetz vorschreibt, dass Kinder in der Strafverfolgungsphase mit einem auf Kinderrechte spezialisierten Richter in Kontakt stehen sollten, wurde diese Vorschrift während einer Recherche von CİSST nicht eingehalten. Die Verurteilung von Jugendlichen vor Erwachsenengerichten oder die Inhaftierung durch Strafrichter zeigt laut CİSST, dass Fachleute, die sich auf das Jugendstrafrecht spezialisiert haben, keinen Zugang zu den Gerichten haben (CİSST 6.2022, S. 11).
Angehörige sexueller Minderheiten (LGBTIQ+)
Eine offizielle Zahl von Angehörige sexueller Minderheiten in Haftanstalten ist unbekannt, da die Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten solche Daten nicht offenlegt (İHD/HRA 6.2022, S. 35). Die wichtigsten Themen in Bezug auf die Situation von LGBTI+-Gefangenen sind die faktische Isolation, die Beziehungen zur Außenwelt, wirtschaftliche Schwierigkeiten, der Zugang zu Gesundheitsdiensten, der Zugang zu trans-spezifischen Gesundheitsdiensten, LGBTI+-Gefangene, die mit HIV leben, soziale Bedingungen, Versetzungen und Gewaltvorfälle (CİSST 26.12.2022, S. 57). Mitglieder von sexuellen Minderheiten gehören zu jenen, die in Gefängnissen am häufigsten Gewalt, Diskriminierung, Demütigung und sexueller Belästigung ausgesetzt sind. Neben der Tatsache, dass es keine spezifischen Regelungen für die Bedürfnisse dieser Personengruppen gibt, sind auch die Programme zur Ausbildung von Verwaltungspersonal, Vollzugsbeamten und Sozialarbeitern in Bezug auf die Arbeit mit LGBTI-Personen unzureichend. Beschwerden von Angehörigen sexueller Minderheiten über Rechtsverletzungen und Übergriffe, die sie erleben, bleiben aufgrund homophober Positionen und verwurzelter Vorurteile ergebnislos (CİSST 26.3.2021, S. 48; vgl. İHD/HRA 6.2022, S. 35f.). Der Zugang zur Justiz ist für LGBTI+-Personen besonders schwierig und eingeschränkt. Diese Situation hängt mit den Vorurteilen der Justizmechanismen und der Gesellschaft sowie mit dem Mangel an LGBTI+-freundlichen Mechanismen zusammen, die Rechtsberatung anbieten. LGBTI+-Gefangene müssen das Betreuungsverhältnis mit einem für sie bestellten Anwalt aufrechterhalten, es sei denn, einer ihrer Familienangehörigen oder Verwandten übernimmt diese Aufgabe. Viele LGBTI+-Gefangene beklagen, dass ihre Beziehungen zu ihren zugewiesenen Anwälten sehr schwach sind oder sie überhaupt nicht kommunizieren können (CİSST 26.12.2022, S. 58).
LGBTI-Häftlinge werden in der Regel von heterosexuellen Häftlingen getrennt (DFAT 10.9.2020), allerdings dann oft in Einzelhaft untergebracht, was den Missbrauch der Betroffenen fördert. Überdies ist es ihnen nicht erlaubt, Kontakte zu knüpfen, mit anderen zu sprechen und an sportlichen Aktivitäten teilnehmen. Diese Situation wird zur physischen und psychischen Folter. Besonders heikel stellt sich die Situation für Transfrauen dar, da sie in Männergefängnissen untergebracht werden, und somit männerspezifischen Gefängnispraktiken, wie der Leibesvisitation, unterworfen sind. Das größte Problem sowohl von inhaftierten Transfrauen als auch Transmännern sind die Unterbrechungen der Geschlechtsumwandlungsprozesse. Die Einleitung des Geschlechtsumwandlungsprozesses und seine Fortsetzung werden in Gefängnissen unterbrochen und oft nicht einmal akzeptiert. Da die Versorgung mit Hormonpräparaten ein Problem ist, gibt es auch in dieser Hinsicht oft Beschwerden (İHD/HRA 6.2022, S. 35f.). Mehrere transsexuelle Gefangene sind aus Protest gegen Misshandlungen im Gefängnis in den Hungerstreik getreten (OMCT 2022).
Quellen
3Sat - 3Sat (6.5.2023): Die Ära Erdoğan am Ende? - Die Türkei zwischen Hoffnung und Verzweiflung, https://www.3sat.de/kultur/kulturdoku/die-tuerkei-zwischen-hoffung-und-verzweiflung-100.html , Zugriff 9.2.2024;
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
ABC-TGM - Ministry of Justice General Directorate of Prisons and Detention Houses [Turkey] (1.2.2024): Genel Bilgi [Allgemeine Informationen], https://cte.adalet.gov.tr/Home/SayfaDetay/cik-genel-bilgi , Zugriff 8.2.2024 [Login erforderlich];
ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (5.4.2023): Anfragebeantwortung zur Türkei: Information zu Gefängnissen: Gefängnistypen, Isolationshaft, Folter und Misshandlung, medizinische Versorgung, Bewährungskommissionen [a-12102], https://www.ecoi.net/en/file/local/2091253/a-12102.pdf , Zugriff 9.2.2024;
Ahval - Ahval (25.10.2020): Turkey's prisons are punishing Kurdish prisoners with high translation fees, https://ahvalnews.com/kurd/turkeys-prisons-are-punishing-kurdish-prisoners-high-translation-fees , Zugriff 8.2.2024 [Login erforderlich];
Bianet - Bianet (7.1.2022): ‘1,941 arrested, convicted children in Turkey with their rights, needs disregarded’, https://bianet.org/english/human-rights/255877-1-941-arrested-convicted-children-in-turkey-with-their-rights-needs-disregarded , Zugriff 9.2.2024;
CoE - Council of Europe (30.3.2021): SPACE I - 2020 – Council of Europe Annual Penal Statistics, https://wp.unil.ch/space/files/2021/04/210330_FinalReport_SPACE_I_2020.pdf ,%20Zugriff, Zugriff 8.2.2024 [Login erforderlich];
CoE-CPT - Council of Europe – European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (5.8.2020): Report to the Turkish Government on the visit to Turkey carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 6 to 17 May 2019 [CPT/Inf (2020) 24], https://rm.coe.int/16809f20a1 , Zugriff 30.1.2024;
CİSST - Ceza İnfaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği – Civil Society in the Penal System Association (26.12.2022): CISST Annual Report on Prisons 2021 – CISST, https://cisst.org.tr/reports/annual-report-on-prisons-2021 , Zugriff 9.2.2024;
CİSST - Ceza İnfaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği – Civil Society in the Penal System Association (6.2022): Juvenile Prisoners: Conditions of Imprisonment and Execution Procedures, https://cisst.org.tr/reports/juvenile-prisoners/ , Zugriff 9.2.2024;
CİSST - Ceza İnfaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği – Civil Society in the Penal System Association (26.3.2021): Annual Report 2019, http://cisst.org.tr/en/wp-content/uploads/2020/11/cisst_2019_annual_report_rev08-1.pdf , Zugriff 30.1.2024 [Login erforderlich];
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023;
DIS - Danish Immigration Service [Denmark] (31.3.2021): Turkey: Prison conditions, https://www.ecoi.net/en/file/local/2048256/Turkey+Prison+conditions+FINAL.pdf , Zugriff 8.2.2024;
DTJ - Deutsch Türkisches Journal (4.12.2020): Der komplizierte Fall von Selahattin Demirtaş, https://dtj-online.de/der-komplizierte-fall-von-selahattin-demirtas/ , Zugriff 9.2.2024;
DW - Deutsche Welle (23.6.2019): Turkey: Babies behind bars, https://www.dw.com/en/turkey-babies-behind-bars/a-49320769 , Zugriff 9.2.2024;
Duvar - Duvar (30.8.2021a): Imprisoned former HDP deputy, eight others given disciplinary penalty for Kurdish song, https://www.duvarenglish.com/imprisoned-former-hdp-deputy-eight-others-given-disciplinary-penalty-for-kurdish-song-news-58657 , Zugriff 9.2.2024;
Duvar - Duvar (18.2.2021): Turkish inmates' children not given milk, regular daycare in prison, https://www.duvarenglish.com/turkish-inmates-children-not-given-milk-regular-daycare-in-prison-news-56299 , Zugriff 9.2.2024;
Duvar - Duvar (23.11.2020): Women inmates in Turkey's Van report notebooks being seized for containing Kurdish-language writing, https://www.duvarenglish.com/women-inmates-in-turkeys-van-report-notebooks-being-seized-for-containing-kurdish-language-writing-news-55167 , Zugriff 9.2.2024;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
EC - Europäische Kommission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=T%C3%BCrkiye%20Report%202022.pdf , Zugriff 31.10.2023;
EC - Europäische Kommission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 17.10.2023;
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023;
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 29.9.2023;
ICPR - Institute for Crime & Justice Policy Research (1Q.2024): World Prison Brief data - Turkey, https://www.prisonstudies.org/country/turkey , Zugriff 8.2.2024;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023;
OHCHR - Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (21.9.2022): Türkiye needs to strengthen effective torture prevention measures, UN experts find, https://www.ohchr.org/en/press-releases/2022/09/turkiye-needs-strengthen-effective-torture-prevention-measures-un-experts , Zugriff 31.10.2023;
OMCT - World Organisation Against Torture (2022): Briefing note on the situation of prisons and prisoners in Turkey, https://www.omct.org/site-resources/files/Brief_Situation-of-Prisons-in-Turkey_ENG.pdf , Zugriff 8.2.2024;
SCF - Stockholm Center for Freedom (12.10.2021): 345 children under the age of 6 in prison with their mothers in Turkey: report, https://stockholmcf.org/345-children-under-the-age-of-6-in-prison-with-their-mothers-in-turkey-report/ , Zugriff 9.2.2024;
SCF - Stockholm Center for Freedom (26.11.2020): Prison administration bans Kurdish publications and notebooks, https://stockholmcf.org/prison-administration-bans-kurdish-publications-and-notebooks/ , Zugriff 9.2.2024;
TOHAV/CİSST/ÖHD - oundation for Society and Legal Studies (TOHAV), Ceza İnfaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği – Civil Society in the Penal System Association, Lawyers for Freedom Association - Özgürlük için Hukukçular Derneği (1.7.2019): The Human Rights situation in prisons - Universal Periodic Review - Turkey – 2020, https://uprdoc.ohchr.org/uprweb/downloadfile.aspx?filename=7486&file=CoverPage , Zugriff 9.2.2024;
UKHO - United Kingdom Home Office [United Kingdom] (10.2019): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17 June to 21 June 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPORT_2019.odt , Zugriff 31.10.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (6.11.2022a): Human Rights Association 2021 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2022/11/SR2022_2021-Turkey-Violations-Report.pdf , Zugriff 29.1.2024;
İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (2.8.2022): Submission of the Human Rights Association / İHD (Turkey) to the Office of the Special Rapporteur on Violence against Women, Its Causes and Consequences, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2022/08/IHD-Submission_Violence-against-Women_UN-SR-on-VaW.pdf , Zugriff 26.1.2024;
İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (6.2022): İHD 2021 Prisons Report, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2022/07/sr202207_%C4%B0HD-2021PrisonsReport.pdf , Zugriff 9.2.2024;
13. Todesstrafe
Letzte Änderung 2024-03-05 11:23
Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d. h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 16).
Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vgl. FIDH 13.10.2020). Und Ende Juni 2022 meinte der Justizminister, dass die Türkei die Entscheidung aus dem Jahr 2004 zur Abschaffung der Todesstrafe überdenken würde, nachdem Präsident Erdoğan die Todesstrafe im Zusammenhang mit absichtlich gelegten Waldbränden ins Spiel brachte (REU 25.6.2022; vgl. Duvar 24.6.2022).
Für eine Wiedereinführung der Todesstrafe wäre eine Verfassungsänderung erforderlich, welche eine Zustimmung von mindestens 400 Abgeordneten oder von mindestens 360 Abgeordneten plus einer Volksabstimmung benötigt. Momentan (Ende 2023) verfügt das Regierungsbündnis nicht über die angegebenen Mehrheiten. Die Verfassungsänderung müsste also auch von Abgeordneten der Oppositionsparteien gestützt werden. Zudem müsste die Türkei ihre Unterschrift zu den Protokollen Nr. 6 und 13 zur EMRK zurückziehen. Mit der Wiedereinführung der Todesstrafe würde die Türkei nicht nur einen Ausschluss aus dem Europarat riskieren, sondern den endgültigen Bruch der Beziehungen zur EU (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 16).
Quellen
Duvar - Duvar (24.6.2022): Erdogan says supports reinstatement of death penalty for forest burners, https://www.duvarenglish.com/erdogan-says-supports-reinstatement-of-death-penalty-for-forest-burners-news-60969 , Zugriff 25.10.2023;
Duvar - Duvar (29.9.2020): Turkish Parliament speaker announces support for return of death penalty, https://www.duvarenglish.com/politics/2020/09/29/turkish-parliament-speaker-announces-support-for-return-of-death-penalty/ , Zugriff 25.10.2023;
FIDH - International Federation for Human Rights (13.10.2020): Death Penalty Cannot be Reinstated in Turkey, https://www.fidh.org/en/region/europe-central-asia/turkey/death-penalty-cannot-be-reinstated-in-turkey , Zugriff 25.10.2023;
OSCE - Organization for Security and Co-operation in Europe (17.9.2019): The Death Penalty in the OSCE Area: Background Paper 2019, https://www.osce.org/files/f/documents/a/9/430268_0.pdf , Zugriff 25.10.2023;
REU - Reuters (25.6.2022): Turkey re-evaluates death penalty after Erdogan's wildfires comment, https://www.reuters.com/world/middle-east/turkey-wildfire-under-control-after-4500-hectares-scorched-government-2022-06-25/ , Zugriff 25.10.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
14. Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung 2024-03-07 13:54
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolischen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Jafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 20.3.2023a, S. 85). Allerdings wurden in den letzten Jahren Minderheiten in beschränktem Ausmaß kulturelle Rechte eingeräumt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Türkische Staatsangehörige nicht-türkischer Volksgruppenzugehörigkeit sind keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen. Ausweispapiere enthalten keine Aussage zur ethnischen Zugehörigkeit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 28.7.2022, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRG 6.2018b).
Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen (BS 23.2.2022a, S. 7). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (BPB 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.3.2023a, S. 85f.).
Hassreden gegen und Hassverbrechen an Angehörigen ethnischer und nationaler Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 8.11.2023, S. 43). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).
Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023a, S. 87).
Im Bereich der kulturellen Rechte gab es keine gesetzgeberischen Entwicklungen, die die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch ermöglicht hätten. Die gesetzlichen Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Sekundarschulen blieben bestehen (EC 8.11.2023, S. 44). Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache gelehrt werden darf (EC 19.10.2021, S. 41). An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch und Tscherkessisch angeboten. Allerdings wirken die Mindestanzahl von zehn Schülern für einen Kurs sowie der Mangel oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen. Universitätsprogramme sind in Kurdisch, Zazaki, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch vorhanden. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten, insbesondere der Kurden, ausgewirkt (EC 8.11.2023, S. 44).
Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023; S. 36).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, https://web.archive.org/web/20180220015658/http:/www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr-2017-2018 , Zugriff 18.1.2024;
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022a): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf , Zugriff 16.10.2023;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
EC - Europäische Kommission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 31.10.2023;
EC - Europäische Kommission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 17.10.2023;
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023;
HDF - Hrant Dink Foundation (3.11.2020): Hate Speech and Discriminatory Discourse in Media 2019 Report, https://hrantdink.org/attachments/article/2728/Hate-Speech-and-Discriminatory-Discourse-in-Media-2019.pdf , Zugriff 18.1.2024;
MRG - Minority Rights Group (6.2018b): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/ , Zugriff 18.1.2024;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
Kurden
Letzte Änderung 2024-03-07 13:55
Demografie und Selbstdefinition
Die kurdische Volksgruppe hat laut Schätzungen ca. 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung und lebt zum Großteil im Südosten des Landes sowie in den südlichen und westlich gelegenen Großstädten Adana, Antalya, Gaziantep, Mersin, Istanbul und Izmir (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 47, UKHO 10.2023b, S. 6). Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20). Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Türkei, jedoch liegen keine Angaben über deren genaue Größe vor. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. - Erstens wird bei den türkischen Volkszählungen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen nicht erfasst. Zweitens verheimlichen einige Kurden ihre ethnische Zugehörigkeit, da sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer kurdischen Herkunft befürchten. Und Drittens ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer zum kurdischen Teil der Bevölkerung gehört. So identifizieren sich Sprecher des Zazaki - einer Sprachvariante, die mit Kurmandji ("Kurdisch") verwandt ist - teils als Kurden und teils eben als eine völlig separate Bevölkerungsgruppe (MBZ 31.8.2023, S. 47).
Allgemeine Situation, politische Orientierung und Vertretung
Es gibt Belege für eine anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über rassistische Angriffe gegen Kurden (auch) im Jahr 2023. In einigen Fällen wurden diese Angriffe möglicherweise nicht ordnungsgemäß untersucht oder nicht als rassistisch erkannt (UKHO 10.2023b, S. 8f.). Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. UKHO 10.2023b, S. 8f.).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) [inzwischen in Partei für Gleichberechtigung und Demokratie der Völker - DEM-Partei umbenannt] (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 48). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar tritt sie wie die HDP für die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem ein, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (MBZ 31.10.2019). Die Unterstützung wiederholte sich auch angesichts der Präsidenten- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2023. - Bei den Parlamentswahlen 2023 zogen vier Abgeordnete der Hüda-Par über die Liste der AKP ins türkische Parlament ein. Möglich war das durch einen umfangreichen Deal mit Präsident Erdoğan. Für die vier sicheren Listenplätze erhielt dieser die Unterstützung der Hüda-Par bei den gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen (FR 19.5.2023; vgl. Duvar 9.6.2023). Die Hüda-Par gilt beispielsweise nicht nur als Gegnerin der Istanbuler Konvention, sondern generell der Frauenemanzipation. Die Frau ist für Hüda-Par in erster Linie Mutter. Die Partei möchte zudem außereheliche Beziehungen verbieten (FR 19.5.2023). Mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober 2023 stellte sich die Hüda-Par als Unterstützerin der HAMAS heraus, die in der EU, den USA und darüber hinaus, nicht jedoch in der Türkei, als Terrororganisation gilt. So empfing die Parlamentsfraktion der Hüda-Par bereits am 11.10.2023 eine Delegation der HAMAS unter Führung von Basam Naim im türkischen Parlament. Şehzade Demir, Abgeordneter der Hüda-Par, warf bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Israel nicht nur Kriegsverbrechen vor, sondern erklärte, dass "das zionistische Regime der gesamten islamischen Gemeinschaft und unseren heiligen Werten den Krieg erklärt" hätte (Duvar 12.10.2023). Zudem begrüßte Demir den HAMAS-Angriff vom 7.10.2023 und nannte Israel eine Terrororganisation, zu der alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen beendet werden sollten (FR 12.10.2023).
Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobanê-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (MBZ 31.10.2019).
Religiöse Orientierung
In religiöser Hinsicht sind die Kurden in der Türkei nicht einheitlich. Nach einer Schätzung sind siebzig Prozent der Kurden Sunniten, die restlichen dreißig Prozent sind Aleviten und Jesiden [eine verschwindend geringe Zahl] (MBZ 31.8.2023, S. 48; vgl. MRG 6.2018c). Die sunnitische Mehrheit unter den Kurden gehören allerdings in der Regel der Shafi'i-Schule und nicht der Hanafi-Schule wie die meisten ethnischen Türken an. Die türkischen Religionsbehörden betrachten beide Schulen als gleichwertig, und Anhänger der Schafi'i-Schule werden aus religiösen Gründen nicht unterschiedlich behandelt. Kurdische Aleviten verstehen sich eher als Aleviten denn als Kurden (DFAT 10.9.2020, S. 20, 24).
Allgemeine Einschätzungen zur Lage der Kurden
Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich auch 2023 "besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Künstler, einschließlich Massenverhaftungen vor den Wahlen [2023] sowie über das laufende Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker". Überdies zeigte sich das EP "beunruhigt über die schwere und zunehmende Unterdrückung der kurdischen Gemeinschaft, insbesondere im Südosten des Landes, unter anderem durch die weitere Einschränkung der kulturellen Rechte und rechtliche Einschränkungen im Hinblick auf den Gebrauch der kurdischen Sprache als Unterrichtssprache im Bildungswesen" (EP 13.9.2023, Pt. 13, 16).
2022 zeigte sich das EP zudem "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 44).
Laut Europäischer Kommission dauern Hassverbrechen und Hassreden gegen Kurden an (EC 8.11.2023, S. 19). Auch das EP weist darauf hin, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 19.5.2021, S. 16f, Pt. 44).
Kurdische Zivilgesellschaft
Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023a, S. 85) und die meisten blieben es auch (EC 8.11.2023, S. 18, 44). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete. Allerdings wurde das Urteil des Verfassungsgerichts (mit Stand November 2023) nicht umgesetzt (EC 8.11.2023, S. 18f.; vgl. CCRT 8.4.2021).
Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes mit der Kurdischen Arbeiterpartei - PKK
Dennoch wird der Krieg der Regierung gegen die PKK zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen (FH 10.3.2023, F4).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli (Dersim) blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 20.3.2023a, S. 29, 85). Die Lage im Südosten bleibt besorgniserregend und wurde durch die Erdbeben im Februar 2023, von denen auch ein Teil der Region betroffen war, noch verschärft. Die Regierung setzte ihre inländischen und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen in Irak und Syrien fort, auch nach den Erdbeben. Die Sicherheitslage in den Grenzgebieten bleibt aufgrund der terroristischen Angriffe der PKK prekär (EC 8.11.2023, S. 18).
Für weiterführende Informationen siehe Kapitel "Sicherheitslage" und Unterkapitel "Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)".
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 18). Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise betroffen. In einem Prozess in Diyarbakır gegen 18 kurdische Journalisten und Medienschaffende, die der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" beschuldigt wurden, verbrachten 15 von ihnen 13 Monate (seit Juni 2022) in Untersuchungshaft, bevor sie bei ihrer ersten Anhörung im Juli freigelassen wurden (HRW 11.1.2024; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). In einem Verfahren in Ankara gegen 11 kurdische Journalisten verbrachten neun von ihnen sieben Monate in Untersuchungshaft, bevor sie im Mai 2023 bei ihrer ersten Anhörung freigelassen wurden (Die beiden Verfahren dauerten mit Stand Ende 2023 noch an.) (HRW 11.1.2024). Laut eigenen Angaben werden kurdische Journalisten schlicht wegen ihrer Berichte über die sich verschlimmernde Menschenrechtslage in den Kurdengebieten angeklagt (BIRN 8.12.2023). Vom Vorwurf der Terrorismusunterstützung sind nebst pro-kurdischen politischen Parteien [siehe hierzu das Unterkapitel "Opposition"] auch Vertreter kurdische NGOs und Vereine. - So hat ein Gericht in Diyarbakır Narin Gezgör, ein Gründungsmitglied der "Rosa Frauenvereinigung", einer kurdischen Frauenrechtsgruppe, im September 2023 wegen Terrorismus zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Zu den gegen Gezgör vorgebrachten Beweisen gehörten ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung sowie ihre Medieninterviews und anonymen Zeugenaussagen, die sie belasteten (SCF 11.9.2023).
Zur Verfolgung kurdischer Journalisten siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit/ Internet.
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig, so auch 2022, anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), am 1. Mai (WKI 3.5.2022) oder regelmäßig zum kurdischen Neujahrsfest Newroz. So wurden 2023 gemäß offiziellen Angaben 224 Personen in Istanbul anlässlich des Frühlingsfestes verhaftet (Duvar 20.3.2023).
Gewaltsame Übergriffe
Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (MBZ 2.3.2022, S. 43; USDOS 20.3.2023a). Im Juli 2021 veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021). Auch in den Jahren 2022 und 2023 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Beispiele: Bilder von Fans des Fußballklubs Bursaspor, die Spieler von Amedspor aus Diyarbakır mit scharfen Gegenständen, leeren Patronenhülsen und Flaschen bewarfen und dabei rassistische Parolen riefen, schockierten das Land im März 2023. Ein kurdischer Jugendlicher, der es wagte, ein Amedspor-Transparent hochzuhalten, wurde von Bursaspor-Anhängern brutal zusammengeschlagen. Ein anderer kurdischer Jugendlicher wurde eingekreist und gezwungen, den Wimpel der Heimmannschaft Bursaspor zu küssen. Amedspor-Spieler gaben an, dass sie in den Umkleidekabinen von "privaten Sicherheitsleuten, Sicherheitsbeamten des Vereins, Vereinsmitarbeitern und Polizeibeamten" schikaniert wurden (AlMon 6.3.2023). Anfang April 2023 kam es zu einem gewaltsamen Übergriff auf drei Bauarbeiter im Bezirk Bodrum der Provinz Muğla, weil sie Kurdisch sprachen. Die Angreifer griffen die kurdischen Arbeiter mit einer Schrotflinte, einer Axt und Eisenstangen an und setzten danach ihre Drohungen mit WhatsApp-Nachrichten fort (Gercek 3.4.2023; vgl. TİHV/HRFT 3.4.2023). Am 2.5.2023 wurde der kurdische Straßensänger Cihan Aymaz in Istanbul von einem Mann erstochen, da er verweigerte, das Lied "Ölürem Türkiyem" ("Ich würde für meine Türkei sterben") sofort zu singen, und zudem regelmäßig kurdische Lieder sang (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. Bianet 4.5.2023). Die Istanbuler Polizei hat kurdische Jugendliche daran gehindert, Halay, einen traditionellen kurdischen Volkstanz, zu kurdischer Musik zu tanzen und vier von ihnen nach einem Gerangel festgenommen. Anschließend tauchte ein Video auf, das zeigt, wie die Polizei die Festgenommenen zwingt, osmanische Militärmusik zu hören, während sie mit gefesselten Händen auf dem Boden liegen (Duvar 22.5.2023). Das Sicherheitspersonal eines Flughafens in Provinz Trabzon griff am 16.12.2023 vier Bauarbeiter an, weil sie sich auf Kurdisch unterhielten. Ein Arbeiter sagte, dass drei Angreifer auf die Polizeiwache gebracht wurden, obwohl sie eigentlich von etwa 25 Personen angegriffen wurden (Duvar 17.12.2023).
[Anmerkung: Für Beispiele vor dem Jahr 2023 siehe vormalige Versionen der Länderinformationen Türkei!]
Verwendung der kurdischen Sprache
Der Gebrauch von Kurdisch als Unterrichtssprache ist eingeschränkt. Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift, wobei die Kurdischkenntnisse vor allem in den Großstädten zurückgehen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Nur wenige politische Parteien haben muttersprachlichen Unterricht ausdrücklich in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirken sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus, und eine Reihe von Kunst- und Kulturgruppen in kurdischer Sprache wurden von den Treuhändern entlassen. Ein Dutzend Konzerte, Festivals und kulturelle Veranstaltungen wurden von den Gouvernements und Gemeinden mit der Begründung "Sicherheit und öffentliche Ordnung" verboten. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, Medien und zahlreiche Kunsträume blieben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016, was zu einer weiteren Beschneidung ihrer kulturellen Rechte beitrug (EC 8.11.2023; S. 44). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (MBZ 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AlMon 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8; vgl. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Dogan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. - Der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AlMon 10.8.2022; vgl.ÖB Ankara 30.11.2021). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Sprachkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022). Und im Jänner 2023 teilte der Parlamentsabgeordnete der HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, mit, dass zwei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Hevra festgenommen wurden, weil sie auf Kurdisch auf einem vom HDP-Jugendrat organisierten Konzert in Darıca nahe Istanbul gesungen haben (Duvar 23.1.2023).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Duvar 30.8.2021b). Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020). Die vom Staat ernannten Treuhänder im Südosten änderten weiterhin die ursprünglichen (kurdischen) Straßennamen (EC 8.11.2023; S. 44).
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 10). 2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).
Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S. 71).
Siehe auch das Unterkapitel: "Opposition" und bezüglich kurdischer Gefängnisinsassen das Kapitel: "Haftbedingungen"
Verwendung des Begriffes "Kurdistan"
Obwohl der einstige türkische Staatspräsident Abdullah Gül bei seinem historischen Besuch 2009 im Nachbarland Irak zum ersten Mal öffentlich das Wort "Kurdistan" in den Mund nahm, auch wenn er sich auf die irakische autonome Region bezog, galt dies damals als Tabubruch (FAZ 24.3.2009). Laut dem pro-kurdischen Internetportal Bianet lassen sich etliche Beispiele finden, wonach das Wort "Kurdistan" in der Türkei je nach der politischen Atmosphäre gesagt oder nicht gesagt werden kann. Das Wort "Kurdistan" zu sagen, kann eine Beleidigung sein oder auch nicht. Aber am gefährlichsten ist es immer, wenn Kurden "Kurdistan" sagen (Bianet 16.7.2019). - Während auch Erdoğan, damals Regierungschef, den Begriff anlässlich des Besuchs des Präsidenten der Kurdischen Region im Nordirak, Massoud Barzani, in Diyarbakır im Oktober 2013 verwendete (DW 19.11.2013), kam es kaum einen Monat später zu Spannungen im türkischen Parlament, weil in einem Bericht der pro-kurdischen BDP [Vorgängerpartei der HDP] zum Budgetentwurf der Regierung der Begriff "Kurdistan" zur Beschreibung der kurdischen Siedlungsgebiete in Ost- und Südostanatolien auftauchte. Die anderen Parteien im Parlament wandten sich gegen die Benutzung des Wortes, das bei türkischen Nationalisten als Ausdruck eines kurdischen Separatismus gilt. Während einer Debatte über den BDP-Bericht gingen Abgeordnete von BDP und ultra-nationalistischen MHP aufeinander los (Standard 10.12.2013).
2019 sagte Binali Yıldırım, der AKP-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von İstanbul, auf einer Kundgebung vor den Wahlen "Kurdistan", und als er darauf angesprochen wurde, antwortete er, dass das Wort Kurdistan jenes sei, welches Mustafa Kemal Atatürk für die Vertreter verwendet hatte, die während des Unabhängigkeitskampfes vor der Gründung der Republik aus dieser Region kamen. Für die "Vereinigung der Jugendbewegung Kurdistans" in Istanbul hingegen erklärte das Innenministerium, dass die Verwendung des Wortes "Kurdistan" ein Verstoß gegen Artikel 14 der Verfassung und Artikel 302 des türkischen Strafgesetzbuches sei. Es dürfe nicht im Namen einer Vereinigung verwendet werden. Es folgte eine Klage gegen den Verein (Bianet 16.7.2019). Und im Oktober 2021 verhaftete die Polizei in Siirt vorübergehend einen kurdischen Geschäftsmann, nachdem er während eines Streits mit einem nationalistischen Politiker seine Stadt als Teil von "Kurdistan" bezeichnet hatte. Ihm wurde vorgeworfen, Propaganda für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu machen (Rudaw 29.10.2021).
Die Auseinandersetzung hinsichtlich der Verwendung des Begriffes "Kurdistan" hat mittlerweile selbst den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erreicht. - Dieser entschied am 13.6.2023, dass die türkischen Behörden die Rechte des ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Volkspartei (HDP), Osman Baydemir, verletzt hatten, indem sie gegen ihn eine Strafe verhängten, weil er 2017 während einer Rede im Parlament den Begriff "Kurdistan" verwendet hatte. In seinem Urteil vom 13.6.2023 stellte der EGMR fest, dass Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über "Meinungsfreiheit" verletzt worden sei. Der EGMR verurteilte die Türkei zur Zahlung einer Entschädigung von 16.957 Euro an Baydemir (Duvar 13.6.2023; vgl. ECHR 13.6.2023).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AlMon - Al Monitor (6.3.2023): Anti-Kurdish racism stains soccer pitch in western Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2023/03/anti-kurdish-racism-stains-soccer-pitch-western-turkey , Zugriff 22.1.2024 [Login erforderlich];
AlMon - Al Monitor (10.8.2022): Kurdish diva brokenhearted but resolute in face of language discrimination in Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2022/08/kurdish-diva-brokenhearted-resolute-face-language-discrimination-turkey , Zugriff 23.1.2024;
AlMon - Al Monitor (9.11.2021): Turkey’s Kurds revive fight for language rights, https://www.al-monitor.com/originals/2021/11/turkeys-kurds-revive-fight-language-rights , Zugriff 20.4.2022 [Login erforderlich];
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (8.12.2023): Turkey is Targeting Kurdish Journalists for Reporting Rights Violations – Lawyer, https://balkaninsight.com/2023/12/08/turkey-is-targeting-kurdish-journalists-for-reporting-rights-violations-lawyer , Zugriff 22.1.2024;
Bianet - Bianet (4.5.2023): Pain and anger for young street singer killed in Kadköy, https://bianet.org/haber/pain-and-anger-for-young-street-singer-killed-in-kadikoy-278178 , Zugriff 22.1.2024;
Bianet - Bianet (21.2.2022): More than 20,000 students choose Kurdish language classes in Turkey, https://bianet.org/english/education/258034-more-than-20-000-students-choose-kurdish-language-classes-in-turkey , Zugriff 23.1.2024;
Bianet - Bianet (22.7.2021): 15 bar associations condemn racist attacks against Kurds in Turkey, https://m.bianet.org/english/human-rights/247531-15-bar-associations-condemn-racist-attacks-against-kurds-in-turkey, Zugriff 22.1.2024;
Bianet - Bianet (16.7.2019): Who Can and Cannot Say 'Kurdistan' in Turkey: A Guide, https://bianet.org/biamag/freedom-of-expression/210526-who-can-and-cannot-say-kurdistan-in-turkey-a-guide , Zugriff 23.1.2024;
CCRT - The Constitutional Court of the Republic of Turkey [Turkey] (8.4.2021): Constitutionality Review - Press Release concerning the Decision Annulling the Provision Enabling the Closure of Media Outlets Associated with Organisations Found Established to Pose a Threat to the National Security, https://www.anayasa.gov.tr/en/news/constitutionality-review/press-release-concerning-the-decision-annulling-the-provision-enabling-the-closure-of-media-outlets-associated-with-organisations-found-established-to-pose-a-threat-to-the-national-security/ , Zugriff 22.1.2024;
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023;
DW - Deutsche Welle (19.11.2013): Historic meeting, https://www.dw.com/en/turkeys-kurdish-opening/a-17239234 , Zugriff 23.1.2024;
Duvar - Duvar (17.12.2023): Turkish security guards assault workers for talking in Kurdish, https://www.duvarenglish.com/turkish-security-guards-assault-workers-for-talking-in-kurdish-news-63503 , Zugriff 23.1.2024;
Duvar - Duvar (12.10.2023): Turkish Islamist party holds press conference with Hamas executive at parliament, https://www.duvarenglish.com/turkish-islamist-party-holds-press-conference-with-hamas-executive-at-parliament-news-63142 , Zugriff 22.1.2024;
Duvar - Duvar (13.6.2023): ECHR finds rights violation in penalty imposed on former HDP MP Osman Baydemir over ‘Kurdistan’ remark, https://www.duvarenglish.com/echr-finds-rights-violation-in-penalty-imposed-on-former-hdp-mp-osman-baydemir-over-kurdistan-remark-news-62542 , Zugriff 24.1.2024;
Duvar - Duvar (9.6.2023): HÜDA-PAR MPs return to own party after elected under AKP list, https://www.duvarenglish.com/huda-par-mps-return-to-own-party-after-elected-under-akp-list-news-62539 , Zugriff 22.1.2024;
Duvar - Duvar (22.5.2023): Istanbul police detain four youth after brawl over dancing halay to Kurdish music, https://www.duvarenglish.com/istanbul-police-detain-four-youth-after-brawl-over-dancing-halay-to-kurdish-music-news-62447 , Zugriff 23.1.2024;
Duvar - Duvar (20.3.2023): Thousands celebrate Newroz across Turkey, 224 detained in Istanbul, https://www.duvarenglish.com/thousands-celebrate-newroz-across-turkey-224-detained-in-istanbul-news-62052 , Zugriff 22.1.2024;
Duvar - Duvar (23.1.2023): Kurdish music group members detained after playing for concert organized by HDP, https://www.duvarenglish.com/kurdish-music-group-members-detained-after-playing-for-concert-organized-by-hdp-news-61719 , Zugriff 23.1.2024;
Duvar - Duvar (30.4.2022): Turkey's Education Ministry fines teacher for speaking Kurdish, Arabic with students, https://www.duvarenglish.com/turkeys-education-ministry-fines-teacher-for-speaking-kurdish-arabic-with-students-news-60833 , Zugriff 23.1.2024;
Duvar - Duvar (26.4.2022): Turkish police detain citizen for singing in Kurdish in eastern Van, https://www.duvarenglish.com/turkish-police-detain-citizen-for-singing-in-kurdish-in-eastern-van-news-60825 , Zugriff 23.1.2024;
Duvar - Duvar (25.4.2022): Turkish top court finds no violation in banning letter 'w' from Kurdish names, https://www.duvarenglish.com/turkish-top-court-finds-no-violation-in-banning-letter-w-from-kurdish-names-news-60823 , Zugriff 23.1.2024;
Duvar - Duvar (2.2.2022): Ban on Kurdish alphabet leads to problems for people bearing Kurdish names in Turkey, https://www.duvarenglish.com/ban-on-kurdish-alphabet-leads-to-problems-for-people-bearing-kurdish-names-in-turkey-news-60279 , Zugriff 23.1.2024;
Duvar - Duvar (30.8.2021b): Imprisoned former HDP deputy, eight others given disciplinary penalty for Kurdish song, https://www.duvarenglish.com/imprisoned-former-hdp-deputy-eight-others-given-disciplinary-penalty-for-kurdish-song-news-58657 , Zugriff 23.1.2024;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
EC - Europäische Kommission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 31.10.2023;
ECHR - European Court of Human Rights (13.6.2023): Press Release [ECHR 175 (2023)]: Judgments of 13 June 2023, Baydemir v. Türkiye (no. 23445/18), INVALID URL, https://hudoc.echr.coe.int/app/conversion/pdf/?library=ECHR&id=003-7673643-10582143&filename=Judgments%20of%2013.06.2023.pdf , Zugriff 24.1.2024;
EP - Europäisches Parlament (13.9.2023): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2023 zu dem Bericht 2022 der Kommission über die Türkei (2022/2205(INI), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0320_DE.pdf , Zugriff 25.10.2023;
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023;
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 29.9.2023;
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (24.3.2009): Gül bricht ein Tabu, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kurdistan-guel-bricht-ein-tabu-1927280.html , Zugriff 23.1.2024;
FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2023 , Zugriff 28.4.2023;
FR - Frankfurter Rundschau (12.10.2023): Bruderstaat der Hamas: Die Türkei hat über die Parteigrenzen hinweg klare Position zum Israel-Krieg, https://www.fr.de/politik/krieg-in-israel-das-sagen-die-tuerkischen-politiker-und-parteien-ueber-die-hamas-zr-92574212.html , Zugriff 22.1.2024;
FR - Frankfurter Rundschau (19.5.2023): Nach Türkei-Wahl 2023: Vereidigung im türkischen Parlament wegen Hüda Par verschoben?, https://www.fr.de/politik/nach-tuerkei-wahl-2023-vereidigung-im-tuerkischen-parlament-wegen-hueda-par-verschoben-92289404.html , Zugriff 22.1.2024;
Gercek - Gercek News (3.4.2023): Kurdish workers attacked in Bodrum for speaking Kurdish, https://www.gerceknews.com/turkey/kurdish-workers-attacked-in-bodrum-for-speaking-kurdish-219448h , Zugriff 25.1.2024;
HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Türkiye, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103139.html , Zugriff 17.1.2024;
K24 - Kurdistan 24 (10.4.2022): Teacher expelled for speaking Kurdish in Turkey, https://www.kurdistan24.net/en/story/27935-Teacher-expelled-for-speaking-Kurdish-in-Turkey , Zugriff 23.1.2024 [Login erforderlich];
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General+COI+report+Turkiye+%28August+2023%29.pdf , Zugriff 13.11.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich];
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf , Zugriff 29.11.2023 [Login erforderlich];
MRG - Minority Rights Group (6.2018c): Kurds - Minority Rights Group, https://minorityrights.org/minorities/kurds-2 , Zugriff 22.1.2024;
Rudaw - Rudaw Media Network (29.10.2021): Kurdish man arrested in Turkey for saying ‘Kurdistan’, https://www.rudaw.net/english/middleeast/turkey/291020211 , Zugriff 24.1.2024;
SCF - Stockholm Center for Freedom (11.9.2023): Turkey sentences founding member of Kurdish women’s association to more than 7 years in prison - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/turkey-sentences-founding-member-of-kurdish-womens-association-to-more-than-7-years-in-prison , Zugriff 25.1.2024;
SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (19.4.2022): Erdoğan and the Turkish Opposition Revisit the Kurdish Question, https://www.cats-network.eu/publication/erdogan-and-the-turkish-opposition-revisit-the-kurdish-question , Zugriff 23.1.2024;
Standard - Standard, Der (10.12.2013): "Kurdistan" löst Schlägerei im türkischen Parlament aus, https://www.derstandard.at/story/1385170500709/kurdistan-loest-schlaegerei-im-tuerkischen-parlament-aus , Zugriff 24.1.2024;
TM - Turkish Minute (1.2.2022): Police ban on Kurdish music in İstanbul street sparks Kurdish music frenzy, https://www.turkishminute.com/2022/02/01/ice-ban-on-kurdish-music-in-istanbul-street-sparks-kurdish-music-frenzy/ , Zugriff 23.1.2024;
TM - Turkish Minute (17.9.2020): Turkey removes signs in Kurdish as racist attacks on Kurds surge, https://www.turkishminute.com/2020/09/17/turkey-removes-signs-in-kurdish-as-racist-attacks-on-kurds-surge/ , Zugriff 23.1.2024;
TİHV/HRFT - Türkiye İnsan Hakları Vakfı / Human Rights Foundation Turkey (3.4.2023): 1 - 3 April 2023 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report - HRFT - Human Rights Foundation of Turkey, https://en.tihv.org.tr/documentation/1-3-april-2023-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report , Zugriff 25.1.2024;
UKHO - United Kingdom Home Office [United Kingdom] (10.2023b): Country Policy and Information Note Turkey: Kurds [Version 4.0], https://www.ecoi.net/de/dokument/2100047.html , Zugriff 23.1.2024;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.11.2023;
WKI - Washington Kurdish Institute (3.5.2022): Kurdistan’s Weekly Brief May 3, 2022, https://dckurd.org/2022/05/03/kurdistans-weekly-brief-may-3-2022/ , Zugriff 22.1.2024;
WKI - Washington Kurdish Institute (22.3.2022): Kurdistan’s Weekly Brief March 22, 202, https://dckurd.org/2022/03/22/kurdistans-weekly-brief-march-22-2022/ , Zugriff 22.1.2024;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 9.1.2024 [Login erforderlich];
İBV - İsmail Beşikçi Foundation (7.2021): Monitoring Work on Rights Violations against Kurdish Artists specific to Musicians, https://www.ismailbesikcivakfi.org/uploads/files/KURDISHARTISTS_ENG.pdf.pdf , Zugriff 23.1.2024;
15. Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung 2024-03-07 13:54
Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 57). So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 10.3.2023, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 57).
Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 28.7.2022, S. 23, 26).
Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, S. 27f.; vgl.ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, S. 27). Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Und Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022). Und vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Parlamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023).
Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit online 16.11.2023).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, S. 27f).
Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 20.3.2023a, S. 57f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45).
Das türkische Verfassungsgericht hob Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung auf, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Das Verfassungsgericht entschied überdies Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
Duvar - Duvar (20.10.2023): 15 MPs, deputy speaker of Turkish Parliament banned from traveling abroad, https://www.duvarenglish.com/15-mps-deputy-speaker-of-turkish-parliament-banned-from-traveling-abroad-news-63183 , Zugriff 18.1.2024;
Duvar - Duvar (26.12.2022): International travel ban imposed on HDP MP, https://www.duvarenglish.com/international-travel-ban-imposed-on-hdp-mp-news-61648 , Zugriff 18.1.2024;
Duvar - Duvar (10.3.2022): HDP MP Gergerlioğlu files objection against int'l travel ban, seizure of passport, https://www.duvarenglish.com/hdp-mp-omer-faruk-gergerlioglu-files-objection-against-intl-travel-ban-seizure-of-passport-news-60577 , Zugriff 18.1.2024;
Duvar - Duvar (29.1.2022): Turkey’s top court rules passport cancellation for sacked civil servants unconstitutional, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-passport-cancellation-for-sacked-civil-servants-unconstitutional-news-60256 , Zugriff 18.1.2024;
FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2023 , Zugriff 28.4.2023;
FR - Frankfurter Rundschau (11.6.2022): Gefangen in der Türkei: Mehr als 100 Deutsche dürfen nicht ausreisen, https://www.fr.de/politik/gefangen-erdogan-tuerkei-viele-deutsche-duerfen-nicht-zurueck-deutschland-pkk-91604026.html , Zugriff 18.1.2024;
HDN - Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000 , Zugriff 18.1.2024;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich];
Medya - MedyaNews (26.12.2022): Turkey imposes travel ban on Kurdish-Alevi lawmaker, https://medyanews.net/turkey-imposes-travel-ban-on-kurdish-alevi-lawmaker/ , Zugriff 18.1.2024;
TM - Turkish Minute (22.6.2020): Turkey removes passport restrictions for 28,000 more citizens, https://www.turkishminute.com/2020/06/22/turkey-removes-passport-restrictions-for-28000-more-citizens/ , Zugriff 18.1.2024;
TM - Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects' spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regulation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/ , Zugriff 18.1.2024;
TM - Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkey-lifts-restrictions-on-more-than-50000-passports/ , Zugriff 18.1.2024;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.11.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 5.10.2023;
Zeit online - Zeit online (16.11.2023): Ausreiseverbot: Mindestens 65 deutsche Staatsbürger dürfen die Türkei nicht verlassen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/tuerkei-deutsche-ausreiseverbot-terrorverdacht-erdogan-besuch-deutschland , Zugriff 18.1.2024;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
16. Grundversorgung / Wirtschaft
Letzte Änderung 2024-03-07 13:56
Das Wirtschaftswachstum könnte sich 2024 infolge der strafferen Geldpolitik laut Internationalem Währungsfonds auf 3 % abschwächen, verglichen mit rund 4 % im Jahr 2023 und 5,5 % im Jahr 2022 (GTAI 12.12.2023a). Getragen von privatem Verbrauch und Staatsausgaben haben Wahlkampfgeschenke, Lohn- und Pensionssteigerungen, Frühpensionierungen und günstige Kredite das Wachstum angetrieben. Die türkische Wirtschaft profitiert zudem davon, dass viele Unternehmen aus der EU in die Türkei ausweichen, um das verlorene Geschäft mit Russland bzw. der Ukraine auszugleichen (WKO 10.2023, S. 4).
Bis zu den Mai-Wahlen 2023 verfolgte Staatspräsident Erdoğan trotz horrender Inflation eine Niedrigzinspolitik, die kurzfristig die Exporte und den Konsum anregte. Dies befeuerte die Inflation und den Abwertungsdruck auf die türkische Lira, die in der Folge staatlich gestützt wurde. Die Nettoreserven der Zentralbank sind gesunken, die Auslandsverschuldung und Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen sind hoch. Instabile Rahmenbedingungen haben das Vertrauen der Investoren erschüttert. Nach den Wahlen im Frühjahr 2023 vollzog das Land einen Kurswechsel hin zu einer restriktiveren Geldpolitik. Der Leitzins wurde bis Ende November 2023 schrittweise von 8,5 auf 40 % erhöht. Infolgedessen wird für 2024 ein Abschwächen des Wirtschaftswachstums erwartet. Weitere Herausforderungen sind eine hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende geo- und innenpolitische Spannungen, aber auch hausgemachte Probleme (GTAI 12.12.2023b).
Die Inflation hat die reale Kaufkraft der Haushalte geschmälert. Gehaltserhöhungen federn die Einbußen meist nur ab. Die Leitzinserhöhungen könnten mittelfristig den Konsum dämpfen. Noch treibt die Inflation den Konsum an, denn Sparen lohnt sich kaum. Die Bevölkerung flüchtet wegen der schwachen Lira in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien (GTAI 12.12.2023b). Zu den größten Preistreibern zählen derzeit die Sektoren Hotellerie und Gastronomie, Gesundheit, Lebensmittel, nicht-alkoholische Getränke und Transport (WKO 10.2023, S. 5). Die seit Juli 2023 wieder steigende offizielle Inflationsrate betrug für das gesamte Jahr 2023 offiziell 64,77 %. Laut Berechnungen der Forschungsgruppe für Inflation (ENAGrup) stieg der Verbraucherpreisindex für denselben Zeitraum jedoch um 127,21 % (Duvar 3.1.2024a, vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52). Die offizielle saisonal bereinigte Arbeitslosenquote ist nach einem Höchststand von 14,2 % im Juli 2020 rückläufig und erreichte im August 2023 mit 9,2 % einen Tiefststand. Neben der hohen Jugendarbeitslosigkeit von 17,2 % bleibt die Langzeitarbeitslosigkeit von 20,8 % ein Problem (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52). Die offizielle saisonbereinigte Erwerbsquote lag im November 2023 bei 52,9 %. Die Erwerbsquote lag bei den Männern mit 70,7 % fast doppelt so hoch wie bei den Frauen mit lediglich 35,5 % (TUIK 10.1.2024b).
Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine Umfrage der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung unter 2.140 Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren (Erhebungszeitraum: Dezember 2022 - Jänner 2023) ergab, dass angesichts der wirtschaftlichen Stagnation 63 % der Befragten bereit sind die Türkei zu verlassen, sofern es die Möglichkeit dazu gebe. 2021 waren es sogar 72,9 % (KAS 1.6.2023). Und auch im Oktober 2023 gaben 39,1 % aller Türken und Türkinnen laut einer Umfrage von MetroPOLL Research an, dass sie gerne in einem anderen Land leben würden. Merklich höher lagen die Werte bei Anhängern der Opposition (Duvar 29.10.2023).
Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).
Was die soziale Inklusion und den sozialen Schutz betrifft, so verfügt die Türkei laut Europäischer Kommission noch immer nicht über eine gezielte Strategie zur Armutsbekämpfung. Der anhaltende Preisanstieg hat das Armutsrisiko für Arbeitslose und Lohnempfänger in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter erhöht. Die Armutsquote erreichte 2022 14,4 %, gegenüber 13,8 % im Jahr 2021. Die Quote der schweren materiellen Verarmung (severe-material-deprivation rate) erreichte im Jahr 2022 28,4 % (2021: 27,2 %). Die Kinderarmutsquote war im Jahr 2022 mit 41,6 % besonders hoch. Im Jahr 2022 beliefen sich die Sozialhilfezahlungen auf 151,9 Milliarden Lira oder 1,01 % des BIP (EC 8.11.2023, S. 102). Der Gini-Koeffizient als Maß für die soziale Ungleichheit (Dieser schwankt zwischen 0, was theoretisch völlige Gleichheit, und 1, was völlige Ungleichheit bedeuten würde.) betrug nach Einberechnung der dämpfend wirkenden Sozialtransfers offiziell 0,415 im Jahr 2022, der höchste Wert der letzten zehn Jahre (TUIK 4.5.2023) [Anm.: In Österreich betrug laut Momentum Institut der Gini-Koeffizient nach Steuern und staatlichen Transferleistungen 2020 0,28].
Die Armutsgrenze in der Türkei lag Ende Dezember 2023 laut Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) bei 47.000 Lira (rund 1.400 Euro). - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag Ende Dezember 2023 bei 14.431 Lira (rund 440 Euro) (Duvar 3.1.2024b). Die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KAMU-AR gab gegen Ende 2024 bereits eine weitere Steigerung an. - Demnach lag die Hungergrenze bei 17.442 und die Armutsgrenze bereits bei 48.559 Lira (TM 25.1.2024).
Nach einer Erhöhung des Mindestlohns um 55 % im Jänner 2023 wurde dieser mit Juli 2023 auf 11.400 Lira netto (rund 440 Euro) erhöht, eine Steigerung von 34 %. Die Steigerung lag jedoch immer noch unter der offiziellen Inflationsrate, welche im Mai 2023 fast 40 % betrug. Laut unabhängigen Experten belief sich die Preissteigerung bei Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs bei mehr als 100 %. 40 % beträgt der Anteil der Bevölkerung, der vom Mindestlohn lebt. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die oben erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 23.6.2023). Ende Dezember 2023 kündigte die Regierung eine weitere Erhöhung des Netto-Mindestlohns um 49 % auf rund 17.000 Lira (rund 520 Euro) an, denn seit Juni 2023 bzw. der letzten Erhöhung hatte der Mindestlohn circa 88 Euro an Wert eingebüßt (Duvar 27.12.2023; vgl. WKO 29.12.2023). Anders als für 2023 schloss Staatspräsident Erdoğan eine zweite Anpassung im Jahr 2024 aus (Duvar 27.12.2023).
Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betragen aber die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern im Mittel 25.365 Lira, und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira aus. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023).
Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befindet sich mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).
Die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen betrugen 2021 lediglich 10,8 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).
Quellen
DW - Deutsche Welle (13.4.2023): Türkei vor der Wahl: Fleisch für viele Menschen unerschwinglich, https://www.dw.com/de/t%C3%Bcrkei-vor-der-wahl-fleisch-f%C3%Bcr-viele-menschen-unerschwinglich/a-65299835 , Zugriff 10.11.2023;
Duvar - Duvar (3.1.2024a): Turkey’s official annual inflation for 2023 soars to 64.8 pct, https://www.duvarenglish.com/turkeys-official-annual-inflation-for-2023-soars-to-648-pct-news-63593 , Zugriff 24.1.2024;
Duvar - Duvar (3.1.2024b): Turkey’s poverty threshold hits nearly three times of new minimum wage, https://www.duvarenglish.com/turkeys-poverty-threshold-hits-nearly-three-times-of-new-minimum-wage-news-63595 , Zugriff 31.1.2024;
Duvar - Duvar (27.12.2023): Turkey increases minimum wage by 49 percent to $578, https://www.duvarenglish.com/turkey-increases-minimum-wage-by-49-percent-to-578-news-63558 , Zugriff 9.1.2024;
Duvar - Duvar (29.10.2023): Four out of ten people in Turkey want to live abroad: Survey, https://www.duvarenglish.com/four-out-of-ten-people-in-turkey-want-to-live-abroad-survey-news-63229 , Zugriff 8.11.2023;
Duvar - Duvar (7.6.2022): 14.8 million people in Turkey suffer from undernourishment: UN report, https://www.duvarenglish.com/148-million-people-in-turkey-suffer-from-undernourishment-un-report-news-60908 , Zugriff 8.11.2023;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf , Zugriff 9.11.2023;
FP - Foreign Policy (27.1.2023): Erdogan’s Turkey Faces a Growing Exodus Ahead of Elections, https://foreignpolicy.com/2023/01/27/turkey-elections-erdogan-exodus-population-migration/ , Zugriff 8.11.2023;
GCT - Greek City Times (8.6.2022): Malnutrition in Turkey explodes as Erdoğan escalates war rhetoric against Greece, https://greekcitytimes.com/2022/06/08/malnutrition-in-turkey-erdogan/ , Zugriff 8.11.2023;
GTAI - Germany Trade and Invest (12.12.2023a): Türkei kämpft mit neuer Geldpolitik gegen die Krise, https://www.gtai.de/de/trade/tuerkei/wirtschaftsumfeld/tuerkei-kaempft-mit-neuer-geldpolitik-gegen-die-krise-247908#toc-anchor--3 , Zugriff 24.1.2024;
GTAI - Germany Trade and Invest (12.12.2023b): Türkei kämpft mit neuer Geldpolitik gegen die Krise, https://www.gtai.de/de/trade/tuerkei/wirtschaftsumfeld/tuerkei-kaempft-mit-neuer-geldpolitik-gegen-die-krise-247908#toc-anchor--3 , Zugriff 10.1.2024;
KAS - Konrad-Adenauer-Stiftung (1.6.2023): Jugendstudie Türkei 2023, https://www.kas.de/de/web/tuerkei/publikationen/einzeltitel/-/content/tuerkische-jugendstudie-2023 , Zugriff 8.11.2023;
Standard - Standard, Der (25.7.2022): Türkei lernt, mit Inflationsraten jenseits der 100 Prozent zu leben, https://www.derstandard.at/story/2000137723848/tuerkei-lernt-mit-inflationsraten-jenseits-der-100-prozent-zu-leben?ref=loginwall_articleredirect , Zugriff 9.1.2024;
TM - Turkish Minute (25.1.2024): Hunger line surpasses Turkey’s 2024 minimum wage in January: union - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2024/01/25/hunger-line-surpass-turkey-2024-minimum-wage-in-january-union , Zugriff 31.1.2024;
TM - Turkish Minute (8.6.2022): 90 percent of Turks struggling to make ends meet amid economic crisis: poll, https://www.turkishminute.com/2022/06/08/rcent-of-turks-struggling-to-make-ends-meet-amid-economic-crisis-poll/ , Zugriff 7.11.2023;
TM - Turkish Minute (7.6.2022): 14.8 million Turks suffer from insufficient food consumption, UN data show, https://www.turkishminute.com/2022/06/07/illion-turks-suffer-from-insufficient-food-consumption-un-data-show/ , Zugriff 8.11.2023;
TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (10.1.2024b): TÜIK Kurumsal, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Labour-Force-Statistics-November-2023-49378 , Zugriff 10.1.2024;
TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (4.5.2023): TÜIK Kurumsal, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Income-Distribution-Statistics-2022-49745 , Zugriff 10.1.2024;
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (29.12.2023): Türkei: Mindestlohnerhöhung um 49 % ab 1.1.2024, https://www.wko.at/aussenwirtschaft/tuerkei-mindestlohnerhoehung , Zugriff 10.1.2024;
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (10.2023): Außenwirtschaft Wirtschaftsbericht Türkei, https://www.wko.at/oe/aussenwirtschaft/tuerkei-wirtschaftsbericht.pdf , Zugriff 8.11.2023;
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (23.6.2023): Mindestlohn ab 1.7.2023 um 34 % höher, https://www.wko.at/aussenwirtschaft/mindestlohn-tuerkei , Zugriff 8.11.2023;
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (10.3.2023): Mindestlohn ab 1.1.2023 um 55 % höher - Lebenshaltungskosten steigen weiter, http://web.archive.org/web/20230401112003/https:/www.wko.at/service/aussenwirtschaft/mindestlohn-ab-2023-55-prozent-hoeher.html , Zugriff 8.11.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
Sozialbeihilfen / -versicherung
Letzte Änderung 2024-03-07 12:08
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 28.7.2022, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 28.7.2022, S. 21).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 46 Sozialunterstützungsleistungen, wobei der Anspruch an schwer zu erfüllende Bedingungen gekoppelt ist. - Hierzu zählen (alle Stand: Nov. 2023): Sachspenden in Form von Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 türkische Lira (TL) für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von zwölf Monaten über monatlich 350 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 3.800 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 520 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Pensionen und Betreuungsgeld für Behinderte und ältere pflegebedürftige Personen: zwischen 1.200 TL und 1.800 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 5.089 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hatte 2023 monatlich Anspruch auf 2.250 TL aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt 23.308 TL, ansonsten 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SSA 9.2018).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_B3richt_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 6.11.2022 [Login erforderlich];
[SGK 2016]
SSA - Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 7.11.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung 2024-03-07 13:55
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR o.D..; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51).
Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 8.2022; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53., İŞKUR o.D.). Zudem muss der Arbeitnehmer die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).
Für das Jahr 2024 gab das türkische Arbeitsamt an, dass das Mindest-Arbeitslosengeld 7.940 TL (ca. 242 Euro, berechnet am 10.1.2024) und das Maximum an Arbeitslosenunterstützung 15.880 TL (ca. 484 Euro) betragen wird. Hierbei gilt generell die Bestimmung, wonach das maximale Arbeitslosengeld 80 % des Brutto-Mindestlohns nicht überschreiten darf, welcher für 2024 mit 20.002 TL (ca. 610 Euro) festgesetzt wurde (İŞKUR o.D.).
Quellen
IOM - International Organization for Migration (8.2022): Länderinformationsblatt Türkei 2022, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202022%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf , Zugriff 6.11.2023;
IOM - International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 7.11.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
İŞKUR - Turkish Employment Agency (Türkiye İş Kurumu) [Turkey] (o.D.): Unemployment Benefit, https://www.iskur.gov.tr/en/job-seeker/unemployment-insurance/unemployment-benefit/ , Zugriff 10.1.2024;
17. Behandlung nach Rückkehr
Letzte Änderung 2024-03-07 13:53
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).
Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in bzw. für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, S. 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 10.1.2024). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (MBZ 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 10.1.2024). Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren sind auch im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien zu beobachten, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt z.B. in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben (AA 10.1.2024). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 10.1.2024).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13f.).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 50). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Eine Abfrage im Zentralen Personenstandsregister ist verpflichtend vorgeschrieben, insbesondere bei Rückübernahmen von türkischen Staatsangehörigen. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien und der Ukraine, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 57). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. MBZ 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (MBZ 18.3.2021, S. 71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2023; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 25). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2023).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: http://bruecke-istanbul.com/
TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf (DFAT 10.9.2020, S. 50).
Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Gegen Personen, die im Ausland für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurden, kann in der Türkei erneut ein Verfahren geführt werden (Art. 9). Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11/1). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben und Geldfälschung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51). Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S. 50).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat begangen wird: entweder gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE-VC 15.2.2016).
Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wird die illegale Ausreise aus der Türkei nicht als Straftat betrachtet. Infolgedessen müssten Personen, die unter diesen Umständen zurückkehren, wahrscheinlich nur mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 88).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (10.1.2024): Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962 , Zugriff 11.1.2024;
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 8.9.2023 [Login erforderlich];
CoE-VC - Council of Europe - Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-en.pdf , Zugriff 11.1.2024;
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023;
EU - Europäische Union (24.2.2023): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 24. Februar 2023, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2022/1241, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32023D0422&qid=1680857637258&from=DE , Zugriff 11.1.2024;
Independent - Independent, The (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/295631/yurtd%C4%B1%C5%9F%C4%B1nda-ya%C5%9Fayan-binlerce-ki%C5%9Fiye-t%C3%BCrkiye-giri%C5%9Flerinde-sosyal-medya-payla%C5%9F%C4%B1mlar%C4%B1 , Zugriff 10.1.2024;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General+COI+report+Turkiye+%28August+2023%29.pdf , Zugriff 13.11.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich];
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf , Zugriff 29.11.2023 [Login erforderlich];
SCF - Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-or-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/ , Zugriff 11.1.2024;
TRMFA - Republic of Turkey - Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (2022): PKK, https://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa , Zugriff 11.1.2024 [Login erforderlich];
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023;
VB - Verbindungsbeamte des BMI in Ankara/Istanbul [Österreich] (1.3.2023): Auskunft des Büros des ÖB Militärattachés, Antwort per E-Mail;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf , Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation TÜRKEI Überwachung, strafrechtliche Verfolgung von Benutzern sozialer Medien Anfragende Stelle: BVwG 03.09.2021 |
Hinweis:
In der vorliegenden Anfragebeantwortung erfolgt keine Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind und zu deren Auswirkungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt Informationen fehlen.
Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf Versorgungslage sowie auf Bewegungs- und Reisefreiheit der Bürgerinnen und Bürger sowie generell zu politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zusammengestellt werden.
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports , oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen, zu kontaktieren.
1. Welche Berichte über strafgerichtliche Verurteilungen aufgrund von Äußerungen in sozialen Medien in den letzten zwei Jahren liegen vor (welche konkreten Äußerungen wurden inkriminiert und welche Strafen wurden verhängt)?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch und Englisch zahlreiche Informationen gefunden. Eine ausgewogene Auswahl wird entsprechend den Standards der Staatendokumentation im Folgenden zur Verfügung gestellt.
Eine ausführliche Quellenbeschreibung zu einigen der verwendeten Quellen findet sich unter http://www.ecoi.net/5.unsere-quellen.htm . Als allgemein bekannt vorausgesetzte Quellen werden i.d.R. nicht näher beschrieben. Als weniger bekannt erkannte Quellen werden im Abschnitt „Einzelquellen“ näher beschrieben.
Anmerkung:
In der vorliegenden Anfragebeantwortung der Staatendokumentation werden fast ausschließlich Beispiele aus 2021 zitiert. Selbst diese stellen aufgrund des begrenzten Zeitaufwandes der Recherche nur einen Teil der Vorfälle dar.
Zusammenfassung:
Laut vorliegenden Quellen werden die sozialen Medien in einem wachsenden Umfang von den türkischen Behörden observiert. Die Anzahl der Anzeigen und Verurteilungen wegen vermeintlich insultierender Beiträge ist in den letzten Jahren gewachsen, insbesondere wenn diese den Staatspräsidenten oder andere Amtsträger betreffen. Dies gilt infolge einer Entscheidung des Kassationsgerichtes auch für das Teilen und Weiterleiten solcher Beiträge in den sozialen Medien. Allgemein können (politische) Ansichten, welche in den sozialen Medien geteilt werden zu Anzeigen und strafrechtlicher Verfolgung führen. Dies kann auch türkische Staatsbürger bei ihrer Einreise in die Türkei betreffen. Nebst der "Beleidigung eines öffentlichen Bediensteten", "Beleidigung des Präsidenten", "Beleidigung der Regierung und des Staates" erfolgen strafrechtliche Untersuchungen wegen "Erregung von Besorgnis, Angst und Panik in der Öffentlichkeit", der "Aufstachelung zu Hass und Feindschaft" sowie wegen der „Unterstützung einer terroristischen Organisation“. Dies betraf Nutzer sozialer Medien, welche die Militäroperationen der Türkei im Ausland, die COVID-19-Politik der Regierung oder das Vorgehen der Behörden anlässlich der grassierenden Waldbrände im Sommer 2021 kritisierten. Gemäß einer Quelle wurden 2020 gegen 32.000 Kontonutzer sozialer Medien Verfahren eingeleitet. Für Oktober 2021 ist überdies laut Ankündigung der Regierung eine Verschärfung der Gesetzesbestimmungen geplant, wonach bis zu fünf Jahren Haft für die Verbreitung von Falschmeldungen und bis zu zwei Jahren für Beleidigungen [Anm.: nicht nur von Staatsrepräsentanten] in sozialen Medien vorgesehen sind. Inzwischen meinen fast Zweidrittel der Türken und Türkinnen, dass, wenn sie ihre politischen Ansichten in den sozialen Medien teilen, sie in Schwierigkeiten geraten könnten.
Einzelquellen:
Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge berichtete Ende August 2021 Folgendes zu einem Gerichtsurteil wegen des strafrechtlichen Deliktes der Beleidigung, erfolgt via Twitter:
[…]
Twitter-Nutzer wegen Beleidigung verurteilt. Am 23.08.21 entschied der Kassationsgerichtshof im Falle eines Twitter-Nutzers, der einen beleidigenden Beitrag über einen Beamten auf der Plattform geteilt hatte. Das Gericht entschied, dass durch das Teilen des Beitrags mehr Menschen erreicht und dadurch die Wirkung der Beleidigung verstärkt worden war und entschied, dass auch das Teilen eines fremden Beitrags mit beleidigenden Inhalten eine Straftat darstelle.
[…]
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (30.8.2021): Briefing Notes, KW 35, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw35-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 1.9.2021
Zum gleichen Urteil berichtet das regierungskritische Medienportal Duvar, das es sich um die Insultierung eines Beamten handelte. Das Kassationsgericht argumentierte, dass durch das Re-Tweeten mehr Menschen erreicht wurden, und somit der Effekt der Beleidigung verstärkt wurde. Allgemein müssen in solchen Fällen laut Duvar Verurteilte mit Strafen zwischen drei Monaten und zwei Jahren Gefängnis rechnen. Mit dem Urteil wurde, so Experten, ein Präzedenzfall geschaffen, wonach Personen, die lediglich einen Inhalt, z.B. einen Tweet, teilen bzw. weiterleiten, nicht mehr argumentieren können, für den Inhalt nicht verantwortlich zu sein.
[…]
The Court of Cassation has ruled that a social media user who retweeted an insulting post about a civil servant has committed a crime, state-run TRT Haber reported on Aug. 23.
The court decided that the retweet made it possible for the social media post to reach many more people and thereby increased the effect of the insult.
Those who are found guilty of “insulting" charges are given between three months and two years of imprisonment in Turkey.
TRT Haber quoted legal experts as saying that the high court's decision means those who retweet a post will no longer be able to say the content is solely the responsibility of the author.
Prof. Dr. Ender Ethem Atay, from Hacı Bayram Veli University, said that the high court's decision will set a precedent for other similar cases.
“If a person retweets a news piece on social media, then they give the message that they are of the same opinion as that [news piece]. In this case, if the news piece has an insulting nature, then it means they share the same opinion," Atay was quoted as saying by TRT Haber.
Atay also said that the upcoming new social media restrictions will push people to pay “much more attention to their attitude and behaviors" on online communication.
“In the Turkish Legal System, a regulation will be brought for criminal offenses on social media. In this way, people will pay much more attention to their attitude and behaviors," he said.
The ruling Justice and Development Party's (AKP) is preparing to present a new draft bill to parliament which plans to legalize misinformation and disinformation as criminal activity and implement prison time for the dispersion of fake news on social media.
Prompted by a statement from President Recep Tayyip Erdoğan that the AKP would launch a "truth operation," the draft bill foresees prison sentences ranging from one to five years to be issued against persons producing and dispersing fake news.
The government also plans to establish a Social Media Directorate to check online comments, in a move which critics say is an effort to curb freedom of speech and access to unbiased news in the country.
[...]
Duvar (23.8.2021): Turkey's top appeals court sentences social media user for retweeting insulting post, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-appeals-court-sentences-social-media-user-for-retweeting-insulting-post-news-58570 , Zugriff 2.9.2021
Laut einem Bericht des regierungskritischen Nachrichtenportals Turkish Minute von Mitte August 2021, ist ein neues Gesetz bzw. sind gesetzliche Verschärfungen hinsichtlich der Verhängung von Haftstrafen in Fällen von Beleidigungen und der Verbreitung von Lügen und Desinformation in sozialen Medien geplant.
[…]
A new bill expected to be proposed soon by Turkey’s ruling Justice and Development Party (AKP) stipulates prison sentences for social media users who “insult" someone or spread “lies and disinformation" online, according to a report by the Türkiye newspaper on Tuesday.
Users who are charged with “insulting" someone on social media could be sentenced to between three months and two years under the bill, while people who are found to be spreading “lies and disinformation" online may face between one and five years behind bars.
In line with the proposed law, which is modeled on social media legislation of European Union countries –- especially Germany -– the circumstances that lead to an increase in penalties for existing crimes in the Turkish Penal Code (TCK) will also be valid for crimes committed through social media.
Türkiye further reported that the ruling party plans to establish a mechanism that would inspect the social media outlets used by Turks and determine those users who produce or disseminate fake news online.
The “Social Media Presidency" may be established either within the Internet department of the Telecommunications Authority (BTK) or the Radio and Television Supreme Council (RTÜK), Turkey’s broadcasting watchdog, Türkiye said, citing sources from the ruling party.
The AKP government has been relentless in its crackdown on critical media outlets particularly after a coup attempt on July 15, 2016.
As an overwhelming majority of the country’s mainstream media has come under government control over the last decade, Turks have taken to social media and smaller online news outlets for critical voices and independent news.
Turks are already heavily policed on social media, and many have been charged with insulting Turkish President Recep Tayyip Erdoğan or his ministers, or criticism related to foreign military incursions and the handling of the coronavirus pandemic.
In July 2020 parliament passed legislation at Erdoğan’s request imposing far-reaching restrictions on social media platforms with over 1 million daily visitors in Turkey.
The law, which concerns YouTube, Facebook, Twitter, Instagram and TikTok, went into effect at the beginning of October and set forth progressive sanctions forcing social media platforms with more than 1 million connections a day to appoint a representative in Turkey with whom the Turkish authorities can resolve problems arising from cases of insult, intimidation and violation of privacy.
The law was criticized by human rights defenders and critics including Amnesty International, Human Rights Watch, Reporters Without Borders and the UN, who expressed concern over the government’s move.
TM – Turkish Minute (17.8.2021): AKP bill calls for prison sentences for ‘insulting,’ ‘disinformation’ on social media, https://www.turkishminute.com/2021/08/17/akpbillcall-for-prison-sentences-for-insulting-disinformation-on-social-media/ , Zugriff 19.8.2021
Das Analyseportal zu Ländern des Nahen Ostens und der Türkei, Al Monitor, berichtet Mitte August 2021, dass die türkische Regierung für den Oktober 2021 eine Verschärfung der Gesetzesbestimmungen plant, wonach bis zu fünf Jahren Haft für die Verbreitung von Falschmeldungen und bis zu zwei Jahren für Beleidigungen in sozialen Medien vorgesehen sind. Überdies ist geplant eine Regierungsbehörde zu installieren, welche Online-Kommentare überwachen soll. Laut Erkan Saka, Medienexperte an der Istanbul Bilgi Universität, hat die Regierung bereits die Möglichkeit, die sozialen Medien einzuschränken, aber normalerweise werden Menschen, die für das, was sie in den sozialen Medien schreiben, strafrechtlich verfolgt werden, nach ein paar Monaten wieder freigelassen. Jetzt möchte die Regierung, so Saka, diese Kritik via soziale Medien kriminalisieren.
Die Entwicklung kommt kurz nachdem die Regierung behauptet hatte, ein Hilfsappell auf Twitter während der Waldbrände sei ein inszenierter Versuch gewesen, die Moral und das Vertrauen in die Behörden zu untergraben. Der Hashtag #HelpTurkey führte zu einer strafrechtlichen Untersuchung, da er angeblich Panik verbreiten und die Regierung demütigen sollte, die für ihre Reaktion auf die tödlichen Brände stark kritisiert wurde. Die Regierung erklärte, der Hashtag sei von gefälschten Konten verbreitet worden, die Präsident Recep Tayyip Erdogan als "Terror der Lügen aus Amerika, Europa und bestimmten anderen Orten" bezeichnete.
In letzter Zeit ist es in den sozialen Medien zu einer Zunahme von flüchtlingsfeindlichen Beiträgen gekommen, nachdem Berichte über einen Anstieg der Zahl der Afghanen, die über die iranische Grenze in die Türkei kommen, und über Gewalt gegen syrische Flüchtlinge in Ankara bekannt wurden. Laut Medienexperten Saka scheint die Regierung dies zugelassen zu haben, um ein Klima zu schaffen, das ein Gesetz gegen Desinformation in sozialen Medien Vorschub leistet.
Einem kürzlich erschienenen Bericht der in Istanbul ansässigen Vereinigung für Meinungsfreiheit zufolge wurden im vergangenen Jahr rechtliche Schritte gegen 32.000 Konten in sozialen Medien eingeleitet, während etwa 58.800 Websites verboten wurden.
[…]
Turks could soon face up to five years in prison for spreading fake news on social media, according to reports regarding the government’s latest crackdown on online communications.
Proposals due to be put before parliament when it returns in October include punishment of one to five years for disseminating fake news, while those convicted of online insults would face up to two years in jail, the pro-government Turkiye newspaper reported.
There are also plans to establish a Social Media Directorate within the government to monitor online comments.
[…]
“At the moment it’s quite ambiguous, but I think its mission is to intimidate social media users," said Erkan Saka, head of media at Istanbul Bilgi University.
Saka added, “It’s part of this clamping down and restricting of social media. The government already has the tools to restrict social media, but usually people prosecuted for what they write on social media are released after a few months. Now they would like to criminalize this criticism through social media."
[…]
The development comes shortly after the government claimed an appeal for aid on Twitter during forest fires was an orchestrated attempt to undermine morale and faith in the authorities.
The #HelpTurkey hashtag led to a criminal investigation amid claims it was designed to spread panic and humiliate the government, which was severely criticized for its response to the deadly fires.
The government said the hashtag was spread by fake accounts that President Recep Tayyip Erdogan called a “terror of lies … spread from America, Europe and certain other places."
Recently, social media has seen an increase in anti-refugee posts following reports of a rise in the number of Afghans crossing the Iranian border into Turkey and violence against Syrian refugees in Ankara.
“In the last couple of weeks, some accounts on Twitter spread some very provocative statements about refugees, which could easily be stopped and those responsible arrested because they aren’t using anonymous accounts," said Saka. “The government seems to have let this happen to create a climate to support a law against disinformation on social media."
[…]
A recent report by the Istanbul-based Freedom of Expression Association found legal action was taken against 32,000 social media accounts last year, while some 58,800 websites were banned.
[...]
Al Monitor (19.8.2021): Turkey’s plans for new social media restrictions threaten five years in prison for spreading fake news, https://www.al-monitor.com/originals/2021/08/turkeys-plans-new-social-media-restrictions-threaten-five-years-prison-spreading , Zugriff 2.9.2021
Laut einem Bericht des regierungskritischen Nachrichtenportals Turkish Minute von Mitte August 2021 hat die Polizei gleichzeitig Razzien in süd-, südost- und osttürkischen Städten durchgeführt und zahlreiche Personen im Zusammenhang mit ihren Beiträgen in den sozialen Medien, die angeblich der Terrorunterstützung dienten, in Gewahrsam genommen. Die Anklagepunkte sind wegen der Geheimhaltungsanweisung nicht publik.
[…]
Police have conducted simultaneous raids in southern, southeastern and eastern Turkish cities, taking a large number of people into custody in connection with their social media posts, the Kronos news website reported on Friday.
The operation in Diyarbakır was overseen by the Diyarbakır Chief Public Prosecutor’s Office as part of an investigation into 88 people in connection with their social media posts allegedly containing propaganda. As a result of simultaneous raids on 104 locations, 59 people were detained.
As part of an investigation launched by the Adana Chief Public Prosecutor’s Office in connection with social media posts allegedly containing the propaganda of a terrorist organization, 29 people were taken into custody.
During the raids, police officers reportedly entered houses by breaking down the doors.
The suspects were taken to the police department following medical checks.
The Media and Law Studies Association (MLSA), a non-profit organization working in the fields of free speech, journalism, Internet freedoms and the right to information, announced that the police also detained Beritan Canözer, a reporter for JinNews, the only all-female news agency in Turkey, in a Twitter message on Friday.
Meanwhile, the MLSA also reported in a post that there were two similar police operations in Turkey’s southern city of Mersin and eastern city of Van and that at least 102 people were taken into custody in four cities.
The association noted that the charges against the suspects are not known due to a confidentiality order and that the periods of detention may be extended due to the large number of suspects.
[...]
TM – Turkish Minute (13.8.2021): Numerous people detained over social media posts in SE Turkey, https://www.turkishminute.com/2021/08/13/numerous-people-detain-over-social-media-post-in-se-turkey/ , Zugriff 19.8.2021
Das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen ARD berichtete Mitte Mai 2021 in seinem Sportprogramm über das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zugunsten des deutsch-türkischen Fußballprofis, Deniz Naki, der in der Türkei wegen seines Friedensaufrufs auf Facebook wegen Terrorpropaganda zu fast 19 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt wurde:
[…]
[...]
Die Türkei hat mit einer Spielsperre und einer Geldstrafe für den deutsch-türkischen Fußball-Profi Deniz Naki wegen eines Facebook-Posts dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zufolge gegen Nakis Rechte verstoßen.
Die türkischen Behörden hätten nicht gezeigt, dass die angeführten Gründe für die Strafe angemessen und ausreichend seien, teilte das Gericht am Dienstag (18.05.2021) in Straßburg mit. Wegen Verstößen gegen Nakis Meinungsfreiheit und sein Recht auf ein faires Verfahren muss die Türkei ihm und seinem Klub Amed Sportif Faaliyetler zusammen etwa 14.000 Euro zahlen.
Friedensaufruf angeblich "Terrorpropaganda"
Nach einem zivilrechtlichen Prozess wurde er im April 2017 in der Türkei wegen angeblicher "Terrorpropaganda" zu 18 Monaten und 22 Tagen Haft auf Bewährung verurteilt. Der in Düren aufgewachsene frühere Spieler des FC St. Pauli und des SC Paderborn hatte sich im Konflikt der Türkei mit den kurdischen Minderheiten für Frieden ausgeprochen.
In zwei weiteren Fällen stellte der Gerichtshof bei Strafen des Türkischen Fußballverbandes (TFF) wegen öffentlicher Aussagen ebenfalls Menschenrechtsverstöße fest. Der Disziplinarrat des Verbands hatte Naki Anfang 2016 als Spieler des türkischen Drittligisten Amed SK vorgeworfen, mit seinem Post auf Facebook ideologische Propaganda betrieben und zu Gewalt angestiftet zu haben.
Naki wurde daraufhin für zwölf Spiele gesperrt und erhielt eine Geldstrafe von etwa 6.000 Euro. Der Schiedsausschuss des TFF bestätigte die Strafe. Im Januar 2018 sperrte die TFF Naki lebenslang und verhängte eine weitere Geldstrafe. Diese Entscheidung war aber nicht Teil des Urteils des Menschenrechtsgerichts vom Dienstag.
Richter zweifeln an Unabhängigkeit des Verbandes
Dem Menschenrechtsgericht zufolge gibt es wegen struktureller Mängel aber berechtigte Gründe, die Unabhängigkeit dieser Institution anzuzweifeln. Die EGMR-Richter erinnerten am Dienstag daran, dass sie bereits in einem Urteil vom Januar 2020 "strukturelle Mängel" bei der Schiedskommission des türkischen Verbandes festgestellt hatten. Diese Mängel bezogen sich sowohl auf die Ernennung der Kommissionsmitglieder als auch auf deren Schutz vor Druck von außen.
Gemeinsam mit Sedat Dogan, einem Vorstandsmitglied von Galatasaray, und dem früheren Schiedsrichter Ibrahim Tokmak hatte sich Naki an den Gerichtshof in Straßburg gewandt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gehört zum Europarat. Gemeinsam setzen sich die von der Europäischen Union unabhängigen Organe für den Schutz der Menschenrechte in den 47 Mitgliedstaaten ein.
ARD-Sportschau (18.5.2021): Menschengerichtshof sieht Nakis Rechte in der Türkei verletzt, https://www.sportschau.de/fussball/deniz-naki-urteil-gerichtshof-menschenrechte-100.html , Zugriff 18.8.2021
Ergänzend hierzu die Presseaussendung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 18.5.2021:
[...]
In today’s Chamber judgment1 in the cases of Sedat Doğan v. Turkey (application no. 48909/14), Naki and Amed Sportif Faaliyetler Kulübü Derneği v. Turkey (no. 48924/16) and Ibrahim Tokmak v. Turkey (no. 54540/16), the European Court of Human Rights held, unanimously, that there had been: a violation of Article 6 § 1 (right to a fair hearing) of the European Convention on Human Rights, and a violation of Article 10 (freedom of expression) of the Convention. The three cases concerned sports sanctions and financial penalties imposed on the applicants by the Turkish Football Federation on account of statements to the media or messages posted or shared on social media, and the appeal proceedings lodged against those sanctions by the applicants before the Federation’s Arbitration Committee. Referring to its case-law in the Ali Rıza and Others judgment, delivered on 28 January 2020, the Court noted structural deficiencies in the Arbitration Committee of the Turkish Football Federation and the lack of adequate safeguards to protect the members of the Committee from outside pressure. It concluded that the Arbitration Committee lacked independence and impartiality and found a violation of Article 6 § 1 of the Convention in each of the three cases. The Court also noted, in each of the three cases, that the reasoning given by the national bodies in their decisions to impose sanctions on the applicants demonstrated a failure to carry out an adequate balancing exercise between, on the one hand, the applicants’ right to freedom of expression and, on the other, the right of the TFF’s leadership to respect for their private lives and the other interests at stake, such as maintaining order and peace in the football community. In each of these cases, the Court considered that the national authorities had not carried out an appropriate analysis, having regard to all the criteria laid down and applied by the Court in its case-law concerning freedom of expression. In the Court’s view, the Government had not shown that the reasons given by the national authorities to justify the contested measures had been relevant and sufficient, and that those measures had been necessary in a democratic society. It followed that, for each of the three cases and for the same reasons, there had been a violation of Article 10 of the Convention.
[…]
European Court of Human Rights (18.5.2021): Sports and financial sanctions imposed on the applicants by the Turkish Football Federation: violations of the Convention, Press Release [ECHR 150 (2021)], file:///home/wjf5284/Downloads/Three%20judgments%20v.%20Turkey%20-%20sports%20and%20financial%20sanctions%20imposed%20on%20the%20applicants%20by%20the%20Turkish%20Football%20Federation_%20violations%20of%20the%20Convention%20.pdf, Zugriff 18.8.202
Die regierungskritische Informationsportal Duvar berichtete Anfang Februar 2021 unter Berufung auf das türkische Innenministerium, dass nach der Inspektion von über 1.200 Social Media-Konten 39 Nutzer wegen Terrorpropaganda zugunsten der Gülen-Bewegung, der PKK und dem sog. Islamischen Staat festgenommen wurden.
[…]
Turkish authorities have inspected 1,264 social media accounts over the past week and detained 39 users for allegedly "conducting terror propaganda," according to a statement released by the Interior Ministry on Feb. 8. […]
Turkish police have detained 39 people between Feb. 1-7 for allegedly “conducting terror propaganda," according to a statement released by the Interior Ministry on Feb. 8
The statement said that officials have inspected 1,264 social media accounts and determined the names of 575 people using these accounts.
The ministry accused these social media users of conducting propaganda on behalf of the Gülen network (referred to as the Fethullahist Terrorist Organization or FETÖ by the government), Kurdistan Workers' Party (PKK), Kurdistan Communities Union (KCK), “extreme left terror organizations" and ISIS.
The Turkish government keeps a tight rein on most media, and social media platforms are among the few outlets where criticism of the authorities is allowed. But, even these platforms are at risk.
Turkey approved a law last year that gives authorities greater power to regulate social media. The government says the legislation was needed to combat cybercrime and to protect users of social media, however it has led to concerns of growing censorship.
[...]
Duvar (8.2.2021): Turkey detains 39 social media users in one week, https://www.duvarenglish.com/turkey-detains-39-social-media-users-in-one-week-news-56176 , Zugirff 18.8.2021
Ad: Beleidigung des Staatspräsidenten und anderer Würdenträger
Laut eines Berichtes der Tageszeitung Sözcü, zitiert in der regierungskritischen Internetzeitung Ahval, unter Berufung auf Zahlen des Justizministeriums wurden in den Jahren 2018 bis 2020 über 29.000 Personen wegen Beleidigung des Staatspräsidenten strafrechtlich verfolgt. 2020 waren es 9.773, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger.
[…]
Turkey’s courts prosecuted more than 29,000 people for insulting President Recep Tayyip Erdoğan between 2018 and 2020, Sözcü newspaper reported on Tuesday, citing Justice Ministry figures.
A total of 9,773 people faced the courts last year, including 152 foreign citizens and 290 children, Sözcü said. Of the total, 34.4 percent of cases resulted in a conviction and 14.3 percent in acquittals, while a decision in 35.1 percent of case was deferred, it said.
In 2018, when Turkey’s executive presidential system was introduced, 6,326 people faced court cases. The number rose to 13,990 in 2019, Sözcü said.
[...]
Ahval (20.7.2021): Over 29,000 people prosecuted for insulting Erdoğan in three years, https://ahvalnews.com/turkey-democracy/over-29000-people-prosecuted-insulting-erdogan-three-years , Zugriff 18.8.2021
Im Mai 2021 berichtete die regierungskritische Internetzeitung Duvar, dass gegen einen Facebook-Nutzer ein Haftbefehl wegen Beleidigung des Parteivorsitzenden der ultranationalistischen MHP (Anm.: Koalitionspartner der AKP), Devlet Bahçeli, erlassen wurde. Dieser nannte Bahçeli einen senilen Politiker, der ins Altersheim gehöre. Die Staatsanwaltschaft forderte, dass der Social-Media-Nutzer wegen "Beleidigung eines Amtsträgers" (Anm.: Bahçeli ist Parlamentsabgeordneter) zu einer Haftstrafe zwischen einem Jahr und 28 Monaten verurteilt wird.
[…]
On top of criminal charges, a Turkish social media user is facing an arrest warrant for calling MHP leader Devlet Bahçeli a “senile" politician who needs to “be put in an old people's home." Turkish prosecutors are demanding between one year and 28 months in jail for the social media user in question. […]
Turkish prosecutors have launched an investigation to a social media user over a comment about Nationalist Movement Party (MHP) leader Devlet Bahçeli, online news portal Bianet reported on May 24.
The Ankara 2nd Criminal Court of Peace also issued an arrest warrant for the social media user in question who called Bahçeli a “senile" politician.
The prosecutors are demanding that the social media user receive a jail sentence between one year and 28 months on charges of “insulting a public official."
The social media user had made the remarks in a Facebook comment to daily Sözcü's news report about the politician.
“Put him in an old people's home already. He has become severely senile and gone out of his head by constantly changing sides," the social media user had said.
[…]
Duvar (24.5.2021): Arrest warrant issued for social media user for calling MHP chair Bahçeli 'senile', https://www.duvarenglish.com/arrest-warrant-issued-for-social-media-user-for-calling-mhp-chair-bahceli-senile-news-57598 , Zugriff 18.8.2021
Das Analyseportal Balkan Insight berichtete Mitte Jänner 2021 unter Zitierung der regierungskritischen Internetzeitung Duvar, wonach zwischen 2014 und 2019 128.872 Ermittlungsverfahren wegen Beleidigungen des Präsident Erdoğan eingeleitet wurden, denen in 27.717 der Fälle ein Strafverfahren seitens der Staatsanwaltschaft folgte. Die meisten, so Duvar, betrafen Äußerungen in sozialen Medien.
Türkische Gerichte haben 9.556 der Angeklagten verurteilt, darunter Journalisten, Schriftsteller, Politiker und sogar Schulkinder. Etwa 903 Minderjährige zwischen 12 und 17 Jahren standen wegen Beleidigung des Staatspräsidenten vor Gericht. - So wurde z.B. 2018 ein 14-Jähriger wegen eines Instagram-Posts strafrechtlich verfolgt und wegen Beleidigung Erdogans angeklagt. Der Teenager wurde infolge zu fünf Monaten und 25 Tagen Gefängnis verurteilt, was jedoch später in eine Geldstrafe von 3.500 Türkischen Lira (400 Euro) umgewandelt wurde.
2020 meinten fast Zweidrittel der Türken und Türkinnen, dass, wenn sie ihre politischen Ansichten in den sozialen Medien teilen, sie in Schwierigkeiten geraten könnten.
[…]
An investigation published by the independent Turkish media outlet Gazete Duvar shows that between 2014 and 2019 nearly 128,872 probes were launched into insults against President Recep Tayyip Erdogan, resulting in prosecutors launching 27,717 criminal cases.
Turkish courts sentenced 9,556 of those charged. The investigation prepared by journalist Eren Topuz draws on Turkish Justice Ministry data and reveals that offenders included journalists, authors, politicians and even schoolchildren. Some 903 minors aged between 12 and 17 went to court for insulting the Turkish strongman.
Experts said the huge number of cases and probes show Erdogan’s crackdown on his critics has continued and even worsened, and violates the right to freedom of speech.
They also said it has led people to self-censor their posts on social media and journalists to do the same when they write or talk about President Erdogan.
“We are journalists. We should be able to make some fun of politicians. There is no rule that says we will be always serious. We can criticize by making fun of them," Engin Korkmaz, a journalist who has faced charges of insulting the President, told Gazete Duvar.
Korkmaz added that he now consults a lawyer about his posts before he shares on social media to avoid facing another insult-related law case.
“Think about where the freedom of expression of a journalist currently stands. I am no longer able to share anything with my free will," Korkmaz complained.
According to the investigation, a 14-year-old child was prosecuted in 2018 over an Instagram post and faced charges of insulting Erdogan.
The teen was later sentenced to five months and 25 days in prison, although this was turned later into an administrative fine of 3,500 Turkish liras (400 euros). The court also deferred announcement of the verdict.
According to Reuters Institute Digital News Report 2020, some 65 per cent of Turkish citizens think that if they share their political views on social media, they could “get into trouble." Turkey ranks at the top of the list among 37 countries in this respect, followed by Singapore, Malaysia and Brazil respectively, with 63, 57 and 56 per cent.
BalkanInsight (15.1.2021): Investigation Highlights Spike in Cases of Insulting Turkish President, https://balkaninsight.com/2021/01/15/investigation-highlights-spike-in-cases-of-insulting-turkish-president/ , Zugriff 18.8.2021
Anmerkung: Der hier nicht zitierte Originaltext auf Türkisch in der regierungskritischen Internetzeitung Duvar weist darauf hin, dass ein bedeutender Teil der eingeleiteten Ermittlungen Posts auf Social-Media-Konten waren (siehe: https://www.gazeteduvar.com.tr/cumhurbaskanina-hakaret-mahkumlari-cocuk-gazeteci-avukat-haber-1510280 )
Das regierungskritische Informationsportal Turkey Purge berichtete Mitte Februar 2020 von einer türkischen Staatsbürgerin, die, aus der Schweiz kommend, am Flughafen Istanbul auf der Basis eines Haftbefehls wegen Präsidentenbeleidigung und der Verbreitung terroristischer Propaganda via Facebook verhaftet wurde.
[…]
Ayten Sarıkaya Kesler, a 53-year-old Turkish woman with stage 2 cancer, sent to prison on February 12 after being detained at an İstanbul airport upon her arrival from Switzerland, the Cumhuriyet daily reported.
The daily said that there was an outstanding arrest warrant for Kesler for “insulting" President Recep Tayyip Erdoğan and “disseminating terrorist propaganda" via Facebook posts.
She reportedly fainted while at the courthouse and was subsequently hospitalized.
Speaking to the media, Kesler’s lawyer said she suffers from hypertension and a number of other health problems in addition to the cancer.
According to Justice Ministry figures, nearly 20,000 people have been the subject of legal proceedings for allegedly insulting Erdoğan during his presidency. The number includes many ordinary citizens who were prosecuted over their social media posts.
[…]
Turkey Purge (15.2.2020): Cancer patient sent to prison for ‘insulting’ Erdogan on social media, https://turkeypurge.com/cancer-patient-sent-to-prison-for-insulting-erdogan-on-social-media , Zugriff 2.9.2021
Ad: Kritik an COVID-19-Maßnahmen der Regierung
Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete im März 2020, dass in der Türkei 410 Personen verhaftet wurden, weil sie in den sozialen Medien laut Innenminister "provokative" Beiträge über den Ausbruch des Coronavirus verfasst hätten. Er sagte, dass die meisten dieser Konten mit militanten Gruppen in Verbindung stünden, ohne weitere Einzelheiten zur Identität der Verdächtigen zu nennen. Einige der Verhaftungen erfolgten aufgrund von Beiträgen, in denen sich Jugendliche über ältere Menschen lustig machten, weil sie sich während der Abriegelung nach draußen gewagt hatten, sagte Innenminister. Solche Beiträge hätten in der Türkei für öffentlichen Unmut gesorgt.
[...]
Turkey has arrested 410 people for making “provocative" posts on social media about the coronavirus outbreak, its interior minister said on Wednesday. […] The minister said almost 2,000 social media accounts had been identified making provocative posts about the outbreak, resulting in the detention of 410 people “attempting to stir unrest".
He said that most of the accounts were linked to militant groups, without giving further details of the identities of the suspects.
Some of the arrests were over posts that showed youths mocking elderly people for venturing outside during the lockdown, he said. Such posts have been a source of public anger in Turkey.
Turkey’s leadership has been accused in the past by rights groups and political opponents of cracking down on social media to limit criticism. The government says its strict monitoring of social media is necessary to guarantee public safety.
[...]
Reuters (25.3.2020): Turkey rounds up hundreds for social media posts about coronavirus, https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-turkey-idUSKBN21C1SG , Zugriff 18.8.2021
Ad: Kritik an den Regierungsmaßnahmen gegen die Waldbrände (Sommer 2021)
Die regierungskritische Internetzeitung Duvar berichtete Anfang August 2021, dass die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara eine Untersuchung der Posts in den sozialen Medien eingeleitet hatte, in denen angesichts der verheerenden Waldbrände um ausländische Hilfe gebeten wurde. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft versuchten, einige Social-Media-Betreiber bzw. deren Nutzer "Panik, Angst und Besorgnis in der Öffentlichkeit zu schüren", indem sie den Hashtag "Help Turkey" verwendeten. Die Generalstaatsanwaltschaft behauptete zudem, dass einige Nutzer versuchten, den türkischen Staat und die Regierung zu demütigen, und einige von ihnen in der Vergangenheit Terrorismus-Propaganda betrieben hätten. Die Generalstaatsanwaltschaft warf den Verdächtigen die "Beleidigung eines öffentlichen Bediensteten", "Beleidigung des Präsidenten", "Beleidigung der Regierung und des Staates", "Erregung von Besorgnis, Angst und Panik in der Öffentlichkeit" und "Aufstachelung zu Hass und Feindschaft" vor [Anm.: alles Delikte laut türk. Strafgesetzbuch].
[…]
Ankara Chief Public Prosecutor's Office has launched a probe into social media posts that asked for foreign help amid the devastating forest fires.
The Ankara Chief Public Prosecutor's Office has launched a probe into social media posts that asked for foreign help in the face of the devastating forest fires.
Over 2.6 million tweets were shared with the hashtag "Help Turkey" following the fires mainly due to desperation and anger since the government failed to put them out.
According to the prosecutor's office, some social media accounts and media outlets "tried to create panic, fear and concern among the public" by using the hashtag. It also claimed that some accounts tried to humiliate the Turkish state and the government.
"It was determined that social media users with sensitivity towards the issue were provoked for an environment of chaos to be created," it said, adding that some of the accounts made "terrorism propaganda" in the past.
The suspects are accused of "insulting a public employee," "insulting the president," insulting the government and the state," "creating concern, fear and panic among the public" and "inciting hatred and enmity."
[...]
Duvar (5.8.2021): Amid devastating wildfires, probe launched into 'Help Turkey' social media posts,
https://www.duvarenglish.com/amid-devastating-wildfires-probe-launched-into-help-turkey-social-media-posts-news-58398 , Zugrff 18.8.2021
Amnesty International gab im Jahresbericht 2019 Folgendes zur strafrechtlichen Verfolgung von Nutzern sozialer Medien an:
[...]
Recht auf freie Meinungsäußerung
Strafrechtliche Ermittlungen und Verfolgungsmaßnahmen nach den Antiterrorismusgesetzen sowie Untersuchungshaft mit Strafcharakter wurden weiterhin eingesetzt, um tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende zum Schweigen zu bringen, die sich keiner nachweislich strafbaren Handlung schuldig gemacht hatten. Die Gerichte sperrten Online-Inhalte, und gegen Hunderte von Social-Media-Nutzer_innen wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Im August 2019 trat eine neue Bestimmung in Kraft, der zufolge Internet-Rundfunkplattformen Lizenzen beim Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) beantragen müssen. Der Inhalt der Plattformen wird vom RTÜK überwacht, was diesem breitere Zensurbefugnisse im Online-Bereich verschafft.
Mindestens 839 Social-Media-Konten wurden untersucht, weil über sie angeblich im Zusammenhang mit der "Operation Friedensquelle" stehende "kriminelle Inhalte" geteilt wurden. Hunderte von Menschen wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen, und mindestens 24 kamen in Untersuchungshaft.
[…]
Die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin war weiter von Inhaftierung bedroht. Gegen Eren Keskin laufen derzeit mehr als 140 separate Strafverfahren wegen Artikeln, die sie als symbolische Chefredakteurin der inzwischen geschlossenen kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem veröffentlichte. Im Oktober 2019 wurde ihr Haus durchsucht und sie wurde von Beamt_innen der Anti-Terror-Abteilung der Generaldirektion für Sicherheit – die Zentralbehörde der türkischen Polizei – in Istanbul vernommen, weil sie in Sozialen Medien Posts mit Kritik an der "Operation Friedensfrühling" geteilt hatte. […]
AI - Amnesty International (16.4.2020): Türkei 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2038590.html , Zugriff 18.8.2021
2. Gibt es generell Berichte, dass der türkische Staat die Profile von im Ausland befindlichen türkischen Staatsangehörigen in sozialen Medien wie Facebook, Twitter und ähnlichem systematisch screent bzw. untersucht?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
Zu dieser spezifischen Fragestellung wurden nur wenige Quellen gefunden. Gesucht wurde unter den Suchbegriffen und deren Kombination sowohl auf Deutsch als auch mit den englischen Äquivalenten: Überwachung, Ausspionierung, Auslandstürken, Türken, türkische Bürger im Ausland, in Deutschland und Österreich, soziale Medien, Twitter, Facebook.
Eine ausführliche Quellenbeschreibung zu einigen der verwendeten Quellen findet sich unter http://www.ecoi.net/5.unsere-quellen.htm . Als allgemein bekannt vorausgesetzte Quellen werden i.d.R. nicht näher beschrieben. Als weniger bekannt erkannte Quellen werden im Abschnitt „Einzelquellen“ näher beschrieben.
Zusammenfassung:
Laut vorliegenden Quellen, die sich zumal auf Deutschland beziehen, erfolgt die Überwachung von Nutzern sozialer Medien auch im Ausland, sodass Türken oder türkisch-stämmige Personen bei der Einreise in die Türkei verfolgt werden können. Die Beobachtung erfolgt nicht nur über Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT, sondern auch durch andere Vertreter des türkischen Staates, wie des Religionsverbandes. Darüber hinaus ermöglicht eine offizielle Smartphone-Applikation der türkischen Behörden weltweit, dass Nutzer, zumal türkische Staatsangehörige im Ausland, die Tätigkeiten ihrer regierungskritischen Landsleute – auch in den sozialen Medien – den türkischen Behörden direkt melden.
Einzelquellen:
Der Deutschlandfunk berichtete Folgendes zur Überwachung der Aktivitäten von Auslandstürken in den sozialen Medien:
[...]
Zahlreiche türkische Oppositionelle leben in der Bundesrepublik. Im deutschen Exil versuchen sie gemeinsam mit türkischstämmigen Deutschen den Kampf gegen die Erdogan-Regierung fortzusetzen. Mit Worten statt mit Waffen. […]
Einigen droht in ihrer Heimat die Verhaftung, weil sie einen Friedensaufruf zum Dialog mit den Kurden unterschrieben haben oder weil sie zu Themen gearbeitet und gesprochen haben, die in Erdogans Türkei tabu sind. Ihre Social-Media-Netzwerke, zahlreiche Veranstaltungen und Veröffentlichungen in deutschen Großstädten auch in Zusammenarbeit mit Kunst-, Kultur- und Medienschaffenden, sowie Demonstrationen wie die heutige zeigen: Rund fünf Jahre nach dem Putschversuch in der Türkei wächst die außerparlamentarische Opposition in Deutschland stetig. Gerade jenseits der staatlichen Stellen, offiziellen Ableger türkischer Parteien oder staatsnahen Organisationen wie dem türkischen Moscheeverband Ditib, ist der innertürkische Konflikt in deutschen Großstädten allgegenwärtig.
[...]
Kritik an Menschenrechtsverletzungen via Twitter
Ünsal Arɪk hält sich an keine Netiquette. Er redet, wie er denkt, wird dafür gehasst und geliebt. Vor allem aber wird er gehört. Auf seinem türkischsprachigen Twitter-Account folgen ihm über 140.000 Menschen, lesen, wenn er Menschenrechtsverletzungen in der Türkei anprangert, flucht und motzt. Drei Haftbefehle liegen am Bosporus inzwischen gegen ihn vor – unter anderem wegen Präsidentenbeleidigung. Seit fünf Jahren war er nicht mehr dort.
[…]
Erdogan-Kritiker auf Personenschutz angewiesen
Sätze wie dieser bleiben nicht unbemerkt. Auch, wenn sie in Berlin ausgesprochen werden. Nur zwölf Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT seien in Deutschland offiziell gemeldet, erklärte der Geheimdienstexperte Erich Schmidt Eenboom jüngst in der ZDF-Doku „Wie Erdogan-Kritiker in Deutschland bespitzelt werden“. Inoffizielle Agenten aber gäbe es – wie nicht nur beim so genannten „Spionage-Skandal“ rund um den Moscheeverband Ditib 2016 öffentlich wurde – Tausende…
„…die in der Bundesrepublik Deutschland als Agentenführer fungieren und die eine Vielzahl von Agenten einsetzen, die sie platzieren – in Banken, Reisbüros, in Moscheevereinen. Und die Verfassungsschutzbehörden kommen auf diese gigantische Menge von fast 8000 Zuträgern. Das ist im Vergleich zu allen anderen ausländischen Nachrichtendiensten eine gigantische Zahl.“
[...]
Deutschlandfunk (24.02.2021): Türkische Regierungskritiker in DeutschlandPolitik aus dem Exil, https://www.deutschlandfunk.de/tuerkische-regierungskritiker-in-deutschland-politik-aus.724.de.html?dram:article_id=493071 , Zugriff 18.8.2021
Das ZDF berichtete im Juni 2020 über die Observierung türkischer Staatsbürger in Deutschland, auch von deren Beiträgen in den sozialen Medien (hier: Facebook) durch Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT, aber auch anderer türkischer Institution wie dem offiziellen Religionsverband DITIB.
[…]
Netzwerk aus Spitzeln und Denunzianten
Denn der türkische Staat hat hier in Deutschland ein Netzwerk aus Spitzeln, Denunzianten und Nationalisten aufgebaut, die jedem das Leben zur Hölle machen können, der Kritik gegen Staatspräsident Erdogan äußert. Jeder noch so kleine Facebook-Post kann in den Fokus eines der 6.000 Agenten in Deutschland geraten, die hier für den türkischen Geheimdienst MIT tätig sind. "Eine gigantische Zahl", so der Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom. Seiner Einschätzung nach ist der MIT damit in Deutschland präsenter als der amerikanische Geheimdienst (CIA).
Der türkische Geheimdienst agiert weitestgehend ohne Kontrolle durch demokratische Organe und ist direkt dem türkischen Präsidenten unterstellt. Erdogan benutzt den MIT dazu, um Kritiker zu bespitzeln, zu verfolgen und deren Verhaftung zu erwirken, vor allem wenn sie sich als Deutschtürken kurzfristig in der Türkei aufhalten.
Enge Verbindung von Geheimdienst und Ditib
Eine offenbar enge Verbindung besteht zwischen dem Geheimdienst MIT und dem Moscheeverband Ditib mit seinen rund 1.000 Moscheen in Deutschland. Bereits 2017 war öffentlich geworden, dass 19 Ditib-Imame für Ankara gespitzelt hatten, was die türkische Regierung sogar zugab. Die Imame verließen damals Deutschland. Alle Ermittlungsverfahren wurden eingestellt, teils wegen "unbekannten Aufenthalts".
In den Blick des MIT können Erdogan-Kritiker auch geraten, wenn sie eine türkische Bankfiliale oder ein Reisebüro betreten. "Als Mitarbeiter getarnte Spione schnüffeln dann nicht selten Geldströme und Reisebewegungen aus", sagt der Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom. Im schlimmsten Fall wird weitergemeldet, wenn sich Deutschtürken zu einem Heimatbesuch in der Türkei aufhalten.
Schon bei der Einreise werden sie dann verhaftet oder dürfen die Türkei auf unbestimmte Zeit nicht mehr verlassen. Das ist Turgut Öker passiert: Der Ehrenvorsitzende der Alevitischen Gemeinde wartet seit über einem Jahr auf mehrere Prozesse in der Türkei. Man wirft ihm Terrorpropaganda und Präsidentenbeleidigung vor. Auch Turgut Öker wurde von einem in Deutschland lebenden Spitzel denunziert.
[…]
ZDF (3.6.2020): Im Dienste Erdogans - Türkische Spitzel in Deutschland, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/erdogan-tuerkei-spitzel-deutschland-100.html , Zugriff 3.9.2021
Die Deutsche Welle veröffentlichte im August 2019 einen umfassenden Artikel zur Überwachung von Nutzern sozialer Medien, wobei auch Türken oder türkisch-stämmige Personen bei der Einreise in die Türkei verfolgt werden können:
[...]
Verhaftet in der Türkei wegen eines Social-Media-Eintrags: Der Deutsche Osman B. teilt sein Schicksal mit tausenden Türken. Wegen eines einzigen Postings kann man im Land von Recep Tayyip Erdogan ins Gefängnis kommen.
Handy mit Twitter-App vor türkische Flagge
Gerade auf dem Flughafen der türkischen Urlauberhochburg Antalya gelandet wurde der Deutsche mit türkischen Wurzeln, Osman B., Ende Juli festgenommen. Der Vorwurf: Verbreitung von "Terrorpropaganda". Nun drohen dem 36-Jährigen mehrere Jahre Haft. Osman B. wurden Facebook-Einträge zum Verhängnis - unter anderem teilte er Bilder, die Abdullah Öcalan zeigen, den Chef der verbotenen Kurdenmiliz PKK. Aus deutscher Sicht ist seine Festnahme ein empörender Verstoß gegen die Meinungsfreiheit. Für viele Menschen in der Türkei ist es trauriger Alltag.
Jagd in den Sozialen Netzen
In der Türkei wurden schon in Tausenden Fällen Aktivitäten in sozialen Netzwerken drakonisch geahndet: Nach Angaben des obersten türkischen Kriminalamts wurden allein im Jahr 2018 ungefähr 110.000 Social-Media-Konten überwacht und mehr als 7100 User festgenommen - 2754 von ihnen wurden inhaftiert, da auf ihren Accounts "kriminelle Inhalte" festgestellt wurden, wie es offiziell heißt. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu teilte mit, dass in den vergangenen Jahren 20.500 Personen auf Grundlage von Social-Media-Einträgen der Prozess gemacht wurde.
Die Vorwürfe der türkischen Justiz sind vielfältig und werden auf willkürliche Weise angewendet: "Präsidentenbeleidigung", "Beleidigung staatlicher Institutionen", "Aufstachelung zur Rebellion" oder "Terrorpropaganda" im Namen der Gülen-Bewegung oder der verbotenen Kurdenmilizen YPG und PKK. Wie leicht man wegen solcher Anschuldigungen im Gefängnis landen kann, zeigte vor ein paar Monaten der Fall eines Mannes aus Antalya: Zur Festnahme reichte die Behauptung der AKP-geführten Bezirksregierung, der Mann habe sie beleidigt. Besonders häufig werden Social-Media-Einträge abgestraft, die den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan von der AKP oder die türkische Regierung kritisieren.
"Reine Willkür"
In manchen Fällen geht der türkische Präsident höchstpersönlich strafrechtlich gegen Personen vor, die negative Aussage über ihn tätigen. In den Jahren 2014 bis 2017 wurde nach Angaben des Justizministeriums in Ankara 12.173 Personen wegen Präsidentenbeleidigung der Prozess gemacht - 3221 kamen ins Gefängnis.
Hadi Cin
Menschenrechtler Cin: "Doppelmoral"
Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch dokumentiert zudem, dass besonders Kritik an dem türkischen Militäreinsatz in der syrischen Stadt Afrin gegen die Kurdenmiliz YPG Ermittlungen nach sich ziehen. Aus diesem Grund soll es im vergangenen Jahr zu 648 Festnahmen gekommen sein.
Der türkische Menschenrechtsanwalt Hadi Cin hält Festnahmen, die auf Social-Media-Aktivitäten basieren, für "reine Willkür". Denn es gäbe kein Strafgesetz, das Einträge in sozialen Medien regelt. Nach seiner Einschätzung müsste die Zahl der Social-Media-Nutzer, gegen die ermittelt wird, deutlich höher sein als offiziell bekannt. Cins Begründung: "In fast jeder türkischen Stadt wurden innerhalb der Polizeibehörden Social-Media-Teams gegründet, die rund um die Uhr Einträge von Nutzern beobachten."
Der Fall Sönmez
Besonderes Aufsehen erregte in der Türkei der Fall des Ökonomen Mustafa Sönmez. Eine relativ wenig kontroverse Experten-Aussage wurde ihm zum Verhängnis: Er wurde am 14. April wegen Präsidentenbeleidigung festgenommen. Der Grund: Mit einem Twitter-Eintrag habe er den Eindruck erweckt, dass sich die türkische Wirtschaft in einer Krise befinde.
Mustafa Sönmez
Ökonom Sönmez: Expertenmeinungen als Straftat
Am 20. September werde er dem Richter vorgeführt, sagte Sönmez der Deutschen Welle. "Der Grund ist, dass ich mich kritisch zur türkischen Konjunktur geäußert habe." Er sei empört darüber, dass jede Kritik an der Politik der türkischen Regierung oder an Erdogan eine Gefängnisstrafe nach sich ziehen könne.
"Wir brauchen Europa"
Menschenrechtler Cin sieht eine Doppelmoral: "Personen, die auf Seiten Erdogans stehen, dürfen so viele hasserfüllte Kommentare in den sozialen Netzen loslassen, wie sie wollen - ob sie rassistisch, diskreditierend, beleidigend oder drohend sind. Eine pazifistische Haltung wie 'Nein zum Krieg' wiederum gilt gleich als Unterstützung von Terrororganisationen", beklagt Cin.
Er habe sich wohl oder übel daran gewöhnt, dass soziale Netze ein gefährliches Terrain geworden seien. Cin setzt seine Hoffnung auf Europa. Die EU müsse entschlossener auf die Verstöße gegen Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei reagieren. Die unter den Repressionen leidenden Bürger bekämen nicht ausreichend Hilfe durch die Europäische Union.
[...]
DW – Deutsche Welle (8.8.2019): Soziale Netzwerke in der Türkei: Ein gefährliches Terrain, https://www.dw.com/de/soziale-netzwerke-in-der-t%C3%Bcrkei-ein-gef%C3%A4hrliches-terrain/a-49949600 , Zugriff 2.9.2021
Das Erste Deutsche Fernsehen ARD berichtete bereits 2018 von einer türkischen Spionage-App, die weltweit jedem zur Verfügung steht. Diese wird primär von türkischen Staatsangehörigen im Ausland genutzt, um regierungskritische Landsleute bei den türkischen Behörden zu denunzieren.
[...]
Mithilfe einer Smartphone-App der Zentralbehörde der türkischen Polizei (EMG) können Kritiker der türkischen Regierung weltweit angezeigt werden. Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom spricht von einer "digitalen Gestapo-Methode".
Mit einer App können Kritiker der türkischen Regierung von überall auf der Welt angezeigt werden. Die App der türkischen Polizei gibt es in den Stores von Google und Apple. Jeder kann sie sich herunterladen und jeden, von dem er denkt, dass er die türkische Regierung oder den Staatspräsidenten beleidigt, anzeigen.
Die Spitzel-App ist auch bei in Deutschland lebenden Türken in Gebrauch, wie Kommentare im App-Store belegen. Geheimdienstexperte Erich-Schmidt-Eenboom erkennt in der App den Tatbestand eines schweren Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung: "Damit erlischt das Aufenthaltsrecht. So sind die Ausländerbehörden gefordert, Denunzianten unter den Türken ausweisen zu lassen."
Durch die Hobby-Spitzelei herrscht unter Türkischstämmigen auch in Deutschland mittlerweile ein Klima der Angst.
ARD (25.9.2018): Wie Erdogan Angst und Misstrauen in Deutschland sät, https://www.swr.de/report/denunziation-per-spitzel-app-wie-erdogan-angst-und-misstrauen-in-deutschland-saet/-/id=233454/did=22334358/nid=233454/1k7n186/index.html , Zugriff 3.9.2021
Das gegenständliche Produkt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde gemäß den vom Staatendokumentationsbeirat beschlossenen Standards und der Methodologie der Staatendokumentation erstellt. Anfragebeantwortungen (AFB) der Staatendokumentation beinhalten auf Basis einlangender Anfragen recherchierte Quellen und Zusammenfassungen. Beide sind unterschiedlich gekennzeichnet. Auch eine Beschreibung von Quellen und Quellenlage wird gegeben. Die AFB kann Arbeitsübersetzungen fremdsprachlicher Quellen beinhalten. Das gegenständliche Produkt erhebt bezüglich der zur Verfügung gestellten Informationen keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aus dem vorliegenden Produkt ergeben sich keine Schlussfolgerungen für die rechtliche Beurteilung eines konkreten Verfahrens. Das vorliegende Dokument kann insbesondere auch nicht als politische Stellungnahme seitens der Staatendokumentation oder des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gewertet werden. |
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation TÜRKEI Beleidigung des Präsidenten Anfragende Stelle: BFA RD Salzburg 18.01.2023 |
Hinweis betreffend COVID-19-Pandemie:
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports , oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen, zu kontaktieren.
Sollten Sie Informationen zur allgemeinen COVID-19 Lage benötigen, beachten Sie bitte die relevanten Kapitel im COI-CMS bzw. in den Länderinformationsblättern.
1. In der AFB vom 03.09.2021 (anfragende Stelle: BVwG) wird erwähnt, dass Gesetzesverschärfungen beabsichtigt sind. Kam es zur angekündigten Verschärfung des Gesetzes und welche Strafen drohen aktuell für „Beleidigung des Präsidenten“?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch und Englisch ausreichend Informationen gefunden. Eine ausgewogene Auswahl wird entsprechend den Standards der Staatendokumentation im Folgenden zur Verfügung gestellt.
Eine ausführliche Quellenbeschreibung zu einigen der verwendeten Quellen findet sich unter http://www.ecoi.net/5.unsere-quellen.htm . Als allgemein bekannt vorausgesetzte Quellen werden i.d.R. nicht näher beschrieben. Als weniger bekannt erkannte Quellen werden im Abschnitt „Einzelquellen“ näher beschrieben.
Zusammenfassung:
In der Tat kam es Ende 2022 zu Gesetzesverschärfungen, allerdings nicht in Bezug auf den Artikel 299 des Strafgesetzbuches, i.e. die Beleidigung des Staatspräsidenten, sowie der Folgeartikel 300 und 301 (Entweihung staatlicher Symbole, wie der türkischen Fahne; Beleidigung anderer staatlicher Würdenträger und Organe, Beleidigung des türkischen Staates und der Nation). Vielmehr verabschiedete das türkische Parlament am 13.10.2022 das sogenannte "Desinformationsgesetz". Dieses stellt die Verbreitung "falscher oder irreführender Informationen über die innere und äußere Sicherheit des Landes" unter Strafe. Unter die Regelung fallen auch Nachrichten, "die der öffentlichen Gesundheit schaden, die öffentliche Ordnung stören sowie Angst oder Panik in der Bevölkerung verbreiten könnten". Sowohl akkreditierte Journalisten als auch normale Nutzer von Online-Netzwerken können im Extremfall zu drei Jahre Haft verurteilt werden. Das Gesetz richtet sich neben Zeitungen, Radio und Fernsehen vor allem gegen Onlinenetzwerke und Onlinemedien. Sie sind verpflichtet, Nutzer, denen die Verbreitung von Falschnachrichten vorgeworfen wird, an die Behörden zu melden und deren Daten weiterzugeben.
Einzelquellen:
Die Deutsche Welle berichtete Mitte Oktober 2022 Folgendes anlässlich der Verabschiedung des sogenannten „Desinformationsgesetzes“:
[...]
Das türkische Parlament hat ein Gesetz gebilligt, das die Verbreitung "falscher oder irreführender Informationen über die innere und äußere Sicherheit des Landes" unter Strafe stellt. Unter die Regelung fallen auch Nachrichten, "die der öffentlichen Gesundheit schaden, die öffentliche Ordnung stören sowie Angst oder Panik in der Bevölkerung verbreiten könnten".
Die Mehrheit der Abgeordneten stimmte dafür, dass Gerichte akkreditierte Journalisten sowie normale Nutzer von Online-Netzwerken zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilen können. Im Extremfall drohen drei Jahre Haft.
"Gesetz erklärt der Wahrheit den Krieg"
Die Vorlage der regierenden AKP und ihres Partners, der ultranationalistischen Partei MHP, hatte im In- und Ausland scharfe Kritik auf sich gezogen. Journalistenverbände warnten, der Entwurf könne zu einem der strengsten Zensur- und Selbstzensurmechanismen in der Geschichte der türkischen Republik führen. "Dieses Gesetz erklärt der Wahrheit den Krieg", sagte die Abgeordnete Meral Danis Bektas von der prokurdischen Oppositionspartei HDP.
[…]
"Vermehrte Selbstzensur"
Der Europarat, dem auch die Türkei angehört, hatte bereits Anfang Oktober die vage Definition von "Desinformation" in der Vorlage kritisiert. Die damit einhergehende Androhung von Gefängnisstrafen könne "vermehrte Selbstzensur", insbesondere mit Blick auf die Parlamentswahl im Juni 2023, zur Folge haben.
[...]
DW – Deutsche Welle (14.10.2022): Türkisches Parlament erlässt Desinformationsgesetz, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkisches-parlament-erl%C3%A4sst-desinformationsgesetz/a-63437936 , Zugriff 16.1.2023
Die britische Tageszeitung, The Guardian, berichtete anlässlich der Verabschiedung des sogenannten „Desinformationsgesetzes“, wonach Personen, die der Verbreitung von Desinformationen beschuldigt werden, nun mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden können.
Das Gesetz enthält weitreichende Bestimmungen, die darauf abzielen, den inländischen Journalismus und die sozialen Medien zu zügeln, so der Guardian. Eine Koalition von 22 Organisationen für Pressefreiheit erklärte, der Gesetzentwurf biete "einen Rahmen für eine umfassende Zensur von Online-Informationen und die Kriminalisierung von Journalismus, was es der Regierung ermöglichen wird, die öffentliche Debatte im Vorfeld der türkischen Parlamentswahlen im Jahr 2023 weiter zu unterdrücken und zu kontrollieren". Das neue Gesetz bedeutet, dass diejenigen, die sich der absichtlichen Veröffentlichung von Desinformationen oder "Fake News" schuldig machen, die nach Ansicht der Behörden Panik verbreiten, die Sicherheitskräfte oder die allgemeine Gesundheit der türkischen Gesellschaft gefährden, mit bis zu drei Jahren Gefängnis verurteilt werden können. Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, dass die Strafen um bis zur Hälfte erhöht werden können, wenn anonyme Accounts zur Verbreitung angeblicher Desinformationen verwendet werden. - "Es kriminalisiert das, was die Behörden als Desinformation bezeichnen, ohne zu definieren, was das eigentlich bedeutet", sagte beispielsweise der Journalist Emre Kızılkaya, Leiter der türkischen Niederlassung des in Wien ansässigen Internationalen Presseinstituts, eine der Organisationen, die den Gesetzentwurf verurteilten.
Journalisten, Beobachter der Pressefreiheit und sogar der Europarat hatten vor der Verabschiedung durch das Parlament das Gesetz verurteilt bzw. hatten die Regierung aufgefordert den Gesetzesvorschlag fallen zu lassen.
[…]
Turkey’s parliament has ratified a sweeping new law that would see those accused of spreading disinformation jailed for up to three years.
The controversial bill, proposed by the ruling Justice and Development party (AKP), contains wide-ranging provisions intended to rein in domestic journalism as well as social media. A coalition of 22 press freedom organisations said the bill “provides a framework for extensive censorship of online information and the criminalisation of journalism, which will enable the government to further subdue and control public debate in the lead up to Turkey’s general elections in 2023".
[…]
The new law means those found guilty of intentionally publishing disinformation or “fake news" that the authorities claim spreads panic, endangers security forces or the overall health of Turkish society could be sentenced to up to three years in prison. The bill also specifies that sentences can be increased by up to half if anonymous accounts are used to spread alleged disinformation.
“It criminalises what the authorities call disinformation without defining what that actually means," said the journalist Emre Kızılkaya, head of the Turkish branch of the Vienna-based International Press Institute, one of the organisations to condemn the bill. “A judge will decide how to define disinformation and intent, which really gives arbitrary powers to the government to criticise journalism."
Journalists, press freedom watchdogs and even the Council of Europe condemned the bill as it slowly moved through its debate stages in Turkey’s parliament, urging the government to drop it before it became law.
[...]
Guardian - The Guardian (13.10.2022): Turkey: new ‘disinformation’ law could jail journalists for three years, https://www.theguardian.com/world/2022/oct/13/turkey-new-disinformation-law-could-jail-journalists-for-3-years , Zugriff 16.1.2022
Das deutsche Politik-Magazin, die Zeit, berichtete Folgendes angesichts der Verabschiedung des neuen „Desinformationsgesetzes“:
[...]
Das Gesetz richtet sich neben Zeitungen, Radio und Fernsehen vor allem gegen Onlinenetzwerke und Onlinemedien. Sie werden aufgefordert, Nutzerinnen, denen die Verbreitung von "Falschnachrichten" vorgeworfen wird, an die Behörden zu melden und deren Daten weiterzugeben. Journalistenverbände warnten, der Gesetzentwurf könne zu einem der strengsten Zensur- und Selbstzensurmechanismen in der Geschichte der Republik Türkei werden.
[…]
EU besorgt über neues Gesetz
Die Europäische Union zeigt sich besorgt. "Wir befürchten, dass es die Meinungsfreiheit und die unabhängigen Medien in der Türkei weiter einschränken könnte", sagte ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. Besonders heikel seien die möglichen Gefängnisstrafen, fügte er hinzu. "Wir drängen die Türkei, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu wahren", sagte der Sprecher. Die Türkei sei immer noch EU-Beitrittskandidat und müsse die "höchsten demokratischen Standards und Praktiken wahren". Das Strafrecht dürfe nicht dafür genutzt werden, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Der Europarat, dem auch die Türkei angehört, hatte mit Blick auf das Gesetz vor einer "Selbstzensur" türkischer Medien gewarnt.
ZO - Zeit Online (14.10.2022): Türkei führt Haftstrafen für Verbreitung von "Falschnachrichten" ein, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-10/tuerkei-parlament-desinformation-gesetz-haftstrafen , Zugriff 16.1.2023
2. Wie viele Ermittlungsverfahren gab es im Jahr 2022 wegen „Beleidigung des Präsidenten“?
3. Wie viele Verurteilungen gab es im Jahr 2022 wegen „Beleidigung des Präsidenten“?
4. Welche Strafen wurden im Jahr 2022 in der Regel bei Verurteilungen wegen „Beleidigung des Präsidenten“ verhängt? Insbesondere handelte es sich um Geld- oder Haftstrafen bzw. wurden Haftstrafen regelmäßig in Geldstrafen umgewandelt?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch und Englisch einige Informationen gefunden. Eine ausgewogene Auswahl wird entsprechend den Standards der Staatendokumentation im Folgenden zur Verfügung gestellt.
Eine ausführliche Quellenbeschreibung zu einigen der verwendeten Quellen findet sich unter http://www.ecoi.net/5.unsere-quellen.htm . Als allgemein bekannt vorausgesetzte Quellen werden i.d.R. nicht näher beschrieben. Als weniger bekannt erkannte Quellen werden im Abschnitt „Einzelquellen“ näher beschrieben.
Anmerkung:
Zahlen aus dem Jahr 2022 lagen zum Zeitpunkt der Erstellung der vorliegenden AFB noch nicht vor.
Zusammenfassung:
Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass beispielsweise 2021 über 9.000 Strafverfahren gegen Personen wegen Beleidigung von Präsident eingeleitet wurden, darunter gegen rund 300 Minderjährige. Die türkische „Menschenrechtsvereinigung“ İHD, führt für 2021 die amtliche Statistik an, die jedoch alle Fälle sowohl unter Artikel 299 (Beleidigung des Staatspräsidenten) als auch jene unter Artikel 300 und 301 (Entehrung von Staatssymbolen; Beleidigung anderer Staatsorgane, der türkischen Nation und des Staates) subsumiert. Demnach wurden 2021 gegen 48.000 Personen Untersuchungen wegen Vergehen gegen die Artikel 299-301 geführt, wobei über 10.600 tatsächlich verfolgt wurden. Das US-Amerikanische Außenministerium zählte 2020 44.700 strafrechtliche Untersuchungen wegen Präsidentenbeleidigung, wobei 10.600 Personen tatsächlich vor Gericht standen und 3.655 Personen auch verurteilt wurden.
Speziell in Bezug auf Journalisten bezogen sich 2021 10 % der 142 Gerichtsurteile auf die Beleidigung des Präsidenten.
Einzelquellen:
Die regierungskritische Internetplattform Turkish Minute berichtete im September 2022 unter Berufung auf einen Politiker der oppositionellen CHP, dass im Jahr 2021 insgesamt 9.168 Strafverfahren gegen Personen wegen Beleidigung von Präsident eingeleitet wurden, wobei 305 Minderjährige in diesem Zeitraum wegen Beleidigung vor Gericht standen und von diesen 22 verurteilt wurden.
[...]
A total of 9,168 criminal cases were opened against people in Turkey on charges of insulting President Recep Tayyip Erdoğan last year, with 305 minors appearing in court on insult charges during that time period, the ANKA news agency reported on Wednesday, citing an opposition lawmaker.
Turkey’s main opposition Republican People’s Party (CHP) deputy chairperson Muharrem Erkek on Wednesday said during a press conference at party headquarters in Ankara, citing judicial statistics for 2021, that 305 defendants under the age of 18 appeared in court on Erdoğan insult charges last year, with 22 of them convicted of the offense.
[…]
TM – Turkish Minute (14.9.2022): 305 minors appeared in court on Erdoğan insult charges in 2021: opposition deputy, https://www.turkishminute.com/2022/09/14/erdogan-insult-charges-in-2021-opposition-deputy/ , Zugriff 17.1.2023
Die türkische „Menschenrechtsvereinigung“ (İHD – İnsan Hakları Derneği) veröffentlichte unter Zitierung der amtlichen Zahlen aus dem Jahr 2021, wonach gegen knapp 48.000 Personen Untersuchungen wegen Vergehen gegen die Artikel 299-301 geführt wurden, wobei über 10.600 tatsächlich verfolgt wurden. In der Statistik des Ministeriums wird nicht zwischen der Beleidigung des Staatspräsidenten (Artikel 299) und den übrigen Vergehen im Sinne der Insultierung anderer staatlicher Organe, der türkischen Nation oder des türkischen Staates unterschieden (Artikel 300 bzw. 301).
[...]
Further, investigations were initiated into a total of 50,503 persons in 2019 under Article 299 of the TPC that proscribes “insulting the president" along with Article 301 of the TPC that proscribes “insulting Turkishness" both of which incorporate directly prohibitive and punitive provisions as per freedom of expression. Of these, criminal cases were filed against 13,252. In 2020 44,717 persons faced investigations under these articles while 8,924 of them faced prosecution. In 2020, 44,717 persons faced investigations while 8,924 of them faced prosecution. According to the 2021 statistics of the ministry, 48,069 persons faced investigations under these articles while 10,622 of them faced prosecution.29 The high number of lawsuits brought against individuals under insulting the president and Turkishness even during the pandemic shows how pressure and control over the social media further deteriorated.
[...]
İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (6.11.2022): Human Rights Association 2021 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2022/11/SR2022_2021-Turkey-Violations-Report.pdf , Zugriff 16.1.2023
Das US-Amerikanische Außenamt berichtete in seinem jährlichen Menschenrechtsbericht zur Türkei, dass gemäß der Statistik des türkischen Justizministeriums im Jahr 2020 wegen der Beleidigung des Staatspräsidenten über 44.700 Untersuchungen durchgeführt wurden. Über 10.600 Personen standen vor Gericht und 3.655 Personen wurden wegen Präsidentenbeleidigung tatsächlich verurteilt.
[...]
During the year the government opened investigations into thousands of individuals, including politicians, journalists, and minors, based on allegations of insulting the president; the founder of the Turkish Republic, Mustafa Kemal Ataturk; or state institutions. According to Ministry of Justice statistics, police investigated 44,717 individuals for insulting the president or the state in 2020; 10,629 stood trial and 3,655 were penalized.
[…]
USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 17.1.2023
Laut dem Internationalen Presse-Institut wurden 2021 in 135 Gerichtsprozessen gegen Journalisten 142 Urteile verhängt. Zehn Prozent der Strafen bezogen sich auf die vermeintliche Beleidigung des Staatspräsidenten.
[...]
The 135 individual trials that IPI recorded saw at least 142 charges against journalists, whereby some defendants faced multiple charges. The most common charges were terrorism-related charges, which account for 68 cases or about 48 percent of all charges. This was followed by libel or defamation cases brought by politicians, business people, and other powerful figures, accounting for 22 charges or about 15 percent of all charges. Next came charges of insulting the president at about 10 percent of all charges. See the full categorization defined by IPI below.
[…]
IPI – International Press Institute (26.1.2022): IPI: At least 241 journalists faced trial in Turkey in 2021 – nearly half on terrorism charges, https://freeturkeyjournalists.ipi.media/ipi-at-least-241-journalists-faced-trial-in-turkey-in-2021-nearly-half-on-terrorism-charges/ , Zugriff 17.1.2023
Das regierungskritische, pro-kurdische Nachrichten-Portal „Bianet“ veröffentlichte im Jänner 2022 seine Jahresstatistik unter der Rubrik: „Media Monitoring Database“. Demnach wurden vom August 2014, als Erdoğan zum Präsidenten gewählt wurde, bis zum 1.1.2022 mindestens 70 Journalisten wegen "Beleidigung des Präsidenten" gemäß Artikel 299 des türkischen Strafgesetzbuchs zu Haftstrafen, Haftstrafen auf Bewährung oder Geldstrafen verurteilt. Sieben Journalisten (Ayten Akgün, Hakkı Boltan, Cem Şimşek, Yılmaz Odabaşı, Perihan Kaya, Doğan Ergün und Kaan Göktaş) wurden zu insgesamt rund acht Jahren und elf Monaten Haft verurteilt. Das Justizministerium hält an der Rechtsprechung nach Artikel 299 fest, den die Regierung trotz der Aufforderung des Europarats nicht abschaffen will.
[...]
“Insulting the president": 70 journalists convicted in seven years
From August 2014, when AKP Chair Recep Tayyip Erdoğan was elected the President, to January 1, 2022, at least 70 journalists were sentenced to prison, given a deferred prison sentence or fined for “insulting the President" as per article 299 of the Turkish Penal Code. the number of media representatives who were convicted as per this article, which the government has been unwilling to repeal for so many years despite calls from the Council of Europe, was seven.
Seven journalists (Ayten Akgün, Hakkı Boltan, Cem Şimşek, Yılmaz Odabaşı, Perihan Kaya, Doğan Ergün and Kaan Göktaş) whom Recep Tayyip Erdoğan, who did not hesitate to give messages to the judiciary by publicly targeting journalists, filed a complaint against were sentenced to a total of 8 years, 10 months and 27 days in prison. The Ministry of Justice continues to grant jurisdiction under article 299, which the government is unwilling to repeal despite calls from the Council of Europe.
[...]
Bianet (24.1.2022): 2021 Whole Year Media Monitoring Report, https://mediamonitoringdatabase.org/report/media-monitoring-report-10/ , Zugriff 18.1.2023
5. Können (aktuelle) Beispiele genannt werden für Äußerungen in sozialen Medien, die zu Verurteilungen wegen „Beleidigung des Präsidenten“ führten?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
siehe oben.
Zusammenfassung:
Gemäß vorliegender Quellen kann in der Türkei alles, vom banalen Teilen in sozialen Medien bis hin zum Liken von Inhalten, die von anderen auf Facebook geteilt werden, zu strafrechtlichen Ermittlungen und/oder einer Strafverfolgung wegen Beleidigung des Präsidenten führen. Laut einer Statistik der Media and Law Studies Association waren von September 2021 bis Juli 2022 am häufigsten Posts in sozialen Medien die Ursache für Anklagen in Bezug auf die Beleidigung des Präsidenten.
Zu den Beispielen siehe die Einzelquellen.
Einzelquellen:
Im Jahresbericht der türkischen Media and Law Studies Association, die Periode zwischen 1.9.2021 und 20.7.2022 abdecken, heißt es, dass Posts in sozialen Medien die am häufigsten angeführten Beweise gegen Personen waren, die in 37 separaten Verfahren wegen "Beleidigung des Präsidenten", "Herabwürdigung der Symbole der staatlichen Souveränität" und "Herabwürdigung der türkischen Nation, des Staates der Republik Türkei, der Organe und Institutionen des Staates" angeklagt waren. In 19 Verfahren wurden Posts in sozialen Medien als Beweismittel angeführt, und in allen diesen Fällen wurden die Angeklagten wegen "Beleidigung des Präsidenten" verurteilt. In 29 Fällen von "Beleidigung des Präsidenten" wurden 34 Personen vor Gericht gestellt, und 18 dieser 34 Angeklagten waren Journalisten.
Der Bericht weist auf die Tatsache hin, dass in 14 Fällen Social-Media-Posts durch die so genannte "virtuelle Patrouille" der Polizei gesammelt wurden, die das Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 19. Februar 2020 für verfassungswidrig erklärte und damit den entsprechenden Gesetzesartikel aufhob, der der Polizei die Anwendung dieser Methode erlaubte. In dem Bericht wird hervorgehoben, dass die Gerichte acht Anklagen akzeptierten, welche nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts vorbereitet wurden und in denen Social-Media-Posts, die unrechtmäßig über die "virtuelle Patrouille"-Methode gesammelt wurden, als Beweise gegen die Angeklagten angeführt wurden.
[…]
Social media posts were the most cited evidence against individuals who faced charges of “insulting the president," “degrading the symbols of state sovereignty" and “degrading the Turkish Nation, the State of the Republic of Turkey, the organs and institutions of the state" in 37 separate trials. Social media posts were cited as evidence in 19 separate trials and in all of these cases, the defendants were tried for “insulting the president."
[…]
The “insulting the president" charge stipulated in Article 299 of the Turkish Penal Code which, in its Vedat Şorli v. Türkiye (App. no. 42048/19) judgment, the European Court of Human Rights found to be “incompatible with the spirit of the Convention" constituted the majority of the charges in this category. 34 people tried in 29 separate cases were accused of insulting President Recep Tayyip Erdoğan. 18 among them were journalists.
[...]
In the indictments of 5 cases, it was claimed that the social media posts which were cited as evidence for the charge of “insulting the president" were gathered during investigations initiated after a criminal report. In three cases, the “crimes" were reported by the lawyers of President Recep Tayyip Erdoğan, while in two cases, the authorities were informed by anonymous persons. In the indictments of 14 cases, however, it was stated that the social media posts in question were gathered via the method called “open source investigation/virtual patrol." 6 indictments out of 14 were filed before the Constitutional Court’s decision no. 2020/10. In its decision taken on February 19, 2020, the Court revoked the 18th additional paragraph added to the additional Article 6th of the Law No. 2559 on the Duties and Discretion of the Police which granted the police the authority “to conduct intelligence activities in the cyber environment." However, in these indictments the prosecution failed to include any explanation as to the suspicion based on which the personal accounts of the defendants were investigated by law enforcement. 8 indictments in which individuals were charged with “insulting the president" as per Article 299 of Turkish Penal Code included social media posts that were cited as evidence and had been gathered via “open source investigation/virtual patrol" despite the fact that these indictments were filed after the Constitutional Court’s Decision no. 2020/10. However, except for the indictment against stage actor Genco Erkal, the prosecutors failed to specify in other indictments that the social media posts were gathered via a method which the highest court in Turkey found unconstitutional. It should be noted that in these cases illegally obtained evidence was cited in support of a charge stipulated in a law article which the European Court of Human Rights found to be “incompatible with the spirit of the Convention and the Court’s case-law." (Vedat Şorli v. Türkiye Application no. 42048/19)
[...]
MLSA - Media and Law Studies Association (5.12.2022): THE COST OF FREEDOM OF EXPRESSION IN TURKEY: 299 YEARS, 2 MONTHS AND 24 DAYS - 1 September 2021 - 20 July 2022, Trial Monitoring Report, https://www.mlsaturkey.com/wp-content/uploads/2022/12/MLSA-1-September-2021-20-June-2022-Trial-Monitoring-Report.pdf , Zugriff 16.1.2023
Das regierungskritische Internetportal Stockholm Center for Freedom berichtete Anfang Jänner 2023 unter Berufung auf lokale Medien, dass der Bürgermeister des Bezirks Gaziemir in der westlichen Provinz İzmir, Halil Arda, zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt wurde, weil er den türkischen Präsidenten Erdoğan in den sozialen Medien beleidigt hatte.
Die Generalstaatsanwaltschaft von İzmir leitete 2020 eine Untersuchung ein und klagte Arda wegen "Beleidigung des Präsidenten", "öffentlicher Aufstachelung zu Hass und Feindschaft", "Beleidigung eines Teils der Öffentlichkeit" und "öffentlicher Beleidigung religiöser Werte" an.
Sein Prozess fand vor dem 34. Strafgericht erster Instanz in İzmir statt. Arda sagte, das fragliche Social-Media-Konto gehöre nicht ihm und das Verfahren sei politisch motiviert. Lokalen Berichten zufolge fragte das Gericht Facebook nach der Identität des Kontoinhabers, aber das Unternehmen konnte die Informationen nicht liefern.
[...]
Halil Arda, mayor of the Gaziemir district of western İzmir province, was handed down a one-year suspended sentence for insulting Turkish President Recep Tayyip Erdoğan on social media, local news outlets reported.
The İzmir Chief Public Prosecutor’s Office launched an investigation in 2020 and charged Arda with “insulting the president," “publicly inciting hatred and enmity," “insulting a segment of the public" and “publicly insulting religious values."
His trial took place at the at the 34th Criminal Court of First Instance in İzmir.
Arda said the social media account in question did not belong to him and that the trial was politically motivated.
According to the local reports, the court asked Facebook for the identity of the owner of the account but the company was unable to provide the information.
Erdoğan’s lawyer, Gülşen Gezici, claimed during the trial that the evidence proved the defendant had committed the crime.
The court handed down a one-year suspended sentence to Arda on conviction of “insulting the president" and deprivation of his right to vote and stand for election should he ultimately serve the sentence.
[…]
SCF – Stockholm Center for Freedom (6.1.2023): Main opposition party mayor gets suspended sentence on Erdoğan insult charges, https://stockholmcf.org/main-opposition-party-mayor-gets-suspended-sentence-on-erdogan-insult-charges/ , Zugriff 17.1.2023
Laut der Internetplattform „Expression Interruped“, welche sich der Medienfreiheit widmet, wurde der Rechtsanwalt Efkan Bolaç, der Zeichnungen des Karikaturisten Carlos Latuff über die Minenexplosion in Soma 2014 und Berkin Elvan geteilt hatte, als Erdoğan noch Premierminister war, wegen "Beleidigung des Präsidenten" im September 2022 vor Gericht gestellt.
Vor dem Gericht gab Bolaçs Anwalt eine Erklärung zum Verfahren ab. Demnach wurden die Karikaturen zwar 2014 in den sozialen Medien geteilt, in der Anklageschrift wurde jedoch das Jahr 2022 als Datum der angeblichen Straftat angegeben. Zudem wäre Erdoğan 2014 nicht Präsident gewesen.
[...]
Lawyer Efkan Bolaç, who shared cartoonist Carlos Latuff’s drawings on the 2014 Soma mine explosion and Berkin Elvan back when Erdoğan was prime minister appeared before a court on the charge of “insulting the President." The trial was postponed to 24 January 2023
CANSU PİŞKİN, ISTANBUL
The first hearing of the case filed against lawyer Efkan Bolaç on the charge of “insulting the President" for social media posts featuring cartoonist Carlos Latuff’s drawings on the 2014 Soma mine explosion and Berkin Elvan, a teenager who was killed after being hit by a gas canister fired by the police during the 2013 Gezi protests, was held at the İstanbul 52nd Criminal Court of First Instance on 6 September 2022.
Bolaç and his attorneys and the attorney representing President Recep Tayyip Erdoğan attended the hearing, which was monitored by P24. A large group of people were at the courtroom to follow the trial, including the opposition Republican People's Party (CHP) deputy Sezgin Tanrıkulu, representatives of the Paris Bar and a representative of the London-based international freedom of expression organization Article 19.
Erdoğan was not president when the images were shared
Addressing the court, Bolaç’s attorney Kemal Aytaç made a statement on procedure. Aytaç said that while the cartoons subjected to the charge were shared on social media in 2014, the indictment put the date of the alleged crime as 2022 and added that in 2014 Erdoğan was not president.
[…]
Expression Interruped (7.9.2022): Lawyer Efkan Bolaç stands trial for "insulting the President", https://www.expressioninterrupted.com/lawyer-efkan-bolac-stands-trial-for-insulting-the-president/ , Zugriff 17.1.2023
Die Internetplattform „Expression Interruped“ führt in ihrem Bericht zum 3. Quartal 2022 zwei Fälle an, bei denen Journalisten wegen Präsidentenbeleidigung in den sozialen Medien angeklagt waren. - Der Journalist Ali Ergin Demirhan wurde vom Vorwurf der Präsidentenbeleidigung freigesprochen. Ursprünglich war er wegen eines Social-Media-Postings hinsichtlich des Todes von 33 türkischen Soldaten im syrischen Idlib durch einen russischen Luftangriff angeklagt. Das 55. Strafgericht erster Instanz in İstanbul sprach Demirhan mit der Begründung frei, dass die rechtlichen Voraussetzungen für das angebliche Vergehen nicht gegeben seien. Währenddessen wurde der Journalisten Sabahattin Önkibar wegen "Beleidigung des Präsidenten" verurteilt. Das 53. Strafgericht erster Instanz in Istanbul verurteilte Önkibar zu elf Monaten und 20 Tagen Gefängnis. Die Anklage stammte von Önkibars Kommentar in einer Sendung auf seinem YouTube-Kanal.
[...]
Highlights of Trials
Journalist acquitted of “insulting the president:" The case in which journalist Ali Ergin Demirhan was charged with “insulting the president" on account of a social media post in which he had commented on the death of 33 Turkish soldiers in Syria’s Idlib in a Russian airstrike concluded. The İstanbul 55th Criminal Court of First Instance acquitted Demirhan on the grounds that the legal elements of the alleged offense were not present.
[…]
Önkibar sentenced for “insulting the president:" Journalist Sabahattin Önkibar’s trial on the charge of “publicly insulting the president" ended with a conviction. İstanbul’s Anadolu 53rd Criminal Court of First Instance sentenced Önkibar to 11 months and 20 days in prison. The charge stemmed from Önkibar’s commentary in a broadcast on his YouTube channel. In the indictment, the prosecutor was seeking a prison sentence between 1 year and 2 months and 4 years and 8 months for Önkibar.
[…]
Expression Interruped (11.2022): Freedom of Expression and the Press Agenda - JULY - AUGUST - SEPTEMBER 2022, https://www.expressioninterrupted.com/uploader/uploader/freedom-of-expression-and-the-press-agenda-2022-3 , Zugriff 17.1.2023
Die österreichische Tageszeitung „Kurier“ berichtete im September 2022 Folgendes zum Vorgehen der Behörden gegen Personen, welche in den Sozialen Medien vermeintlich den Staatspräsidenten beleidigt haben:
[...]
Wegen Videos in den sozialen Medien mit einem Filter, der den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan abbildet, haben die Behörden Ermittlungen eingeleitet. Die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft leitete Schritte wegen "Präsidentenbeleidigung" gegen die Verantwortlichen des "beleidigenden" Videos ein, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Donnerstag berichtete. Die Polizei sei aufgefordert worden, die Verdächtigen zu identifizieren und festzunehmen.
Das Video zeigt Menschen, die Bündel von Bargeld in der Hand halten oder zählen. Sobald plötzlich der türkische Präsident in Form eines Filters von hinten erscheint, bringen sie ihr Geld genervt in Sicherheit. "Holen Sie Ihre Devisen und Ihr Gold unter Ihrem Kopfkissen hervor", hört man Erdogan sagen. Ein Hinweis darauf, dass der Präsident in der Vergangenheit wiederholt die türkische Bevölkerung ermutigt hatte, ihre Ersparnisse bei Banken anzulegen, um die marode türkische Lira zu stützen. Nach Angaben türkischer Medien wurde das Video auf Tiktok erstellt und verbreitete sich dann schnell in den sozialen Medien.
Die Behörden prüften derzeit, welche Benutzer die Videos erstellt oder geteilt haben, bestätigte ein Sprecher der Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft der Deutschen Presse-Agentur. Die Grundlage der Ermittlungen sei Artikel 299 im Strafgesetzbuch, der Haftstrafen bis zu vier Jahre vorsieht.
[...]
Kurier (15.9.2022): Erdogan-Filter in den sozialen Medien löst Ermittlungen in Türkei aus, https://kurier.at/mehr-platz/erdogan-filter-in-den-sozialen-medien-loest-ermittlungen-in-tuerkei-aus/402147501 , Zugriff 17.1.2023
Im August 2022 wurde bekannt, dass gegen den in Österreich lebenden Integrationsexperten, Kenan Güngör, zwei Verfahren seitens der türkischen Justiz laufen, zum einen wegen Präsidentenbeleidigung, zum anderen wegen Terrorunterstützung. Die Tageszeitung „Der Standard“ veröffentlichte ein diesbezügliches Interview mit Güngör, in welchem er u.a. Folgendes anführt:
[...]
STANDARD: Gegen Sie bestehen in der Türkei zwei Haftbefehle. Einer wegen Präsidentenbeleidigung, der andere wegen Terrorismusunterstützung. Was ist da los? Wie kam es dazu?
Güngör: Für mich war das naheliegend, dass so etwas passiert. Vielmehr hätte es mich überrascht, wenn nichts vorliegen würde. Überraschend war nur, dass meine Haftbefehle unter Geheimhaltung laufen. Normalerweise hat man ein Ermittlungsverfahren. Das ist eher eine Besonderheit und sie machen es nicht bei jedem.
STANDARD: Wieso verfolgt die Türkei überhaupt einen Wissenschafter, der seit Langem im Ausland lebt und jetzt in Österreich arbeitet und forscht? Warum wird gegen so jemanden, in dem Fall Sie, ein geheimer doppelter Haftbefehl verhängt?
Güngör: Die Türkei schert sich überhaupt nicht, ob türkeistämmige Menschen im Inland oder Ausland leben oder welche Staatsbürgerschaft sie besitzen. In der Verfolgung sind sie wahrlich internationalistisch. Die reale Drohung lautet: "Glaubt ja nicht, dass ihr im Ausland in Sicherheit seid, uns kritisieren und verunglimpfen und dann in der Türkei Urlaub machen könnt". Mit dieser Strategie wird die amtliche wie auch freiwillige Spitzelarbeit in Europa noch einmal verstärkt und offensiv beworben. So kam es ja zu den großen Verhaftungswellen, weil freiwillige Helfer im Ausland über eine eigens dafür entwickelte Spitzel-App aktiv an der Denunziation von Kritikern und Oppositionellen mitgewirkt haben.
STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass Sie hier in Österreich von türkischen Spitzeln beobachtet oder bewusst verfolgt werden, sei es in der Öffentlichkeit oder auch im virtuellen Raum in den sozialen Medien?
Güngör: Davon bin ich immer ausgegangen, aber bei mir machen sie es sehr dezent, weil ich ja nicht lautstarke Oppositionsarbeit mache, sondern als Wissenschafter die Auswirkungen der türkischen Politik auf die türkische Community in Europa beleuchte. Da war Berîvan Aslan (Anm. ehemalige grüne Nationalratsabgeordnete und nun im Wiener Landtag und Gemeinderat) zum Beispiel ganz anderen Angriffen ausgesetzt, weil sie auch politisch sehr offensiv gekämpft hat. Mir wurde von Türkei-kritischen Kreisen manchmal sogar vorgehalten, dass ich mich mit in meiner wissenschaftlichen Analyse zu differenziert und moderat äußere. Doch in einem Land, wo extremes Unrecht passiert, ist das schon zu viel. Sie verfolgen genau, was ich tue.
[…]
STANDARD: Wie könnten Sie denn – aus türkischer Regierungssicht – Präsident Tayyip Erdoğan "beleidigt" haben?
Güngör: Wenn ich das wüsste. Da die Haftbefehle unter Verschluss sind, lassen sie die Begründungen dafür völlig im Dunkeln. Auch mein Anwalt in der Türkei konnte das nicht einsehen. Es genügt oft schon, wenn man die antidemokratischen Entwicklungen in der Türkei, den Krieg, den Erdoğan mit Unterstützung von Jihadisten und Islamisten gegen die Kurden in Syrien führt, analytisch beschreibt – das alles wird als staatfeindlicher Akt, Terrorismus oder als Beleidigung des Präsidenten kriminalisiert. Menschen werden schon wegen viel weniger angeklagt.
Das ist ein System. Es gibt eine Armada von Staatsanwälten, Polizisten und Freiwilligen, die den ganzen Tag die sozialen Medien durchleuchten. Seit Erdoğan Präsident ist, gibt es sage und schreibe 160.000 Verfahren zum Thema Beleidigung des Präsidenten. Das ist natürlich eine ganz bewusste Strategie der Einschüchterung und Zensur, denn so traut sich kaum einer mehr, irgendetwas zu sagen, weil sofort eine Anklage folgen kann.
[...]
Standard Online (14.8.2022): Güngör: "Die Drohung der Türkei lautet: Glaubt ja nicht, dass ihr im Ausland sicher seid", https://www.derstandard.at/story/2000138271692/guengoer-die-drohung-der-tuerkei-lautet-glaubt-ja-nicht-dass , Zugriff 18.1.2023
ARTICLE 19, per Eigendefinition eine internationale Think-Do-Organisation, die die Entwicklung der Meinungsfreiheit auf lokaler und globaler Ebene vorantreibt, berichtete im April 2022, dass u.a. der ehemalige türkische Olympia-Schwimmer Derya Büyükuncu infolge einer Twitter-Meldung wegen Präsidentenbeleidigung verfolgt wurde. Anlässlich der Corona-Erkrankung des Präsidenten meinte Büyükuncu: "Er hat COVID-19 und will Gebete. Wir beten, mach dir keine Sorgen. Ich habe angefangen, 20 Töpfe Halva zu machen. Wenn es soweit ist, werde ich der ganzen Nachbarschaft etwas davon geben". Die Ironie dieses Tweets bestand darin, dass Halva" eine bekannte süße Spezialität ist, die in der Türkei auch bei Beerdigungen gereicht wird. Die Generalstaatsanwaltschaft in Istanbul erklärte, der Tweet werde als kriminell angesehen, weil Büyükuncu indirekt den Tod des Präsidenten gewünscht habe, indem er behauptete, "Halva für die Nachbarschaft" zu machen. Medienberichten zufolge wurden mindestens 36 Ermittlungen in zwölf verschiedenen Städten im Zusammenhang mit 64 verschiedenen Social-Media-Posts über den Gesundheitszustand des Präsidenten eingeleitet. Vier Personen wurden verhaftet und gegen vier weitere, darunter Derya Büyükuncu, wurden Haftbefehle erlassen.
Laut ARTICLE 19 ist Derya Büyükuncu nur eine von Tausenden von Personen, gegen die in der Türkei strafrechtliche Ermittlungen und Verfolgungen wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten laufen. Offizielle Statistiken zeigen, dass während der Amtszeit von Präsident Erdoğan seit 2014 bis Ende 2020 160.189 strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden. Im selben Zeitraum wurden 35.507 Personen tatsächlich strafrechtlich verfolgt, 12.881 Personen wurden für schuldig befunden, 11.913 erhielten eine Aussetzung der Urteilsverkündung ("HAGB" auf Türkisch) gemäß Artikel 231 der Strafprozessordnung ("CPA"), während nur 5.660 Personen "nicht schuldig" befunden wurden. Von den 12.881 Personen, die für schuldig befunden wurden, wurden 3.625 zu Haftstrafen, 1.691 zu Freiheitsstrafen auf Bewährung, 1.073 zu Geldstrafen, 1.691 zu Sicherheitsmaßnahmen und 3.466 zu anderen strafrechtlichen Sanktionen verurteilt. 106 der Schuldsprüche betrafen Kinder unter 18 Jahren, von denen zehn zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden.
Alles, vom banalen Teilen in sozialen Medien bis hin zum Liken von Inhalten, die von anderen auf Facebook geteilt werden, kann in der Türkei zu strafrechtlichen Ermittlungen und/oder einer Strafverfolgung wegen Beleidigung des Präsidenten führen. Während die türkischen Staatsanwälte jährlich in Tausenden solcher mutmaßlichen Straftaten ermitteln, ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eindeutig. Der Gerichtshof hat immer wieder festgestellt, dass "die Grenzen der zulässigen Kritik bei einem Politiker weiter gesteckt sind als bei einer Privatperson". Ein Politiker setzt sich unweigerlich und wissentlich einer genauen Prüfung seiner Worte und Taten sowohl durch Journalisten als auch durch die breite Öffentlichkeit aus, und er muss ein höheres Maß an Toleranz an den Tag legen, insbesondere wenn er selbst öffentliche Äußerungen tätigt, die kritisiert werden können. Im Übrigen, so der Gerichtshof, wird die Gewährung eines verstärkten Schutzes durch ein spezielles „Beleidigungsgesetz“ oder durch die Verhängung besonderer oder höherer strafrechtlicher Sanktionen gegen Beleidigung oder Verleumdung insbesondere durch die Presse in der Regel nicht mit dem Geist der Konvention und mit Artikel 10 vereinbar sein.
[...]
The issue of COVID-19 pandemic related criminal investigations spawned back in February 2022 subsequent to the announcement that both President Erdoğan and his wife Emine Erdoğan tested positive for the Omicron variant of COVID-19 and had mild symptoms.[15] The President tweeted that “We are on duty. We will continue to work at home. We look forward to your prayers." Many wished and prayed for him “to get well soon" through social media platforms, but not all. Some choose not to pray for the president’s health. Among others, a former Turkish Olympic swimmer Derya Büyükuncu tweeted that “He has COVID-19 and wants prayers. We’re praying, don’t worry. I’ve started making 20 pots of halva. I’ll give some to the entire neighbourhood when the time comes".[16] The irony of this tweet was that “halva" is a well-known Anatolian specialty, a type of sweet which is part of various celebrations including funerals in Turkey. However, the tweet was not taken lightly and Büyükuncu was immediately subject to a criminal investigation involving insulting the President of Turkey. The Chief Public Prosecutor’s Office in Istanbul stated that the tweet was regarded as criminal because Büyükuncu had indirectly wished for the president’s death by claiming to make “halva for the neighbourhood". According to media reports, at least 36 investigations have been initiated in 12 separate cities[17] in relation to 64 separate social media posts about the President’s health. Four people have been arrested and arrest warrants have been issued for four more, including Derya Büyükuncu. He has also been permanently suspended from the Swimming Federation of Turkey.
Derya Büyükuncu is just one of the thousands of individuals who face criminal investigations and prosecutions in Turkey for allegedly insulting the President. In terms of numbers, official statistics show that 160,189 criminal investigations were initiated during the President Erdoğan’s presidency era (2014-2020) as of end of 2020. During the same period, 35.507 persons were prosecuted, 12,881 persons were found guilty, on top of that 11,913 received suspension of the pronouncement of the judgment (“HAGB" in Turkish) pursuant to article 231 of the Criminal Procedure Act (“CPA"), while only 5,660 persons received “not guilty" verdicts. Out of the 12,881 persons found guilty, 3,625 were imprisoned, 1,691 received suspended imprisonment sentences, 1,073 received criminal fines, 1,691 received security measures and 3,466 received other criminal sanctions. 106 of the guilty verdicts involved children under the age of 18 and 10 of those received imprisonment sentences.
Anything from a trivial social media sharing to liking content shared by others on Facebook can result with a criminal investigation and/or prosecution involving insulting the President in Turkey. Journalist Sedef Kabaş was arrested in 22.02.2022 because of a TV speech on 14.02.2022, while an arrest order on Derya Büyükuncu is pending. However, while the Turkish prosecutors investigate thousands of such alleged crimes on a yearly basis, the European Court’s jurisprudence is clear. The Court consistently held that “the limits of acceptable criticism are wider as regards a politician than as regards a private individuals". [18] A politician inevitably and knowingly lays themselves open to close scrutiny of their every word and deed by both journalists and the public at large, and they must display a greater degree of tolerance, especially when they themselves make public statements that are susceptible of criticism.[19] Moreover, according to the Court, the provision of increased protection by means of a special law on insults or by the imposition of special or higher criminal penalties against insult or defamation in particular by the press will not, as a rule, be in keeping with the spirit of the Convention and with Article 10.[20]
[…]
Article 19 (8.4.2022): Blog: COVID-19, social media and freedom of expression in Turkey, https://www.article19.org/resources/pandemic-social-media-freedom-of-expression-turkey/ , Zugriff 17.1.2023
Das gegenständliche Produkt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde gemäß den vom Staatendokumentationsbeirat beschlossenen Standards und der Methodologie der Staatendokumentation erstellt. Anfragebeantwortungen (AFB) der Staatendokumentation beinhalten auf Basis einlangender Anfragen recherchierte Quellen und Zusammenfassungen. Beide sind unterschiedlich gekennzeichnet. Auch eine Beschreibung von Quellen und Quellenlage wird gegeben. Die AFB kann Arbeitsübersetzungen fremdsprachlicher Quellen beinhalten. Bei den von der Staatendokumentation bereitgestellten Übersetzungen handelt es sich um informelle Arbeitszusammenfassungen, welche teilweise mithilfe automatischer Übersetzungsprogramme entstanden sind. Das gegenständliche Produkt erhebt bezüglich der zur Verfügung gestellten Informationen keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aus dem vorliegenden Produkt ergeben sich keine Schlussfolgerungen für die rechtliche Beurteilung eines konkreten Verfahrens. Das vorliegende Dokument kann insbesondere auch nicht als politische Stellungnahme seitens der Staatendokumentation oder des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gewertet werden. |
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation TÜRKEI Verfolgung einfacher HDP-Mitglieder Anfragende Stelle: BVwG |
Hinweis betreffend COVID-19-Pandemie:
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports , oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen, zu kontaktieren.
Sollten Sie Informationen zur allgemeinen COVID-19 Lage benötigen, beachten Sie bitte die relevanten Kapitel im COI-CMS bzw. in den Länderinformationsblättern.
Hintergrund zu den Fragestellungen:
Es sind verschiedene Fälle zu einfachen Parteimitgliedern der türkischen Partei Halklarin Demokrasi Partisi (HDP) anhängig. Die Beschwerdeführer geben an, sie hätten keine bestimmte Funktion innerhalb der Partei gehabt, seien aber z.B. als Wahlwerber tätig gewesen (haben Freunde, Bekannte und Nachbarn besucht, um Stimmen für die Wahlen zu gewinnen) oder hätten bei der Veranstaltung von Familienausflügen, Kampagnen für bedürftige Familien oder Zeitschriftenverteilung mitgewirkt oder hätten in Jugendorganisationen bei der Organisation von Familienausflügen, Festen und Hilfskampagnen mitgewirkt.
1. Gibt es Berichte zu Verhaftungen von einfachen HDP-Mitgliedern, vergleichbar jenen mit den oben genannten Profilen, bezogen auf einen Zeitraum des letzten halben Jahres?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch und Englisch keine Informationen zu angeführten Verhaltensprofilen gefunden. - Anmerkung: Hinsichtlich der Wahlwerbung ist dies nicht verwunderlich, da in den letzten sechs Monaten (vorgegebener Recherchezeitraum) sowie in naher Zukunft keine Wahlen anstehen. Die nächsten regulären Wahlen, das sind die gleichzeitigen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, finden im Juni 2023 statt. - Gesucht wurde mittels Google und Qwant unter den Begriffen: HDP, Jugendorganisation, Wahlwerbung, Informationsmaterial, Zeitschriften, Propagandamaterial, verteilen, Feste, Hilfskampagnen, Familienausflüge.
Allerdings wurden etliche Informationen zu Verhaftungen einfacher HDP-Mitglieder bzw. Mitglieder der HDP-Jugendorganisation in Zusammenhang mit anderen politischen Aktivitäten gefunden. Eine ausgewogene Auswahl wird entsprechend den Standards der Staatendokumentation im Folgenden zur Verfügung gestellt. Eine ausführliche Quellenbeschreibung zu einigen der verwendeten Quellen findet sich unter http://www.ecoi.net/5.unsere-quellen.htm . Als allgemein bekannt vorausgesetzte Quellen werden i.d.R. nicht näher beschrieben. Als weniger bekannt erkannte Quellen werden im Abschnitt „Einzelquellen“ näher beschrieben.
Berichte zu Verhaftungen wegen vermeintlicher Unterstützung einer terroristischen Organisation werden ebenso in geringerer Zahl, d.h. nur expemplarisch angeführt wie Berichte über Festnahmen ohne bekannten Grund, da beide Aspekte nur tangential mit der vorliegenden Fragestellung zu tun haben.
Als bereits vorliegende Quellen zu beachten wären insbesondere:
1. die Länderinformationen der Staatendokumentation zur TÜRKEI, Kapitel: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit/ Opposition, Absatz: „Vorgehen gegen die HDP“ sowie die beiden AFBs aus 2021, welche bereits zahlreiche Informationen zu selbigen Fragestellung enthalten. Diese sind auf ecoi.net abrufbar und werden der vorliegenden AFB beigelegt.
2. TUER_PO_PAR_Verfolgung von einfachen HDP-Mitgliedern_2021_10_29_KEV
3. TUER_PO_PAR_Verfolgung von Mitgliedern der HDP_2021_05_20_KE
Zusammenfassung:
Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass Verhaftungen von einfachen Parteimitgliedern und solchen der HDP-Jugendorganisation, abgesehen von Festnahmen wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation bzw. deren Unterstützung, hauptsächlich dann geschehen, wenn es sich um politische Proteste oder andere politische Aktivitäten handelt, welche beispielsweise das militärische Vorgehen der Türkei im Irak und Syrien verurteilen, oder die Freilassung bzw. das Ende der Isolationshaft von Abdullah Öcalan verlangen, oder auch anlässlich der jährlichen Demonstrationen bzw. Festivitäten zum kurdischen Neujahrsfest Newroz und zum 1.Mai. Verhaftungen kommen zudem vor, wenn regierungskritische Beiträge in den sozialen Medien gepostet werden, oder etwa der seit 2016 inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, öffentlich, z.B. durch das Tragen von T-Shirts mit seinem Konterfei, unterstützt wird. In den meisten Fällen werden die Festgenommenen, meist nach Protokollierung ihrer Aussagen gegenüber den Behörden, nach kurzer Zeit wieder freigelassen.
Einzelquellen:
Das Europäische Parlament kritisierte in seiner Entschließung vom 7.6.2022 das Vorgehen des türkischen Staates gegen die HDP, ihre Funktionäre, aber auch einfache Mitglieder und führt Folgendes an:
[…]
23. nimmt mit großer Besorgnis zur Kenntnis, dass gerade die HDP, ihre gewählten Bürgermeister und ihre Parteiorganisationen, insbesondere ihre Jugendorganisation, immer wieder von den staatlichen Stellen der Türkei ins Visier genommen und kriminalisiert werden, was dazu geführt hat, dass aktuell über 4 000 HDP-Mitglieder inhaftiert sind; verurteilt erneut aufs Schärfste, dass die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaș und Figen Yüksekdağ, seit November 2016 in Haft sind, und fordert ihre sofortige Freilassung; ist entsetzt darüber, dass die staatlichen Stellen der Türkei die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, nach denen die Türkei zur sofortigen Freilassung von Selahattin Demirtaș verpflichtet ist, beharrlich missachten und nicht umsetzen; verurteilt aufs Schärfste die vom Generalstaatsanwalt des Kassationshofs der Türkei eingereichte und vom Verfassungsgericht der Türkei im Juni 2021 einstimmig angenommene Anklageschrift, mit der die Auflösung der Partei HDP und der Ausschluss von 451 Personen vom politischen Leben, darunter die meisten derzeitigen Mitglieder der Führungsebene der HDP, angestrebt werden und durch die die betroffenen Personen daran gehindert werden, in den nächsten fünf Jahren irgendeiner politische Tätigkeit nachzugehen; weist darauf hin, dass das Verfassungsgericht zuvor sechs pro-kurdische politische Parteien verboten hat; stellt mit großer Besorgnis fest, dass das Verfahren zur Auflösung der HDP den Höhepunkt eines seit mehreren Jahren andauernden harten Vorgehens gegen die Partei darstellt, und bekräftigt, dass ein Verbot der Partei ein schwerwiegender politischer Fehler und ein unumkehrbarer Schlag gegen den Pluralismus und die demokratischen Grundsätze wäre; unterstreicht ferner die Rolle des Gerichts für schwere Strafsachen Nr. 22 in Ankara im sogenannten Kobane-Verfahren gegen 108 Personen, darunter zahlreiche Politiker der HDP; weist auf die besondere Rolle des Staatsanwalts hin und fordert insbesondere Klarheit über die in der Akte dokumentierte angebliche politische Einflussnahme; stellt zudem infrage, wie es dem Gericht gelungen ist, ein 3530 Seiten umfassendes Dokument in einer Woche ohne Anhörung der Angeklagten zu prüfen und anzunehmen;
[…]
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 9.8.2022
Einzelereignisse:
August 2022
Das Washington Kurdish Institute, eine kurdische Lobbyorganisation, welche Nachrichten betreffend die Situation der Kurden in Syrien, dem Irak, dem Iran und in der Türkei sammelt, vermeldete am 2.8.2022, dass die türkische Polizei mehrere Mitglieder der HDP in Istanbul und Antalya festgenommen hatte, darunter etliche des HDP-Jugendverbandes. Ein dezidierter Grund für die Festnahmen wurde nicht angeführt.
[…]
Turkish police arrested several members of the Pro-Kurdish Peoples’ Democratic Party (HDP), including twelve in Istanbul, on Friday and four in Antalya on Thursday. Among the detainees were several from the HDP’s Youth Council. Separately, the HDP is planning a rally on August 6 in Diyarbakir (Amed), demanding peace against the government’s wars on Kurds.
[…]
WKI - Washington Kurdish Institute (2.8.2022): Kurdistan’s Weekly Brief August 2, 2022, https://dckurd.org/2022/08/02/kurdistans-weekly-august-2-2022/ , Zugriff 8.8.2022
Die Menschenrechtsstiftung der Türkei (türk.Abk.: TİHV), eine der größten und bekanntesten unabhängigen Menschenrechts-NGOs in der Türkei berichtete Anfang August von der Inhaftierung von fünf (namentlich genannt) von ursprünglich zwölf festgenommenen Funktionären und Mitgliedern der HDP in Istanbul.
[...]
(08/023) Detained HDP Members in Istanbul…
5 of 12 members of the Peoples’ Democratic Party (HDP) including Party Assembly member Livan Orman and Beşiktaş district co-chair Orhan Özöner who have been detained through an Istanbul based investigation on July 29, 2022 and following days, are arrested by the court on August 1, 2022. 7 people are released.
Arrested people are: Ahmet Beyazıt, İsmail Toptamur, Livan Orman, Mehmet Salih Karatay, Mehmet Salih Dikmen.
[…]
Human Rights Foundation of Turkey (2.8.2022): 2 August 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/2-august-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Die Menschenrechtsstiftung der Türkei berichtete am 1.8.2022 von der Festnahme von 21 Funktionären und Parteimitgliedern der HDP während Hausdurchsuchungen in Mersin am 28.7.2022 wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" und "Propaganda für eine illegale Organisation". Fünf Mitglieder des Bezirksrats und zwölf weitere Personen wurden vom Gericht freigelassen, vier Personen wurden am 29.7.2022 inhaftiert.
[…]
(08/011) Detained District Council Members and HDP Executives in Mersin…
21 people including Akdeniz District Council member and HDP provincial co-chair Bedriye Kuş and 4 other members of the district council (Nevzat Baran, Ali Tanrıverdi, Nuriye Aslan and Mehmet Bitkin) have been detained on the grounds of ‘being an illegal organisation member’ and ‘making propaganda for an illegal organisation’, in house raids in Mersin on July 28, 2022. 5 members of the district council and 12 more people are released by the court, 4 people are arrested on July 29, 2022.
[...]
Human Rights Foundation of Turkey (1.8.2022): 30 July – 1 August 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/30-july-1-august-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Juli 2022
Am 29.7.2022 berichtet die Menschenrechtsstiftung der Türkei, dass in Instanbul sieben HDP-Mitglieder während Hausdurchsuchungen verhaftet wurden. Am gleichen Tag wurde eine Untersuchung gegen ein HDP-Mitglied in Şırnak durchgeführt, da sie öffentlich zum sog. Gemlik-Marsch, organisiert von der HDP, aufrief, der die Freilassung des seit über 20 Jahren inhaftierten Führers der PKK, Abdullah Öcalan, zum Ziel hat.
[…]
(07/218) Detained HDP Members in Istanbul
It is learned that 7 members of the Peoples’ Democratic Party (HDP) including Party Assembly member Livan Orman and Beşiktaş district co-chair Orhan Özöner are detained in house raids in Istanbul on July 29, 2022.
[…]
(07/221) Investigation Against a Person in Şırnak…
It is learned that an investigation was launched against Mevlüde Güngen by the Cizre Chief Public Prosecutor’s Office on the grounds that she made a call about the Gemlik March organized by the HDP, and that Mevlüde Güngen made her official statement through the investigation to Cizre District Police Department on July 29, 2022.
[…]
Human Rights Foundation of Turkey (29.7.2022): 29 July 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/29-july-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Die Menschenrechtsstiftung der Türkei berichtete am 28.7.2022 von der Festnahme dreier Mitglieder der HDP wegen deren Postings in den sozialen Medien (der Inhalt wurde nicht genannt). Allerdings wurden sie noch am selben Tag wieder entlassen.
[...]
(07/209) Detained HDP Members in Manisa…
It is learned that 4 people including 3 members of the Peoples’ Democratic Party (HDP) are detained on the grounds of social media posts, in house raids in Manisa on July 27, 2022. Detained people are released the same day.
[…]
Human Rights Foundation of Turkey (28.7.2022): 28 July 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/28-july-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Laut Menschenrechtsstiftung der Türkei wurde am 26.7.2022 in Kars das HDP-Mitglied Gülcan Alp wegen Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation während einer Razzia festgenommen.
[...]
(07/192) Detained HDP Member in Kars…
On July 26, 2022, the Peoples’ Democratic Party (HDP) member Gülcan Alp is detained on the grounds of ‘being an illegal organisation member’ in house raids in Kars.
[…]
Human Rights Foundation of Turkey (27.7.2022): 27 July 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/27-july-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff Datum ?
Der Menschenrechtsstiftung der Türkei zufolge hat die Polizei Mitglieder des Jugendverbandes der HDP daran gehindert, am 25.7.2022 in Antalya ein Fußballspiel zu veranstalten, um gegen den Artilleriebeschuss zu protestieren, der angeblich von den türkischen Streitkräften auf das ländliche Gebiet der Stadt Zakho/Zaxo in der autonomen Kurdenregion des Iraks verübt wurde, und bei dem neun Zivilisten, darunter Kinder, getötet und 23 Personen verletzt wurden. In Istanbul griff die Polizei ebenfalls während eines Benefiz-Fußballspiels ein, als ein Transparent mit der Aufschrift "Verhaftungen und Druck können die Jugend nicht einschüchtern" enthüllt wurde. Sieben Personen wurden festgenommenen, jedoch noch am selben Tag wieder freigelassen.
[...]
(07/173) Prevention of an Event in Antalya…
The police prevented the Peoples’ Democratic Party (HDP) Youth Assembly members who wanted to play a football match in Antalya on July 25, 2022; to protest the artillery fire allegedly carried out by the Turkish Armed Forces against the rural area of the city of Zaho within the borders of the Iraqi Kurdistan Regional Government which killed 9 civilians, including children, and injured 23 people, and the detention of 11 people in the police intervention against a match played as part of the Kemal Kurkut Football Tournament in Istanbul. Afterwards, the police intervened in the group, which had a banner that read “Detentions and pressures cannot intimidate the youth" and detained 7 people. Detained people are released on the same day.
[...]
Human Rights Foundation of Turkey (26.7.2022): 27 July 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/26-july-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Das vermeintlich der PKK nahestehende Nachrichtenportal berichtete am 23.7.2022 vom gewaltsamen Einschreiten der Polizei anlässlich eines von der HDP-Jugend veranstalteten Fußballturniers unter dem Motto: „Von Roboskî [Anm.: Am 28. Dezember 2011 kamen bei einem Angriff türkischer Kampfjets im Dorf Roboski (türk. Provinz Şırnak) 34 Personen um, darunter 19 Kinder] bis Zaxo/Zakho [Dorf und Touristenressort im Nordirak, in welchem im Juli 2022 durch vermeintliche türkische Angriffe mehrere Menschen ums Leben kamen.- Die Türkei gab der PKK die Schuld.] – Die Jugend fordert Rechenschaft für die Massaker“
[…]
In der westtürkischen Metropole Istanbul ist ein Fußballturnier des Jugendrats der Demokratischen Partei der Völker (HDP) von der Polizei gestürmt worden. Mindestens elf Beteiligte wurden gewaltsam festgenommen. Die Polizei begründete ihr Vorgehen mit einem Transparent der Initiative „Rat der demokratischen Studierenden“, auf dem „Von Roboskî bis Zaxo – Die Jugend fordert Rechenschaft für die Massaker“ zu lesen war.
Der Übergriff erfolgte während einer Partie im Sportclub Küçükköy im Bezirk Gaziosmanpaşa. Beamt:innen der Aufstandspolizei prügelten auf mehrere Beteiligte ein, diese riefen wiederum Parolen wie „Kämpfend werden wir gewinnen“ oder „Es lebe der Widerstand der Jugend.“ Der Istanbuler HDP-Vorsitzende Ferhat Encü, der beim Roboskî-Massaker 2011 seinen Bruder und weitere Verwandte verloren hat, protestierte gegen den Einsatz der Polizei und warf den Sicherheitskräften rechtswidriges Verhalten vor.
[…]
ANF News (23.7.2022): Istanbul: Festnahmen bei Fußballturnier von HDP-Jugend, https://anfdeutsch.com/aktuelles/istanbul-festnahmen-bei-fussballturnier-von-hdp-jugend-33214 , Zugriff 9.8.2022
Ende Juli 2022 hat laut Washington Kurdish Institute die Polizei in Antalya sieben Mitglieder des HDP-Jugendrats festgenommen, weil sie gegen die Bombardierung „Irakisch-Kurdistans“ durch die Türkei protestiert hatten.
[…]
Antalya police arrested seven HDP Youth Council members for protesting Turkey’s bombardment of Iraqi Kurdistan. At the same time, Bar Associations in seven Kurdish provinces called the Turkish attack on civilians in Iraqi Kurdistan “the second Roboski Massacre", in reference to Turkey’s massacre against Kurds in 2011, which killed 34 civilians.
[…]
WKI - Washington Kurdish Institute (26.7.2022): Kurdistan’s Weekly Brief July 26, 2022, https://dckurd.org/2022/07/26/kurdistans-weekly-july-26-2022/ , Zugriff 8.8.2022
Juni 2022
Die Menschenrechtsstiftung der Türkei berichtete Ende Juni, dass am 22.6.2022 20 Personen, darunter der frühere HDP-Vorsitzende, im Bezirk Tarsus in Mersin verhaftet wurden. Einer von ihnen wurde vom Gericht wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" inhaftiert, während die anderen 19 unter gerichtlichen Kontrollbedingungen freigelassen wurden.
[…]
(06/356) Detained HDP Executive and Other People in Mersin…
20 people including HDP’s former district co-chair were detained in Tarsus district of Mersin on June 22, 2022. 1 of them (Ahmet Amutgan) is arrested by the court on the grounds of “being an illegal organisation member" on June 30, 2022. 19 people are released on judicial control conditions.
Human Rights Foundation of Turkey (30.6.2022): 30 June 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/30-june-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Der Menschenrechtsstiftung der Türkei zufolge wurden am 16.6.2022 neun Personen, darunter Mitglieder und Führungskräfte der HDP, bei Hausdurchsuchungen in Istanbul festgenommen. Anlass war die Demonstration im Istanbuler Stadtteil Kadıköy, die am 12.6.2022 im Rahmen des "Gemlik-Marsches" in Protest gegen die Isolierung des PKK-Führers Abdullah Öcalan stattfand. Neun Personen werden vom Gericht am 19.6.2022 unter der Bedingung freigelassen, dass drei von ihnen unter richterlicher Aufsicht stehen.
[…]
(06/228) Detained HDP Executives and Members in Istanbul…
On June 16, 2022, 9 people including members and executives of HDP were detained in house raids in Istanbul; on the grounds of the demonstration in Kadıköy district of Istanbul held on June 12, 2022 as a part of the “Gemlik March" about isolation of PKK leader Abdullah Öcalan. 9 people are released by the court on June 19, 2022 provided that 3 of them (HDP organisation co-spokesperson Besra İşsever, HDP Üsküdar district co-chair Aysel Özbey and Enes Özdaş) will be on judicial control conditions.
[...]
Human Rights Foundation of Turkey (20.6.2022): 18 – 20 June 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/18-20-june-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Zum selbigen Ereignis berichtete auch die regierungskritische Plattform Turkish Minute, wobei diese von zehn Festnahmen spricht:
[…]
Turkish police detained 10 members and executives from the pro-Kurdish Peoples’ Democratic Party (HDP), including the party’s provincial and district co-chairs, in simultaneous raids on their houses in İstanbul early Thursday morning, local media reported on Thursday, citing a party official.
The development was announced on social media by HDP İstanbul provincial chairman Ferhat Encü, who described the operation as a “political massacre" and said the authorities are trying to “dissolve the HDP, which cannot be dealt with politically, through the judiciary."
[…]
Among those detained on Thursday are HDP Provincial Organization Co-Spokesperson Besra İşsever, HDP Üsküdar District Co-Chair Aysel Özbey and journalist Saliha Aras in addition to Erkan Tarım, Mümin Odabaş, Harun Bağatur, Enes Özdaş and Ercan Özer, according to a report by the Mezopotamya news agency.
The Demirören news agency (DHA) also said the simultaneous police raids that took place in Arnavutköy, Avcılar, Gaziosmanpaşa, Kartal, Kağıthane, Maltepe, Silivri, Sultanbeyli, Ümraniye and Üsküdar were part of an operation targeting people who had gathered in Kadıköy to participate in a rally to be held in Bursa on June 12.
The rally was against the “isolation" imposed on Abdullah Öcalan, jailed leader of the outlawed Kurdistan Workers’ Party (PKK), DHA said.
[…]
TM – Turkish Minute (16.6.2022): 10 members, executives of pro-Kurdish HDP detained in morning raids in İstanbul, https://www.turkishminute.com/2022/06/16/mbers-executives-of-pro-kurdish-hdp-detained-in-morning-raids-in-istanbul/ , Zugriff 9.8.2022
Mitte Juni 2022 berichtete die Menschenrechtsstiftung der Türkei, dass in Van zwei Personen festgenommen wurden, weil sie ein T-Shirt mit dem Bild des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, trugen. In den Nachrichtenberichten hieß es laut der Menschenrechtsstiftung außerdem, dass sechs Personen ebenfalls festgenommen wurden, weil sie auf die Festnahme der ersten beiden Personen mit Protest reagierten.
[…]
(06/197) Detained People in Van…
It is learned that 2 people were detained in Van on the grounds that they were wearing a t-shirt with the picture of the former co-chair of the Peoples’ Democratic Party (HDP) Selahattin Demirtaş. It is also stated in the news reports that 6 people were also detained on the grounds that they reacted to the detention of these 2 people.
[...]
Human Rights Foundation of Turkey (16.6.2022): 16 June 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/16-june-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Mai 2022
Die Menschenrechtsstiftung der Türkei berichtete in der zweiten Maihälfte von der Verhaftung von 48 Personen während eines Marsches in Istanbul nach der Presseerklärung der HDP und anderer Organisationen hinsichtlich der türkischen Militäroperationen in der autonomen Kurdenregion im Nordirak.
Zur gleichen Zeit wurden fünf Personen, darunter HDP-Funktionäre in Batman verhaftet. Der Grund hierfür war nicht bekannt.
[…]
(05/220) Police Intervention to a Protest in Istanbul…
48 people including lawyer Veysi Eski and the Socialist Party of the Oppressed (ESP) co-chair Şahin Tümüklü who were detained by the police intervening the march after the press declaration of HDP, the Peoples’ Democratic Congress (HDK) and the Democratic Regions party (DBP), regarding the military operations in the Iraqi Kurdistan Regional Government, which was held in Istanbul on May 22, 2022, are released on May 23, 2022.
(05/221) Detained HDP Executive and Other People in Batman…
On May 23, 2022, 5 people including HDP provincial executive Sait Yaman are detained in house raids in Batman. The reason of detention is unknown. Detained people are: Sait Yaman, Abdulhakim Oğuz, Mahmut İlhan, Ramazan İlten and Seyithan Kırar.
[...]
Human Rights Foundation of Turkey (24.5.2022): 24 May 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/24-may-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Gemäß der Menschenrechtsstiftung der Türkei griff die Polizei in Istanbul nach der Presseerklärung u.a. der HDP zu den Militäroperationen in der autonomen Kurdischen Region im Irak am 22.5.2022 beim anschließenden Protestmarsch ein. Die Polizei nahm mindestens 25 Personen fest, darunter den Rechtsanwalt Veysi Eski und den Ko-Vorsitzenden der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP), Şahin Tümüklü.
Zuvor wurden am 19.5.2022 13 Personen, darunter HDP-Führungskräfte und Mitglieder der HDP-Jugendversammlung, bei Hausdurchsuchungen in Diyarbakır festgenommen. Zehn von ihnen wurden tags drauf per Gerichtsentscheid inhaftiert, während drei Personen unter der Bedingung freigelassen werden, dass zwei von ihnen einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden.
[...]
(05/204) Police Intervention to a Protest in Istanbul…
The police intervened the march after the press declaration of HDP, the Peoples’ Democratic Congress (HDK) and the Democratic Regions party (DBP), regarding the military operations in the Iraqi Kurdistan Regional Government, which was held in Istanbul on May 22, 2022. The police detained at least 25 people including lawyer Veysi Eski and the Socialist Party of the Oppressed (ESP) co-chair Şahin Tümüklü.
Detained people are: Şahin Tümüklü, Veysi Eski, HDP Kadıköy district co-chair Koray Türkay, Fatma Yeni, Zeki Adar, Güler Karagöl, Aliye Gömek, Meral Atman, Ferhat Yeğin, Ercan Sağlam, Çayan Yılmaz, Dinçer Gün, Mehmet Sait Bor, Lütfiye Baydemir, Rana Berk, İsmail Aktepe, Dilek Demir, Hüseyin Fidanboy, Nezir Altıntaş, Metin Şahin, Abdulcabbar Çakmak, Ersin Dülek, Veysi Al, Mehti Akkuş, İsmail Akpınar.
[…]
(05/207) Detained HDP Members in Diyarbakır…
On May 19, 2022, 13 people including HDP executives and HDP Youth Assembly members have been detained in house raids in Diyarbakır. 10 of them are arrested by the court on May 20, 2022 while 3 people are released provided that 2 of them will be on judicial control conditions.
Arrested people are: Halide Türkoğlu, Çekdar Budak, Sevim Akdağ, Zeliha Kocaman, Betül Ünsal, Metin Yılmaz, Beritan Yaşar, Hamza Ağırman, Esengül Kılıç and Mustafa Kurt.
[…]
Human Rights Foundation of Turkey (23.5.2022): 21 – 23 May 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/21-23-may-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Laut Washington Kurdish Institute hat die Polizei am 19.5.2022 13 Mitglieder der HDP festgenommen, darunter Mitglieder der Jugendversammlung in Amed, Urfa und Mardin. Darüber hinaus nahm die Polizei in Istanbul mehrere Aktivisten während einer von der HDP organisierten Kundgebung fest, die zum Frieden gegen die türkische Invasion in Irakisch-Kurdistan aufrief.
[…]
On Thursday, the police arrested 13 members of the HDP, including the youth assembly in Amed, Urfa, and Mardin. Moreover, the police in Istanbul detained several activists during a rally organized by the pro-Kurdish Peoples’ Democratic Party (HDP), calling for peace against the Turkish invasion of Iraqi Kurdistan.
[…]
WKI - Washington Kurdish Institute (24.5.2022): Kurdistan’s Weekly Brief May 24, 2022, https://dckurd.org/2022/05/24/kurdistans-weekly-brief-may-24-2022/ , Zugriff 8.8.2022
Das Washington Kurdish Institute, dass anlässlich der Demonstrationen zum 1. Mai sich hunderte Kurden in Diyarbakir versammelten. Die türkische Polizei nahm mindestens 160 Personen fest, die am selben Tag in Istanbul eine ähnliche Kundgebung abgehalten hatten.
[…]
Hundreds of Kurds rallied in Diyarbakir (Amed) on International Workers’ Day and chanted, “We will change together." Numerous political figures, including some from the pro-Kurdish Peoples’ Democratic Party (HDP), participated in the rally. Turkish police arrested at least 160 people for holding a similar rally on the same day in Istanbul.
[…]
WKI - Washington Kurdish Institute (3.5.2022): Kurdistan’s Weekly Brief May 3, 2022, https://dckurd.org/2022/05/03/kurdistans-weekly-brief-may-3-2022/ , Zugriff 8.8.2022
April 2022
Laut der Menschenrechtsstiftung der Türkei, wurden am 11.4.2022 zehn Personen, darunter der Ko-Vorsitzende der HDP des Bezirks Cizre und Führungskräfte, bei Hausdurchsuchungen im Bezirk Cizre festgenommen.
[…]
(04/141) Detained HDP Executives in Şırnak…
On April 11, 2022, 10 people including the Peoples’ Democratic Party (HDP) Cizre district co-chair and executives are detained in house raids in Cizre district of Şırnak.
Detained people are: Esmer Çıkmaz, HDP Cizre district co-chair Mesut Nart, Maruf Eliş, Osman Küçük, Zeliha Yardak, Şerif Elçioğlu, Ahmet Benzer, Hacı Dalmış, Ahmet Beğenir, Burhan Dalmış.
[…]
Human Rights Foundation of Turkey (12.4.2022): 12 April 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/12-april-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Turkish Minute berichtete unter Bezug auf die Nachrichtenagentur Mezopotamya Anfang April 2022 von der Verhaftung von 30 Personen, die an den Nevroz-Feierlichkeiten am 20. März im beliebten Ferienort Bodrum teilgenommen hatten. Die Personen wurden Berichten zufolge festgenommen, weil sie bei den Feierlichkeiten angeblich Parolen mit "kriminellem Inhalt" gerufen haben sollen.
[...]
Turkish police on Tuesday detained 30 people who took part in Nevruz celebrations on March 20 in the popular holiday resort of Bodrum, the Mezopotamya news agency reported.
The people were reportedly detained for allegedly shouting slogans at the celebrations that contained “criminal content."
Nevruz is celebrated by Kurds as the first day of spring; however, Nevruz celebrations have often been marked by heavy-handed police intervention in Turkey.
The detainees were taken to the district police department.
[…]
TM – Turkish Minute (5.4.2022): 30 detained after attending Nevruz celebrations in western Turkey, https://www.turkishminute.com/2022/04/05/etained-after-attending-nevruz-celebrations-in-western-turkey/ , Zugriff 9.8.2022
März 2022
Die der in der Kurdistan Autonomen Regon (KRI) regierenden Kurdisch Demokratischen Partei (KDP) nahestehende Internetinformationsplattform Rudaw berichtete im März 2022 von rund 300 Verhaftungen, darunter 100 Kinder, anlässlich der Festivitäten zum kurdischen Neujahrsfest Newroz in Diyarbakir. Das Vorgehen wurde u.a. auch von der Rechtsanwaltskammer in Diyarbakir verurteilt.
[…]
At least 298 people, including 100 children, in Turkey's southeastern Kurdish-populated city of Diyarbakir (Amed) were "detained unlawfully" during large-scale celebrations of Newroz, the Kurdish New Year, the Diyarbakir Bar Association said on Tuesday.
The association called for the detainees to be released immediately, decrying the unlawful nature of holding children in detention, as it is a "violation of the ban on ill-treatment," and further urging for "the practice that violates fundamental rights and freedoms" of children to be abandoned.
[…]
Rudaw (22.3.2022): Hundreds of Kurds arrested in Iran, Turkey during Newroz celebrations, https://www.rudaw.net/english/middleeast/22032022?fbclid=IwAR11yAYHEAYZ1t1EQTpCA0Y4FlJJfwUP93FS0j7znYHnYEUQrPGSdjQ6VYE , Zugriff 8.8.2022
Die Menschenrechtsstiftung der Türkei berichtete, dass elf Personen, darunter Esin Çelik, Ko-Vorsitzende der Marmara Solidarity Association for Prisoners' Families (MATUHAY-DER), und HDP-Mitglieder am 15.2.2022 bei Hausdurchsuchungen in Istanbul festgenommen wurden. Eine Person wurde eine Woche später mit Gerichtsbeschluss wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" inhaftiert, während die anderen zehn Personen unter Auflagen der Justizkontrolle freigelassen wurden.
[…]
(02/312) Detained Association Executive and HDP Members in Istanbul…
11 people including Esin Çelik, co-chair of the Marmara Solidarity Association for Prisoners’ Families (MATUHAY-DER) and HDP members were detained in house raids in Istanbul on February 15, 2022. 1 person (Süleyman Erzengin) is arrested by the court on the charge of ‘being an illegal organisation member’ on February 22, 2022 while 10 people are released on judicial control conditions.
[...]
Human Rights Foundation of Turkey (24.2.2022): 23 – 24 February 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/23-24-february-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 5.8.2022
Februar 2022
Gemäß der Menschenrechtsstiftung der Türkei wurden am 28.1.2022 17 Personen, darunter Mitglieder des Jugendverbandes der HDP bei Hausdurchsuchungen in vier Städten im Rahmen einer Untersuchung in Diyarbakır festgenommen. Drei Tage später wurden alle unter Auflagen vom Gericht freigelassen.
[…]
(02/005) Detained People in Diyarbakır…
17 people including members of the Peoples’ Democratic Party (HDP) Youth Assembly who were detained in house raids in 4 cities through a Diyarbakır based investigation on January 28, 2022 are released by the court on judicial control conditions on January 31, 2022.
(02/006) Detained City Council Member and Other People in Mardin…
9 people including Bedirhan Şeran, city council member form HDP, who were detained in Mardin on January 26, 2022 are released by the court on judicial control conditions on February 1, 2022.
[...]
Human Rights Foundation of Turkey (1.2.2022): 1 February 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/1-february-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 5.8.2022
2. Gibt es Berichte über Folterungen, Misshandlungen oder sonstige Repressalien von Parteimitgliedern, vergleichbar mit jenen mit den oben genannten Profilen, bezogen auf einen Zeitraum des letzten halben Jahres?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
Siehe oben!
Im vorgegebenen Recherchezeitraum wurden kaum Berichte, und wenn, dann zumal HDP-Funktionäre betreffend, vorgefunden, die von Misshandlungen oder gar Folter sprachen.
Zusammenfassung:
Im vorgegebenen Recherchezeitraum kam es laut Berichten der Menschenrechtsstiftung der Türkei in einigen Fällen zu gewaltsamen Festnahmen von HDP-Vertretern während polizeilicher Razzien in deren Wohnstätten. Die Berichte verwenden auch die Begriffe: Misshandlung und Folter. Zu gewalttätigen Übergriffen seitens der Behörden kam es laut Berichten auch bei Versammlungen der HDP in Istanbul sowie vor deren Hauptquartier in Ankara.
Einzelquellen:
Die Menschenrechtsstiftung der Türkei berichtete Anfang August 2022 unter Berufung auf den Aussagen der Betroffenen, dass die Mutter und der Vater des Abgeordneten der HDP, Livan Orman, gefoltert und misshandelt wurden, als ihr Haus in Istanbul am 29.7.2022 durchsucht wurde.
Der Vater von Livan Orman, Mehmet Orman, erklärte gegenüber der Presse Folgendes: "In den frühen Morgenstunden versuchte die Polizei, ohne anzuklopfen, unsere Tür aufzubrechen. Als ich versuchte, die Tür zu öffnen, fiel ich zu Boden, als die Polizei die Tür aufbrach. Sie legten uns nieder und sagten: 'Runter'. Fast 20-23 Polizisten griffen uns gleichzeitig an. Sie zerrten mich auf den Boden und begannen, mich zu treten. Ich wurde in die Schulter und in den Rücken getreten. Nicht einer oder zwei, sondern alle gingen auf uns zu (...) Als meine Frau versuchte, einzugreifen, schlugen sie auch sie (…)“.
[…]
(08/007) Torture and Ill-Treatment in Prison…
It is learned that the Peoples’ Democratic Party (HDP) Party Assembly member Livan Orman’s mother and father were subjected to torture and ill-treatment as their house in Istanbul was raided on July 29, 2022.
Livan Orman’s father Mehmet Orman stated the following to the press: “In the early hours of the morning, the police tried to break into our door without knocking. While trying to open the door, I fell to the ground as the police broke the door. They laid us down, saying, ‘Get down’. Almost 20-23 policemen attacked us at the same time. They dragged me on the ground and started kicking me. I was kicked in the shoulder and back. Not one or two people, but all of them walked towards us (…) When my wife tried to intervene, they beat her as well (…) We were constantly insulted during the house search (…) They distributed the books in the house and the beds. They even broke the board under the bed".
[...]
Human Rights Foundation of Turkey (1.8.2022): 30 July – 1 August 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/30-july-1-august-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Die Menschenrechtsstiftung der Türkei berichtete, dass am 5.5.2022, nachdem drei Personen einen schwarzen Kranz niederlegten und eine Deklaration vor dem HDP-Hauptquartier in Ankara verlasen, die vor dem Gebäude wartende die Sprecherin der HDP-Frauenvereinigung und Batman-Abgeordnete Ayşe Acar Başaran bedrohte. Die Polizei griff laut Bericht gegen vor dem Gebäude wartende HDP-Mitglieder ein und nahm acht Personen unter Folter und Misshandlung fest. Sechs Personen wurden noch am selben Tag nach dem Aussageverfahren wieder freigelassen. Zwei Verletzte wurden am 6.5.2022 freigelassen.
[...]
(05/025) Blockade to HDP Headquarters, Police Threat to Parliamentary Member and Detained People in Ankara…
On May 5, 2022, following the group of 3 people who laid a black wreath and held a press declaration in front of the Peoples’ Democratic Party (HDP) headquarters in Ankara; the police, who continued to wait in front of the building, threatened HDP Women’s Assembly Spokesperson and Batman MP Ayşe Acar Başaran. It is stated in the news reports that the police forced the journalists away as Başaran wanted to make a statement, and then said “Get the parliamentary member in", then threatened Başaran by saying “I will nail you".
The police also intervened the party members waiting outside of the building and detained 8 people with torture and ill-treatment. 6 people (Bahadır Demircan, Ali Özkan, Murat Karataş, Veli Saçılık, Çetin Karakaya, Hüseyin Gökoğlu) are released on the same day after statement procedures. 2 people who were injured (Yeni Yaşam newspaper distributor Mehmet Said Sırdaş and lawyer Yunus Emre Şahan) are released on May 6, 2022.
[…]
Human Rights Foundation of Turkey (6.5.2022): 6 May 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/6-may-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Laut Menschenrechtsstiftung der Türkei intervenierte die Polizei bei der von der HDP und dem Demokratischen Volkskongress (HDK) am 18.4.2022 im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu veranstalteten Presseerklärung zum 1. Mai und nahm 26 Personen, darunter den Ko-Vorsitzenden der HDP auf Provinzebene und die Ko-Sprecher des HDK, unter Anwendung körperlicher Gewalt fest. Die festgenommenen Personen wurden nach einer Stellungnahme noch am selben Tag wieder freigelassen.
[...]
(04/224) Interventions and Preventions Against 1 May Events…
The police intervened the press declaration about 1 May International Labour Day, in Beyoğlu district of Istanbul on April 18, 2022, organized by the Peoples’ Democratic Party (HDP) and the Peoples’ Democratic Congress (HDK); and detained 26 people including HDP provincial co-chair and HDK’s co-spokespersons, by using physical violence and handcuffing them behind their backs. It is learned that the police used physical violence to force the journalists away the area. Detained people are released after statement procedures on the same day.
Detained people are: HDK co-spokespersons Esengül Demir and Cengiz Çiçek, HDP provincial co-chair Ferhat Encü, Tarık Oruç, Atilla Özdoğan, Nuri Cemal Çilingir, Mehmet Karadağ, Sinan Gökçe, Besra İşsever, Nezir Demirci, Mehmet Sait Bor, Yavuz Okçuoğlu, Hüseyin Şengül, Mahmut Halis, Adnan Alin, Hakan Dilmeç, Sakine Güneş, Ramazan Yurttapan, Hasan Ergül, Erkan Tepeli, Hüseyin Mesut Çelebioğlu, Roni Gören, Aynur Tokmaktepe, Gurbet Aydoğan, Sedat Şenoğlu, Fatma İnce.
[...]
Human Rights Foundation of Turkey (19.4.2022): 19 April 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/19-april-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 4.8.2022
Die vermeintlich der PKK nachstehende Nachrichtenagentur ANF News berichtete unter Berufung auf die „Menschenrechtsvereinigung“ (İHD) Anfang April 2022, dass Mitglieder des Jugendrates der HDP in der Provinz Batman von der Polizei bedroht wurden, um sie zu Spitzeltätigkeiten und Straftaten zu bewegen. Wie der İHD-Anwalt Mehmet Akif Akin erläuterte, haben sich in den ersten drei Monaten des Jahres (2022) sechs Personen an den Verein gewandt, weil sie zu regelwidrigen Aussagen gezwungen wurden und mit Drohungen als Agenten angeworben werden sollten. Nach Angaben des Anwalts handelte es sich bei den Betroffenen um Mitglieder des HDP-Jugendrats, die von Personen angesprochen wurden, die sich als Polizeibeamte ausgaben. Den Betroffenen, die sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation befänden, sei Geld angeboten worden, sagte er. "Die Menschen, die sich auf das Gespräch eingelassen haben und dann das Gewünschte abgelehnt haben, sind in ihrer Familie, ihrer Arbeit, ihrer Gesundheit und ihrem Privatleben bedroht. Einigen droht die Festnahme und Inhaftierung, anderen der Tod". Dabei kam es zu irregulären Verhaftungen. Einige wurden entführt, misshandelt und beleidigt, sagte Akin und fügte hinzu: "Einzelne wurden von unbekannten Personen in ein Auto gezwungen, mit verbundenen Augen entführt, tagelang geschlagen und an einem abgelegenen Ort freigelassen."
[…]
Members of the HDP (Peoples' Democratic Party) Youth Council are being threatened by police in Batman province in order to make them commit informer activities and crimes. This was announced by the Human Rights Association (IHD) on Friday. [...]
As IHD lawyer Mehmet Akif Akin explained, in the first three months of the year six people turned to the association because they were forced to make statements in an irregular manner and were wanted to be recruited as agents with threats. According to the lawyer, those affected were members of the HDP Youth Council who had been approached by people identifying themselves as police officers. At first, a friendly conversation was spoken of. The people concerned, who were in a difficult economic situation, had been offered money, he said. "The people who engaged in conversation and then refused what they wanted are threatened in terms of their family, their jobs, their health and their private lives. Some are threatened with arrest and detention, others with death."
In the process, irregular arrests occurred. In custody, HDP members were threatened that they would be arrested or not left alone for a moment if released. Some were abducted, mistreated, and insulted, said Akin, and added, "Individuals were forced into a car by unknown persons, abducted blindfolded, beaten for days, and released in a remote location."
[…]
ANF News (2.4.2022): Demo in Batman in solidarity with HDP youth activists targeted by the state, https://anfenglish.com/kurdistan/demo-in-batman-in-solidarity-with-hdp-youth-activists-targeted-by-the-state-59064 , Zugriff 10.8.2022
Der Menschenrechtsstiftung der Türkei zufolge wurde Kadir Işık, ehemaliger stellvertretender Bezirksvorsitzender der HDP, am 7.2.2022 bei einer Hausdurchsuchung im Bezirk Kızıltepe in Mardin gefoltert und misshandelt. Berichten zufolge wurde Kadir Işık mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt, mit dem Kopf an die Wand geschlagen und seine Nase gebrochen.
[…]
(02/074) Torture and Ill-Treatment in Mardin…
It is learned that Kadir Işık, former district co-chair of the Peoples’ Democratic Party (HDP) was subjected to torture and ill-treatment in a house raid in Kızıltepe district of Mardin on February 7, 2022. It is reported that Kadir Işık was handcuffed behind his back, was hit to the wall at the head, and his nose was broken.
[…]
Human Rights Foundation of Turkey (8.2.2022): 8 February 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/8-february-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/ , Zugriff 5.8.2022
Das gegenständliche Produkt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde gemäß den vom Staatendokumentationsbeirat beschlossenen Standards und der Methodologie der Staatendokumentation erstellt. Anfragebeantwortungen (AFB) der Staatendokumentation beinhalten auf Basis einlangender Anfragen recherchierte Quellen und Zusammenfassungen. Beide sind unterschiedlich gekennzeichnet. Auch eine Beschreibung von Quellen und Quellenlage wird gegeben. Die AFB kann Arbeitsübersetzungen fremdsprachlicher Quellen beinhalten. Bei den von der Staatendokumentation bereitgestellten Übersetzungen handelt es sich um informelle Arbeitszusammenfassungen, welche teilweise mithilfe automatischer Übersetzungsprogramme entstanden sind. Das gegenständliche Produkt erhebt bezüglich der zur Verfügung gestellten Informationen keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aus dem vorliegenden Produkt ergeben sich keine Schlussfolgerungen für die rechtliche Beurteilung eines konkreten Verfahrens. Das vorliegende Dokument kann insbesondere auch nicht als politische Stellungnahme seitens der Staatendokumentation oder des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gewertet werden. |
Anfragebeantwortung zur Türkei: Van: Informationen zur Kriminalisierung der Halkların Demokratik Partisi/ Demokratik Bölgeler Partisi (HDP/DBP) zwischen 2014 und 2018, Lage einfacher Parteimitglieder [a-12337-1]
20. März 2024
Das vorliegende Dokument stellt die Ergebnisse einer zeitlich begrenzten Orientierungsrecherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten dar. Es ist nicht zur Veröffentlichung oder Weitergabe vorgesehen. Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Bei Bedarf kann aufbauend auf der Orientierungsrecherche eine Anfragebeantwortung erstellt werden.
Kurzbeschreibungen zu den in dieser Anfragebeantwortung verwendeten Quellen sowie Ausschnitte mit Informationen aus diesen Quellen finden Sie im Anhang.
Informationen zur Kriminalisierung der Mitglieder von HDP/DBP in der Provinz Van zwischen 2014 und 2018
Ekurd Daily berichtet in einem Artikel vom November 2016 von der Festnahme des Bürgermeisters der Stadt Van durch die türkische Polizei. Einen Tag zuvor seien zwei andere Bürgermeister·innen der Region festgenommen worden, denen Verbindungen zu kurdischen Kämpfer·innen vorgeworfen worden seien. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu seien außerdem Haftbefehle gegen vier städtische Bedienstete der Stadt Van erlassen worden (Ekurd Daily, 17. November 2016).
bianet gibt an, dass der Bürgermeister von Van, Bekir Kaya, der DBP angehöre und er aufgrund „wissentlicher und willentlicher Unterstützung einer [illegalen] Organisation“ („knowingly and willingly aiding an [illegal] organization") verhaftet worden sei. Drei der oben erwähnten festgenommenen städtischen Bediensteten seien unter Auflagen wieder freigelassen worden, während Kaya und der Landschaftsarchitekt Zelal Tanlı in Haft genommen worden seien (bianet, 18. November 2016).
ANF News berichtet im Oktober 2018, dass Bekir Kaya zu acht Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt worden sei (ANF News, 19. Oktober 2018).
Im November 2017 hätten laut ANF News Spezialeinheiten der Polizei und der Gendarmerie Hausdurchsuchungen im Bezirk Çatak in Van durchgeführt. Berichten zufolge seien bei der Operation 35 Personen festgenommen worden, darunter Funktionär·innen („administrators“) der HDP und DBP (ANF News, 28. November 2017).
Es konnten keine weiteren Informationen zur Kriminalisierung der Mitglieder von HDP/DBP spezifisch in der Provinz Van zwischen 2014 und 2018 gefunden werden.
Informationen zur Kriminalisierung der Mitglieder von HDP/DBP allgemein zwischen 2014 und 2018
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), ein Dachverband der Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen die, neben mehreren Tätigkeitsbereichen, Dienste zur Recherche über Herkunftsländerinformationen zur Verfügung stellen, veröffentlicht 2017 einen Bericht, der die Situation von Parteimitgliedern und Personen, die der HDP/DBP nahestehen, wie folgt zusammenfasst:
„Verbindungen zu oppositionellen Parteien können zu Gefährdung führen. Auch Personen, die den oppositionellen prokurdischen Parteien Halklarin Demokratik Partisi (HDP) oder deren kommunaler Schwester-Partei Demokratik Bolgeler Partisi (DBP) nahestehen oder Mitglieder sind, laufen Gefahr, verhaftet zu werden. Türkische Staatsanwaltschaften setzen eine breite Definition von Terrorismus und Bedrohungen der nationalen Sicherheit ein, um Strafverfahren gegen hunderte prokurdische Politikerinnen und Politiker, Parteioffizielle und Unterstützende zu führen. Laut der im SFH-Bericht zitierten International Crisis Group wurden seit Juli 2015 mehr als 10‘000 (davon rund 6‘400 seit Juli 2016) Politikerinnen und Politiker, Parteimitglieder und Unterstützende der HDP verhaftet. Beinahe 3000 (davon rund 1570 seit Juli 2016) der Betroffenen befinden sich in Untersuchungshaft. Die türkischen Behörden setzten 136 der kommunalen DBP angehörenden gewählten kurdischen Politikerinnen und Politiker in Exekutivämtern ab und verhafteten 84 der Betroffenen, grösstenteils wegen angeblicher Verbindungen zur PKK [Arbeiterpartei Kurdistans].“ (SFH, 7. Juli 2017, S. 3)
Laut dem deutschen Auswärtigen Amt (AA) sei 138 parlamentarischen Abgeordneten (darunter 57 der 59 Abgeordneten der HDP) im Juni 2016 die parlamentarische Immunität entzogen worden. Seitdem hätten Strafverfolgungsbehörden gegen Dutzende Abgeordnete Strafverfahren eingeleitet und in einigen Fällen Untersuchungshaft verhängt (AA, 3. August 2018, S. 6). Ekurd Daily berichtet, dass die die Regierung zur gleichen Zeit auch gewählte Parteifunktionär·innen aus den Bürgermeisterämtern in mehr als zwei Dutzend Gemeinden (Stand November 2016) entfernt und durch Anhänger·innen Ankaras ersetzt habe (Ekurd Daily, 17. November 2016). Laut bianet seien 38 Co-Bürgermeister·innen[1] der DBP mit Stand 18. November 2016 verhaftete gewesen (bianet, 18. November 2016).
Laut Ekurd Daily seien 12 kurdische HDP-Abgeordnete im November 2016, darunter die beiden Co-Vorsitzenden, Selahattin Demirtas und Figen Yuksekdag, unter dem Vorwurf der Verbindung zur PKK verhaftet worden. Im Jänner 2017 seien die HDP-Abgeordneten Huda Kaya und Meral Danis Bestas festgenommen worden. Am Tag zuvor habe ein Gericht in der Provinz Van Haftbefehle gegen die HDP-Abgeordneten Lezgin Botan und Adem Geveri erlassen (Ekurd Daily, 28. Jänner 2017). Laut HRW habe die türkische Regierung mit Stand März 2017 dreizehn HDP-Abgeordnete inhaftiert (HRW, 20. März 2017), während das australische Außenministerium (DFAT) im Oktober 2018 davon berichtet, dass elf HDP-Abgeordneten ihr Sitz im Parlament entzogen worden sei und ein aktueller sowie neun ehemalige Abgeordnete inhaftiert worden seien (DFAT, 9. Oktober 2018, S. 28-29). Laut USDOS seien mit Ende 2017 neun der HDP-Abgeordneten, darunter Selahattin Demirtas, weiterhin inhaftiert gewesen (USDOS, 20. April 2018, Section 1e)
Al-Jazeera zitiert im Dezember 2016 die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Laut Anadolu seien bei Razzien in der gesamten Türkei, die sich gegen Funktionäre der HDP gerichtet hätten, 199 Personen festgenommen worden (Al-Jazeera, 12. Dezember 2016; siehe auch: Ekurd Daily, 28. Jänner 2017).
Human Rights Watch (HRW) berichtet im März 2017, dass tausende Mitglieder der HDP und DBP festgenommen worden seien. Die HDP habe HRW mitgeteilt, dass seit dem Putschversuch im Juli 2016 insgesamt 5.471 ihrer Parteifunktionäre, darunter Leiter von Provinz- und Bezirksverbänden, festgenommen und 1.482 in Untersuchungshaft genommen worden seien. Laut der DBP seien seit Juli 2015 insgesamt 3.547 ihrer Parteifunktionäre in Untersuchungshaft gewesen seien (HRW, 20. März 2017).
Laut DFAT sei im Dezember 2017 der Parlamentssprecher der HDP für zwei Sitzungen der Generalversammlung suspendiert worden, nachdem er sich in einer Parlamentsdebatte als „Vertreter Kurdistans“ bezeichnet hätte (DFAT, 9. Oktober 2018, S. 28-29).
AA fasst das Vorgehen der türkischen Regierung gegen die DBP im August 2018 wie folgt zusammen:
„Auch auf lokaler Ebene versucht die Regierung, den Einfluss der HDP, bzw. ihrer Schwesterpartei DBP, zu verringern. Die DBP stellt 97 der Bürgermeister im Südosten der Türkei und ist dort die vorherrschende politische Kraft. Genauso wie vielen der HDP-Abgeordneten wird vielen DBP-Mitgliedern Unterstützung der PKK [Arbeiterpartie Kurdistans] vorgeworfen. Im Zuge der Notstandsdekrete sind bis Ende 2017 insgesamt 93 gewählte Kommunalverwaltungen, überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhänder ersetzt worden.“ (AA, 3. August 2018, S. 11; siehe auch: USDOS, 20. April 2018, Section 1e)
USDOS erklärt im April 2018, dass die türkischen Behörden im Jahr 2017 Anti-Terror-Gesetze in großem Umfang unter anderem gegen Menschenrechtsaktvist·innen, Medienunternehmen, mutmaßliche Sympathisant·innen der PKK und mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung angewandt hätten. Laut Menschenrechtsgruppen hätten viele der Inhaftierten keine nennenswerte Verbindung zum Terrorismus und seien inhaftiert worden, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen oder die politische Opposition, insbesondere die HDP/DBP, zu schwächen. Die Behörden hätten die Anti-Terror-Gesetzes sowie die erweiterten Befugnisse im Rahmen des Ausnahmezustands verwendet, um Einzelpersonen festzunehmen und Vermögenswerte zu beschlagnahmen (USDOS, 20. April 2018, Section 1e).
BBC News berichtet im September 2018, dass Selahattin Demirtas zu einer Gefängnisstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt worden sei. Außerdem sei der ehemalige HDP-Abgeordnete Sirri Surreyya Onder zu drei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden. Dermitas müsse sich laut BBC News Dutzenden Anklagen stellen, für die ihm im Falle eines Schuldspruchs bis zu 142 Jahren Gefängnis drohe (BBC News, 7. September 2018; siehe auch: DFAT, 9. Oktober 2018, S. 28-29).
DFAT beschreibt im Oktober 2018, dass ein ehemaliger Parlamentarier im April 2018 wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrorgruppe und Verbreitung terroristischer Propaganda zu zehn Jahren Haft verurteilt worden sei. Ein weiterer ehemaliger Parlamentarier sei im April 2018 wegen verbalen Angriffs auf einen Polizisten zu einer Haftstrafe von fast 18 Monaten verurteilt worden. Ein Dritter sei im Juli 2017 zu einer Haftstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt worden, weil er in seinen Social-Media-Beiträgen Propaganda für eine Terrororganisation betrieben und an Beerdigungen von PKK-Mitgliedern teilgenommen habe. Ein vierter sei im Juni 2017 zu einer Haftstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt worden, weil er den Präsidenten in einer Rede nach dem Verfassungsreferendum im April 2017 beleidigt habe (DFAT, 9. Oktober 2018, S. 28-29).
Informationen zur Kriminalisierung einfacher Parteimitglieder HDP/DBP zwischen 2014 und 2018
Freedom House berichtet 2016 von Bercan Aktas, einem 22-jährigen Medienstudenten und Mitglied der HDP, der im August 2015 wegen eines Tweets verhaftet worden sei, in dem er geschrieben habe, dass ein Polizist der Spezialeinheit „neutralisiert“ worden sei, anstatt ihn als „Märtyrer“ zu bezeichnen. Türkische Medien würden den Begriff „neutralisiert“ verwenden, um den Tod mutmaßlicher kurdischer Kämpfer·innen zu beschreiben. Aktas sei über einen Monat lang festgehalten worden und habe eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten erhalten (Freedom House, 2016).
Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/LR) zitiert im Dezember 2016 das türkische Innenministerium, dem zufolge 235 Personen in elf Provinzen verhaftet worden seien, die verdächtigt worden seien „Propaganda einer Terrorgruppe“ zu verbreiten und im Namen der PKK zu handeln. Unter den Festgenommenen hätten sich auch Mitglieder der HDP befunden (RFE/RL, 12. Dezember 2016).
Das Hohe Kommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UN Office oft he High Commissioner for Human Rights, OHCHR) schreibt in einem Bericht über die Menschenrechtssituation in der Süd-Ost-Türkei, mit einem Berichtszeitraum vom Juli 2015 bis Dezember 2016, dass sich laut einer offiziellen Erklärung der HDP von Anfang Jänner 2017 die Zahl der seit Juli 2015 inhaftierten HDP-Führungskräfte, Mitglieder und Unterstützer·innen auf 8.711 belaufe. Berichten zufolge belaufe sich die Zahl der Verhafteten mit Ende Dezember 2016 auf 2.705 Personen. Laut HDP seien 4.457 der Inhaftierungen und 1.275 der Verhaftungen nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 erfolgt (OHCHR, Februar 2017, S. 21).
DFAT zitiert in seinem Bericht vom Oktober 2018 die HDP. Laut HDP hätten Sicherheitskräfte im Sommer 2018 die Wahlkampfaktivitäten der HDP auf einschüchternde Weise überwacht. Im Juni habe Präsident Erdogan Mitglieder seiner Partei angewiesen, HDP-Wähler·innen in ihren jeweiligen Vierteln zu identifizieren und sie „genau im Auge zu behalten“. Laut HDP seien während des Wahlkampfes 375 Parteiaktivist·innen festgenommen worden (DFAT, 9. Oktober 2018, S. 29).
SFH veröffentlicht im Oktober 2018 einen Bericht zu Übergriffen gegen weibliche HDP-Mitglieder in der Türkei, der die Situation einfacher Parteimitglieder wie folgt beschreibt:
„Strafverfolgung von HDP-Mitgliedern. Verschiedene Quellen berichten, dass Mitglieder der prokurdischen HDP (Halklarin Demokratik Partisi) in der Türkei Strafverfolgung ausgesetzt sein können. Nach Angaben von Kontaktperson J vom 12. Oktober 2018 steht die HDP unter massivem Druck durch die Behörden. So seien verschiedene Abgeordnete und mehr als 5000 HDP-Mitglieder in Haft. Türkische Staatsanwaltschaften werfen ihnen Terrorismus und Bedrohungen der nationalen Sicherheit vor. Damit werden Strafverfahren gegen hunderte prokurdische Politikerinnen und Politiker, Parteioffizielle und Unterstützende begründet. Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass viele der Verhafteten keine Verbindungen zum Terrorismus hätten und diese nur verhaftet wurden, um die prokurdischen Halklarin Demokratik Partisi (HDP) und deren kommunale Schwester-Partei Demokratik Bolgeler Partisi (DBP) zu schwächen sowie kritische Stimmen zu unterdrücken.“ (SFH 25. Oktober 2018, S. 4)
„Auch rangniedrige HDP-Mitglieder können in den Fokus der Behörden geraten. Nach Angaben von Kontaktperson B, welche im Bereich Menschenrechte in der Türkei tätig ist, kann eine Mitgliedschaft in der HDP ausreichen, um in den Fokus der Behörden zu geraten. Manchmal genüge es bereits, an einer Versammlung oder einem Treffen der Partei teilzunehmen, ohne selber ein Mitglied zu sein. Allerdings führe nach Einschätzung der Kontaktperson B ein aktives Engagement zu mehr Druck durch die Behörden. Auch Kontaktperson G geht davon aus, dass aktivere Mitglieder stärker in den Fokus der Behörden geraten. Nach Einschätzung der Quelle gehe es den Behörden darum, die Arbeit der Partei lahmzulegen.
Eine weitere Kontaktperson E gab am 9. Oktober 2018 an, dass türkische Behördenvertreter_innen angeben würden, dass HDP-Mitglieder von der Polizei strafverfolgt werden, wenn eine direkte Verbindung zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) existiert. Eine solche Verbindung könne zum Beispiel die Teilnahme an einem Begräbnis eines PKK-Mitglieds sein. Gegen verschiedene Abgeordnete der HDP laufen laut der Quelle Verfahren wegen möglicher Verbindungen zur PKK. Nach Angaben von Kontaktperson H laufen aktive HDP-Mitglieder Gefahr, strafverfolgt zu werden. Allerdings seien teilweise auch Personen verhaftet worden, welche ihre Mitgliedschaft und aktive politische Arbeit vor mehreren Jahren beendet hätten. Die Quelle gab an, dass sie verschiedene Fälle von HDP-Mitgliedern kennt, welche wegen dem Inhalt ihrer Reden oder Beiträgen in sozialen Medien verhaftet wurden. Auch Äusserungen zur türkischen Operation in Afrin (Syrien) könnten zu einer Strafverfolgung von HDP-Mitgliedern führen. Die HDP werde von der Regierung als Ableger einer Terrororganisation bezeichnet. Auch Sympathisanten der HDP könnten zum Ziel der Behörden werden. So würden Personen von den Behörden ermutigt, verdächtige Personen zu melden. Wenn eine Person zum Beispiel in sozialen Medien den Beiträgen einer/s HDP-Abgeordneten folge, könne dies als Beweis gelten, dass man Verbindungen zu Terroristen aufweise.
Willkürliches staatliches Vorgehen gegen HDP-Mitglieder. Nach Angaben der Kontaktpersonen A und I sei das Vorgehen der Behörden gegen HDP-Mitglieder von Willkür gekennzeichnet. Deswegen sei es schwierig vorherzusagen, welche Personen in den Fokus der Behörden geraten und strafverfolgt werden. Insbesondere im Südosten würde oft und gegen sehr viele HDP-Mitglieder vorgegangen.“ (SFH 25. Oktober 2018, S. 5)
„Politisch motivierte Übergriffe gegen HDP-Mitglieder durch Beamte in Zivil als Druckmittel. Gemäss Kontaktperson D seien politisch motivierte Übergriffe und Gewalt durch Polizeibeamte in Zivil nicht nur auf Frauen begrenzt, sondern würden sich auch gegen männliche Mitglieder oder Studenten richten. Die Beamten in Zivil würden laut Kontaktpersonen D und H die betroffene Person mitnehmen und sie unter Druck setzen, mit ihnen als Informant_in zusammenzuarbeiten. Dies geschehe laut Kontaktperson D auch in Istanbul und Ankara. Einige der Betroffenen hätten sich an Menschenrechtsorganisationen oder Medien gewandt. Seit der Eskalation im Südosten ab Sommer 2015 und dem Putschversuch vom Juli 2016 verzeichne man mehr derartige Fälle. Kontaktperson H betonte, dass es bei den Übergriffen neben dem Ziel, die Betroffenen als Informant_innen zu gewinnen, in zweiter Linie darum gehe, die Betroffenen einzuschüchtern. Nach Ansicht von Kontaktperson H würden diese Übergriffe in systematischer Weise von Polizeikräften durchgeführt. Weiter gab die Quelle an, dass diese Übergriffe aus ihrer Sicht von den Sicherheitskräften organisiert würden, um die politische Opposition einzuschüchtern und zu unterdrücken.
Verdeckte Operationen von Beamt_innen in Zivilkleidung. Kontaktperson M schildert, dass ihre Organisation die Erfahrung gemacht habe, dass Polizeikräfte oft ihre Identität verbergen, wenn sie mit ‚politischen Fällen‘ zu tun hätten. Dies geschehe insbesondere auch im Südosten des Landes. Polizisten in Zivilkleidung seien so bei Verhaftungen, Razzien oder teilweise gar bei extralegalen Tötungen involviert. Solche ‚verdeckte Aktionen‘ ohne klare Urheberschaft würden dann von den Behörden teilweise als kriminelle Aktivitäten Dritter dargestellt werden.
Politisch motivierte Gewalt und Übergriffe von Polizeibeamten in Zivil gegen weibliche HDP-Mitglieder. Nach Angaben der Kontaktpersonen C und D vom 8. Oktober 2018 gibt es viele Fälle, in welchen weibliche HDP-Mitglieder zum Ziel von politisch motivierten Übergriffen und Gewalt durch Polizeibeamte in Zivil werden. Kontaktperson K gab der SFH am 12. Oktober 2018 an, dass sie Kenntnis von solchen Fällen habe. Sie bestätigte, dass es zu Übergriffen komme, bei welchen die weiblichen Betroffenen aus politischen Gründen teilweise mit sexueller Gewalt unter Druck gesetzt werden. Häufig würden Polizeikräfte dabei in Zivilkleidung agieren. Laut Kontaktperson I ist es sehr wahrscheinlich, dass derartige Übergriffe geschehen. Insbesondere in Diyarbakir gebe es eine sehr große Polizeipräsenz, allerdings sei es auch gut möglich, dass ein solcher Übergriff beispielsweise in Ankara geschehen könne. Kontaktperson M gab der SFH am 10. Oktober 2018 an, dass sie Kenntnis von derartigen Fällen habe. Insbesondere kurdische Frauen seien laut der Quelle stark im Fokus der Behörden. Laut Kontaktperson H, welche bei der HDP tätig ist, habe es einige derartige Fälle im letzten Jahr gegeben.
Sexuelle Gewalt gegen Frauen durch Sicherheitskräfte. Kontaktperson L, die im Bereich Frauenrechte und Gewalt gegen Frauen in der Türkei tätig ist, gab der SFH an, dass Frauen, welche politisch aktiv seien, generell einem gewissen Risiko ausgesetzt seien. Die Anwendung sexueller Gewalt sei teilweise eine Strategie der Sicherheitskräfte. Frauen im Südosten würden Frauenrechtsorganisationen Fälle von sexuellen Übergriffen durch Sicherheitskräfte schildern. Zudem seien Frauen in Haft oft sexuellen Belästigungen oder Gewalt ausgesetzt.“ (SFH 25. Oktober 2018, S. 6-7)
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 20. März 2024)
· AA – Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juli 2018), 3. August 2018https://media.frag-den-staat.de/files/docs/8b/18/50/8b185027fd3742d7b7162ea20cde2ace/turkei-2018-06.pdf
· Al-Jazeera: Turkey detains pro-Kurdish party officials after attack, 12. Dezember 2016https://www.aljazeera.com/news/2016/12/12/turkey-detains-pro-kurdish-party-officials-after-attack
· ANF News: 35 people detained in Çatak district of Van, 28. November 2017https://anfenglishmobile.com/kurdistan/35-people-detained-in-Catak-district-of-van-23395
· ANF News: High prison sentence for Mayor of Van, Bekir Kaya, 19. Oktober 2018https://anfenglishmobile.com/kurdistan/high-prison-sentence-for-mayor-of-van-bekir-kaya-30265
· BBC News: Turkey HDP: Court jails pro-Kurdish leader Demirtas, 7. September 2018https://www.bbc.co.uk/news/world-europe-45450622
· bianet: Van Municipality Mayor Arrested, 18. November 2016https://bianet.org/haber/van-municipality-mayor-arrested-180844
· DFAT – Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade: DFAT Country Information Report Turkey, 9. Oktober 2018https://www.ecoi.net/en/file/local/2019375/country-information-report-turkey.pdf
· Ekurd Daily: Turkey detains Kurdish mayor of Van city, appoints trustees, 17. November 2016https://ekurd.net/turkey-detains-van-mayor-2016-11-17
· Ekurd Daily: Turkey detains Kurdish HDP deputies Huda Kaya, Meral Danis Bestas, 28. Jänner 2017https://ekurd.net/turkey-detains-kurdish-deputies-2017-01-28
· Freedom House: Freedom on the Net 2016, Turkey, 2016https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-net/2016
· HRW – Human Rights Watch: Turkey: Crackdown on Kurdish Opposition - MPs Jailed, Elected Mayors Removed Ahead of Referendum, 20. März 2017https://www.ecoi.net/de/dokument/1396669.html
· HRW – Human Rights Watch: Turkey: Kurdish Mayors’ Removal Violates Voters’ Rights, 7. Februar 2020https://www.hrw.org/news/2020/02/07/turkey-kurdish-mayors-removal-violates-voters-rights
· OHCHR – UN Office of the High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in South-East Turkey; July 2015 to December 2016, Februar 2017https://www.ecoi.net/en/file/local/1395175/1226_1489578695_ohchr-south-east-turkeyreport-10march2017.pdf
· RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty: Turkey Reportedly Detains More Than 100 In Raids Against Pro-Kurdish Party, 12. Dezember 2016https://www.ecoi.net/de/dokument/1012943.html
· SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe: Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 7. Juli 2017 zur Türkei: Gefährdung bei Rückkehr von kurdischstämmigen Personen mit oppositionspolitischem Engagement und möglichen Verbindungen zur PKK, 7. Juli 2017https://www.ecoi.net/en/file/local/1404572/1788_1500988360_tuerk.pdf
· SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe: Türkei: Übergriffe gegen weibliche HDP-Mitglieder, 25. Oktober 2018https://www.ecoi.net/en/file/local/1451075/1788_1542364675_2510.pdf
· USDOS – US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, 20. April 2018https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html
Anhang: Quellenbeschreibungen und Informationen aus ausgewählten Quellen
Das Auswärtige Amt (AA) ist das Ministerium der Bundesrepublik Deutschland, das für die Außen- und Europapolitik des Landes zuständig ist.
· AA – Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juli 2018), 3. August 2018https://media.frag-den-staat.de/files/docs/8b/18/50/8b185027fd3742d7b7162ea20cde2ace/turkei-2018-06.pdf
„Jedoch werden jenseits der Bekämpfung realer terroristischer Bedrohungen Terrorismusvorwürfe inflationär genutzt: Neben der Einstufung der Gülen-Bewegung als Terrororganisation wurden im Zuge einer temporären Verfassungsänderung am 8. Juni 2016 138 Abgeordneten (darunter 57 der 59 Abgeordneten der pro-kurdischen HDP) die parlamentarische Immunität entzogen. Seitdem leiteten Strafverfolgungsbehörden gegen Dutzende Abgeordnete Strafverfahren ein und verhängten in einigen Fällen auch Untersuchungshaft. Nach rechtskräftiger Verurteilung entzog das Parlament 9 Abgeordneten der HDP ihr Mandat (Stand 05.03.2018).“ (AA, 3. August 2018, S. 6)
Al Jazeera ist ein in Qatar ansässiger arabischer Nachrichtensender.
· Al-Jazeera: Turkey detains pro-Kurdish party officials after attack, 12. Dezember 2016https://www.aljazeera.com/news/2016/12/12/turkey-detains-pro-kurdish-party-officials-after-attack
„Police have arrested 199 people in raids across Turkey, targeting officials from the pro-Kurdish Peoples’ Democratic Party (HDP) over allegations of links to an outlawed Kurdish armed group, the state-run Anadolu agency said.“ (Al-Jazeera, 12. Dezember 2016)
Die Firatnews Agency (kurd. Ajansa Nûçeyan a Firatê, Abk. ANF) ist eine kurdische Nachrichtenagentur. Sie bietet Nachrichten in acht Sprachen an (Kurdisch, Türkisch, Spanisch, Deutsch, Englisch, Arabisch, Russisch und Persisch) und berichtet schwerpunktmäßig über Kurden und die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
· ANF News: 35 people detained in Çatak district of Van, 28. November 2017https://anfenglishmobile.com/kurdistan/35-people-detained-in-Catak-district-of-van-23395
„Special operations police and gendarmerie forces carried out house raids in Çatak district of Van early Tuesday morning. 35 people were reportedly taken into custody in the operation, who include administrators of the Peoples’ Democratic Party (HDP) and Democratic Regions’ Party (DBP).“ (ANF News, 28. November 2017)
· ANF News: High prison sentence for Mayor of Van, Bekir Kaya, 19. Oktober 2018https://anfenglishmobile.com/kurdistan/high-prison-sentence-for-mayor-of-van-bekir-kaya-30265
„Bekir Kaya, imprisoned co-mayor of the Northern Kurdistan city of Van, has been sentenced to eight years and three months' imprisonment.“ (ANF News, 19. Oktober 2018)
BBC News, eine Abteilung der British Broadcasting Cooperation (BBC) mit Hauptsitz in London, ist ein öffentlich-rechtlicher Rundfunksender.
· BBC News: Turkey HDP: Court jails pro-Kurdish leader Demirtas, 7. September 2018https://www.bbc.co.uk/news/world-europe-45450622
„A leading Kurdish politician has been jailed for making and ‘spreading terrorist propaganda’ for militants fighting the Turkish state. Selahattin Demirtas, a former co-chair of the pro-Kurdish Peoples' Democratic Party (HDP), will serve four years and eight months in jail, state media say. He came third in June's presidential election while behind bars, where he has been since his arrest in 2016. He denied all charges and human rights groups say the trial was political. A Turkish court also sentenced former HDP lawmaker Sirri Sureyya Onder to three years and six months on the same charge, CNN Turk reports. Demirtas faces dozens of charges for which he risks up to 142 years in jail if found guilty.“ (BBC News, 7. September 2018)
bianet ist eine unabhängige Nachrichtenquelle mit Sitz in Istanbul, die sich auf Menschenrechtsjournalismus spezialisiert hat.
· bianet: Van Municipality Mayor Arrested, 18. November 2016https://bianet.org/haber/van-municipality-mayor-arrested-180844
„Van Metropolitan Mayor Bekir Kaya from Democratic Regions Party (DBP) has been arrested on charge of ‘knowingly and willingly aiding an [illegal] organization’. Together with Kaya, four other municipality staff members were taken into custody in an operation carried out yesterday (November 17) in the early morning hours. While the other three municipality staff members were conditionally released, Kaya and landscape architect Zelal Tanlı were arrested. Yesterday, a trustee was appointed to Van Metropolitan Municipality. As of November 18, there are 38 arrested co-Mayors from DBP.“ (Bianet, 18. November 2016)
Das Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT) ist das Außenministerium Australiens.
· DFAT – Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade: DFAT Country Information Report Turkey, 9. Oktober 2018https://www.ecoi.net/en/file/local/2019375/country-information-report-turkey.pdf
„The HDP’s parliamentary representatives have been particularly affected by the crackdown (the DBP is not currently represented in parliament). In July 2017, parliament amended its by-laws to prohibit the use of the word ‘Kurdistan’ or other sensitive terms by members of parliament on the floor of parliament, providing for the possible issuance of fines to violators. In December 2017, parliament suspended the HDP’s parliamentary spokesperson for two General Assembly sessions after he referred to himself as a ‘representative of Kurdistan’ during a parliamentary discussion. In May 2016, parliament approved a law allowing for the lifting of parliamentary immunity: eleven HDP parliamentarians had their seats revoked, and one current and nine former HDP parliamentarians have subsequently been imprisoned on various charges.
The party’s co-chair and June 2018 presidential candidate, Selahattin Demirtas, was sentenced to four years and eight months’ imprisonment in September 2018 for making and spreading terrorist propaganda for the PKK [Kurdistan Workers’ Party]. Demirtas remained in pre-trial detention throughout the 2018 election campaign and was unable to campaign freely. He still faces dozens of charges which could result in up to 142 years’ imprisonment if found guilty.
One former parliamentarian was sentenced to ten years’ imprisonment in April 2018 for being a member of an armed terrorist group and for spreading terrorist propaganda. Another former parliamentarian was sentenced to nearly 18 months’ imprisonment in April 2018 for verbally assaulting a police officer. A third was sentenced to a year and three months’ imprisonment in July 2017 for making propaganda for a terrorist organisation over his social media posts and for attending the funerals of PKK members. A fourth was sentenced to one year and two months’ imprisonment in June 2017 for insulting the president in a speech following the April 2017 constitutional referendum.“ (DFAT, 9. Oktober 2018, S. 28-29)
„In addition to incidences of physical attacks, the HDP reported that security forces routinely monitored their campaign activities in an intimidating manner, and that high-level campaign rhetoric from the AKP [Adalet ve Kalkınma Partisi] contributed to an atmosphere of fear among HDP candidates and supporters. On 14 June, President Erdogan instructed AKP members to identify HDP voters in their respective neighbourhoods and ‘keep a close watch on them’, while on several occasions during campaign rallies in various locations he referred to Demirtas as a terrorist. The HDP reported that authorities detained 375 of its party activists during the election period.“ (DFAT, 9. Oktober 2018, S. 29)
Ekurd Daily ist eine auf kurdische Themen spezialisierte Nachrichtenagentur mit Sitz in den USA.
· Ekurd Daily: Turkey detains Kurdish mayor of Van city, appoints trustees, 17. November 2016https://ekurd.net/turkey-detains-van-mayor-2016-11-17
„Turkish police detained the mayor of the southeastern Kurdish city of Van on Thursday, security sources said, a day after arresting two other regional mayors in a crackdown on politicians accused of links to Kurdish militants. […] Arrest warrants were also issued for four other municipal officials in the Van city, Anadolu said. The targeting of city heads follows the arrest of 10 MPs [Members of Parliament] from the pro-Kurdish Peoples’ Democratic Party (HDP), including its co-leaders, who are being held on charges of links to the PKK [Kurdistan Workers’ Party] in a crackdown that has caused international alarm. […]
The government has been stepping up measures against the Kurdish HDP party, including removing elected party officials from mayors‘ offices in the more than two dozen municipalities and replacing them with loyalists to Ankara. 12 Kurdish parliamentarians from the HDP including co-chairs Selahattin Demirtas and Figen Yuksekdag, were detained on November 4, over PKK links. On October 24, Turkey has detained two Kurdish mayors of Diyarbakir, Gultan Kisanak and Firat Anli, accusing them of ‘terrorist’ activities linked to the PKK. The Turkish government appointed a trustee from local Ankara district administrator to take over Kisanak’s duties. In September, 24 Kurdish mayors in the southeast suspected of links to the PKK were suspended and replaced with officials close to the ruling Justice and Development Party (AKP) co-founded by Erdogan, a move that triggered protests in several cities in the region. The government suspended 11,500 Kurdish teachers suspected of links to the PKK in September 2016.“ (Ekurd Daily, 17. November 2016)
· Ekurd Daily: Turkey detains Kurdish HDP deputies Huda Kaya, Meral Danis Bestas, 28. Jänner 2017https://ekurd.net/turkey-detains-kurdish-deputies-2017-01-28
„Kurdish deputies of the Peoples’ Democratic Party (HDP), Huda Kaya and Meral Danis Bestas, were detained early on Saturday as part of the crackdown against Turkey’s Kurdish political movement. […] Kaya’s detention comes after a court in Van province on Friday issued arrest warrants for HDP deputies Lezgin Botan and Adem Geveri. […]
In May 2016, parliament voted to strip lawmakers of their legal immunity, paving the way for the HDP legislators’ arrests. In November 12 Kurdish HDP lawmakers, including the two co-leaders, Selahattin Demirtas and Figen Yuksekdag, were arrested on charges of links to the PKK [Kurdistan Workers’ Party] which they deny. Thousands of officials from the HDP have been detained since 2015. Turkey detained 200 HDP members in December 2016.“ (Ekurd Daily, 28. Jänner 2017)
Freedom House ist eine in den USA ansässige Nichtregierungsorganisation, die sich mit Recherchen und Advocacy-Arbeit zu Demokratie, politischen Freiheiten und Menschenrechten befasst.
· Freedom House: Freedom on the Net 2016, Turkey, 2016https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-net/2016
„Bercan Aktas, a 22-year-old media student and member of the opposition People’s Democratic Party (HDP), was arrested in August 2015 for a tweet stating ‘A special forces police officer was neutralized’ rather than using the term ‘martyred.’ ‘Neutralized’ is the term employed by the mainstream media to describe the death of alleged Kurdish militants. He was detained for over one month and later received a suspended prison sentence of one year and three months.“ (Freedom House, 2016)
Human Rights Watch (HRW) ist eine internationale Nichtregierungsorganisation mit Sitz in New York City, die sich für den weltweiten Schutz der Menschenrechte einsetzt.
· HRW – Human Rights Watch: Turkey: Crackdown on Kurdish Opposition - MPs Jailed, Elected Mayors Removed Ahead of Referendum, 20. März 2017https://www.ecoi.net/de/dokument/1396669.html
„The Turkish government has jailed 13 members of the pro-Kurdish democratic opposition in parliament on terrorism charges and taken direct control of 82 municipalities in the Kurdish southeast region, suspending and incarcerating elected mayors, Human Rights Watch said today. […] The move against the national pro-Kurdish party, Peoples’ Democratic Party (HDP), and its regional sister party, Democratic Regions Party (DBP), comes in the lead up to an April 16, 2017 constitutional referendum on an amendment that would transform Turkey from its traditional parliamentary political system to a presidential one, leading to a concentration of power in the office of the president. […] Selahattin Demirtaş and Figen Yüksekdağ, the co-leaders of HDP, and 11 of its other parliament members are in jail facing terrorism charges. […] Thousands of other members of both pro-Kurdish parties have been arrested. The HDP informed Human Rights Watch that since the July 2016 attempted coup in Turkey, 5,471 of its party officials, including heads of provincial and district branches, had been detained, with 1,482 sent to pretrial detention. The BDP sister party told Human Rights Watch that 3,547 of its party officials had been placed in pretrial detention since July 2015.“ (HRW, 20. März 2017)
· HRW – Human Rights Watch: Turkey: Kurdish Mayors’ Removal Violates Voters’ Rights, 7. Februar 2020https://www.hrw.org/news/2020/02/07/turkey-kurdish-mayors-removal-violates-voters-rights
„As an example of criminal activity, the ministry cited the mayors’ adoption of a co-mayor system. This practice was introduced by the HDP’s predecessor Peace and Democracy Party (BDP) after local elections on March 30, 2014. To promote gender equality, a man and a woman shared the mayor’s role, with one officially elected and the other selected as co-mayor from among the elected council members.“ (HRW, 7. Februar 2020)
Das Hohe Kommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UN Office of the High Commissioner for Human Rights, OHCHR) ist eine Abteilung des Sekretariats der Vereinten Nationen mit dem Auftrag, Menschenrechte zu fördern und zu schützen sowie Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.
· OHCHR – UN Office of the High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in South-East Turkey; July 2015 to December 2016, Februar 2017https://www.ecoi.net/en/file/local/1395175/1226_1489578695_ohchr-south-east-turkeyreport-10march2017.pdf
„According to the HDP official statement issued on 2 January 2017, since July 2015, the number of detained HDP executives, members, and supporters had reached 8,711. Reportedly, as of 29 December 2016, the number of those arrested was 2,705. According to the HDP, 4,457 (more than half) of detentions and 1,275 arrests had taken place after the coup attempt of 15 July 2016.“ (OHCHR, Februar 2017, S. 21)
Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) ist eine Rundfunkorganisation, die von der antikommunistischen amerikanischen Organisation National Committee for a Free Europe im Jahr 1949 gegründet wurde und vom Kongress der Vereinigten Staaten finanziert wird. Sie bietet Nachrichten zu Ländern in Osteuropa, Zentralasien und im Nahen Osten.
· RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty: Turkey Reportedly Detains More Than 100 In Raids Against Pro-Kurdish Party, 12. Dezember 2016https://www.ecoi.net/de/dokument/1012943.html
„Turkish police have detained 235 people suspected of ‘spreading terror group propaganda’ and acting on behalf of the Kurdistan Workers Party (PKK) militant group, the Interior Ministry says. A December 12 statement said the operation covered 11 provinces across the country. Those detained included members from the pro-Kurdish Peoples' Democratic Party (HDP).“ (RFE/RL, 12. Dezember 2016)
Das US Department of State (USDOS) ist das US-Bundesministerium, das für die auswärtigen Angelegenheiten der Vereinigten Staaten zuständig ist.
· USDOS – US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, 20. April 2018https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html
„Prosecutors used a broad definition of terrorism and threats to national security, and in some cases used what appeared to be questionable evidence to file criminal charges against a broad range of individuals, including journalists, opposition politicians (primarily of the pro-Kurdish HDP), activists, and others critical of the government. At year’s end, nine HDP parliamentarians, including the HDP co-chair Selahattin Demirtas--head of the second-largest opposition party in parliament--remained imprisoned, as did one CHP [Cumhuriyet Halk Partisi] lawmaker. […] As of December 12, the Prime Ministry reported the government had removed a total of 106 elected mayors from office. These included 93 pro-Kurdish Democratic Regions Party (DBP) or HDP mayors, nine AKP [Adalet ve Kalkınma Partisi] mayors, three National Movement party (MHP) mayors, and one CHP mayor. A majority were removed, detained or arrested for allegedly supporting PKK terrorism. The government installed trustees in more than 90 HDP or DBP municipalities.
Authorities used counterterrorism laws broadly against many human rights activists, media outlets, suspected PKK [Kurdistan Workers’ Party] sympathizers, and alleged members of the Gulen movement, among others. Human rights groups alleged that many detainees had no substantial link to terrorism and were detained to silence critical voices or weaken political opposition to the ruling AKP, particularly the pro-Kurdish HDP or its sister party, the DBP. Authorities used both the antiterror laws and increased powers under the state of emergency to detain individuals and seize assets, including those of media companies, charities, businesses, pro-Kurdish groups accused of supporting the PKK, and individuals alleged to be associated with the Gulen movement.“ (USDOS, 20. April 2018, Section 1e)
[1] Die Praxis, Co-BürgermeisterInnen einzusetzen, sei laut Human Rights Watch (HRW) von der HDP-Vorgängerpartei BDP (Barış ve Demokrasi Partisi) nach den Kommunalwahlen 2014 eingeführt worden. Um die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern, hätten sich ein Mann und eine Frau die Rolle des/r BürgermeisterIn geteilt, wobei eine Person offiziell gewählt und die andere aus den gewählten Ratsmitgliedern als Co-BürgermeisterIn ausgewählt worden sei (HRW, 7. Februar 2020).
Anfragebeantwortung zur Türkei bzw. zum Irak: Duhok: Informationen zur Ermordung von XXXX (Beteiligung des türkischen Geheimdienstes, Informationen zu XXXX selbst und einer etwaigen strafrechtlichen Verurteilung in der Türkei) [a-12337-2]
Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen, sowie gegebenenfalls auf Auskünften von Expert·innen und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.
Dieses Produkt stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar.
Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.
Kurzbeschreibungen zu den in dieser Anfragebeantwortung verwendeten Quellen sowie Ausschnitte mit Informationen aus diesen Quellen finden Sie im Anhang.
Bitte beachten Sie, dass die in dieser Anfragebeantwortung enthaltenen Übersetzungen aus dem Türkischen unter Verwendung von technischen Übersetzungshilfen erstellt wurden. Es besteht daher ein erhöhtes Risiko, dass diese Arbeitsübersetzungen Ungenauigkeiten enthalten.
Der Spiegel berichtet im August 2008, dass nach einem zweifachen Bombenanschlag im Istanbuler Stadtteil Güngören, bei dem 17 Personen getötet und mehr als 150 verletzt worden seien, acht Kurden festgenommen und in Untersuchungshaft genommen worden seien. Die Staatsanwaltschaft werfe den Festgenommenen die Mitgliedschaft in der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK vor. Mehrere Zeitungen hätten über einen Attentäter namens XXXX berichtet. Dieser sei von der PKK im Irak ausgebildet worden. Laut der Zeitung Hürriyet habe er das Platzieren der Bomben in Güngören gestanden und das Zünden der Sprengsätze per Handy zugegeben. Er sei, so die Hürriyet, von fünf Kompliz·innen zum Anschlagsort begleitet worden, wo sie sich nach den Explosionen das Blutbad etwa 20 Minuten lang angesehen hätten. Laut der Hürriyet hätten Aufnahmen von Sicherheitskameras und Telefongesprächen die Ermittler·innen auf die Spur der Verdächtigen gebracht. Es gebe allerdings auch Zweifel an der Täterschaft der PKK. Die deutsche Bild-Zeitung habe den damaligen Leiter des Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau, zitiert, dem zufolge das Attentat nur schwer zur PKK passe. Die Technik des Anschlags sowie Ort und Zeit würden seiner Meinung nach eher auf einen islamistischen oder innertürkischen Hintergrund hinweisen (Der Spiegel, 3. August 2008).
Im August 2008 berichtet bianet, dass der Anschlag von Güngören laut dem türkischen Innenminister Beşir Atalay komplett aufgeklärt sei und es sich bei den Verhafteten um die Bombenleger handle. Hüseyin Çalişçi, der Anwalt von XXXX , habe erklärt, sein Mandant habe nichts mit dem Bombenanschlag in Güngören zu tun und er sei nur wegen „Unterstützung und Beihilfe der Organisation“ („örgüte yardım ve yataklık“) (mit der Organisation ist vermutlich die PKK gemeint, Anm. ACCORD) verhaftet worden. Atalay habe allerdings erklärt, dass alle im Zusammenhang mit dem Anschlag Verdächtigen festgenommen worden seien und es sich bei dem Anschlag um die Tat einer separatistischen Terrororganisation handle. XXXX Anwalt habe diese Aussage auf die Unfähigkeit zurückgeführt, den wahren Täter zu fassen. Er habe angekündigt, gegen Zeitungen, die seinen Mandanten und andere Verdächtige als „PKK-Bomber“ darstellen würden, vorzugehen. Die Aussagen des Innenministers seien nicht angemessen, da XXXX und die anderen Verdächtigen nicht als Täter des Güngören-Anschlags verhaftet worden seien. Laut dem Anwalt hätten XXXX und seine Familie den Anschlag verurteilt und gewollt, dass die Verantwortlichen gefunden würden. XXXX habe etwa sieben Jahre in einem Textilunternehmen in Istanbul mit 70 bis 80 Angestellten gearbeitet, was alle, die dort arbeiten würden, bezeugen könnten. Laut der Tageszeitung Hürriyet seien XXXX bei der Polizei Aufnahmen vom Zeitpunkt direkt nach den Explosionen gezeigt worden. XXXX sei von den Bildern schockiert gewesen und habe stundenlang nichts gesagt. Er habe aber seine Tat gestanden und angegeben, er habe nur deshalb die Tat ausgeführt, weil ihm versichert worden sei, es werde nicht viele Opfer geben. Laut der Hürriyet sei XXXX vor drei Monaten in die Türkei eingereist, nachdem er in Kandil (im Irak, Anm. ACCORD) ein Bomben-Training erhalten habe. Im Rahmen der Ermittlungen zu dem Anschlag seien zehn Personen festgenommen worden, von diesen seien acht wegen „Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation“ („örgüt üyesi olmak“) und „Unterstützung und Beihilfe einer illegalen Organisation“ („örgüte yardım ve yataklık etmek“) beschuldigt und inhaftiert worden. Die inhaftierten Personen, darunter XXXX , seien ins Metris-Gefängnis gebracht worden. Die PKK, die von der Regierung für den Anschlag verantwortlich gemacht werde, habe am Tag nach dem Anschlag erklärt, für diesen nicht die Verantwortung zu übernehmen. Die Partei für eine demokratische Gesellschaft (Demokratik Toplum Partisi, DTP) habe den Anschlag verurteilt (bianet, 4. August 2008).
bianet berichtet ebenfalls im August 2008, dass die Anwälte von XXXX , einem der Verdächtigen im Fall der Bombenanschläge in Güngören, der von den Medien als Güngören-Bomber dargestellt werde, eine Pressekonferenz bei der türkischen NGO Menschenrechtsvereinigung (İnsan Hakları Derneği, İHD) abgehalten hätten. Es sei ihnen darum gegangen, die Missverständnisse aufzuklären und auf die Folter hinzuweisen, die ihre Klienten in Haft erlebt hätten. Laut den Anwälten seien ihre Klienten nach ihrer Verhaftung ins Metris-Gefängnis in Istanbul gebracht worden. Dort seien sie entkleidet und von etwa 15 bis 20 Gendarmeriesoldaten und Wachleuten mit Stöcken und Tritten verprügelt und geschlagen worden. Sie hätten sich laut den Anwälten in Einzelzellen befunden, seien ständig bedroht und beleidigt worden und hätten Angst davor gehabt, dass sich die Angriffe wiederholen könnten (bianet, 6. August 2008, aktualisiert am 31. Oktober 2013).
Die Medien hätten es so dargestellt, als habe XXXX das Verbrechen gestanden, indem er gesagt habe, er habe es getan, weil die PKK ihm versichert habe, es werde wenige Opfer geben, und weil er sich entschuldigt habe. Die Anwälte von XXXX hätten diese Behauptungen zurückgewiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass XXXX von seinem Recht zu schweigen Gebrauch gemacht habe, als er bei der Polizei befragt worden sei (bianet, 6. August 2008, aktualisiert am 31. Oktober 2013, vgl. bianet, 4. August 2008).
NTV berichtet im Mai 2009 darüber, dass es in Istanbul eine Gerichtsverhandlung im Zusammenhang mit dem Angriff in Güngören gegeben habe, es habe unter anderem auch Hüseyin XXXX daran teilgenommen. Während die Angeklagten ins Gericht gebracht worden seien, hätten Verwandte der Opfer versucht, sie zu attackieren. Einer der Angeklagten habe daraufhin mit der Aussage reagiert, dass sie, die Angeklagten, nichts mit den Anschlägen zu tun hätten und dass es sich um eine Verschwörung gegen sie handle. XXXX habe in der Verhandlung angegeben, dass er bei der Polizei sein Recht zu schweigen in Anspruch genommen habe. Außerdem habe er seinen Aussagen zufolge Protokolle unterschreiben müssen, ohne diese gelesen zu haben. Er habe auch beschrieben, was er am Tag des Anschlags gemacht habe. Er habe bis Mittag geschlafen und dann einen Verwandten zum Flughafen gebracht. Sie hätten noch einen weiteren Verwandten mitgenommen und seien bis zur Abflugzeit um 18 Uhr zusammen gewesen. Danach sei er bis 20.30 Uhr in einem Café gewesen und sei danach nach Hause gegangen. Gegen 22.30 Uhr habe er von dem Anschlag erfahren, da seine Familie etwas im Fernsehen darüber gesehen habe. Gegen 23 Uhr habe ihn sein Bruder angerufen und gefragt, ob er von dem Anschlag gehört habe. Laut XXXX Aussage sei selbst dieses Telefonat als Beweismittel aufgenommen worden. Er habe alle Anschuldigungen, die gegen ihn erhoben worden seien, zurückgewiesen. Laut der Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft von Istanbul würden XXXX und Nusret Tebis die versuchte Untergrabung der Einheit des Staates und der territorialen Integrität des Landes sowie 17-facher vorsätzlicher Mord vorgeworfen, wofür als Strafe eine 18-fache lebenslängliche Haftstrafe mit verschärften Bedingungen gefordert werde. Zudem werde XXXX der „Mitgliedschaft in der Terrororganisation PKK/Kongra-Gel“, des Zündens einer Bombe, des 90-fachen versuchten vorsätzlichen Mordes und des Beschädigens von Wohnhäusern, Geschäftsräumen und Fahrzeugen durch die Bombenexplosion in 95 Fällen beschuldigt. Es sei eine Haftstrafe zwischen 1.962 bis 4.455 Jahren beantragt worden (NTV, 11. Mai 2009).
Sözcü erwähnt in einem Artikel vom April 2023, dass die gefassten Verdächtigen Nusret Tebis und XXXX 2013 nach langer Untersuchungshaft auf Anordnung des Gerichts auf freien Fuß gesetzt worden seien. Beide seien nach ihrer Entlassung ins Ausland geflohen, der Prozess gegen sie sei allerdings wegen bereits vorliegender gerichtlicher Aussagen, trotz ihrer Abwesenheit, abgeschlossen worden (Sözcü, 21. April 2023).
Hürriyet Daily News meldet im November 2013, dass XXXX und Nusret Tebiş in Zusammenhang mit dem Anschlag in Güngören vom 27. Juli 2008 wegen vorsätzlicher Tötung („voluntary manslaughter“) von 17 Personen, darunter eine schwangere Frau, und dem Versuch, die Einheit des Staates zu schädigen, zu 18-facher verschärfter lebenslanger Haft („18 aggravated life sentences“) verurteilt worden seien. Sechs weitere Personen seien zu unterschiedlich langen Haftstrafen verurteilt worden (Hürriyet Daily News, 1. November 2013). Laut Sözcü sei XXXX zu 18-facher lebenslanger Haft sowie 1.274 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Es sei ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt worden, er habe jedoch trotz intensiver Fahndung nicht gefunden werden können (Sözcü, 21. April 2023). Auch bianet meldet im April 2023, dass laut türkischer Medien gegen XXXX ein Haftbefehl wegen des Anschlags in Güngören vorgelegen habe (bianet, 19. April 2023).
Medya News erwähnt in einem Artikel vom Juni 2023, dass XXXX mehr als zehn Jahre zuvor in den Irak geflohen sei, da er in der Türkei mit einer Haftstrafe konfrontiert gewesen sei (Medya News, 9. Juni 2023). In einem Artikel vom Jänner 2024 gibt Medya News an, dass XXXX in der Türkei wegen politischer Vergehen strafrechtlich verfolgt worden sei (Medya News, 3. Jänner 2024).
ANF berichtet im April 2023, dass auf XXXX , „einen aus politischen Gründen aus der Türkei geflüchteten Kurden“, ein tödlicher Anschlag verübt worden sei (ANF, 18. April2023). Auch andere Quellen berichten von XXXX Ermordung (Medya News, 9. Juni 2023; Medya News, 3. Jänner 2024; Sözcü, 21. April 2023; bianet, 19. April 2023). Laut Sözcü werde behauptet, dass der Anschlag auf Türeli vom türkischen Geheimdienst MİT (Millî İstihbarat Teşkilâtı) durchgeführt worden sei (Sözcü, 21. April 2023).
Laut ANF sei XXXX an seinem Arbeitsplatz in Dohuk angeschossen worden und auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben. Laut ANF sei bereits im Mai 2022 ein Anschlag auf XXXX verübt worden, der laut XXXX vom türkischen Geheimdienst MIT durchgeführt worden sei, wie RojNews berichtet habe (ANF, 18. April 2023). Ebenfalls im April 2023 berichtet ANF, dass XXXX in die Türkei überführt und in Êlih (türkisch: Batman) beigesetzt worden sei. Während der Überführung sei das Auto mit dem Leichnam von der Polizei gestoppt und zur Durchführung einer Autopsie umgeleitet worden, danach sei der Leichnam zur Bestattung freigegeben worden. Rund um den Friedhof, auf dem Türeli begraben worden sei, seien Polizeieinheiten gewesen und nur Personen mit dem Nachnamen Türeli seien zur Beisetzung zugelassen worden. Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) habe den Anschlag auf Türeli verurteilt und auf die anhaltenden Anschläge auf türkische Staatsbürger·innen in Südkurdistan hingewiesen. Laut der HDP sei „die Region Kurdistan zu einem Epizentrum“ für derartige Anschläge geworden (ANF, 20. April 2023a). Weiters meldet ANF im April 2023, dass die KCK (Koma Civakên Kurdistan, Gesellschaft Union Kurdistans) nach dem Anschlag auf XXXX dem türkischen Geheimdienst MIT und der PDK (Partiya Demokrata Kurdistanê, Demokratische Partei Kurdistans) die Verantwortung zugewiesen habe. Laut der KCK würden sich viele politisch verfolgte Kurd·innen aus Nordkurdistan in Südkurdistan aufhalten, wo sie aber auch nicht sicher seien. Die PDK arbeite laut der KCK eng mit dem MIT zusammen und es würden immer wieder Aktivist·innen und Personen im Exil von MIT getötet, wobei der Geheimdienst der PDK, Parastin, immer wieder Unterstützung leiste. Die KCK vermutet auch hinter der Ermordung des „aus Nordkurdistan geflohenen Dissidenten“ XXXX die genannten Geheimdienste. Laut der KCK sei XXXX aus politischen Gründen nach Südkurdistan gegangen. Die Tatsache, dass er bereits zum zweiten Mal angegriffen worden sei, zeige laut der KCK „die Entschlossenheit des türkischen Staates und des MIT“, XXXX zu ermorden, und mache deutlich, dass der Parastin an dem Anschlag beteiligt gewesen sei. Es sei bekannt gewesen, dass der MIT XXXX im Visier gehabt habe, es seien aber keinerlei Maßnahmen ergriffen worden. Ohne die Hilfe der PDK und des Parastin „könnte der MIT keinen Fuß nach Südkurdistan setzen und schon gar nicht könnte er Patriot:innen im öffentlichen Raum vor Hunderten Kameras ermorden und dann einfach verschwinden“, so die KCK (ANF, 20. April 2023b).
bianet berichtet in einem Artikel vom April 2023, dass der Täter des Anschlags auf XXXX laut Semel-Polizeidirektion identifiziert, aber noch nicht gefasst worden sei (bianet, 19. April 2023).
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 20. März 2024)
ANF - Ajansa Nûçeyan a Firatê: Tödlicher Anschlag auf XXXX in Dihok, 18. April 2023
https://anfdeutsch.com/kurdistan/todlicher-anschlag-auf-huseyin-tureli-in-dihok-37129
ANF - - Ajansa Nûçeyan a Firatê: XXXX in Êlih beerdigt, 20. April 2023a
https://anfdeutsch.com/kurdistan/ XXXX -in-Elih-beerdigt-37157
ANF - Ajansa Nûçeyan a Firatê: KCK warnt nach MIT-Mord in Dihok vor weiteren Provokationen, 20. April 2023b
https://anfdeutsch.com/kurdistan/kck-warnt-nach-mit-mord-in-dihok-vor-weiteren-provokationen-37151
bianet: Medyanın 'Güngören Bombacısı' Dediği Türeli 7 Yıllık Tekstil İşçisi, 4. August 2008
https://bianet.org/haber/medyanin-gungoren-bombacisi-dedigi-tureli-7-yillik-tekstil-iscisi-108778
bianet: Media Invents A Güngören Bomber, But He Denies The Allegations, 6. August 2008, aktualisiert am 31. Oktober 2013
https://bianet.org/haber/media-invents-a-gungoren-bomber-but-he-denies-the-allegations-108846
bianet: Batmanlı işletmeci öldürülmüştü; Saldırının ayrıntıları ortaya çıktı, 19. April 2023
https://www.rudaw.net/turkish/kurdistan/190420232
Der Spiegel: Türkische Behörden nehmen PKK-Mitglieder fest, 3. August 2008
Deutschlandfunk: Die Türkei, das Ausland und die PKK, 22. Juni 2022
https://www.deutschlandfunk.de/pkk-tuerkei-terror-100.html
Hürriyet Daily News: Two sentenced to life for explosion in Istanbul's Güngören in 2008, 1. November 2013
Medya News: Kurdish political exile shot in Sulaymaniyah, 9. Juni 2023
https://medyanews.net/kurdish-political-exile-shot-in-sulaymaniyah/
Medya News: Kurdish doctor assassinated in Iraqi Kurdistan: Turkish intelligence suspected, 3. Jänner 2024
https://medyanews.net/kurdish-doctor-assassinated-in-iraqi-kurdistan-turkish-intelligence-suspected/
NTV: Güngören saldırısı zanlılarına linç girişimi, 11. Mai 2009
https://www.ntv.com.tr/turkiye/gungoren-saldirisi-zanlilarina-linc-girisimi ,FrWWQPHr90q2vxQLRyQKtg
Schmidinger, Thomas: Es bleibt in der Familie, iz3w (Hg.), 27. April 2023
Sözcü: MİT peşlerini bırakmadı! Biri Suriye’de, diğeri Irak’ta öldürüldü, 21. April 2023
SZ – Süddeutsche Zeitung: Verfassungsgericht verbietet Kurdenpartei, 17. Mai 2010
Anhang: Quellenbeschreibungen und Informationen aus ausgewählten Quellen
Die Firatnews Agency (kurd. Ajansa Nûçeyan a Firatê, Abk. ANF) ist eine kurdische Nachrichtenagentur. Sie bietet Nachrichten in acht Sprachen an (Kurdisch, Türkisch, Spanisch, Deutsch, Englisch, Arabisch, Russisch und Persisch) und berichtet schwerpunktmäßig über Kurd·innen und die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
ANF - Ajansa Nûçeyan a Firatê: Tödlicher Anschlag auf XXXX in Dihok, 18. April 2023
https://anfdeutsch.com/kurdistan/todlicher-anschlag-auf - XXXX -in-dihok-37129
„In der Kurdistan-Region Irak (KRI) ist ein tödlicher Anschlag auf einen aus politischen Gründen aus der Türkei geflüchteten Kurden verübt worden. XXXX wurde am Montagabend in Dihok erschossen. Nach Angaben von RojNews fand der Anschlag um 21 Uhr Ortszeit an XXXX Arbeitsplatz im Einkaufszentrum Family statt. Demnach wurden neun Schüsse abgefeuert, XXXX wurde von sieben Kugeln getroffen und verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus.
Auf XXXX wurde bereits im Mai vergangenen Jahres ein Anschlag verübt. Laut RojNews hatte der Kurde damals erklärt, der Angriff sei vom türkischen Geheimdienst MIT (Millî İstihbarat Teşkilâtı) durchgeführt worden. Aus Sicherheitsgründen sollte sein Name nicht veröffentlicht werden. Drei Tage vor dem gescheiterten Anschlag, am 17. Mai 2022, war der Restaurantbesitzer Mehmet Zeki Çelebi in Silêmanî auf offener Straße erschossen worden. Auch hinter diesem Mordanschlag wird der MIT vermutet.“ (ANF, 18. April 2023)
ANF - Ajansa Nûçeyan a Firatê: XXXX in Êlih beerdigt, 20. April 2023a
https://anfdeutsch.com/kurdistan/huseyin-tureli-in-Elih-beerdigt-37157
„Der am Montagabend in einem Einkaufszentrum in Dihok ermordete Kurde XXXX ist in die Türkei überführt und an seinem Geburtsort Êlih (tr. Batman) beerdigt worden. Sein Leichnam wurde über den Grenzübergang Xabûr aus der Kurdistan-Region Irak auf türkisches Staatsgebiet gebracht. Das Fahrzeug mit der Leiche wurde auf dem Weg von der Polizei gestoppt und nach Şirnex (Şirnak) umgeleitet, um dort eine Autopsie durchzuführen. Danach wurde der Leichnam zur Bestattung freigegeben.
Der Asri-Friedhof in Êlih wurde im Vorfeld der Beerdigung am Mittwoch von Polizeieinheiten belagert. Zugelassen zu der Beisetzung wurden ausschließlich Familienmitglieder. Nur Trauernde mit dem Nachnamen XXXX wurden auf den Friedhof gelassen, Hunderte weitere Menschen wurden abgewiesen.
Unterdessen hat auch die Demokratische Partei der Völker (HDP) das Attentat auf XXXX verurteilt und auf die fortgesetzten Anschläge auf türkische Staatsangehörige in Südkurdistan hingewiesen. Die Mörder von XXXX seien ‚keine Fremden‘, erklärte der HDP-Vorstand am Dienstag: ‚Es sind dieselben Mördernetzwerke, die zuvor die Journalistin und Akademikerin Nagihan Akarsel, Yasin Bulut, Mehmet Zeki Çelebi und viele kurdische Politiker:innen und Aktivist:innen, die die Türkei aufgrund von politischer Verfolgung verlassen mussten, ermordet haben.‘
Mit den Anschlägen werde Kurdinnen und Kurden signalisiert: ‚Kein Teil der Welt ist für euch sicher, ich erkenne euer Recht, irgendwo auf der Welt zu leben, nicht an.‘ Bedenklich sei auch die die [sic] Tatsache, dass die Region Kurdistan zu einem Epizentrum für diese Morde geworden sei, so die HDP.“ (ANF, 20. April 2023a)
ANF - Ajansa Nûçeyan a Firatê: KCK warnt nach MIT-Mord in Dihok vor weiteren Provokationen, 20. April 2023b
https://anfdeutsch.com/kurdistan/kck-warnt-nach-mit-mord-in-dihok-vor-weiteren-provokationen-37151
„Nach dem Mordanschlag auf den politischen Flüchtling XXXX im südkurdischen Dihok weist die KCK (Koma Civakên Kurdistan, Gesellschaft Union Kurdistans) dem türkischen Geheimdienst MIT (Millî İstihbarat Teşkilâtı) und der PDK (Partiya Demokrata Kurdistanê, Demokratische Partei Kurdistans) die Verantwortung zu und warnt vor weiteren Provokationen im Vorfeld der Wahlen.
Südkurdistan ist für viele politisch verfolgte Kurd:innen aus Nordkurdistan der erste Anlaufpunkt. Doch auch dort sind sie nicht sicher. Die PDK-Regierung kollaboriert eng mit dem türkischen Staat und immer wieder werden Aktivist:innen und Exilierte vom türkischen MIT ermordet. Der Geheimdienst der PDK, Parastin, leistet dabei häufig Unterstützung. Auch hinter dem Mord auf den aus Nordkurdistan geflohenen Dissidenten XXXX scheinen die Geheimdienste zu stehen. Der Ko-Vorstand des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) kritisierte die Kollaboration der PDK mit dem türkischen Geheimdienst am Mittwoch in einer Erklärung und sagte, der MIT könnte ohne Hilfe des Geheimdienstes der PDK keinen Schritt in Südkurdistan machen und schon gar keine Mordanschläge unter unzähligen Überwachungskameras begehen. Türeli war am 17. April in dem Laden, in dem er arbeitete, in der riesigen Family Mall in Dihok ermordet worden.
Die KCK erklärte zu dem Mord: ‚Der uns aus der Öffentlichkeit als Patriot aus Êlih (tr. Batman) bekannte XXXX verstarb aufgrund eines bewaffneten Angriffs in Dihok. Viele patriotische Organisationen verurteilten dieses Attentat scharf und machten ihren Protest deutlich. Aus den uns vorliegenden Informationen geht hervor, dass XXXX , wie viele andere Patriot:innen aus Bakur, aus politischen Gründen nach Südkurdistan gegangen war und infolge eines Attentats ermordet wurde. […]XXXX war bereits einmal zuvor in Dihok angegriffen worden. Die Tatsache, dass er zum zweiten Mal angegriffen wurde und die Art und Weise der Durchführung des Anschlags zeigen die Entschlossenheit des türkischen Staates und des MIT, XXXX zu ermorden, und machen deutlich, dass dieser Anschlag mit Hilfe des Parastin durchgeführt wurde. Die Beteiligung des Parastin wird bei allen vom MIT verübten Attentaten und Morden deutlich. Es war bereits bekannt, dass sich XXXX im Visier des MIT befand. Aber es wurden keine Maßnahmen ergriffen. So konnte er beim zweiten Versuch ermordet werden. Die PDK hat in keiner Weise gegen diese Angriffe Stellung bezogen und der Parastin bedroht Patriot:innen, die aus Nordkurdistan geflohen sind, und nimmt sie fest. Sie sollen zu Spitzeldiensten gezwungen werden und sie werden unter Druck gesetzt, ihre patriotische Haltung aufzugeben. Ihnen wird ganz offen deutlich gemacht, dass sie nicht weiterleben werden, wenn sie nicht mit dem türkischen Staat kollaborieren. Die PDK verhält sich so aufgrund ihrer Kollaboration mit dem türkischen Faschismus gegenüber den Menschen, die vor der Tyrannei des AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung)/MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, Partei der Nationalistischen Bewegung)-Regimes nach Südkurdistan geflohen sind. Sie hilft dem MIT dabei, diese Personen ins Visier zu nehmen. Ohne die Unterstützung der PDK und des Parastin könnte der MIT keinen Fuß nach Südkurdistan setzen und schon gar nicht könnte er Patriot:innen im öffentlichen Raum vor Hunderten Kameras ermorden und dann einfach verschwinden.“ (ANF, 20. April 2023b)
bianet ist eine unabhängige Nachrichtenquelle mit Sitz in Istanbul, die sich auf Menschenrechtsjournalismus spezialisiert hat.
bianet: Medyanın 'Güngören Bombacısı' Dediği Türeli 7 Yıllık Tekstil İşçisi, 4. August 2008
https://bianet.org/haber/medyanin-gungoren-bombacisi-dedigi - XXXX -7-yillik-tekstil-iscisi-108778
„İçişleri Bakanı Beşir Atalay, İstanbul'un Güngören İlçesi'nde 17 kişinin ölümüyle sonuçlanan saldırıların tamamen aydınlatıldığını, tutuklananların bombacı olduğunu söyledi ancak şüphelilerden XXXX 'nin avukatı Hüseyin Çalişçi, müvekillerinin ‚bombalamayla ilgisi bulunmadığı‘nı; ‚örgüte yardım ve yataklık‘ iddiasıyla tutuklandıklarını açıkladı.
27 Temmuz gecesi 21:45 sularında yaklaşık 10 dakika arayla Menderes Caddesi'nde meydana gelen iki bombalı saldırıyla ilgili Atalay, önceki gün (2 Ağustos) İstanbul Emniyet Müdürlüğü'nde yaptığı açıklamada, olaya karışan tüm zanlıların yakalandığını belirterek, ‚Saldırı, bölücü terör örgütünün eylemi‘ demişti. […]
Çalişçi, Bakan Atalay'ın açıklamalarını ‚asıl faili yakalayamamanın verdiği acizliğe‘ bağladı; müvekkili ve diğer şüphelileri ‚PKK'li bombacı‘ olarak yansıtan gazetelere karşı hukuki mücadele başlatacaklarını söyledi. Çalişçi, bianet'e, medyada ‚yalan yanlış haberler‘ yayımlandığını, müvekkili XXXX ve diğer şüphelilerle ilgili olarak, ‚Bakanınki yerinde bir açıklama değil. Bu insanlar Güngören olayının failleri olarak tutuklanmadılar‘ diye konuştu.
İlk olarak Hürriyet, Milliyet, Sabah ve Star gibi gazetelerde yayımlanan ve emniyet kaynaklarına dayandırılan haberleri tekzip edeceklerini ifade eden Çalişçi, ‚Müvekkilim ve ailesi yayınlarla rencide edildiler ve tedirgin durumdalar. Saldırıyı kınıyorlar ve herkesten çok sorumluların bulunmasını onlar istiyorlar. Medyanın ve Bakanın ‚bombacı‘ dediği XXXX , İstanbul'da yaklaşık 7 yıldır 70-80 kişinin çalıştığı bir tekstil firmasında çalışıyor, orada çalışan herkes de bunun tanığı‘ dedi.
Örneğin Hürriyet gazetesine göre, XXXX 'ye, Emniyet'te patlamadan hemen sonra çekilen görüntüler izlettirildi: ‚Gördüğü dehşet manzaraları karşısında şoke girerek saatlerce konuşmayan PKK bombacısının dili, ölen çocukların görüntüleri karşısında çözüldü. Suçunu itiraf eden XXXX ‚Örgüt yönetimi can kaybının çok olmayacağını söyledi. Bu nedenle eylemi gerçekleştirdim‘ diyerek Pişmanlık Yasası'ndan faydalanmak istedi.‘ Gazeteye göre Türel, Kandil'de bomba eğitimi aldıktan sonra Türkiye'ye üç ay önce giriş yaptı. […]
Saldırı kapsamına gözaltına alınan ve önceki gün (2 Ağustos) Beşiktaş'taki Ağır Ceza Mahkemesi'ne sevk edilen 10 kişiden sekizi, ‚örgüt üyesi olmak‘ ve ‚örgüte yardım ve yataklık etmek‘ suçlamasıyla tutuklandı.
Nöbetçi 13. Ağır Ceza Mahkemesi'nin tutukladığı kişiler XXXX , Abdurrahman Oral, Ziya Kıraç, Şerafettin Kara, Aydın Ağlar, Cevat Aydın, Mehmet Salih Yanak ve Nusret Tebiş, Metris Cezaevi'ne gönderilmişlerdi.
Avukatlar, önümüzdeki günlerde tutukluklara itiraz edecekler.
Yetkililerin suçlama eğiliminde olduğu PKK örgütü, patlamalardan sonra olayı üstlenmediklerini bildirmiş, saldırı Demokratik Toplum Partisi (DTP) ve çok geniş bir sivil toplum çevresince kınanmıştı.“ (bianet, 4. August 2008)
bianet: Media Invents A Güngören Bomber, But He Denies The Allegations, 6. August 2008, aktualisiert am 31. Oktober 2013
https://bianet.org/haber/media-invents-a-gungoren-bomber-but-he-denies-the-allegations-108846
„Lawyers of XXXX , one of the suspects in the case of the Güngören explosions, who was presented by the media as the ‘Güngören bomber,’ held a press release at the Human Rights Association (İHD) today (August 6) in order to fix the misunderstandings in the media and to point out to the torture that their clients had been subjected to in prison. […]
Lawyers Hüseyin Çalışçı and Mehmet Sani Kızılkaya said in the press release that their clients were taken to the Metris Prison in Istanbul after they were arrested, undressed and were beaten up by about 15 to 20 gendarmerie soldiers and guardians with sticks, kicks and punches. According to the lawyers, they are now in single-person cells with constant threats and insults. They are afraid the attacks may repeat. […]
The media presented XXXX , one of the suspects, as confessing to his crime by having him saying that he did it because the Kurdish Workers Party (PKK) told him that the casualties would be low and that he was sorry. Rejecting these claims that appeared in the media with a strong tone, lawyer Çalışçı said that his client used his right to keep silent when he was interrogated in the Police Department. He also said that his client did not change houses before he was arrested, but was caught in his house. Çalışçı also added that the families of their clients were also victimized. He said although they sent the necessary corrections to the newspapers, they did not publish them. They are planning to take the necessary measures to take these newspapers to the court.“ (bianet, 6. August 2008, aktualisiert am 31. Oktober 2013)
bianet: Batmanlı işletmeci öldürülmüştü; Saldırının ayrıntıları ortaya çıktı, 19. April 2023
https://www.rudaw.net/turkish/kurdistan/190420232
„Duhok’ta önceki akşam silahlı saldırıda hayatını kaybeden Hüseyin XXXX ’nin cenazesi memleketi Batman’a gönderildi. XXXX ’nin yakın arkadaşı, XXXX ’nin geçen yıl Mayıs ayında da saldırıya uğradığını söyledi. […]XXXX ’nin cenazesi resmi işlemlerinin ardından memleketi Batman’a gönderildi. Öte yandan olayla ilgili soruşturma sürerken Sêmêl Polis Müdürlüğü, saldırganın belirlendiğini ancak şu ana kadar da yakalanamadığını bildirdi. […]
Türkiye basını, aslen Batmanlı olan XXXX hakkında 2008 yılında İstanbul Güngören'de gerçekleşen ve 18 kişinin hayatını kaybettiği saldırı ile ilgili yakalama kararı olduğunu iddia etti.
Ancak XXXX 'nin avukatı Hüseyin Çalişçi, daha önce müvekilinin bombalamayla ilgisi bulunmadığını; ‚örgüte yardım ve yataklık‘ iddiasıyla tutuklandıklarını açıklamıştı.“ (bianet, 19. April 2023)
Der Spiegel ist eine deutsche Nachrichtenwebsite.
Der Spiegel: Türkische Behörden nehmen PKK-Mitglieder fest, 3. August 2008
„Streit um den Anschlagshintergrund: Türkische Behörden haben acht Kurden festgenommen und bezeichnen die jüngsten Bombenanschläge von Istanbul als aufgeklärt. Der BND [Bundesnachrichtendienst] dagegen bezweifelt die Täterschaft der Kurdenorganisation PKK [Arbeiterpartei Kurdistans].
Von einer ‚unmenschlichen Tat‘, die von der ‚blutrünstigen separatistischen Terrororganisation‘ verübt worden sei, sprach Innenminister Besir Atalay. Alle an Planung und Ausführung der Attentate Beteiligten seien aber mittlerweile gefasst. Nach Meldung der amtlichen Nachrichtenagentur behielt ein Istanbuler Gericht acht Menschen in Untersuchungshaft, die im Zusammenhang mit den Anschlägen festgenommen worden waren. Der Staatsanwalt werfe ihnen vor, Mitglieder der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Es werde nun eine formelle Anklageschrift vorbereitet.
Am vergangenen Sonntag waren nach der Explosion einer ersten Bombe in Güngören, die zwei Passanten tötete, viele Menschen am Tatort zusammengelaufen. Bei der anschließend ausgelösten zweiten Explosion gab es 15 weitere Tote. Mehr als 150 Menschen wurden verletzt. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte bereits indirekt die PKK für die Tat verantwortlich gemacht. Allerdings hat sich niemand dazu bekannt, und die PKK verurteilte die Tat.
Die entdeckten Beweise ließen jedoch ‚keinen Raum zum Zögern‘, sagte der Innenminister im Polizeihauptquartier von Istanbul. Die Polizei zeigte Waffen und anderes Belastungsmaterial, das in den Häusern der Verdächtigen gefunden worden sei. Der Staatsanwalt befragte am Samstag zehn Verdächtige. Zwei von ihnen wurden nach der Befragung wieder auf freien Fuß gesetzt.
Mehrere Zeitungen berichteten am Sonntag von einem Attentäter namens XXXX , der von der PKK im benachbarten Irak ausgebildet wurde. Er habe das Plazieren der Bomben in der belebten Fußgängerzone von Güngören bereits gestanden, schrieb ‚Hürriyet‘, ohne Quellen zu nennen. Auch habe der 26-Jährige das Zünden der Sprengsätze per Mobiltelefon zugegeben. Laut ‚Hürriyet‘ wurde er von fünf Komplizen zum Anschlagsort begleitet. Sie hätten sich nach den Explosionen rund 20 Minuten lang das Blutbad angesehen, bevor sie den Tatort verließen. Aufnahmen von Sicherheitskameras und Telefongesprächen brachten die Ermittler nach Angaben von ‚Hürriyet‘ auf die Spur der Verdächtigen.
Doch es gibt auch erhebliche Zweifel an der Täterschaft der PKK. Nach Einschätzung des Bundesnachrichtendienstes sind die Separatisten nicht für die Terroranschläge verantwortlich. Die ‚Bild‘-Zeitung zitiert BND-Chef Ernst Uhrlau mit den Worten: ‚Das Attentat passt nur schwer zur PKK. Sowohl die Technik des Anschlags als auch Ort und Zeit deuten eher auf einen islamistischen oder innertürkischen Hintergrund.‘ Eine Verwicklung der Terrororganisation al-Qaida sei nicht auszuschließen.“ (Der Spiegel, 3. August 2008)
Hürriyet Daily News ist eine regierungsnahe türkische Tageszeitung.
Hürriyet Daily News: Two sentenced to life for explosion in Istanbul's Güngören in 2008, 1. November 2013
„An Istanbul court has sentenced two people to life imprisonment and six others to several years in jail for a 2008 explosion in Istanbul’s Güngören district that killed 17 and wounded 90 others.
The Istanbul 12th High Criminal Court sentenced XXXX and Nusret Tebiş to 18 aggravated life sentences for the voluntary manslaughter of 17 victims, including a pregnant woman, and attempting to damage the unity of the state on Oct. 31.
Two suspects, Ziya Kıraç and Abdurrahman Oral, were sentenced to 12 years in jail for each on charges of being a member of the outlawed Kurdistan Workers’ Party (PKK), while Şerafettin Kara was sentenced to 11 years and three months in jail for intentionally helping the PKK and violating the law on firearms. Aydın Ağlar was sentenced to nine years in jail for intentionally helping the PKK, while Mehmet Salih Yanak received 19 years and six months in jail for being a member of the PKK, violating the firearms law and forging official documents. Şaban Güneş, meanwhile, was given two years and one month in jail for being a member of the PKK. Another suspect, Cihan Aydın, was dealt 15 years and nine months for intentionally helping the PKK, violating the firearms law and forging official documents. The court also acquitted Cevat Aydın of all charges, while releasing Mehmet Salih Yanak on the basis of time already served while under arrest.
On July 27, 2008, a percussion bomb exploded in Güngören, followed by another bigger bomb a few minutes later. After the first bomb, many came to the scene to help the injured and inspect the damage, at which point they were subjected to a second, more devastating explosion. In addition to the pregnant woman, four children were also killed in the blasts.
Eight members of the PKK were arrested by the court for the attack, and one reportedly confessed the crime.“ (Hürriyet Daily News, 1. November 2013)
Medya News ist laut eigenen Angaben eine Nachrichtenseite, die sich mit „Kurd·innen und anderen unterdrückten Völkern“ befasst.
Medya News: Kurdish political exile shot in Sulaymaniyah, 9. Juni 2023
https://medyanews.net/kurdish-political-exile-shot-in-sulaymaniyah/
„Arasan’s shooting was the latest in a series of attempted assassinations against political asylum seekers in Iraqi Kurdistan. In April, XXXX was shot seven times in front of his pastry shop in Dohuk. Türeli had also moved to the country more than 10 years ago after facing prison time in Turkey.“ (Medya News, 9. Juni 2023)
Medya News: Kurdish doctor assassinated in Iraqi Kurdistan: Turkish intelligence suspected, 3. Jänner 2024
https://medyanews.net/kurdish-doctor-assassinated-in-iraqi-kurdistan-turkish-intelligence-suspected/
„Assassinations of Kurdish political activists […]
In April 2023, XXXX , a Kurdish citizen of Turkey who migrated to the Kurdistan Region of Iraq because he was being prosecuted for political offences in Turkey, was killed in an armed attack in Duhok.“ (Medya News, 3. Jänner 2024)
NTV ist ein privater türkischer Nachrichtensender.
NTV: Güngören saldırısı zanlılarına linç girişimi, 11. Mai 2009
https://www.ntv.com.tr/turkiye/gungoren-saldirisi-zanlilarina-linc-girisimi ,FrWWQPHr90q2vxQLRyQKtg
„İstanbul Güngören'de geçen yıl 18 kişinin ölümüne neden olan saldırıyla ilgili davanın bugünkü duruşması öncesinde gerginlik yaşandı. Ölen ve yaralananların yakınları, sanıklara saldırmaya çalıştı.
İstanbul 12. Ağır Ceza Mahkemesi'ndeki duruşmaya, tutuklu sanıklar XXXX , XXXX , Ziya Kiraç, Abdurrahman Oral, Şerafettin Kara, Cevat Aydın, Aydın Ağlar ve Mehmet Salih Yanak ile tutuksuz sanık Şaban Güneş katıldı. Sanıkların adliyeye getirilişi sırasında bahçede toplanan ve aralarında Güngören'de öldürülen ya da yaralananların yakınlarının olduğu bazı kişiler, polis barikatını aşarak jandarmanın adliyeye götürdüğü sanıklara saldırmak istedi. Adliye bahçesinde önlem alan çevik kuvvet ekiplerince engellenen mağdur ve ölenlerin yakınlarından bazıları, ‚Ne istediniz onlardan?‘, ‚Tek bir oğlum vardı, onu da alıp götürdüler‘ diye bağırdı. Polislerce bariyer dışına çıkarılan bu kişiler, basın mensuplarına da tepki gösterdi. Gruptan bazı kişilerin baygınlık geçirdiği ve ağladığı görüldü. Bu sırada, polislerden biri de saldırıda hayatını kaybeden Furkan Şentürk'ün babası Mustafa Şentürk'e sarılarak teselli etmeye çalıştı. Adliye binasına alınan sanıklardan biri ‚Güngören saldırılarıyla alakamız yok. Bize yapılan komplodur'‘ diye bağırdı. […]
Duruşmada sorgusu yapılan tutuklu sanıklardan XXXX , gözaltına alındıktan sonra emniyette ‚psikolojik baskı uygulandığı‘ için susma hakkını kullandığını ileri sürdü.
Tutanakların kendisine okumadan imzalattırıldığını iddia eden XXXX , olay gününü nasıl geçirdiğini ise şöyle anlattı: ‚Olay günü öğlene kadar evde uyudum. Öğleden sonra ağabeyimin kayınbiraderini havalimanına götürdüm. Götürmesem pikniğe gidecektim. Yolda giderken amcamın oğlunu yanımıza aldık. Uçak saatine kadar birlikteydik. Onu saat 18.00'de havaalanına bıraktıktan sonra ayrılıp kahveye gittim. Saat 20.30'da eve döndüm. Aile bireylerimin hepsi evdeydi. Saat 22.30 gibi böyle bir olay olduğunu bizimkiler televizyondan izledikleri için bana söylediler. Ben duymamıştım. Olayı bu şekilde evdeyken haber aldım.‘
Gece saat 23.00 sıralarında ağabeyi Mehmet Mirza XXXX 'nin, Batman'dan kendisini telefonla arayarak, ‚Böyle bir olay var, haberin var mı?‘ diye sorduğunu ve bu konuşmanın bile dosyaya delil olarak konulduğunu aktaran XXXX , suçlamaları kabul etmediğini söyledi. […]
Olaya ilişkin İstanbul Cumhuriyet Başsavcılığı'nca hazırlanan iddianamede, sanıklardan XXXX ve Nusret Tebiş'in ‚Devletin birliğini ve ülke bütünlüğünü bozmaya kalkışmak‘ ve 17 kere uygulanmak üzere ‚kasten adam öldürmek‘ suçlarından 18'er kez ağırlaştırılmış müebbet, ‚Terör örgütü PKK/Kongra-Gel üyesi olmak‘, ‚bomba patlatmak‘, 90 kez uygulanmak suretiyle ‚kasten adam öldürmeye teşebbüs‘, 95 kez uygulanmak üzere ‚bomba patlaması sonucu ev, iş yeri ve araçlara zarar vermek‘ suçlarından da 1962 ile 4 bin 455'er yıl arasında hapis cezasına çarptırılmaları isteniyor.
İddianamede, diğer sanıklar Ziya Kiraç, Abdurrahman Oral, Şerafettin Kara, Cevat Aydın, Aydın Ağlar ve Mehmet Salih Yanak'ın da ‚yasa dışı örgüte üye olmak‘, ‚sahte kimlik kullanmak‘, ‚bomba imal etmek‘ suçlarından 7,5 ile 45'er yıl arasında değişen hapis cezalarına çarptırılmaları talep ediliyor.
İddianamede, ‚etkin pişmanlık‘tan yararlanmak isteyen tutuksuz sanık Şaban Güneş'in de benzer suçlardan 6 ile 11,5 yıl arasında hapisle cezalandırılması öngörülüyor.“ (NTV, 11. Mai 2009)
Sözcü ist eine nationalistische, säkularistische Tageszeitung.
Sözcü: MİT peşlerini bırakmadı! Biri Suriye’de, diğeri Irak’ta öldürüldü, 21. April 2023
„İstanbul Güngören’de 17 kişinin öldüğü hain saldırının firari failleri Nusret Tebiş ile XXXX öldürüldü. Nusret Tebiş, MİT’in gerçekleştirdiği operasyonla Suriye’de etkisiz hale getirilirken, Irak’ın Duhok kentinde börek dükkânı işleten XXXX de 17 Nisan günü uğradığı suikast sonucu öldürüldü. Suikastın MİT tarafından gerçekleştirildiği ileri sürüldü.
İstanbul Güngören’de 27 Temmuz 2008 günü terör örgütü PKK’nın şehir merkezlerindeki bombalı saldırılarını organize eden taşeron yapılanması TAK’ın düzenlediği bombalı saldırıda biri doğmamış bebek 17 kişi hayatını kaybetmiş, 79 kişi de yaralanmıştı. Hain saldırının ardından düzenlenen operasyonlarda geriye dönük HTS ve kamera kayıtları, olay yerinden alınan parmak izi ve diğer delillerle failler tespit edilmişti. […]
Yakalanan zanlılardan Nusret Tebiş ile XXXX uzun süre tutuklu yargılandıktan sonra mahkeme tarafından 2013 yılında tahliye edilmişti. İki sanık tahliye olduktan sonra yurtdışına kaçmış, ancak mahkeme savunmalarının alınmış olması nedeniyle davayı karara bağlamıştı.XXXX ve XXXX , ‚Devletin birliğini ve bütünlüğünü bozmak, kasten birden fazla kişinin ölümüne ve yaralanmasına neden olmak, izinsiz patlayıcı madde imal etmek‘ suçlarından 18’er kez ağırlaştırılmış müebbet ve 1274’er yıl hapisle cezalandırıldı.
Bu cezalar Yargıtay 16. Ceza Dairesince de onandı. Her iki zanlı hakkında cezaların kesinleşmesi üzerine tutuklamaya yönelik yakalama kararı çıkarılmış olsa da tüm aramalara rağmen bulunamadılar.“ (Sözcü, 21. April 2023)
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt der bB und die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks des BF im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung, Einholung aktueller Auszüge aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister, dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister und dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich und im Wege der Einsichtnahme in die vom BVwG in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die Lage im Herkunftsstaat des BF, nämlich das Länderinformationsblatt Türkei der Staatendokumentation vom 07.03.2024, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 03.09.2021 („Überwachung, strafrechtliche Verfolgung von Benutzern sozialer Medien“), eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 18.01.2023 („Beleidigung des Präsidenten“) sowie eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 11.08.2022 („Verfolgung einfacher HDP-Mitglieder“). Berücksichtigt wurde auch das vom BF im Rahmen des Beschwerdeverfahrens, nämlich im Zuge einer mit 18.03.2024 datierten Stellungnahme sowie der mündlichen Beschwerdeverhandlung vom 22.03.2024, vorgelegte Urkundenkonvolut.
Der BF stellte im Verfahren vor dem BVwG keine über die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und die Anhörung von XXXX sowie XXXX als Zeugen hinausgehenden Beweisanträge. Den Beweisanträgen wurde allesamt entsprochen.
2.2. Die bB erachtete die Identität des BF als gesichert, weil dieser einen für echt befundenen türkischen Personalausweis in Vorlage brachte. Dieser Feststellung des Bundesamtes schließt sich das BVwG an.
Hinsichtlich seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seines religiösen Hintergrundes und seines allgemeinen Personenstandes erwies sich der BF als glaubwürdig.
Die Feststellungen zur Abstammung des BF und seinen persönlichen und familiären Lebensumständen im Herkunftsstaat bis zur Ausreise sowie seinen Familienverhältnissen unter Punkt 1.1. und 1.2. beruhen auf den insoweit stringenten Angaben des BF im Verfahren erster Instanz und vor dem BVwG. Substantielle Zweifel an seinen diesbezüglichen Angaben bestehen nicht.
2.3. Der Gesundheitszustand wurde aufgrund der gleichlautenden diesbezüglichen Angaben des BF gegenüber der bB und dem BVwG festgestellt.
2.4. Der BF legte selbst keine Verfolgung aufgrund seines religiösen Hintergrundes, seines ethnischen Hintergrundes oder aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe dar und gibt es auch keine dementsprechenden Hinweise. Hinsichtlich des Fluchtvorbringens des BF ist Folgendes auszuführen:
2.4.1. Im Wesentlichen brachte der BF im Rahmen der polizeilichen Erstbefragung vor, er sei aufgrund seiner politischen Überzeugungen in der Türkei verfolgt worden. Gegenüber der bB konkretisierte der sein Vorbringen dahingehend, er sei wegen politischer Postings auf Facebook wegen Terrorpropaganda angeklagt worden und habe Angst, deswegen inhaftiert und umgebracht zu werden. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung legte der BF zusammengefasst dar, er sei führendes Mitglied der HDP gewesen und aufgrund der Arbeiten, Versammlungen und Facebook-Beiträge seien Freunde seiner Person festgenommen worden. Aus Furcht davor habe auch er seinen Herkunftsstaat verlassen. Im Übrigen werde ihm die Beleidigung des türkischen Staatsoberhaupts zur Last gelegt und sehe er sich aus diesem Grunde mit strafgerichtlicher Verfolgung konfrontiert, weshalb ihm eine Haftstrafe drohe. Auch könne es sein, dass er wegen Terrorpropaganda verfolgt werde, und gehe er davon aus, dass ihm aufgrund seiner Freundschaft zum – nach seiner Einschätzung vom türkischen Geheimdienst - ermordeten XXXX , dem vorgeworfen worden sei, Mitglied der PKK zu sei, ein Nahebezug zur PKK unterstellt werden könnte.
Das BF gab sohin zu verstehen, aufgrund seiner politischen (kurdisch-oppositionellen) Überzeugung vom türkischen Staat verfolgt worden zu sein.
2.4.2. Die bB führte ein einwandfreies Ermittlungsverfahren. Seine entscheidungsrelevanten Erwägungen legte das Bundesamt schlüssig dar. Verfahrensfehler unterliefen dem Bundesamt nicht.
2.4.3. Der erkennende Richter gelangte nach Durchführung eines verwaltungsgerichtlichen Ermittlungsverfahrens, Inaugenscheinnahme sämtlicher vorliegender Beweismittel und Anhörung des BF sowie der namhaft gemachten Zeugen im Rahmen einer mündlichen Beschwerdeverhandlung zum Erkenntnis, dass den Schlussfolgerungen des Bundesamtes im Ergebnis nicht entgegenzutreten ist.
Dies aufgrund der im Folgenden dargelegten Überlegungen:
2.4.3.1. Eingangs ist festzuhalten, dass seitens des erkennenden Gerichts eine Strafverfolgung des BF wegen eines Terrordelikts nicht festgestellt werden konnte, dies aufgrund diesbezüglich unzureichend verdichteter Beweislage.
Zwar ist weder dem BF, der sich diesbezüglich primär im Verfahren erster Instanz äußerte, noch den im Zuge der Beschwerdeverhandlung gehörten Zeugen, die sich diesbezüglich zwar nicht explizit äußerten, deren Angaben jedoch in diese Richtung verstanden werden können, ein intentionales Abweichen von den Fakten zu unterstellen, vielmehr ist eine dahingehende subjektive Befürchtung angesichts des – durch die Anfragebeantwortung von ACCORD vom 20.03.2024, a 12337-2, sowie zahlreiche weitere Beweismittel – verifizierten Schicksals des XXXX und der glaubhaft dargestellten und belegten Nahebeziehung des BF zum Genannten prinzipiell nachvollziehbar, andererseits vermag jedoch nicht jede subjektive Befürchtung einen objektiven Hintergrund aufzuweisen, liegt auf der Hand, dass die Zeugen, die ebenfalls Asylwerber sind und sich im Wesentlichen auf die gleichen Fluchtgründe wie der BF stützen dürften, ein gravierendes Eigeninteresse an einem positiven Verfahrensausgang haben (was zwar selbstverständlich nicht pauschal eine fehlende Glaubwürdigkeit nach sich zieht, aber bei der Beurteilung der Aussage nicht gänzlich außer Acht zu lassen ist), mangelt es (auch bei Berücksichtigung der notorisch bekannten Möglichkeit, Geheimverfahren zu führen, was insbesondere bei Terrorstrafverfahren nicht außergewöhnlich ist) an substantiierten Hinweisen für die Anhängigkeit eines Strafverfahrens im Zusammenhang mit einem Terrordelikt gegen den BF und vermag auch das ins Deutsche übersetzte anwaltliche Schreiben des türkischen Rechtsanwalts des BF, XXXX , vom 06.11.2023 (AS 327) den erkennenden Richter nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen, zumal XXXX nicht als Zeuge einvernommen werden kann und seine Motivlage ungeklärt bleiben muss; insbesondere ist auch ein Gefälligkeitsschreiben nicht gänzlich auszuschließen. Auch ist nicht nachvollziehbar, woher XXXX seine Informationen bezieht und ob er valide Quellen heranziehen konnte. Im Grunde genommen musste auch der BF – abweichend zu seinen Angaben im Rahmen der behördlichen Einvernahme (arg. „Ich bin aus der Türkei geflüchtet, weil ich wegen meiner politischen Tätigkeit zu Unrecht angeklagt worden bin. Ich bin aufgrund von facebook-postings aufgrund von Terrorpropaganda angeklagt worden. Ich hatte Angst, deswegen inhaftiert und umgebracht zu werden.“, AS 79) – zuletzt selbst spekulieren (arg. „RI: Wird Ihnen auch Terrorpropaganda vorgeworfen, wenn ja, haben Sie diesbezügliche Beweismittel mit Ausnahme des Schreibens des Kanzleipartners Ihres türkischen Anwalts (AS 327 + 329)? BF: Es könnte eine Terrorpropaganda gegen mich vorliegen, aufgrund dieser Bekleidung, die hier dargestellt ist. Es kann sein, dass andere Personen mich verpetzt haben, damit sie sich selbst retten können.“, Verhandlungsschrift vom 22.03.2024, S. 14) und konnte sohin keine Positivfeststellung entgegen der vom BF selbst zum Ausdruck gebrachten Zweifel an der Anhängigkeit eines entsprechenden Strafverfahrens getroffen werden. Zwar kann dies auch nicht gänzlich widerlegt werden, eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit ist jedoch aus der gegebenen Beweislage gerade eben nicht abzuleiten. Das BVwG kann sich nicht auf bloße Spekulationen zurückziehen und war folglich die Annahme eines gegen den BF gerichteten Terrorismusstrafverfahrens in der Türkei der rechtlichen Würdigung nicht zugrunde zu legen.
Anders als in den – im Zuge der mit 18.03.2024 datierten Stellungnahme - vom rechtsfreundlichen Vertreter des BF zitierten Judikaten des VfGH (VfGH vom 26.02.2024, E 3982/2023-12; VfGH vom 27.02.2024, E 3802/2023-11) liegen im gegenständlichen Fall keine substantiierten herkunftsstaatlichen Beweismittel vor und stellte das BVwG – anders als in den genannten Fällen (arg. „Gesichert sei auch, dass gegen den Beschwerdeführer am 10. April 2023 Anklage wegen Propaganda für eine terroristische Organisation gemäß Art. 7 Abs. 2 des türkischen Anti-Terrorismus-Gesetzes erhoben worden sei, weil der Beschwerdeführer im Oktober 2021 auf seinem Twitter-Account unter anderem mehrere mit dem Hashtag #FreedomForOcalanNow versehene Beiträge geteilt habe.“ und „Als erwiesen stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass strafrechtliche Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer in der Türkei wegen des Verdachtes terroristischer Propaganda für eine bewaffnete Terrororganisation gemäß Art. 7 Abs. 2 des Anti-Terror-Gesetzes geführt würden und ihm bei einer Verurteilung eine Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren drohe. Zudem seien am 2. Dezember 2020 ein Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer erlassen und am 25. Mai 2021 eine Hausdurchsuchung am (ehemaligen) Wohnort des Beschwerdeführers in Istanbul durchgeführt worden. Als Datum der Straftat werde der 21. November 2020 angegeben; an diesem Tag habe der Beschwerdeführer an einer Demonstration teilgenommen.“, ebd.) – die Anhängigkeit eines Strafverfahrens wegen eines Terrordelikts im Herkunftsstaat im Rahmen der freien Beweiswürdigung ausdrücklich nicht fest.
Zweifelsohne ergibt sich aus dem aktuellen Länderinformationsblatt, dass immer wieder zu beobachten ist, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in „Sippenhaft“ genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind. Plausibel ist, dass dies angesichts seiner Freundschaft zum verstorbenen XXXX sowie der Verurteilung seiner Schwester XXXX wegen Terrorpropaganda (AS 271 ff.) auch auf den BF zutreffen könnte. Dem ist jedoch, wie bereits angeführt, das bloß unzureichende Tatsachensubstrat sowie insbesondere auch das Faktum, dass der Cousin des BF, auf welchen im Wesentlichen vergleichbare Parameter zutreffen, XXXX , vom Vorwurf der Mitgliedschaft bei der PKK freigesprochen wurde (AS 291 ff.), was eine politisch motivierte Verfolgung der Familie des BF kontraindiziert, entgegenzuhalten.
Auch die bloße Anhängigkeit eines Strafverfahrens wegen Beleidigung des Präsidenten (hiezu siehe mehr unter Punkt 2.4.3.2.) ist nach den Gesetzen der Logik nicht geeignet, Indizwirkung im Hinblick auf die Anhängigkeit anderer Strafverfahren, insbesondere wegen eines (unterstellten) Terrorismusdelikts, zu entfalten.
Im Übrigen ergibt sich weder aus den zur Entscheidungsfindung herangezogenen landeskundlichen Informationen (nämlich dem Länderinformationsblatt oder der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 11.08.2022, „Verfolgung einfacher HDP-Mitglieder“) noch aus der vom BF – im Rahmen der mündlichen Verhandlung - eingebrachten Anfragebeantwortung von ACCORD vom 20.03.2024, a-12337-1, „Türkei: Van: Informationen zur Kriminalisierung der Halklarin Demokratik Partisi/ Demokratik Bölgeler Partisi (HDP/DBP) Zwischen 2014 und 2018, Lage einfacher Parteimitglieder“, dass bloße Anhänger kurdischer Oppositionsparteien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müssten, mit Terrorismusvorwürfen konfrontiert zu werden. Davon, dass der BF demgegenüber tatsächlich ein relevantes und an die Öffentlichkeit tretendes Profil, welches ihn der realen Gefahr ausgesetzt hätte, in den Fokus der türkischen Behörden zu geraten, erworben hätte, ist nicht auszugehen, da er nach seinen eigenen Schilderungen zwar in einem „Ausschuss“ tätig gewesen wäre, gemeint damit ist aber offensichtlich lediglich ein Organisations- und Beratungskomitee und war eine Vielzahl an Personen, nämlich rund 50 bis 100, mit dieser Aufgabe betraut (Verhandlungsschrift vom 22.03.2024, S. 11). Auch ist daran, dass die Mitgliederzahl offenbar gravierend schwankte, erkennbar, dass dieser „Ausschuss“ keinesfalls als fix installiertes Gremium verstanden werden kann, sondern vielmehr als loser Zusammenschluss engagierter Parteimitglieder, die fallweise bestimmte Aufgaben übernehmen, zu betrachten ist, andernfalls die Mitgliederzahl fix vorgegeben gewesen wäre. Auch das im Rahmen des Beschwerdeschriftsatzes vorgelegte Referenzschreiben des XXXX vom 13.10.2023 (AS 317 bis AS 321) bezeichnet den BF lediglich als „Freiwilligen“, bestätigt aber grundsätzlich sein Engagement. Ein besonders herausragendes Profil des BF ist aus diesem Schreiben jedoch nicht abzuleiten, wobei auch nicht übersehen werden darf, dass das Schreiben weder auf seine Authentizität noch auf seine inhaltliche Richtigkeit überprüft werden kann, zumal keine offizielle E-Mail-Adresse einer Partei verwendet wurde, nicht festgestellt werden kann, wer der wahre Absender der E-Mail ist, und auch keine verifizierbaren Fakten angeführt wurden, es sich sohin leicht um ein Gefälligkeitsschreiben handeln könnte, weshalb der Beweiswert des Schreibens als außerordentlich gering einzuschätzen ist. Auf die behauptete Verfolgung wegen der Mitgliedschaft bei kurdischen Oppositionsparteien wird unter Punkt 2.4.3.3. näher einzugehen sein.
Dass in Gesamtschau der Umstände und der Beweislage auch die mit der Beschwerde vorgelegten Facebook-Screenshots aus den Jahren 2015 und 2016 (AS 451 ff.) an der Einschätzung, dass die Anhängigkeit eines Terrorstrafverfahrens gegen den BF in der Türkei nicht mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit festzustellen ist, nichts zu ändern vermögen, liegt daran, dass mit Sicherheit auch zahllose anderen türkische Staatsbürger, insbesondere kurdischen Hintergrundes, ein vergleichbares Aktivitätenprofil in sozialen Medien an den Tag legen.
In diesem Zusammenhang kann auch nicht außer Acht gelassen werden, dass der BF laut seinen eigenen Angaben am 28.10.2019 auf legalem Wege die Türkei verließ (AS 78; Verhandlungsschrift vom 22.03.2024, S. 9 f.) und dabei keine Probleme mit türkischen Grenzbeamten erfahren hatte (Verhandlungsschrift vom 22.03.2024, S. 10), die oben angeführten Beiträge in sozialen Medien zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits mehrere Jahre alt waren und die Verfahren gegen die Schwester des BF jedoch schon im Jahr 2010 (AS 273) bzw. seinen Cousin im Jahr 2005 (AS 291) durch Verurteilung bzw. Freispruch endeten. Der Nahebezug zu diesen des Terrorismus zumindest verdächtigen bzw. überführten Personen sowie seine eigenen Onlineaktivitäten zogen sohin offenbar kein gesteigertes Interesse des türkischen Sicherheitsapparats im Sinne der Notwendigkeit der Verhinderung der Ausreise nach sich, sondern konnte der BF mehrere Jahre unverfolgt in seinem Herkunftsstaat leben und diesen friktionsfrei und legal verlassen. Dass danach weitere Ereignisse eingetreten sind, die dem Vorbringen des BF zufolge die türkischen Behörden nachteilig auf ihn aufmerksam gemacht haben, wird dabei nicht verkannt, jedoch steht fest, dass der BF - obschon bereits zu diesem Zeitpunkt Gründe gegeben gewesen wäre, die dessen Herkunftsstaat dazu veranlassen hätten können, ihm nicht nur allenfalls mit Misstrauen zu begegnen, sondern ihn, wäre eine illegitime Verfolgung aus politischen Gründen beabsichtigt gewesen, an der Ausreise zu hindern – im Herbst 2019 offensichtlich mit keinen gravierenden staatlichen Repressionen konfrontiert war, andernfalls ihm der von ihm geschilderte modus operandi der Ausreise verwehrt geblieben wäre.
Die – durchaus Anlass zur Besorgnis gebenden – Ausführungen des Länderinformationsblattes zur Einschränkung von Rechtsschutzmöglichkeiten für Personen, denen Terrorismusdelikte zur Last gelegt werden, im Kapitel „Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen“ waren daher mangels maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der persönlichen Betroffenheit des BF gegenständlich nicht von Relevanz und nahm das Gericht daher von weiteren diesbezüglichen Ausführungen Abstand.
Im Ergebnis kam das erkennende Gericht sohin zum oben angeführten Ergebnis, dass die Behauptungen des BF zwar nicht jeglicher Grundlage entbehren, die Anhängigkeit eines Terrorstrafverfahrens in dessen Herkunftsstaat gegen ihn aber nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden konnte.
2.4.3.2. Vorauszuschicken ist, dass der erkennende Richter angesichts der Beweislage (insbesondere des Abschlussberichts der Gendarmerie XXXX , der Kurzdarstellung der Oberstaatsanwaltschaft XXXX sowie des Festnahmeauftrags des Richteramts für Friedensstrafen XXXX , allesamt vorgelegt mit OZ 10) keinerlei Zweifel daran hat, dass der BF sich wegen des Delikts der Präsidentenbeleidigung gem. Art. 299 Abs 1 tStGB einer Strafverfolgung in seinem Herkunftsstaat ausgesetzt sieht. Die bB beurteilte dies im Rahmen der freien Beweiswürdigung abweichend (AS 219 f.), jedoch ist ihr dies angesichts dessen, dass der BF im Asylverfahren erster Instanz (trotz wiederholter diesbezüglicher Ankündigungen) keinerlei entsprechende Beweismittel vorlegte, nicht anzulasten. Der festgestellte Strafrahmen (ein bis vier Jahre) entspricht der vom BF vorgelegten rechtlichen Einschätzung des türkischen Rechtsvertreters des BF, XXXX , und konnte dies durch die damit im Einklang befindliche Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 18.01.2023, „Beleidigung des türkischen Präsidenten“, welche sich diesbezüglich auf einen Artikel der Tageszeitung Kurier vom 15.09.2022 stützt (arg. „Die Grundlage der Ermittlungen sei Artikel 299 im Strafgesetzbuch, der Haftstrafen bis zu vier Jahre vorsieht.“, https://kurier.at/mehr-platz/erdogan-filter-in-den-sozialen-medien-loest-ermittlungen-in-tuerkei-aus/402147501 , Zugriff 17.01.2023), sowie die diesbezüglichen Ausführungen im Länderinformationsblatt selbst objektiviert werden.
Dem objektivierten Faktum der strafrechtlichen Verfolgung des BF wegen Präsidentenbeleidigung in seinem Herkunftsstaat ist entgegenzuhalten, dass auch das österreichische Strafrecht mit § 116 StGB eine vergleichbare Bestimmung samt der Möglichkeit der Verhängung von Freiheitsstrafen (abhängig in der Dauer davon, welche Strafnorm der §§ 111 bis 115 StGB verletzt wurde) kennt und es – ohne nicht zu leugnende Einschränkungen der Meinungsfreiheit in der Türkei relativieren oder gar rechtfertigen zu wollen - anderen Staaten im Rahmen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums selbstverständlich offenstehen muss, Straftaten und Strafsätze zu definieren, solange die Normen und Werte der EMRK dabei nicht außer Acht gelassen werden. Auch ist es nicht erforderlich, dass andere Staaten sich bei der Wahl der angedrohten Strafen am österreichischen StGB orientieren (§ 90 des deutschen Strafgesetzbuchs, i.d.F. „dStGB“, sieht beispielsweise für die Beleidigung des Präsidenten eine Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten bis zu fünf Jahren vor, woran man erkennt, dass auch innerhalb der EU der Unrechtsgehalt erheblich unterschiedlich beurteilt wird); im Hinblick auf eine allfällige Rückkehrgefährdung wäre es sohin - angesichts dessen, dass weder behauptet wurde noch hervorgekommen ist, dass bei der Anwendung der Strafnorm nach ethnischem, religiösem oder politischem Hintergrund des Betroffenen in diskriminierender Weise unterschieden wird - lediglich relevant, wenn die praktisch verhängten Strafen völlig außer Verhältnis stünden und geradezu als Exzess zu beurteilen wären. Dass die tatsächliche Anwendung der gegenständlich einschlägigen Bestimmung des türkischen Strafrechts dem österreichischen Rechtsanwender dabei überholt erscheinen mag, tut nach hg. Ansicht dabei nichts zur Sache. Grundsätzlich ist daher bei Lektüre der Beiträge des BF in den sozialen Medien, im Zuge derer ERDOGAN unter anderem mit dem IS gleichgesetzt und als „Dieb“ bezeichnet wird (OZ 10 bzw. OZ 12), nichts Grundsätzliches gegen die Führung eines (ergebnisoffenen) Ermittlungs- bzw. Strafverfahrens gegen dessen Person einzuwenden. Dass die im Beschwerdeschriftsatz demonstrativ zitierten Facebook-Beiträge des BF aus dem Jahr 2015, in welchen ERDOGAN als „Hurensohn“, der „einem Mann den Arsch lecken soll“, (AS 261) zweifellos beleidigend sind und den entsprechenden Tatbestand objektiv und subjektiv erfüllen, wird angemerkt.
Zum Zwecke der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Anwendung der einschlägigen Bestimmung des türkischen Strafrechts in der Praxis und zwecks Feststellung, ob bloße Scheinverfahren geführt werden oder die Indizien darauf hindeuten, dass die türkische Justiz individuelle und faire Verfahren führt, zog das erkennende Gericht die zwei bereits oben näher bezeichneten Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation, nämlich vom 03.09.2021 und vom 18.01.2023, heran. Der Anfragebeantwortung aus dem Jahr 2021 kann entnommen werden, dass im Jahr 2020 gegen 32.000 Kontonutzer sozialer Medien Verfahren eingeleitet wurden. In den Jahren 2018 bis 2020 wurden 29.000 Personen wegen Beleidigung des Präsidenten verfolgt. Zwischen 2014 und 2019 kam es zu 128.872 Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung des Präsidenten, wobei 27.717 Strafverfahren durch die Staatsanwaltschaft eingeleitet wurden. Letztlich verurteilt wurden 9.556 Angeklagte. Im Allgemeinen mussten die Verurteilten mit Freiheitsstrafen von drei Monaten bis zwei Jahren rechnen. Eine in der Anfragebeantwortung angekündigte Verschärfung der Gesetzesbestimmungen für Beleidigungen (nicht nur von Staatsrepräsentanten) wurde laut der Anfragebeantwortung vom 18.01.2023 im Hinblick auf Beleidigungsdelikte nicht umgesetzt, sondern wurde das Verbreiten falscher Informationen unter Strafe gestellt, sodass die o.a. Strafdrohung in Geltung steht. Weiters setzte sich die jüngere Anfragebeantwortung ebenfalls mit den aktuellen Zahlen hinsichtlich Einleitung von Ermittlungs- und Strafverfahren sowie Verurteilungen wegen Beleidigung des Präsidenten auseinander. Diesen ist zu entnehmen, dass im Jahr 2021 gegen 48.000 Personen Untersuchungen wegen Beleidigungsdelikten gegen Staatsrepräsentanten eingeleitet wurden, wobei 10.600 Personen schlussendlich tatsächlich verfolgt wurden (wieviele davon auch verurteilt wurden, ist der Anfragebeantwortung nicht zu entnehmen). Im Jahr 2020 wurden Ermittlungen gegen 44.700 Personen eingeleitet, wobei letztlich 10.600 Personen vor Gericht standen und 3.655 Personen verurteilt wurden. Zu den angeführten Zahlen ist festzuhalten, dass der Umstand, dass in den letzten Jahren lediglich rund 25% (oder weniger) der Beschuldigten auch angeklagt wurden und davon (im Jahr 2020) lediglich rund 33% verurteilt wurden, beweist, dass die türkische Justiz die Vorwürfe unabhängig prüft und die geltende Rechtslage in Wahrheit und entgegen der in Europa vorherrschenden medialen Berichterstattung im Großen und Ganzen mit Augenmaß anwendet und vor allem auszuschließen ist, dass bloße politische Schauprozesse geführt werden (sohin eine faire Verfahrensführung gewährleistet ist), andernfalls die Anklage- und Verurteilungsstatistik eine gänzlich andere Sprache sprechen würde.
Auch das Länderinformationsblatt selbst spricht davon, dass das türkische Verfassungsgericht mitunter Urteile im Sinne der Angeklagten wegen Mängeln an die Unterinstanzen zurückverweist. Die im Länderinformationsblatt angeführten Zahlen (z.B. „Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt.“) sprechen ebenfalls im Sinne obiger Ausführungen gegen eine reine Gesinnungsjustiz und die Abhaltung von Schauprozessen, bei welchen schließlich 1) eine gravierend höhere (Anklage- und) Verurteilungsquote sowie 2) die prinzipielle Verhängung von Höchststrafen, jedoch 3) keine Korrekturen zu Gunsten der Verurteilten durch Instanzgerichte oder 4) die prinzipielle Verhängung bedingter statt unbedingter Freiheitsstrafen in der absoluten Mehrheit der Verurteilungsfälle zu erwarten wäre, und bestätigen sich das Länderinformationsblatt und die herangezogenen Anfragebeantwortungen wechselseitig in deren Richtigkeit, wodurch sich das BVwG einen substantiierten Eindruck von der türkischen Rechtsprechung im Hinblick auf Art. 299 tStGB über einen maßgeblichen Beobachtungszeitraum verschaffen konnte.
Hinweise darauf, dass Personen, denen die Beleidigung des türkischen Staatsoberhaupts zur Last gelegt wird, in vergleichbarer Weise wie Terrorverdächtige in deren Recht auf ein faires Verfahren iSd Art. 6 EMRK eingeschränkt bzw. verletzt werden, sind den Länderinformationen, welche sich außerordentlich detailliert mit der aktuellen Situation der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei auseinandersetzen, nicht zu entnehmen.
Im Ergebnis ist daher weder zu befürchten, dass der BF bereits ansich illegitimer Strafverfolgung unterworfen wäre oder er im Verfahren aufgrund seines persönlichen Hintergrundes Diskriminierungen erfahren würde, noch, dass – im Falle einer noch nicht absehbaren und angesichts der Verurteilungsstatistik nicht als überwiegend wahrscheinlich einzuschätzenden Verurteilung - die wider seine Person verhängte Strafe gänzlich außer Verhältnis stehen würde, und hat er das gegen ihn anhängige Strafverfahren sowie die allfällige daraus resultierende Verurteilung daher in Kauf zu nehmen.
2.4.3.3. Vorauszuschicken ist im Zusammenhang mit der behaupteten Verfolgung des BF aufgrund seiner Mitgliedschaft bei der bzw. seines Engagements für die HDP, dass der erkennende Richter aufgrund der – nach Erlassung der angefochtenen Entscheidung – entstandenen Beweislage, insbesondere der Mitgliedschaftsbestätigung, AS 313 und AS 315 sowie AS 323 und AS 325, keine Zweifel an der Parteimitgliedschaft des BF hegt. Das Bundesamt schenkte dem BF, wie aus den auf AS 220 dargelegten Erwägungen erschlossen werden kann, diesbezüglich im Grunde genommen keinen Glauben, wobei festzuhalten ist, dass der BF trotz entsprechender Ankündigungen keine Beweismittel vorlegte, sondern diese erst im Rahmen der Beschwerde ins Verfahren eingebracht wurden, weshalb die Beweiswürdigung der bB, wenn sie auch im Ergebnis nicht geteilt werden kann, zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung plausibel war. Zum im Rahmen des Beschwerdeschriftsatzes vorgelegten Referenzschreiben des XXXX vom 13.10.2023 (AS 317 bis AS 321) wird angemerkt, dass dem BF hinsichtlich seiner Aktivitäten – wie schon unter Punkt 2.4.3.1. ersichtlich – Glauben geschenkt wurde, wenn auch nur im Zweifel. Auch hinsichtlich der zweifelhaften Authentizität und Richtigkeit des Beweisstücks wird auf Punkt 2.4.3.1. verwiesen und zwecks Optimierung der Lesbarkeit der Entscheidung von der Wiederholung der gerichtlichen Erwägungen Abstand genommen.
Übersehen wird nicht, dass sich die HDP gegenwärtig in einem Verbotsverfahren befindet, damit teilt sie jedoch das Schicksal zahlreicher Vorgängerparteien und führte dies üblicherweise nicht dazu, dass sämtliche Sympathisanten oder Parteimitglieder staatlichen Sanktionen unterworfen wurden, sondern standen stets führende Persönlichkeiten im Fokus behördlichen Interesses. Darauf, dass dies nun elementar anders wäre (und insbesondere eine systematische Verfolgung sämtlicher Parteigänger im Raum stünde), gibt es keinerlei substantiierte Hinweise, zumal zu beachten ist, dass der BF entsprechend seiner eigenen Behauptungen keine exponierte Stellung in der kurdischen Gesellschaft einnahm, sondern im Wesentlichen einfaches Mitglied der HDP war, welches sich in Gremien engagierte (Verhandlungsschrift vom 22.03.2024, S. 11). Vor diesem Hintergrund ist auch zu erwähnen, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren, wovon ein nennenswerter Anteil mit der kurdischen Opposition sympathisieren dürfte, weshalb eine großflächige behördliche Verfolgung einzelner Sympathisanten oder Mitglieder, denen keine nennenswerte Bedeutung zukommt, nicht naheliegend ist, sondern in Anbetracht der (auch in der Türkei) beschränkten behördlichen Ressourcen sogar lebensfremd anmutet. Verkannt wird nicht, dass exponierte Vertreter der kurdischen Opposition mit asylrelevanten Verfolgungshandlungen konfrontiert sein können, dieser Personengruppe gehört der BF gegenständlich jedoch nicht an. In diesem Zusammenhang wird auch darauf verwiesen, dass bei den Parlamentswahlen in der Türkei im Jahr 2018 die HDP bei einer Wahlbeteiligung von über 86% ein Wahlergebnis von 11,7% aufweisen konnte (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentswahl_in_der_T%C3%BCrkei_2018 , abgerufen am 30.04.2024). Ein Vorbringen, dass sämtliche HDP-Wähler verfolgt werden würden, wäre sohin angesichts des großen Personenkreises geradezu absurd und gibt es auch keine entsprechenden Hinweise. Auch das aktuelle Länderinformationsblatt hält in diesem Zusammenhang fest, dass eine Mitgliedschaft bei der HDP für sich noch kein Grund für die Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen ist. Die Aufnahme von strafrechtlichen Ermittlungen ist immer einzelfallabhängig. Verkannt wird nicht, dass das Länderinformationsblatt auch zu erkennen gibt, dass die Entscheidung, welches HDP-Mitglied verhaftet wird und welches nicht, zufällig und willkürlich getroffen wird, jedoch ist daraus abzuleiten, dass – entsprechend den oben angeführten Erwägungen – eine Pauschalverfolgung jedenfalls zu verneinen ist. Dass der BF im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner allfälligen politischen Betätigung jemals strafrechtliche Schwierigkeiten gehabt hätte, ergab sich im Verfahren nicht und wurde so auch auf konkrete Rückfrage im Zuge der behördlichen Einvernahme nicht behauptet (arg. „F: Schildern Sie, warum Sie konkret verfolgt worden sind in der Türkei! Wegen der HDP oder den facebook-postings? A: Aufgrund meiner politischen Tätigkeit war ich auf dem „Radar“, wegen der Postings bin ich dann konkret angeklagt worden. Die Anklage selbst lautet wegen der Postings.“ AS 81), und spricht dagegen beispielsweise weiters auch, dass er die Möglichkeit hatte, seinen Herkunftsstaat legal und unverfolgt zu verlassen, was bereits unter Punkt 2.4.3.1. näher ausgeführt wurde.
Das erkennende Gericht setzte sich auch mit der einschlägigen Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 11.08.2022 („Verfolgung einfacher HDP-Mitglieder“) auseinander. Der Anfragebeantwortung ist zu entnehmen, dass es derartige Verfolgungshandlungen zwar tatsächlich gibt, solche jedoch hauptsächlich dann realisiert werden, wenn die Betroffenen an politischen Protesten, die sich beispielsweise gegen das militärische Vorgehen der Türkei im Irak und Syrien richten oder im Zuge die Freilassung bzw. das Ende der Isolationshaft von Abdullah ÖCALAN gefordert wird, teilnehmen. Auch anlässlich der Demonstrationen zu Newroz und am 1. Mai kommt es fallweise zu Verhaftungen. In den meisten Fällen werden die Festgenommenen, üblicherweise nach Protokollierung ihrer Aussagen gegenüber den Behörden, nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Die Anfrage, ob es Berichte über Folterungen, Misshandlungen oder sonstigen Repressalien von Parteimitgliedern im vergangenen halben Jahr vor Erstellung der Anfragebeantwortung gegeben habe, wurde dahingehend beantwortet, dass im vorgegebenen Recherchezeitraum kaum Berichte, die von Misshandlungen oder gar Folter sprachen, vorgefunden worden seien. Insofern Derartiges recherchiert werden konnte, betraf es Funktionäre der HDP. Seitens des Gerichts ist festzuhalten, dass (insbesondere kurzfristige) Festnahmen im Zuge von Demonstrationen auch in Mitteleuropa an der Tagesordnung stehen und Abdullah ÖCALAN im Übrigen Führer und Gründungsmitglied der PKK ist, weshalb Personen, die für dessen Freilassung demonstrieren, unschwer ein Nahebezug zu einer terroristischen Vereinigung unterstellt werden kann, was auch ein behördliches Interesse jedenfalls rechtfertigt. Die Anfragebeantwortung ist in diesem Lichte und bei Berücksichtigung der Tatsache, dass die betroffenen Personen üblicherweise nach Aussageprotokollierung freigelassen werden, nicht geeignet, eine Verfolgung einfacher HDP-Mitglieder auch nur zu indizieren.
Auch die vom rechtsfreundlichen Vertreter des BF vorgelegte Anfragebeantwortung von ACCORD vom 20.03.2024, a-12337-1, „Türkei: Van: Informationen zur Kriminalisierung der Halklarin Demokratik Partisi/ Demokratik Bölgeler Partisi (HDP/DBP) Zwischen 2014 und 2018, Lage einfacher Parteimitglieder“, hält im Wesentlichen fest, dass es zwar zu Verfolgungshandlungen gegen Angehörige kurdischer Oppositionsparteien kommt, aus hg. Sicht lässt sich jedoch eine Systematik der Verfolgung aus den herangezogenen Quellen nicht ableiten, sondern spricht lediglich die Kontaktperson H von einem ihrer Ansicht nach systematischen Vorgehen. Im Übrigen wird – im Sinne einer Quellenkritik – angemerkt, dass ACCORD wiederholt die Firat News Agency („ANF“) als Quelle verwendete und dabei als Quellenbeschreibung offensichtlich Wikipedia heranzog, jedoch nicht jene Passagen des Wikipediaartikels zitierte, welche eindeutig eine PKK-Nähe der Agentur erkennen lassen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Firat_News_Agency , abgerufen am 30.04.2024); dem gegenüber wird darauf in Produkten der Staatendokumentation (Beispiel aus dem aktuellen Länderinformationsblatt: „[…] via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News […]“) stets hingewiesen. Dieser Umstand wirft ein nachteiliges Licht auf Teile der – prinzipiell nicht zu beanstandenden – Quellenauswahl, insbesondere können naheliegenderweise die Hintergründe der ausgewählten Kontaktpersonen und deren Motivlagen nicht überprüft werden. Angemerkt wird weiters, dass dem ACCORD-Bericht – anders als der herangezogenen Anfragebeantwortung der Staatendokumentation – nicht entnommen werden kann, ob Festgenommene wieder entlassen wurden, sondern deren Schicksale offengelassen wurden, weshalb der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation im Ergebnis mehr Substanz zuzugestehen ist. Bezugnehmend darauf, dass auch aus diesem Beweismittel die Anhängigkeit eines Strafverfahrens wegen Terrorismus nicht abzuleiten ist, wird auf Punkt 2.4.3.1. verwiesen.
Die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer individuellen Verfolgung des BF aufgrund seiner legalen politischen Überzeugung war sohin aus den zur Entscheidungsfindung herangezogenen Länderinformationen nicht abzuleiten. Auch eine Pauschalverfolgung von HDP-Mitgliedern entspricht nicht dem realen Hintergrund im Herkunftsstaat.
2.4.3.4. Festzuhalten ist explizit, dass der BF mit Ausnahme der strafrechtlichen Verfolgung (bzw. der Befürchtung der strafrechtlichen Verfolgung) und damit im Zusammenhang stehende geringfügige Eingriffe keine gegen ihn persönlich gerichteten Verfolgungshandlungen geltend machte und weitere substantielle nachteilige Auswirkungen nicht erlitt (Verhandlungsschrift vom 22.03.2024, S. 11 ff.):
„RI: Welche konkreten Verfolgungshandlungen gegen Sie wurden wann von wem verwirklicht?
BF: Die Verfolgung fand statt vor 2019 und seither konnte ich nicht mehr in die Türkei zurückreisen, aus Angst, festgenommen zu werden. Und in die Türkei kommt es vor, dass man verurteilt wird, ohne angehört zu werden.
RI wiederholt Frage
BF: Alle meine Freunde sind festgenommen worden. Bevor sie zu mir kamen, habe ich das Land verlassen. Das Ganze aufgrund der Empfehlung eines Rechtsanwaltes.
RI: Aber gab es Verfolgungshandlungen, die sich auf Sie persönlich bezogen haben?
BF: Meine Freunde sind unschuldig und zu Unrecht im Gefängnis. Da kann ich nur anführen, Herr Bekir KAYA, der Bürgermeister der Großstadt Van, sitzt seit 2015 immer noch im Gefängnis. Der Sohn meiner älteren Schwester XXXX , XXXX , wurde von der Gemeinde XXXX gekündigt, weil meine Schwester XXXX einen politischen Akt aufliegen hat. Wenn die Familie politisch ist, wird man auch verfolgt. Ich habe in meiner Verwandtschaft Personen, die seit 32 Jahren in Haft sind, ohne dass sie etwas angestellt haben. Nur, weil mein Cousin die Rechte der Kurden verteidigt hat.
RI wiederholt und erörtert die Frage.
BF: Es fand eine Razzia an meinem Arbeitsplatz statt. Ich wurde von zuhause geholt und sie nannten mich Verbrecher. Und es gab Schwierigkeiten bei den Ämtern, sodass meine Angelegenheiten nicht sofort erledigt wurden. Sie haben versucht, wenn sie mir auch physisch nicht angetan haben, haben sie psychischen Druck ausgeübt.
RI: Wann war diese Razzia?
BF: 2018, 2017. Sie haben das Geschäft durchsucht und sind dann wieder gegangen. Zuhause dasselbe. Die Durchsuchungen fanden auch zuhause statt.
RI: Was wollte man finden?
BF: Unterlagen über Unterstützung der Organisation, über Hilfeleistungen. Ich wurde mit dieser Bekleidung beschuldigt (BF zeigt ein Lichtbild vor), weil gesagt wurde, dass diese Bekleidung eine Guerillabekleidung ist. Das ist nicht meine Bekleidung gewesen, sondern die Bekleidung meines Vaters und das ist eine volkstümliche Bekleidung. Die Besonderheit dieser Bekleidung ist, dass man viele Taschen hat, damit man keine zusätzlichen Taschen benötigt. Diese blaue Bekleidung ist kein Verbrechen, aber die andere ist ein Verbrechen. Meine Kinder ziehen auch diese Kleidung an. Das ist wie in Österreich die Tracht. Das ist eben für die Kurden dasselbe. Das ist eine Nachricht über Bekleidungsverbot (BF zeigt Zeitungsartikel vor). Das kann ich Ihnen vorliegen, wenn Sie wollen.
[…]
RI: Welche Organisation hätten Sie angeblich unterstützt?
BF: Wir sind eine Partei des Volkes. HDP oder BDP. Wir sind eine oppositionelle Partei, das wir unterstützt haben. Wir unterstützen die Kurden, wir unterstützen den Frieden, wir waren gegen Waldvernichtung, gegen Unterdrückung der Kurden. Das waren die Hauptthemen.
RI: Hatten diese beiden Razzien noch negative Folgen für Sie?
BF: Das hat meine Arbeit schlecht beeinflusst. Man lebt in Angst. Man muss so denken, der Freund wird erschossen, man selbst flieht.“
2.4.4. Im Ergebnis misslang es dem BF, eine Rückkehrverfolgung glaubhaft zu machen. Das BVwG geht nicht davon aus, dass der BF Betroffener eines Terrorprozesses ist und ist seine Strafverfolgung wegen Beleidigung des türkischen Staatsoberhaupts aus den umfassend dargelegten Gründen nicht schutzrelevant. Auch aus seiner politischen Betätigung ist auf eine Verfolgung seiner Person nicht zu schließen. Den Verfahrensergebnissen der bB ist daher im Ergebnis beizutreten.
2.5. Dass dem BF in seinem Herkunftsstaat nicht die Verhängung der Todesstrafe droht, war problemlos daraus abzuleiten, dass diese in der Türkei abgeschafft ist. Dafür, dass dem BF bei Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seines Rechts auf Leben oder körperliche Unversehrtheit, Folter oder unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohen würde, gibt es bei Zugrundelegung der gerichtlichen Feststellungen keine substantiierten Hinweise. Dass derartige Eingriffe schlechthin jedem, der in der Türkei lebt, drohen, kann ebenso wenig aus den Länderfeststellungen der Staatendokumentation erschlossen werden. Dass dem BF keine illegitimen Verfolgungshandlungen seitens der türkischen Behörden oder Dritter drohen, gründet sich auf der o.a. Beweiswürdigung (Punkt 2.4.). Nachdem ihm schon zuvor keine maßgeblichen Verfolgungshandlungen drohten, geht das erkennende Gericht begründeter Weise nicht davon aus, dass ihm solche nach der Rückkehr drohen könnten.
Die direkte und gefahrlose Erreichbarkeit der Herkunftsregion ergibt sich zweifelsohne daraus, dass in der Türkei zwar eine angespannte Wirtschaftslage herrscht, jedoch keinerlei nennenswerte sicherheitsrelevante Vorfälle, die den grenzüberschreitenden oder innerstaatlichen öffentlichen Verkehr beeinträchtigen würden, stattfinden. Gegenteilige Behauptungen wurden im Verfahren nicht erhoben.
2.5.1. Da nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass der BF im Rückkehrfall eine (wenn auch allenfalls nur teilbedingte) Freiheitsstrafe zu verbüßen haben wird, setzte sich das erkennende Gericht auch mit den Haftbedingungen im Herkunftsstaat auseinander. Diesbezüglich führt das aktuelle Länderinformationsblatt unter anderem aus, dass sich die materielle Ausstattung der Haftanstalten in den letzten Jahren deutlich verbessert hat und die Schulung des Personals fortgesetzt wurde, grundsätzlich können die Standards der EMRK in vielen türkischen Haftanstalten eingehalten werden, es gibt weiters eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Zwar gestattet die türkische Regierung es NGOs nicht, Gefängnisse zu kontrollieren, jedoch werden die Gefängnisse regelmäßig von den zuständigen Überwachungskommissionen inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter besucht. Bedenklich sind unter anderem jedoch die – teilweise - Überbelegung (was jedoch auch auf manche österreichischen Haftanstalten, insbesondere die Justizanstalt Wien-Josefstadt, zutrifft) und der Umstand, dass es weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen gibt. Auch kommt es zur Diskriminierung bestimmten Gruppen von Gefangenen, beispielsweise von Kurden und politischen Häftlingen. Verkannt wird im Ergebnis nicht, dass die Haftbedingungen in der Türkei im Allgemeinen jenen in Mitteleuropa hinterherhinken, jedoch darf auch nicht übersehen werden, dass es fortschreitende Verbesserungen gibt, um die sich der türkische Staat bemüht, und dass auch die Haftbedingungen in den östlichen Mitgliedsstaaten der EU oftmals kritisiert werden. Eine Systematik von Menschenrechtsverletzungen lässt sich aus dem Länderinformationsblatt jedenfalls nicht ableiten, sodass im Ergebnis feststeht, dass die Haftbedingungen im Großen und Ganzen hinnehmbar sind.
2.6. Die unter Punkt 1.6. getroffenen Feststellungen zur (nicht sicherheitsrelevanten) Rückkehrsituation des BF ergeben sich grundsätzlich aus seinen diesbezüglichen Angaben. Auf die Integration des BF in der herkunftsstaatlichen Gesellschaft war aufgrund seiner Geburt und seines Aufwachsens in der Türkei zu schließen. Seine familiäre Verwurzelung erschließt sich aus den stringenten Angaben des BF und wird es ihm nach erfolgter Rückkehr selbstverständlich möglich sein, bei den von ihm angeführten Angehörigen Unterkunft zu nehmen und zumindest kurzfristig die Unterstützung seiner Verwandten zu beanspruchen. Auch ist die Familie des BF wirtschaftlich sowie im Hinblick auf deren Wohnraum grundsätzlich abgesichert, verfügen sie doch über Arbeit, Vermögen und gesicherte Unterkünfte in ausreichender Anzahl, sodass die Familie drei von fünf Wohnungen gegenwärtig vermietet. Zudem stelle sich die wirtschaftliche Situation seiner Familie laut eignen Angaben des BF gesamthaft als gut dar. Aufgrund der familiären und sozialen Vernetzung sowie der adäquaten Ausbildung und der erworbenen Berufserfahrung des BF hat der erkennende Richter keinerlei Zweifel daran, dass es ihm friktionsfrei möglich sein wird, sich binnen kurzer Zeit erneut eine gesicherte, wenn auch allenfalls bescheidene, Existenz in der Türkei aufzubauen. Der BF gab selbst an, bereits als Autohändler und Kaffeehausbetreiber sowie Landwirt tätig gewesen zu sein. Er verfügt sohin über verwertbare Berufserfahrung in zahlreichen Branchen. Die Zurverfügungstellung von Wohnraum stellt kein Problem dar und wird dem BF sohin keinesfalls die Unterstandslosigkeit in der Türkei drohen. Angesichts der engen familiären Bande in der Herkunftskultur des BF ist auch keinesfalls zu erwarten, dass seine Angehörigen seine Unterstandslosigkeit in Kauf nehmen würden.
Dem BF ist eine Wiedereingliederung in die türkische Gesellschaft und den türkischen Arbeitsmarkt sohin im Ergebnis aus eigener Kraft ohnedies möglich und zumutbar und kann er dabei auch auf die tatkräftige Unterstützung durch seine Familie vertrauen.
Auf das in der Türkei bestehende Sozialsystem wird an dieser Stelle hingewiesen. Die Befürchtung, der BF könne im Falle seiner Rückkehr in eine aussichtslose Lage geraten, ist sohin - unbeschadet dessen, dass das Gericht die schwierige wirtschaftliche Lage, in der sich die Türkei und deren Bürger gegenwärtig befinden, nicht verkennt - nicht gerechtfertigt.
2.7. Die unter Punkt 1.7. getroffenen Feststellungen zum Aufenthalt des BF in Österreich, seinen Aktivitäten und Integrationsbemühungen, gründen sich grundsätzlich auf die bezughabenden Darlegungen in den Verfahren vor dem Bundesamt und dem BVwG, denen keine gegenteiligen Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens gegenstehen, den unbestrittenen Akteninhalt sowie auf Abfragen im Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich.
Dass der BF bislang keinen Deutschkurs besucht hat, entspricht seinen eigenen Angaben. Die Absenz nennenswerter Kenntnisse der deutschen Sprache entspricht den Wahrnehmungen des erkennenden Richters in der Beschwerdeverhandlung, da eine Unterredung in deutscher Sprache - selbst in vereinfachter Form - nicht möglich war und der BF zu verstehen gab, dass er den Fragen nicht folgen kann (Verhandlungsschrift vom 22.03.2024, S. 6 f.). Vor dem Hintergrund, dass der BF sich nunmehr seit etwa ein Jahr und zehn Monate in Österreich aufhält sowie über grundlegende Bildung und durchschnittliche kognitive Fähigkeiten verfügt, widerlegt dies jeglichen Fortschritt bzw. jegliche Eigeninitiative beim Spracherwerb geradezu.
Die Feststellungen zu seinen in Österreich nicht vorhandenen familiären Anknüpfungspunkten und seiner in der Schweiz lebenden Cousine ergeben sich aus den Angaben des BF.
Der BF selbst gab an, in seiner Freizeit Fahrradtouren zu unternehmen und zu versuchen, die deutsche Sprache zu erlernen, was jedoch angesichts obiger Ausführungen bis dato von wenig Erfolg gekrönt war.
Zum behaupteten Freundeskreis ist anzumerken, dass der BF vorbrachte, er verfüge über 20 bis 30 Freunde, welche Migrationshintergrund aufweisen würden und die österreichische Staatsbürgerschaft erlangt hätten. Diesem Vorbringen ist mangels entsprechender Belege (beispielsweise Unterstützungsschreiben oder Unterschriftenlisten) nicht zu folgen und wäre auch anzunehmen, dass er aus intensivem Kontakt zu österreichischen Staatsbürgern Vorteile im Hinblick auf den Erwerb der deutschen Sprache hätte ziehen können. Das Gericht geht daher davon aus, dass es sich bei den vom BF geltend gemachten „Freundschaften“ allenfalls um lose Kontakte und Bekanntschaften zu in Österreich aufhältigen Personen türkischen bzw. kurdischen Migrationshintergrundes handelt. Den fallweisen Besuch eines kurdischen Vereins legte der BF selbst dar und ergeben sich daran aus Sicht des BVwG keine Zweifel, weshalb das Parteienvorbringen zur Feststellung erhoben werden konnte.
Es entspricht dem Vorbringen des BF, dass er strafgerichtlich unbescholten ist, und konnte dies durch Einsichtnahme ins Strafregister objektiviert werden. Ebenso war aus seinen Angaben abzuleiten, dass er zwei Mal wegen Fahrens ohne Führerschein von Verwaltungsbehörden bestraft wurde. Zweifel an seinem diesbezüglichen – ihn selbst belastenden – Vorbringen sind für das BVwG nicht erkennbar.
Bemühungen um eine Aufenthaltsverfestigung, welche über die mit Ende 2023 erlangte Selbsterhaltungsfähigkeit hinausgehen, traten nicht zum Vorschein. Auch die Kürze des Aufenthalts spricht gegen eine nachhaltige Integration in die österreichische Gesellschaft.
2.8. Den Daten des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister kann darüber hinaus entnommen werden, dass der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet nie nach § 46a Abs 1 Z 1 oder Abs 1a FPG 2005 geduldet war. Hinweise darauf, dass sein weiterer Aufenthalt zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig wäre oder der BF im Bundesgebiet Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO wurde, kamen im Verfahren nicht hervor. Es wurde auch kein dahingehendes Vorbringen erstattet, sodass keine positiven Feststellungen in dieser Hinsicht getroffen werden können.
2.9. Die zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen ergeben sich aus den vom BVwG herangezogenen bzw. vom BF vorgelegten Erkenntnisquellen (aktuelles Länderinformationsblatt zur Türkei sowie diverse Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation und von ACCORD), die dem BF – insoweit sie amtswegig Einzug ins Verfahren fanden - im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung unter gleichzeitiger Angaben der herangezogenen Quellen zur Erstattung einer Stellungnahme übermittelt wurden. Der BF ist den ihm übermittelten Berichten nicht entgegengetreten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Gemäß § 7 Abs 1 Z 1 BFA-VG idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Zu A)
3.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.):
3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 83/2022 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention), droht.
§ 2 Abs. 1 Z. 11 AsylG 2005 umschreibt Verfolgung als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, worunter – unter anderem – Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182).
Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Eine Verfolgungsgefahr ist anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht.
3.1.2. Glaubhaftmachung bedeutet, die Behörde davon zu überzeugen, dass der behauptete Sachverhalt wahrscheinlich verwirklicht oder nicht verwirklicht worden ist. Die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der hiezu geeigneten Beweismittel, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (AsylGH, 5.5.2009, A11 306.977-2/2009).
Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Nach der Judikatur ist die Wahrscheinlichkeit dann gegeben, wenn die für den ursächlichen Zusammenhang sprechenden Erscheinungen, wenn auch noch so geringfügig, gegenüber den im entgegen gesetzten Sinn verwertbaren Erscheinungen überwiegen (Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht8, Rz 355 mit Hinweisen auf die Judikatur). Hat die Partei ein Ereignis glaubhaft zu machen, trifft die Partei die "Beweislast", dh. kann das Ereignis durch die – von der Partei anzubietenden – Beweise (iS. von Bescheinigungsmitteln) nicht glaubhaft gemacht werden, so ist ihr Antrag abzuweisen (Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht8, Rz 623 mit Hinweisen auf die Judikatur und das Schrifttum). (AsylGH 15.12.2008, E2 244.479-0/2008)
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Begriff der "Glaubhaftmachung" im Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinne des § 274 ZPO zu verstehen (VwGH 15.03.2001, 2001/16/0136; 25.06.2003, 2000/04/0092). Ausgehend von § 274 Absatz 1 letzter Satz ZPO eignet sich nur eine Beweisaufnahme, die sich sofort ausführen lässt (mit Hilfe so genannter "parater" Bescheinigungsmittel) zum Zwecke der Glaubhaftmachung (siehe dazu VwGH 25.06.2003, 2000/04/0092 unter Hinweis auf OGH 23.03.1999, 4 Ob 26/99y, in ÖBl 1999, 240; sowie OGH 23.09.1997, 4 Ob 251/97h, in ÖBl 1998, 225), wobei der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen seiner asylrechtlichen Spruchpraxis von dieser Einschränkung offenkundig abweicht. Mit der Glaubhaftmachung ist aber auch die Pflicht der Verfahrenspartei verbunden, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der behaupteten Voraussetzungen spricht und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen, die objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Voraussetzung liefern. Insoweit trifft die Partei eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Allgemein gehaltene Behauptungen reichen für eine Glaubhaftmachung nicht aus (vgl dazu VwGH 24.02.1993, 92/03/0011; 01.10.1997, 96/09/0007; 25.06.2003, 2000/04/0092; siehe auch Hengstschläger/Leeb, AVG 2. Teilband [2005], § 45 Rz 3 mit Hinweisen auf die Judikatur). (AsylGH 22.10.2008, E2 221.979-0/2008)
Zwar reicht für eine Glaubhaftmachung im Gegensatz zu einer Beweisführung der Nachweis der Wahrscheinlichkeit aus, es müssen aber die für die Annahme eines Sachverhaltes sprechenden Gründe die gegenteiligen Gründe jedenfalls überwiegen, wobei der Aussage des Asylwerbers selbst wesentliche Bedeutung zukommt (AsylGH 15.6.2009, D11 260.145-0/2008/8E).
Auch ein bei der Einvernahme gewonnener unmittelbarer Eindruck von der Glaubwürdigkeit des Vernommenen muss in der Bescheidbegründung in einer nach dem Prüfmaßstab des Verwaltungsgerichtshofes objektiv nachvollziehbaren Art und Weise seinen Niederschlag finden (VwGH 16.5.2007, 2007/01/0151).
Es liegt in der Natur der Sache, dass die vom Asylwerber geltend gemachte Furcht nicht bloß behauptet, sondern auch glaubhaft gemacht werden muss. Dabei steht die Vernehmung des Asylwerbers als wichtigstes Beweismittel zur Verfügung. Im Rahmen der Beweiswürdigung ist grundsätzlich den Angaben des Asylwerbers bei seiner ersten Befragung im Verwaltungsverfahren größere Glaubwürdigkeit zuzumessen als späterem Vorbringen. Erfahrungsgemäß machen nämlich Asylwerber gerade bei der ersten Befragung spontan jene Angaben, die der Wahrheit am nächsten kommen. Als glaubwürdig können Fluchtgründe im Allgemeinen nicht angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens unterschiedlich oder gar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen und wenn er maßgebliche Tatsachen erst spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt. Die erkennende Behörde kann einen Sachverhalt grundsätzlich nur dann als glaubwürdig anerkennen, wenn der Asylwerber gleichbleibende Angaben macht, wenn diese Angaben wahrscheinlich und damit einleuchtend erscheinen und wenn erst spät gemachte Angaben nicht den Schluss aufdrängen, dass sie bloß der Asylerlangung dienen sollen, der Wirklichkeit aber nicht entsprechen (AsylGH, 7.4.2009, D12 219.513-4/2009/2E; VwGH 06.3.1996, 95/20/0650).
Von den Asylbehörden ist eine Einbeziehung des realen Hintergrundes der von einem Asylwerber vorgetragenen Fluchtgeschichte in das Ermittlungsverfahren zu erwarten. Die Behauptungen des Asylwerbers sind auch am Verhältnis zu der Berichtslage in Bezug auf das Ereignis, von dem er betroffen gewesen sein will, zu messen (vgl. VwGH 30.9.2004, 2001/20/0135, in diesem Sinne auch VwGH 31.5.2005, 2005/20/0176; AsylGH 09.12.2008, E12 241.389-0/2008).
Eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht drauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern, ob sich eine mit Vernunft begabte Person in einer dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286; VwGH 19.12.1995, 94/20/0858).
Verfolgungshandlungen gegen Verwandte können nur dann eine Ursache für begründete Furcht vor Verfolgung bilden, wenn aufgrund der im Verwaltungsverfahren glaubhaft dargelegten konkreten Situation davon ausgegangen werden muss, dass gegen ein Familienmitglied gesetzte oder von diesem zu befürchtende Verfolgungshandlungen auch zu – die Intensität asylrechtlich relevanter Verfolgungshandlungen erreichenden – Maßnahmen gegen andere Familienmitglieder führen werden (VwGH 7.9.2000, 2000/01/0153).
Für die Asylgewährung kommt es nicht auf die subjektive Einschätzung einer Situation an, sondern darauf, ob nach objektiven Kriterien aus den vom Asylwerber vorgetragenen Umständen die Gefahr einer Verfolgung glaubhaft gemacht wurde (VwGH 21.10.1999, 98/20/0234).
So vermag eine vom Asylwerber lediglich vermutete, subjektiv befürchtete Suche nach seiner Person eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus asylrelevanten Motiven im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nicht zu begründen (VwGH 19.4.2001, 99/20/0273).
Zu fragen ist nicht danach, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 19.12.1995, 94/20/0858).
Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn die Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 24.11.1999, 99/01/0280).
3.1.3. Gemäß Art. 9 Abs. 1 StatusRL gelten Handlungen als Verfolgung, die a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a) beschriebenen Weise betroffen ist.
Laut Abs. 2 können als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 unter anderem die folgenden Handlungen gelten:
a) Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
b) gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
c) unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
d) Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
e) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Artikels 12 Abs. 2 fallen, und
f) Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist unter Verfolgung ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen (VwGH 24.11.1999, 99/01/0280).
Bei der begründeten Furcht vor Verfolgung muss es sich um eine solche handeln, die aus objektiver Sicht begründet ist und einen weiteren Verbleib des Asylwerbers in seinem Heimatland unerträglich erscheinen lässt (VwGH 24.7.2001, 97/21/0636; VwGH 25.4.1994, 94/20/0034).
3.1.4. Der BF vermochte die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung in seinem Herkunftsstaat aufgrund des Vorwurfs der Terrorismuspropaganda (oder eines anderen Delikts des Terrorismussegments) nicht glaubhaft zu machen, sondern überwiegen nach Einschätzung des erkennenden Richters die Erwägungsgründe dafür, dass ihm eine solche nicht droht, wobei dem BF explizit nicht unterstellt wird, er habe seine subjektiven Befürchtungen wahrheitswidrig dargestellt, vielmehr geht das BVwG schlichtweg davon aus, dass diese – entgegen seiner Befürchtungen – einen objektiven Hintergrund mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vermissen lassen.
3.1.5. Dass der BF wegen des Delikts der Beleidigung des Präsidenten in der Türkei mit einem strafgerichtlichen Verfahren konfrontiert sein wird, konnte er nach hg. Überzeugung unter Beweis stellten.
3.1.5.1. Für die Annahme einer asylrechtlich relevanten Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung reicht es aus, dass eine staatsfeindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird und die Aussicht auf ein faires staatliches Verfahren zur Entkräftung dieser Unterstellung nicht zu erwarten ist (VwGH 30.9.1997, 96/01/0871; VwGH 12.9.2002, 2001/20/0310), oder dass die Strafe für ein im Zusammenhang mit einem ethnischen oder politischen Konflikt stehendes Delikt so unverhältnismäßig hoch festgelegt wird, dass die Strafe nicht mehr als Maßnahme einzustufen wäre, die dem Schutz legitimer Interessen des Staates dient (VwGH 16.9.1999, 98/20/0543; VwGH 17.9.2003, 99/20/0126 mit weiteren Nachweisen; VwGH 6.5.2004, 2002/20/0156).
Zählt der Asylwerber nicht zu dem Personenkreis, der wegen einer von ihm aktuell vertretenen politischen Gesinnung mit Verfolgung bedroht wird, sondern wird er wegen einer von ihm begangenen Straftat verfolgt, so ist eine derartige Verfolgung in der Regel kein Grund für die Anerkennung als Flüchtling. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kann aber dann vorliegen, wenn etwa ein Staat die Strafe für ein im Kontext mit einem ethnischen oder politischen Konflikt stehendes Delikt unverhältnismäßig hoch festlegt und die Strafe nicht mehr als Maßnahme einzustufen wäre, die dem Schutz legitimer Interessen des Staates dient. Der Grund für die unverhältnismäßige Höhe einer Strafdrohung könnte in solchen Fällen nur darin liegen, dass dem Täter unterstellt wird, er vertrete eine oppositionelle politische Gesinnung und sei jedenfalls als Feind des Staates zu betrachten. Diesfalls würde, ohne im Einzelfall die Motive des jeweiligen Straftäters zu prüfen und einen Beweis des Gegenteils im Einzelfall zuzulassen, durch die bloße Verwirklichung des Tatbildes das Vorliegen einer bestimmten oppositionellen politischen Gesinnung unterstellt und wäre eine solches Ziel der staatlichen Sanktionsnorm. Auch eine derartige unterstellte Gesinnung rechtfertigt gegebenenfalls eine Asylgewährung (VwGH 25.3.1999, 98/20/0431).
3.1.5.2. Insgesamt ergibt sich aus der herangezogenen Berichtslage, insbesondere den einschlägigen Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation in Zusammenschau mit dem aktuellen Länderinformationsblatt, nicht, dass Personen, welche wegen Beleidigung des Präsidenten verfolgt werden, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einem Schauprozess ausgesetzt sein werden, sondern sprechen die unter Punkt 2.4.3.2. übersichtlich dargelegten Statistiken dafür, dass betroffene Personen lediglich in Einzelfällen nicht nur angezeigt, sondern auch angeklagt oder gar verurteilt werden. Im Verurteilungsfall sind einerseits Strafen zu erwarten, die in der Höhe prinzipiell den Strafsätzen mitteleuropäischer Demokratien entsprechen, andererseits werden bloß in wenigen Ausnahmefällen tatsächlich unbedingte Freiheitsstrafen verhängt, sodass auch keine exzessive Strafverfolgung befürchtet werden muss.
3.1.5.3. Eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung durch die Behörden des Herkunftsstaates im Sinne der obzitierten Judikatur konnte bei Inaugenscheinnahme der vorgelegten Unterlagen in Zusammenschau mit dem vorangegangenen Verhalten des BF sohin nicht festgestellt werden. Eine diesbezügliche Glaubhaftmachung gegenüber dem BVwG misslang dem BF sohin.
3.1.5.3.1. In einem vergleichbaren Fall wies der VwGH mit (rezentem) Beschluss vom 02.02.2024, Ra 2024/14/0034, eine gegen ein die Beschwerde abweisendes Erkenntnis des BVwG erhobene außerordentliche Revision zurück.
3.1.6. Insofern der BF moniert, die von ihm geltend gemachte „Razzia“ (gemeint offensichtlich eine Hausdurchsuchung) entfalte Schutzrelevanz, sei auf u.a. Judikatur hingewiesen:
Eine ohne Repressionen verlaufene Hausdurchsuchung und eine bloß dreistündige Anhaltung stellen mangels asylrechtlich relevanter Eingriffsintensität keine Verfolgungshandlung iSd Flüchtlingskonvention dar (VwGH 11.11.1998, 98/01/0312).
Einer bloßen Ladung zur Behörde ermangelt es jedenfalls an der für die Asylgewährung nötigen Eingriffsintensität (VwGH 7.9.2000, 2000/01/0153).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist davon auszugehen, dass Verhöre und Befragungen für sich allein (wenn sie ohne weitere Folgen bleiben) keine Verfolgungshandlungen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen (vgl. zB VwGH 29.10.1993, 93/01/0859; 31.3.1993, 93/01/0168; 26.6.1996, 95/20/0427; 4.11.1992, 92/01/0819; 6.3.1996, 95/20/0128; 10.3.1994, 94/19/0257; 11.6.1997, 95/01/0627) und in polizeilichen Hausbesuchen und in der Vornahme von Hausdurchsuchungen für sich allein noch keine relevante Verfolgungshandlung erblickt werden kann (VwGH 24.4.1995, 94/19/1402; 19.2.1998, 96/20/0546).
Maßnahmen des Staates, die nur der Ausforschung von gesuchten Personen dienen (Befragungen, Hausdurchsuchungen, kurzfristige Haft), ohne dass die Maßnahmen in Wahrheit auf die Verfolgung des Betroffenen aus asylrechtlich relevanten Gründen abzielen, sind kein Asylgrund (VwGH 8.6.2000, 99/20/0597).
3.1.7. Auch konnte der BF, der sich erkennbar primär auf die Asylrelevanz gegen ihn (behauptetermaßen) anhängiger Strafverfahren stützte (hiezu siehe Punkt 3.1.4. und 3.1.5.), keine anderweitige Verfolgung aufgrund seiner legalen politischen Überzeugung glaubhaft machen.
3.1.8. Der BF legte keine asylrelevante Verfolgung im Sinne obzitierter Judikatur dar, weshalb die Gewährung des Status des Asylberechtigten gem. § 3 AsylG nicht in Betracht kam.
3.1.9. Dem Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Flüchtlingsstellung war sohin kein Erfolg zu bescheiden und war die Beschwerde diesbezüglich abzuweisen.
3.2. Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.):
3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen, ob im Falle der Rückführung des BF in die Türkei Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde.
Bei der Beurteilung, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht, bedarf es einer Auseinandersetzung mit der allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat (VwGH 27.04.2020, Ra 2019/19/0455 mwN). Die dabei anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen.
Nach der ständigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verwaltungsgerichtshofs obliegt es grundsätzlich dem BF, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos glaubhaft zu machen, dass ihm im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (EGMR U 05.09.2013, I. gegen Schweden, Nr. 61204/09; VwGH 18.03.2015, Ra 2015/01/0255). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86).
3.2.2. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 sind in Ansehung der BF nicht gegeben:
Für die Gewährung des Abschiebungsschutzes ist die maßgebliche Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Verletzung der Menschenrechte gefordert.
Unter realer Gefahr ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (VwGH 19.2.2004, 99/20/0573, mwH auf die Judikatur des EGMR). Es müssen sachliche, stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre und es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der betroffenen Person eine derartige Gefahr drohen würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus.
Nach der Judikatur des EGMR obliegt es der betroffenen Person, die eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Abschiebung behauptet, so weit als möglich Informationen vorzulegen, die den innerstaatlichen Behörden und dem Gerichtshof eine Bewertung der mit einer Abschiebung verbundenen Gefahr erlauben (EGMR 5.7.2005, Said gg. die Niederlande).
Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH zu § 51 FPG hat der Fremde das Bestehen einer aktuellen – also im Fall der Abschiebung dort gegebenen – durch staatliche Stellen zumindest gebilligten Bedrohung im Sinn des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist. Dabei ist die konkrete Einzelsituation in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung in das Herkunftsland zu beurteilen. Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung genügt allerdings nicht, um die Abschiebung unter dem Gesichtspunkt des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG als unzulässig erscheinen zu lassen (VwGH, 13.04.2010, 2008/18/0333).
Gemäß Art. 15 StatusRL gilt als ernsthafter Schaden iS einer Voraussetzung für die Gewährung von subsidiärem Schutz:
a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder
b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder
c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Eine in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK fallende Maßnahme stellt dann eine unmenschliche Behandlung oder Strafe dar, wenn sie eine gewisse Schwelle erreicht. Die Bestimmung der Frage, ob eine konkrete Maßnahme dieses Mindestmaß erreicht, ist relativ und hängt von den genannten Umständen des Falles ab, einschließlich der Dauer der Maßnahme sowie ihrer physischen und mentalen Auswirkungen (EGMR, 28.11.1996, Nsona v. Niederlande Nr. 23366/94).
Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (EGMR GK 07.07.1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88). Dass der BF in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden, eine dahingehende reale Gefahr ist somit nicht gegeben.
3.2.3. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des BF so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH U 17.02.2009, Meki Elgafaji und Noor Elgafaji gegen Staatssecretaris van Justitie, C-465/07). Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen: ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind, ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind, ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden und schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07). Der EuGH nennt als weitere maßgebliche Kriterien die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts, das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, den tatsächlichen Zielort des Asylwerbers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und schließlich ob die die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen eventuell mit Absicht erfolgt (EuGH U 10.06.2021, CF und DN gegen Bundesrepublik Deutschland, C-901/19).
Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt jedoch nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09).
Verkannt wird zwar nicht, dass die Türkei sich fallweise mit dem Eintreten sicherheitsrelevanter Vorfälle (insbesondere Terroranschlägen und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Kämpfern der PKK) konfrontiert sieht, dies ist jedoch weder die Regel noch stellt dies eine landesweite Problematik dar, vielmehr ist selbst in den Konfliktgebieten im Südosten des Landes üblicherweise ein von Kämpfen unbeeinflusstes Leben möglich und ist die Wahrscheinlichkeit, unschuldig zwischen die Fronten zu geraten und Schaden zu erleiden, bloß als theoretisch gegeben anzusehen. Dauerhaft bürgerkriegsähnliche Situationen oder Vergleichbares gibt es in keinem Landesteil der Türkei.
3.2.4. Der BF ist ein gesunder, arbeitsfähiger und arbeitswilliger Mann mit im Herkunftsstaat erworbener Bildung und Berufserfahrung. Er ist mit der Sprache, den lokalen Umständen sowie den Gebräuchen in der Türkei vertraut und wird folglich im Rückkehrfall in der Lage sein, sein Auskommen als Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft zu bestreitet. Ferner ist davon auszugehen, dass der BF bei seinen im Heimatdorf lebenden Angehörigen sozialen Anschluss und Unterstützung im Wege der zumindest anfänglichen Zurverfügungstellung von Grundnahrungsmitteln vorfinden wird.
Der BF verfügt im Herkunftsstaat über familiäre und soziale Anknüpfungspunkte, hat schulische Bildung genossen und Berufserfahrung in mehreren Branchen erworben. Seine Familie ist im Hinblick auf zur Verfügung stehenden Wohnraum sowie finanziell hinreichend abgesichert und sprechen keine Aspekte dagegen, dass er nach erfolgter Rückkehr neuerlich beispielsweise bei seinen Eltern und seiner Ehegattin Unterkunft nehmen kann. Auch verfügt die Türkei laut aktuellem Länderinformationsblatt über ein – im Ergebnis – adäquates Sozialsystem, von dem der BF profitiert. Der BF hat sohin angesichts seines Alters, seiner Anpassungsfähigkeit sowie der o.a. Faktoren jedenfalls die Möglichkeit, in der Türkei im Rückkehrfall neuerlich Fuß zu fassen und eine wirtschaftliche Existenz – wenn auch allenfalls auf bescheidenem Niveau – aufzubauen.
Andere Umstände (z.B. landesweite gewalttätige Auseinandersetzungen oder bürgerkriegsähnliche Situationen), welche den BF im Rückkehrfall existenziell im Hinblick auf sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit bzw. keiner Folter unterworfen zu werden bedrohen würden, liegen in der Türkei nicht vor.
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet auch nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (VwGH 17.09.2019, Ra 2019/14/0160).
3.2.5. Ziel des Refoulementschutzes ist es jedoch nicht, Menschen vor unangenehmen Lebenssituationen, wie es beispielsweise der Neuaufbau einer Lebensgrundlage im Herkunftsland sein wird, zu beschützen, sondern einzig und allein Schutz vor Lebenssituationen, die ua Art. 3 EMRK widersprechen würden, zu gewähren (AsylGH 12.1.2009, D11 227593-0/20008/8E). Laut Länderinformationsblatt der Staatendokumentation droht dem BF durch die Rückkehr in den Herkunftsstaat ansich keinerlei Gefährdung seiner Person. Dass er in der Lage sein wird, sich erneut eine Existenz aufzubauen wurde ebenso unter Hinweis auf sein Alter, seine (Aus)Bildung und seine Erwerbsfähigkeit sowie seine familiäre und soziale Vernetzung bewiesen.
Auch betont der Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung die erforderliche Exzeptionalität der Umstände und die hohe Schwelle die auch in Fällen schlechter wirtschaftlicher Existenzgrundlage vorliegen muss, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK darzustellen (VwGH 23.09.2009, Zl. 2007/01/0515; VwGH 06.11.2009, Zl. 2008/19/0174).
3.2.6. Der Umstand, dass den Asylwerber im Herkunftsstaat ein Strafverfahren, Untersuchungshaft oder eine Haftstrafe erwartet, ist für sich genommen noch keine Verletzung von Art. 3 EMRK. Es muss gewährleistet sein, dass ein gewisser Mindeststandard bei den Haftbedingungen eingehalten wird. Dabei darf die Menschenwürde des Häftlings nicht beeinträchtigt werden und er darf nicht über ein unvermeidbares Maß hinaus unter der Art und Weise des Freiheitsentzugs leiden (EGMR 26.10.2000, Kudla gegen Polen, Nr. 30210/96; Yankov gegen Bulgarien, 11.12.2003, Nr. 39084/97).
Haftumstände können insbesondere gegen Art. 3 EMRK verstoßen, wenn in den Gefängnissen gefoltert wird oder die Versorgungslage unzumutbar ist. Denkbar ist auch, dass die Art der Strafe die erforderliche Schwere erreicht (z.B. körperliche Züchtigung).
Haftbedingungen verstoßen insbesondere gegen Art 3 EMRK, wenn die Insassen aufgrund Platzmangels auf dem verschmutzten Boden schlafen müssen, nicht genügend Bewegungsfreiheit und Frischluft bekommen und unzureichend (medizinisch) versorgt werden oder auch die hygienischen Bedingungen prekär sind (siehe ua. EGMR 11.6.209, S.D. gegen Griechenland, Nr. 53541/07; EGMR 21.1.2011, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09; EGMR 7.6.2011, R.U. gegen Griechenland, Nr. 2237/08).
Dass die Haftbedingungen im Herkunftsstaat des BF teilweise prekär sind, wurde zwar festgestellt und gewürdigt, jedoch lassen die herangezogenen landeskundlichen Feststellungen der Staatendokumentation es nicht zu, auf systematische Menschenrechtsverletzungen zu schließen, sodass im Falle, dass der BF nach dessen Rückkehr zu einer Haftstrafe verurteilt werden sollte, nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit von einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 EMRK auszugehen ist, um die Gewährung eines Schutzstatus zu rechtfertigen.
3.2.7. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die BF somit nicht in deren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden, sodass die Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten zu Recht abgewiesen wurde.
3.3. Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz (Spruchpunkt III.):
3.3.1. Wird ein Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, ist gemäß § 58 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung ist gemäß § 58 Abs. 3 AsylG 2005 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
3.3.2. Der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet war ausweislich der Feststellungen nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Er wurde schließlich nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
3.3.3. Dem BF ist daher kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen. Der gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides erhobenen Beschwerde kommt keine Berichtigung zu.
3.4. Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK und Erlassung einer Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.):
3.4.1. Die Einreise des BF in das Gebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich ist nicht rechtmäßig erfolgt. Er war bislang als Asylweber gemäß § 13 AsylG 2005 für die Dauer des nunmehr abgeschlossenen Verfahrens zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Ein auf eine andere Rechtsgrundlage gestütztes Aufenthaltsrecht ist nicht gegeben. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung somit mit einer Rückkehrentscheidung nach dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts des BF auf Achtung seines Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.
Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16928/2003). Der Begriff des Familienlebens ist nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein. Maßgebend sind etwa das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR U 13.06.1979, Marckx gegen Belgien, Nr. 6833/74; GK 22.04.1997, X, Y u. Z gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/93).
3.4.2. Der Abwägung der öffentlichen Interessen gegenüber den Interessen eines Fremden an einem Verbleib in Österreich in dem Sinne, ob dieser Eingriff im Sinn des Art 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig ist, ist voranzustellen, dass die Rückkehrentscheidung der innerstaatlichen Rechtslage nach einen gesetzlich zulässigen Eingriff darstellt.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist eine Maßnahme dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig ist. Das bedeutet, dass die Interessen des Staates, insbesondere unter Berücksichtigung der Souveränität hinsichtlich der Einwanderungs- und Niederlassungspolitik, gegen jene des BF abzuwägen sind (EGMR U 18.02.1991, Moustaquim gegen Belgien, Nr. 12313/86). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht ferner davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Die Konventionsstaaten sind nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt, Einreise, Ausweisung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (EGRM U 30.10.1991, Vilvarajah u.a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13163/87).
Die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt werden, ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung nach Art 8 Abs. 2 EMRK daher ein hoher Stellenwert zu (VfSlg. 18.223/2007).
3.4.3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei der Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegensteht (zur Maßgeblichkeit dieser Kriterien vgl. VfSlg. 18.223/2007).
Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine fixen zeitlichen Vorgaben knüpft (EGMR U 31.1.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99; U 16.9.2004, M. C. G. gegen Deutschland, Nr. 11.103/03), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR GK 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9214/80, 9473/81, 9474/81; U 20.6.2002, Al-Nashif gegen Bulgarien, Nr. 50.963/99) und dessen Intensität (EGMR U 02.08.2001, Boultif gegen Schweiz, Nr. 54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR U 04.10.2001, Adam gegen Deutschland, Nr. 43.359/98; GK 09.10.2003, Slivenko gegen Lettland, Nr. 48321/99), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR U 11.04.2006, Useinov gegen Niederlande Nr. 61292/00) für maßgeblich erachtet.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 MRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (statt aller VwGH 17.03.2021, Ra 2021/14/0052 mwN). Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat. Ferner sind nach der eingangs zitieren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie dies Verfassungsgerichtshofs die strafgerichtliche Unbescholtenheit aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht sowie Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und schließlich die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen.
Dem Fremden musste bei der Antragstellung klar sein, dass der Aufenthalt in Österreich im Falle einer Abweisung des Asylantrages nur ein vorübergehender ist. Ebenso indiziert die Einreise unter Umgehung der Grenzkontrolle den Umstand, dass dem Fremden die Unmöglichkeit der legalen Einreise und dauerhaften Niederlassung bewusst war. Dazu kommt, dass der Fremde gerade in diesem Stadium des ungewissen Aufenthaltes Anknüpfungspunkte gem. Art. 8 (1) EMRK begründete, weshalb er nicht schützenswert erscheint. Eine Prüfung der sonstigen genannten Kriterien brachte keine weiteren gewichtigen Argumente für den Verbleib im Bundesgebiet. Würde sich ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen. Könnte sich ein Fremder nunmehr in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen, würde dies darüber hinaus dazu führen, dass Fremde, welche die unbegründete bzw. rechtsmissbräuchliche Asylantragstellung allenfalls in Verbindung mit einer illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet in Kenntnis der Unbegründetheit bzw. Rechtsmissbräuchlichkeit des Antrag unterlassen, letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, welche genau zu diesen Mitteln greifen um sich ohne jeden sonstigen Rechtsgrund den Aufenthalt in Österreich legalisieren, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (vgl. hierzu auch das Estoppel-Prinzip) (AsylGH 4.8.2008, E10 313376-1/2008).
Eine den Schutz des Privatlebens auslösende Verbindung kann insbesondere für solche Ausländer in Betracht kommen, deren Bindung an Österreich aufgrund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse mit gleichzeitiger Entfremdung vom Heimatland quasi Österreichern gleichzustellen ist. Ihre Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass Österreich faktisch das Land ist, zu dem sie gehören, während sie mit ihrem Heimatland nur noch das formale Band der Staatsbürgerschaft verbindet (EGMR 26.3.1993 im Fall Beldjondi und vom 26.9.1997 im Fall Mehemi). Voraussetzung dafür wird sein, dass das Privat- und Familienleben in Österreich fest verankert ist. Der Besuch eines Deutschkurses oder eine Berufsausbildung allein wird somit noch kein schützenswertes Privatleben begründen (AsylGH 23.12.2009, D10 257656-0/2008).
3.4.4. In Abwägung der gemäß Art. 8 EMRK maßgeblichen Umstände in Ansehung des BF ergibt sich für den gegenständlichen Fall Folgendes:
3.4.4.1. Der BF stellte am 26.06.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er ist seither als Asylwerber in Österreich befindlich. Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, weil eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist. Der BF hält sich seit rund einem Jahr und zehn Monaten im Bundesgebiet auf, das Gewicht seines Aufenthaltes ist darüber hinaus noch dadurch abgeschwächt, dass er seinen Aufenthalt durch einen unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz zu legalisieren versuchte. Alleine durch die Stellung seines Antrags konnte er nämlich nicht begründeter Weise von der zukünftigen dauerhaften Legalisierung seines Aufenthalts ausgehen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann bei einem Inlandsaufenthalt von eineinhalb Jahren von einer ins Gewicht fallenden Aufenthaltsdauer keine Rede sein. Daher kann ein mit der Erlassung der Rückkehrentscheidung verbundener Eingriff in das Privatleben nur unter außergewöhnlichen Umständen die Unzulässigkeit dieser Maßnahme bewirken (VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0191 mwN). Diese Judikatur ist naheliegenderweise auch auf geringfügig längere Aufenthaltszeiten zur Anwendung zu bringen.
Solche außergewöhnlichen Umstände liegen gegenständlich ganz augenscheinlich nicht vor und ist der Eintritt derartiger Umstände im Lichte des kurzen Aufenthalts auch als nahezu ausgeschlossen zu beurteilen. Keinesfalls liegt es in der Intention des Gesetzgebers oder der Höchstgerichte, einen Aufenthaltstitel iSd Art. 8 EMRK nach negativer Asylentscheidung und vergleichsweise sehr kurzer Aufenthaltsdauer erwirken zu können, zumal andernfalls Fremde, die eine Einwanderung ins Bundesgebiet im Einklang mit der österreichischen Rechtslage beabsichtigen, auf unzulässige Weise benachteiligt wären und die Anwendbarkeit der Bestimmungen des NAG (sofern der Fremde die erforderlichen sozialen und intellektuellen Kapazitäten aufweist) nahezu nach Belieben unterlaufen werden könnten.
Dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung der Höchstgerichte, welche zwar – durchaus sachgerecht – keine fixen Zeitgrenzen postuliert haben, jedoch wiederholt zutreffend ausgesprochen haben, dass das berücksichtigungswürdige Interesse eines Fremden am Verbleib im Bundesgebiet mit der Dauer seines Aufenthalts wächst.
3.4.4.2. Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit des BF stellt weder eine Stärkung der persönlichen Interessen, noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, Zl. 98/18/0420).
3.4.4.3. Eine den Schutz des Privatlebens auslösende Verbindung kann insbesondere für solche Ausländer in Betracht kommen, deren Bindung an Österreich aufgrund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse mit gleichzeitiger Entfremdung vom Heimatland quasi Österreichern gleichzustellen ist. Ihre Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass Österreich faktisch das Land ist, zu dem sie gehören, während sie mit ihrem Heimatland nur noch das formale Band der Staatsbürgerschaft verbindet (EGMR 26.3.1993 im Fall Beldjondi und vom 26.9.1997 im Fall Mehemi). Voraussetzung dafür wird sein, dass das Privat- und Familienleben in Österreich fest verankert ist. Der Besuch eines Deutschkurses oder eine Berufsausbildung allein wird somit noch kein schützenswertes Privatleben begründen (AsylGH 23.12.2009, D10 257656-0/2008).
Daraus resultiert gegenständlich, dass der BF mangels familiärer Anknüpfungspunkte ein iSd Art 8 EMRK relevantes Familienleben keinesfalls geltend machen konnte und auch seine privaten Anknüpfungspunkte keinesfalls so gewichtig sind, dass ein schützenswertes Privat- und Familienleben geltend gemacht werden könnte; der BF ist zwar seit wenigen Monaten selbsterhaltungsfähig, dem sind jedoch die kurze Aufenthaltsdauer, die geringfügigen Kenntnisse der deutschen Sprache, die (bereits erwähnte) fehlende familiäre und soziale Integration sowie die Unsicherheit des Aufenthalts entgegenzuhalten, weshalb seine persönlichen Interessen gegenüber den öffentlichen Interessen zurückzutreten haben. Eine Aufenthaltsverfestigung im Sinne der obgenannten Judikatur ist im gegenständlichen Fall nicht zu erkennen.
3.4.4.4. Im gegenständlichen Verfahren ist keine unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer festzustellen, sondern wurde das erstinstanzliche Asylverfahren ohne unbillige Verzögerung geführt. Das Beschwerdeverfahren wurde innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist abgeschlossen.
3.4.4.5. Im Rahmen einer Gesamtwürdigung anhand der in § 9 BFA-VG angeführten Kriterien gelangt das BVwG folglich zu dem Ergebnis, dass die individuellen Interessen des BF im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK eindeutig nicht dermaßen ausgeprägt sind, dass sie das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nach Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und der Einhaltung der in Geltung stehenden aufenthalts- und fremdenrechtlichen Bestimmungen überwiegen.
3.4.5. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 keine gesetzlich normierten Hindernisse entgegenstehen.
3.5. Zulässigkeit der Abschiebung und Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise: (Spruchpunkt V. und VI.):
3.5.1. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 von Amts wegen gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG 2005 (VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Fremde das Bestehen einer aktuellen und durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwendbaren Bedrohung im Sinn des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG 2005 – diese Bestimmungen stellen auf dieselben Gründe ab, wie sie in den §§ 3 und 8 AsylG 2005 enthalten sind – glaubhaft zu machen. Es ist die konkrete Einzelsituation des Fremden in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Fremden in diesen Staat zu beurteilen (VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).
Der Prüfungsmaßstab im Hinblick auf den subsidiären Schutz entspricht somit jenem des Refoulementverbots im FPG 2005. Erkennbar eben deshalb ist nach den Vorstellungen des Gesetzgebers aber auch ein gesonderter Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Grunde des § 50 FPG 2005 nicht möglich; einem Fremden ist es verwehrt, eine derartige Feststellung zu begehren, weil über das Thema dieser Feststellung ohnehin im Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz abzusprechen ist. Ein inhaltliches Auseinanderfallen der genannten Entscheidungen (insbesondere nach § 8 AsylG 2005) einerseits und der Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG 2005 andererseits ist ausgeschlossen (VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119).
3.5.2. Bezüglich § 50 Abs. 1 FPG 2005 bleibt festzuhalten, dass im Rahmen des Ermittlungsverfahrens betreffend den vom BF gestellten Antrag auf internationalen Schutz nicht festgestellt werden konnte, dass der BF im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der BF somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung, noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage in der Türkei ebenfalls nicht vor.
Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
Ebenso sind keine von Amts wegen aufzugreifenden stichhaltige Gründe für die Annahme erkennbar, dass im Herkunftsstaat der BF deren Leben oder deren Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten im Sinn des § 50 Abs. 2 FPG 2005 bedroht wäre und wird insoweit auf die Erwägungen in der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung betreffend den vom BF gestellten Antrag auf internationalen Schutz verwiesen.
3.5.3. Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 3 FPG 2005 schließlich unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine solche Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme besteht hinsichtlich des Staates Türkei nicht.
3.5.4. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt V. der bekämpften Bescheide war daher abzuweisen.
3.5.5. Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich zwingend aus § 55 Abs. 2 erster Satz FPG 2005. Dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Die eingeräumte Frist ist angemessen.
3.5.6. Der Flughafen Istanbul ist geöffnet und von Wien aus (im Wege von Direktflügen) im Luftweg erreichbar. Von Istanbul bestehen Inlandsflüge zum Flughafen Van in der Herkunftsprovinz des BF, sodass auch keine Hindernisse erkannt werden können, das Bundesgebiet innerhalb der eingeräumten Frist in den Herkunftsstaat zu verlassen.
4. Der angefochtene Bescheid erweist sich ob der vorstehenden Ausführungen als rechtsrichtig, sodass die dagegen erhobene Beschwerde als unbegründet abzuweisen ist.
Zu B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das zur Entscheidung berufene Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe, zum Flüchtlingsbegriff, zum Refoulementschutz und zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben abgeht. In Bezug auf die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides liegt das Schwergewicht zudem in Fragen der Beweiswürdigung.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
