BVwG L514 2234024-1

BVwGL514 2234024-16.7.2022

BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs5
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z5
FPG §55 Abs4

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:L514.2234024.1.00

 

Spruch:

L514 2234024-1/33E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KLOIBMÜLLER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.06.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 27.10.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkte II. und III. wie folgt zu lauten haben:

„II. Es wird gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig ist.

III. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Absatz 3 Ziffer 5 Fremdenpolizeigesetz wird gegen Sie ein auf die Dauer von 5 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.“

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, hält sich seit dem Jahr 1989 in Österreich auf und ist in Besitz eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt – EU“.

2. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX .2004, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer, wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach den § 83 Abs.1 und § 88 Abs. 1 StGB sowie wegen des Vergehens des Betruges nach § 146 StGB zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je EUR 2,00 verurteilt; die Strafe ist seit 05.01.2005 vollzogen.

3. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2009, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Hehlerei nach § 164 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, wobei die Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

4. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2012, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des schweren Betruges mit einem EUR 3.000,00 übersteigenden Schaden nach den §§ 146, 147 Abs. 2 StGB sowie wegen des Vergehens des betrügerischen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen und Zuschlägen nach dem Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungsgesetz nach dem § 153 Abs. 1 und 3 StGB, sowie wegen des Vergehens der grob fahrlässigen Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen als leitender Angestellter nach den § 159 Abs. 2 und 5 sowie § 159 Abs. 1 und 5 je iVm § 161 StGB zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt, wobei die Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

5. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2013, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, achter Fall und Abs. 3 SMG, sowie wegen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, achter Fall SMG und wegen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, erster und zweiter Fall und Abs. 2 SMG, wegen des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB und wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach § 83 Abs. 1, § 84 Abs. 2 Z 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Gleichzeitig wurde die Probezeit zum Urteil des Landesgerichtes XXXX zu XXXX auf fünf Jahre verlängert.

6. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2015, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, fünfter und sechster Fall und Abs. 3 und 5 SMG, sowie wegen des Vergehens des teils vollendeten, teils versuchten Suchtgifthandels nach den §§ 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG und Abs. 3 erster Fall SMG, § 15 StGB und des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtmitteln nach § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2. Fall und Absatz 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt. Gleichzeitig wurde die mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2009, Zl. XXXX gewährte bedingte Strafnachsicht widerrufen.

7. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 07.12.2018, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 zweiter und dritter Fall, Abs. 2 Z 3 SMG, teils iVm § 12 zweite Alternative StGB und des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer die mit Urteil des Landesgerichtes XXXX zu Zl. XXXX gewährte bedingte Entlassung widerrufen.

Einer gegen dieses Urteil erhobenen Berufung wurde mit Erkenntnis des Oberlandesgerichtes XXXX vom 23.05.2019, Zl. XXXX , keine Folge gegeben.

8. Am 19.02.2019 wurde der Beschwerdeführer zur Klärung des aufenthaltsrechtlichen Status und zur Prüfung der Erlassung einer Rückkehrentscheidung von einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: BFA) in der Justizanstalt XXXX niederschriftlich einvernommen. Zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt gab der Beschwerdeführer an, im Jahr 1989 nach Österreich gekommen zu sein, er sei zuletzt im Jahr 2018 in der Türkei gewesen und sei auch in Besitz eines türkischen Reisepasses und Personalausweises. In Österreich befänden sich seine Ehegattin, die gemeinsamen sechs Kinder sowie weitere Verwandte. In der Türkei würden die Eltern und unzählige weitschichtigere Verwandte leben. In der Türkei habe der Beschwerdeführer nie gearbeitet, in Österreich habe er zuletzt im Sommer auf einer Baustelle gearbeitet. Auf Vorhalt des anhängigen Strafverfahrens und den Erwägungen, eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer zu erlassen, gab dieser an, dass er auf keinen Fall in die Türkei zurückgehen könne, da seine ganze Familie in Österreich leben würde. Die Kinder seien minderjährig und müsse er für diese sorgen; seine Ehegattin würde im Moment auch nicht arbeiten. Zu einer möglichen Rückkehr gab der Beschwerdeführer weiter an, dass er in der Türkei weder gesucht noch bedroht werden würde, es ginge nur um seine Kinder und seine Ehegattin.

9. Mit dem hier angefochtenen Bescheid des BFA vom 30.06.2020, Zl. XXXX , wurde wider den Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 5 FPG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG „nach“ [!] zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG 2005 wurde ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.) und gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt IV.) sowie ferner einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.).

Begründend führte das BFA aus, dass der Beschwerdeführer zuletzt wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten noch nicht rechtskräftig verurteilt worden sei. Bei der Suchtgiftkriminalität handle es sich um eine besonders gefährliche Kriminalitätsform, der eine große Sozialschädlichkeit anhaften würde. Konkret hätten den Beschwerdeführer auch die familiären Bindungen nicht von der wiederholten Tatbegehung abgehalten. In Abwägung aller Interessen komme dem öffentlichen Interesse an der Unterbindung von Suchtgifthandel ein äußerst großes Gewicht zu und sei die Rückkehrentscheidung – wie auch das Einreiseverbot – daher gerechtfertigt.

Mit Verfahrensanordnung vom 13.07.2020 wurde dem Beschwerdeführer gem. § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtberater zur Seite gestellt.

10. Gegen den, dem Beschwerdeführer rechtswirksam zugestellten Bescheid erhob dieser vertreten durch die von ihm bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung ein für den Beschwerdeführer günstigerer Bescheid erzielt worden wäre.

Im Wesentlichen wird in der Beschwerde vorgebracht, dass der Beschwerdeführer im Alter von 17 Jahren nach Österreich gekommen sei und sich hier seine Ehegattin und seine sechs leiblichen Kinder aufhalten würden. Zuletzt sei der Beschwerdeführer im Jahr 2017 in der Türkei gewesen; davor über acht Jahre nicht; der Lebensmittelpunkt des Beschwerdeführers befände sich daher seit über 30 Jahren in Österreich. An Verfahrensmängeln wird in der Beschwerde einerseits moniert, dass sich die Behörde unzureichend mit der Lage des Beschwerdeführers auseinandergesetzt habe, da sich auch in der Haft binnen eines Jahres Änderungen hinsichtlich des Privat- und Familienlebens ergeben könnten und andererseits hätten die Entwicklungen der COVID-19 Pandemie berücksichtigt werden müssen. In der Interessenabwägung habe sich die belangte Behörde zu wenig mit der Beziehung des Beschwerdeführers zu seinen minderjährigen Kindern – Stichwort Kindeswohl – auseinandergesetzt. Der Beschwerdeführer habe in der Haft, vor allem im gelockerten Vollzug, einen Wandel vollzogen und möchte jedenfalls nochmals eine Drogentherapie machen. Dem Familienleben komme in der Interessenabwägung hinsichtlich der Erlassung einer Rückkehrentscheidung ein erhebliches Gewicht zu und erfordere die Aufrechterhaltung der Beziehung zu den Kindern des Beschwerdeführers wie auch den nunmehrigen Enkelkindern selbstredend die physische Anwesenheit des Beschwerdeführers in Österreich. Mit Verweis auf die höchstgerichtliche Rechtsprechung wird abschließend beantragt, den angefochtenen Bescheid aufzuheben bzw. dahingehend abzuändern, dass die Rückkehrentscheidung und das Einreiseverbot aufgehoben werden; in eventu das Einreiseverbot zu verkürzen; in eventu den angefochtenen Bescheid – im angefochtenen Umfang – ersatzlos zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen. Ferner wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

11. Am 27.10.2020 fand vor dem erkennenden Gericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, einem Vertreter der beauftragten Rechtsberatungs-organisation sowie eines Dolmetschers für die türkische Sprache statt und wurde dem Beschwerdeführer die Möglichkeit gegeben zur Rückkehrentscheidung und dem Einreiseverbot Stellung zu nehmen. Überdies wurde ihm die Möglichkeit eingeräumt, zu den Länderfeststellungen eine Stellungnahme abzugeben.

12. Mit Note vom 28.09.2021 wurde die JA XXXX um einen aktuellen Bericht zum Verhalten des Beschwerdeführers während seiner Inhaftierung, samt Übermittlung einer aktualisierten Besucher- und Ausgangsliste ersucht und wurde diesem mit Schreiben vom 06.10.2021 entsprochen.

Dem Beschwerdeführer wurden mit Note vom 22.10.2021 aktuelle Länderberichte und ein Fragenkatalog zur Stellungnahme binnen 14 Tagen übermittelt und langte die diesbezügliche Stellungnahme am 09.11.2021 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

13. Mit Note vom 24.05.2022 wurden dem Beschwerdeführer erneut aktuelle Länderberichte übermittelt und ihm die Gelegenheit gegeben dazu bzw. zu etwaigen Änderungen seiner persönlichen Verhältnisse oder seines Vorbringens eine schriftliche Stellungnahme abzugeben, wovon der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 31.05.2022 auch Gebrauch gemacht hat.

Mit Note vom selben Tag wurde das Arbeitsmarktservice ersucht bekanntzugeben, ob der Beschwerdeführer Rechte aus dem Assoziationsabkommen ARB 1/80 ableiten kann; die diesbezügliche Beantwortung erfolgte mit Schreiben vom 27.06.2022.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Sachverhalt:

1.1. Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, ist Staatsangehöriger der Türkei, Angehöriger der türkischen Volksgruppe und Moslem der sunnitischen Glaubensrichtung. Er wurde am XXXX in XXXX , Bezirk XXXX in Zentralanatolien geboren, wo er auch aufwuchs und zur Schule ging.

1.2. Der Beschwerdeführer war in der Türkei nicht berufstätig, er verließ seinen Herkunftsstaat im Jahr 1989 und gelangte durch einen Onkel nach Österreich. Ab August 1990 war der Beschwerdeführer in Österreich vornehmlich am Bau beschäftigt. Von 22.08.1990 bis 01.02.2001 war der Beschwerdeführer immer wieder für die XXXX als Bauarbeiter tätig, wobei sich ein gesamtes Beschäftigungsausmaß von rund 65 Monaten ergibt. Der Beschwerdeführer war über längere Zeitperioden hinweg nicht für die XXXX tätig, nämlich von XXXX , XXXX und von XXXX . In diesen Zeitperioden war der Beschwerdeführer für andere Bauunternehmen tätig und zwar in einem Ausmaß von rund 22 Monaten. Dazwischen erhielt der Beschwerdeführer regelmäßig Arbeitslosengeld und Notstandshilfe vom AMS. Nach einer längeren Abwesenheit vom Arbeitsmarkt weist der Beschwerdeführer in den letzten 20 Jahren kaum mehr Zeiten unselbständiger Erwerbstätigkeit auf, und zwar in den Jahren 2003 bis 2016 im Ausmaß von rund 32 Monaten. Im gleichen Zeitraum erhielt er für 49 Monate Arbeitslosengeld und überwiegend Notstandshilfe, unter anderem in den – sofern für die rechtliche Beurteilung relevanten - Zeiträumen 12.08.2010-22.08.2010; 15.11.2010-25.11.2010; 23.03.2011-06.07.2011; 16.07.2011-22.07.2011; 06.08.2011-04.12.2011; 10.12.2011-30.12.2011. Zuletzt war der Beschwerdeführer von 01.06.2016 bis 29.07.2016 als unselbständig Erwerbstätiger in Österreich gemeldet, erhielt danach in den Jahren 2017 bis 2018 noch rund acht Monate Sozialleistungen und weist seit April 2018 keine Meldungen bei der Sozialversicherung mehr auf. In den rund 332 Monaten von der ersten Arbeitsaufnahme bis zur laufenden Inhaftierung war der Beschwerdeführer für 19 verschiedene Arbeitgeber tätig und stand lediglich zu rund einem 1/3 in aufrechten Beschäftigungsverhältnissen.

Während seiner laufenden Inhaftierung ist der Beschwerdeführer als Fleischer beschäftigt und nunmehr im Rahmen des gelockerten Vollzugs für XXXX , einer Initiative für den zweiten Arbeitsmarkt, tätig.

Der Beschwerdeführer ist an der Firma XXXX , XXXX seit 26.07.1999 als Kommanditist mit einer Haftsumme von ATS 20.000,00 beteiligt. Der Beschwerdeführer gründete am 08.08.2001 die XXXX KEG, XXXX und war als Komplementär beteiligt. Die Gesellschaft wurde mit Beschluss des HG XXXX vom XXXX .2003, XXXX , mangels kostendeckendem Vermögen nach Konkursabweisung mangels Masse aufgelöst. Am 03.09.2003 gründete der Beschwerdeführer die XXXX , XXXX , an der er als Kommanditist beteiligt war. Die Gesellschaft wurde mit Beschluss des HG XXXX vom XXXX .2005, XXXX , mangels kostendeckendem Vermögen nach Konkursabweisung mangels Masse aufgelöst. Danach war der Beschwerdeführer von 09.11.2006 bis 05.05.2007 an der Firma XXXX , XXXX als Gesellschafter und Geschäftsführer beteiligt. Die Gesellschaft wurde mit Beschluss des HG XXXX vom XXXX .2007, XXXX , mangels kostendeckendem Vermögen nach Konkursabweisung mangels Masse aufgelöst.

Der Beschwerdeführer verfügt über eine Einstellungszusage der Firma „ XXXX “ vom 07.12.2021 als Bauhelfer.

1.3. Der Beschwerdeführer ist mit seiner Cousine, der türkischen Staatsangehörigen XXXX , geb. XXXX 1973 in XXXX verheiratet, gemeinsam haben sie sechs Kinder. Die Ehegattin ist erwerbstätig und bewohnt die gemeinsame Gemeindebauwohnung in XXXX . Sie kam im Zuge einer Familienzusammenführung im Jahr 2001 nach Österreich. Die Ehegattin des Beschwerdeführers reist regelmäßig in die Türkei um Verwandte zu besuchen.

Alle Kinder des Beschwerdeführers sind türkische Staatsangehörige und fahren regelmäßig in die Türkei auf Urlaub bzw. um Verwandte zu besuchen. Die am XXXX in der Türkei geborene und seit 2002 in Österreich aufhältige Tochter XXXX wohnt in XXXX und ist seit XXXX .2017 mit XXXX verheiratet. Die am XXXX in der Türkei geborene und seit 2002 in Österreich aufhältige Tochter XXXX wohnt in XXXX und ist seit XXXX .2016 mit XXXX verheiratet. Die am XXXX in der Türkei geborene und seit Oktober 2001 in Österreich aufhältige Tochter XXXX wohnt bei der Mutter und ist ledig. Der am XXXX in der Türkei geborene und seit Oktober 2001 in Österreich aufhältige XXXX wohnt gemeinsam mit seinen beiden jüngeren Brüdern, den in XXXX am XXXX geborenen XXXX und den am XXXX in XXXX geborenen XXXX ebenfalls bei der Mutter. XXXX besucht zurzeit die HTL (letztes Schuljahr), die anderen beiden Söhne sind berufstätig.

In Österreich leben ferner zwei Schwestern des Beschwerdeführers, weiters zwei Onkel und Tanten, Schwiegersöhne und Schwager und weitere Cousins und Cousinen.

1.4. Der Beschwerdeführer war bis zur Familienzusammenführung im Jahr 2001 regelmäßig in der Türkei bei seiner Ehegattin und seiner Familie zu Besuch; in den Jahren 2009 und 2017 war er nicht in der Türkei. Nach einem Aufenthalt im Jahr 2017 hat er seine Familie zuletzt von Mitte Jänner 2018 bis 12.02.2018 besucht.

Im Jahr 2020 verstarb sein Vater, der eine Landwirtschaft in XXXX betrieb. Seine Mutter erhält eine Witwenpension vom türkischen Staat und lebt in einem Haus, welches in ihrem Eigentum steht. Der jüngere Bruder des Beschwerdeführers lebt ebenfalls in XXXX und betreibt eine Landwirtschaft. In XXXX leben schließlich noch Cousins und andere weitschichtigere Verwandte des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer steht sowohl mit seiner Mutter als auch seinem Bruder in regelmäßigem Kontakt.

1.5. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Türkisch; er spricht die deutsche Sprache auf einfachem Niveau und hat in Österreich keine Deutschkurse besucht oder Prüfungen über die Kenntnisse der deutschen Sprache abgelegt. Daneben spricht er etwas Kroatisch, Slowakisch und Tschechisch. Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine (Berufs-)Ausbildungen absolviert. Er ist in keinem Verein Mitglied und auch nicht ehrenamtlich tätig.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich einen umfangreichen Freundes- und Bekanntenkreis, der sich vornehmlich aus den türkischstämmigen Verwandten seiner eigenen Familie wie auch dem seiner Frau zusammensetzt. Daneben verfügt über einen Freundeskreis verschiedenster Nationalitäten.

Der Beschwerdeführer verfügt über kein Vermögen in Österreich, er hat Schulden bei privaten wie auch öffentlichen Gläubigern in Höhe von rund EUR 210.000,00.

1.6. Der Beschwerdeführer bewohnte in XXXX zuletzt eine Gemeindebauwohnung mit seiner Familie. Er befindet sich seit XXXX .2018 laufend in Haft und wechselte nach seiner Inhaftierung in der JA XXXX vom XXXX auf eigenen Wunsch in die JA XXXX - XXXX und befindet sich dort im gelockerten Vollzug. Zuvor befand sich der Beschwerdeführer von XXXX in der JA XXXX , von XXXX sowie von XXXX im PAZ XXXX ; von XXXX in der JA XXXX ; von XXXX in der JA XXXX ; von XXXX in der JA XXXX ; von 03.03.2014 bis 14.04.2014 im PAZ XXXX ; von XXXX in der JA XXXX ; von XXXX , am XXXX , von XXXX , von XXXX , von XXXX , von XXXX und von XXXX jeweils im PAZ XXXX .

Das Verhalten während der Haft ist tadellos und liegen keine Ordnungswidrigkeiten vor; er hält sich bei seinen Ausgängen bzw. Freigängen an die vorgeschriebenen Zeiten. Der Beschwerdeführer erhält in der Haft Besuch seitens seiner Ehegattin und Kinder.

Das errechnete Strafende fällt auf den XXXX .2023. Eine bedingte Entlassung zum 1/2-Stichtag gemäß § 152 StVG wurde am XXXX .2020 durch das zuständige Vollzugsgericht abgelehnt und dem Beschwerdeführer im Zuge der Anhörung mitgeteilt, dass eine vorzeitige Entlassung nur unter der Weisung einer Drogentherapie möglich sein wird.

1.7. Der Beschwerdeführer leidet an keiner chronischen oder lebensbedrohlichen Erkrankung. Er nahm von 05.08.2015 bis 31.05.2016 an einer Suchtmitteltherapie teil. Von 25.08.2020 bis zumindest 22.07.2021 nahm der Beschwerdeführer wöchentlich an einer klinisch-psychologischen Suchtbehandlung im Gruppensetting teil. Des Weiteren verfügt der Beschwerdeführer für den Fall seiner bedingten Entlassung über eine Therapieplatzzusage (ambulante Drogentherapie) vom 16.12.2021.

Er litt zuletzt an XXXX , welche mit dem Medikament XXXX behandelt wird. Ansonsten hat der Beschwerdeführer am XXXX .2021 seine zweite COVID-19 Teilimpfung erhalten und gehört(e) auch keiner COVID-19 Risikogruppe an. Er ist arbeitsfähig.

1.8. Der Beschwerdeführer ist rechtmäßig in Österreich aufhältig und verfügt seit dem 01.03.2007 über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“.

1.9. Es liegen sechs rechtskräftige Verurteilungen gegen den Beschwerdeführer vor:

Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX .2004, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer, wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach den § 83 Abs. 1 und § 88 Abs. 1 StGB sowie wegen des Vergehens des Betruges nach § 146 StGB zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je EUR 2,00 verurteilt; die Strafe ist seit XXXX .2005 vollzogen.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2009, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Hehlerei nach § 164 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, wobei die Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2012, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des schweren Betruges mit einem EUR 3.000,00 übersteigenden Schaden nach den §§ 146, 147 Abs. 2 StGB sowie wegen des Vergehens des betrügerischen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen und Zuschlägen nach dem Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungsgesetz nach dem § 153d Abs. 1 und 3 StGB, sowie wegen des Vergehens der grob fahrlässigen Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen als leitender Angestellter nach den § 159 Abs. 2 und 5 sowie § 159 Abs. 1 und 5 je iVm § 161 StGB zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt, wobei die Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2013, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, achter Fall und Abs. 3 SMG, sowie wegen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, achter Fall SMG und wegen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, erster und zweiter Fall und Abs. 2 SMG, wegen des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB und wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 und § 84 Abs. 2 Z 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Gleichzeitig wurde die Probezeit zum Urteil des Landesgerichtes XXXX zu XXXX auf fünf Jahre verlängert.

Demnach hat der Beschwerdeführer durch Fußtritte und Schlagbewegungen versucht, Beamte an seiner Festnahme zu hindern und hat dadurch zwei namentlich genannte Beamte am Körper verletzt und zwar 1) durch Zerrung des rechten Mittelfingerendgelenks sowie Prellung des rechten Schienbeinkopfes sowie 2) durch Kratzwunden am rechten Zeigefingergrundgelenk. Dem voran ging, dass der Beschwerdeführer vorschriftswidrig Suchtgift, und zwar Metamphetamin, und zwar in einer die Grenzmenge im Zweifel nicht übersteigenden Menge gewerbsmäßig durch gewinnbringenden Verkauf in dreizehn Angriffen zwischen Dezember 2012 und März 2013 verschiedenen genannten Personen überließ sowie mehreren Personen von November 2011 bis März 2013 unentgeltlich überließ und schließlich im gleichen Zeitraum zum ausschließlichen persönlichen Gebrauch erworben und besessen hat. Das Landesgericht stellte weiter fest, dass der Beschwerdeführer an Suchtgift gewöhnt sei und die Taten vorwiegend deshalb begangen habe, um sich für seinen persönlichen Gebrauch Suchtgift oder Mittel zu deren Erwerb zu verschaffen. Als mildernde Umstände wurden der teilweise Versuch und das überwiegende und umfassende Geständnis gewertet; die einschlägigen Vorstrafen, das Zusammentreffen mehrerer Vergehen sowie die Vielzahl der Angriffe wurden als erschwerend gewertet.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2015, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, fünfter und sechster Fall und Abs. 3 und 5 SMG, sowie wegen des Vergehens des teils vollendeten, teils versuchten Suchtgifthandels nach den § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG und Abs. 3 erster Fall SMG, § 15 StGB und des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtmitteln nach § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2. Fall und Absatz 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt. Gleichzeitig wurde die mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2009, Zl. XXXX , gewährte bedingte Strafnachsicht widerrufen.

Demnach hat der Beschwerdeführer teilweise alleine und teilweise als Mittäter vorschriftswidrig Suchtgift, nämlich Chrystal-Meth mit dem Wirkstoff Methamphetamin und einem Reinheitsgehalt von 97,7 % gewerbsmäßig von April 2014 bis September 2014 aus der Slowakei ausgeführt und nach Österreich eingeführt und indem er bzw. sie das Suchtgift aus der Slowakei nach Österreich transportierten und zwar zumindest 4,5 Gramm brutto um EUR 300,00, wobei der Beschwerdeführer jedoch an Suchtmittel gewöhnt gewesen war und die Straftat deshalb beging, um sich für seinen persönlichen Gebrauch Suchtmittel oder Mittel zu deren Erwerb zu verschaffen. Ferner hat der Beschwerdeführer in wiederholten Angriffen eine die Grenzmenge des § 28b SMG übersteigenden Menge Chrystal-Meth überlassen oder zu überlassen versucht. Bei der Strafzumessung wertete das Gericht das Zusammentreffen mehrerer Vergehen, vier einschlägige Vorstrafen, die Tatbegehung binnen zwei offener Probezeiten sowie die Tatbegehung binnen offenen Strafaufschubs gemäß § 39 Abs. 1 SMG als erschwerend. Das umfassende Geständnis, der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben war sowie die Sicherstellung eines Großteils des Suchtgiftes wurden als mildernd gewertet.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2018, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 zweiter und dritter Fall, Abs. 2 Z 3 SMG, teils iVm § 12 zweite Alternative StGB und des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer die mit Urteil des Landesgerichtes XXXX zu Zl. XXXX gewährte bedingte Entlassung widerrufen (Strafrest 15 Monate und 20 Tage).

Demnach hat der Beschwerdeführer in XXXX und an anderen Orten des Bundesgebietes Suchtgift, nämlich Pico (Pervitin) mit einem durchschnittlichen Reinheitsgehalt von zumindest 60 % Methamphetamin

1) in Bezug auf eine das Fünfzehnfache der Grenzmenge gemäß § 28b SMG übersteigenden Menge aus der Slowakei aus- und nach Österreich eingeführt bzw. einen anderen zur Einfuhr bestimmt (§ 12 zweiter Fall StGB), und zwar indem er einerseits im Oktober 2017 als Mittäter eine Menge von 30 Gramm brutto in einem Pkw von der Slowakei aus nach Österreich brachte und andererseits indem er von Oktober 2017 bis März 2018 einen Mittäter zur vorschriftswidrigen Ausfuhr aus der Slowakei bzw. Einfuhr nach Österreich von rund 320 Gramm brutto bestimmte, indem er das Suchtgift in Teilmengen in wiederholten Angriffen bei einem Mittelsmann bestellte und es in weiterer Folge im Bundesgebiet übernahm;

2) zwischen Ende Jänner 2017 und Ende März 2018 insgesamt 165 Gramm brutto, sohin in einer die Grenzmenge des § 28b SMG um mehr als das Neunfache übersteigenden Menge mehreren namentlich bekannten Personen überlassen.

Bei der Strafzumessung wertete der Schöffensenat das Zusammentreffen von strafbaren Handlugen, zwei einschlägige Vorstrafen, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 39 StGB, den raschen Rückfall und die Tatbegehung während offener Probezeit als erschwerend. Das teilweise Geständnis wurde als mildernd gewertet.

Eine gegen dieses Urteil erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wurde mit Beschluss des Obersten Gerichtshofes vom XXXX .2019, Zl. XXXX , zurückgewiesen. Einer gegen dieses Urteil erhobenen Berufung wurde mit Erkenntnis des Oberlandesgerichtes XXXX vom XXXX .2019, Zl. XXXX , keine Folge gegeben. Dabei wurde hinsichtlich der Strafzumessung unter anderem darauf verwiesen, dass nicht nur zwei, sondern gleich fünf einschlägige Vorstrafen vorliegen würden und zum Nachteil des Angeklagten ferner sein „Gewinnstreben“ zu ergänzen sei, zumal er die Taten zur Erzielung eines finanziellen Profits verübt hatte. Ein Geständnis wirke wiederum nur dann strafmildernd, wenn es reumütig abgelegt wurde oder wenn die Aussage wesentlich zur Wahrheitsfindung beiträgt; keiner der genannten Fälle würde im gegenständlichen Fall aber vorliegen.

1.10. Mit Bescheid der Landespolizeidirektion Burgenland vom 25.01.2018, XXXX , wurde wider den Beschwerdeführer wegen § 99 Abs. 1 KFG (mangelnde Beleuchtung); § 102 Abs. 1 iVm § 36a und § 57a Abs. 5 KFG (fehlende wiederkehrende Begutachtung); § 37 Abs. 1 iVm. § 1 Abs. 3 FSG (Fahren eines Fahrzeuges ohne Erfüllen der entsprechenden Auflagen) eine Verwaltungsstrafe von 13 Tagen und 2 Stunden verfügt.

1.11. Der Beschwerdeführer ist ein, bis auf kleinere behandelbare Erkrankungen gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit im Herkunftsstaat erworbener Schulbildung und Berufserfahrungen im Baugewerbe und als Fleischer; beide Tätigkeiten – wie auch andere Hilfstätigkeiten - kann er in der Türkei ausüben. Der Beschwerdeführer verfügt in seinem Herkunftsstaat über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in seiner Herkunftsregion in Gestalt seiner dort lebenden Mutter und seines Bruders.

Der Beschwerdeführer verfügt über einen am 27.03.2017 ausgestellten türkischen Reisepass sowie einen bis 11.07.2017 gültigen türkischen Personalausweis.

Die Heimatstadt des Beschwerdeführers liegt gute 200 km östlich von XXXX und ist über die D200 gefahrlos erreichbar; es gibt Direktflüge von XXXX nach XXXX .

1.12. Zur aktuellen Lage in der Türkei wird auf folgende Feststellungen verwiesen (Länderinformation der Staatendokumentation Türkei aus dem COI-CMS, 10.03.2022):

1. Politische Lage

Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, einen „Dauerwahlkampf“ sowie den Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu (ÖB 30.11.2021, S.4). Teilweise unter Polizeigewalt aufgelöste Demonstrationen und Proteste gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention und Femizide (ZO 27.3.2021, Standard 1.7.2021), studentischerseits gegen die Einmischung der Politik an den Universitäten (HRW 6.4.2021, RND 15.7.2021) sowie gegen Jahresende 2021 gegen die rapide Teuerung und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage prägten zuletzt das Land (DW 24.11.2021, DF 12.12.2021).

Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident (AA 3.6.2021, S.6; vgl. DFAT 10.9.2020, S.14).

Das Funktionieren der demokratischen Institutionen weist gravierende Mängel auf. Der Demokratieabbau hat sich ebenso fortgesetzt wie die tiefe politische Polarisierung (EC 19.10.2021, S.3, 10f). Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 „beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert“, und „dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist“ (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2021, S.5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55; vgl. EC 19.10.2021, S.3, 10f). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt, u.a. indem das Verfassungsgericht die Annahme einer Anklage durch den Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts entgegennahm, die darauf abzielt, die zweitgrößte Oppositionspartei zu verbieten, was zur Schwächung des politischen Pluralismus in der Türkei beigetragen hat (EC 19.10.2021, S.3, 10f).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art.8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der „Souveräne Wohlfahrtsfonds“, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S.14).

Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S.20, Pt.57). Insgesamt fehlt es an einer umfassenden Reformagenda für die öffentliche Verwaltung. Nach wie vor bestehen Bedenken hinsichtlich der Rechenschaftspflicht der Verwaltung. Es fehlt der politische Wille zur Reform. Die Politikgestaltung ist weder faktenbasiert noch partizipativ (EC 19.10.2021, S.18). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020, S.12).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1; vgl. EP 19.5.2021, S.7-14).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteilisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZEMitgliedstaaten, wurde trotz wiederholter Empfehlungen internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die noch unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem damals noch geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt, da die regierende AKP erfolgreich eine Annullierung durch die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 erwirkte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). Diese Wahl war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).

Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 19.10.2021, S.11; vgl. ÖB 30.11.2021, S.5). Präsidentendekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2021, S.5) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidentendekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments (EC 6.10.2020, S.12), nichtsdestotrotz hat das Parlament nur 61 von 821 vorgeschlagenen Gesetzen (im Berichtszeitraum der Europäischen Kommission) verabschiedet. Dem gegenüber stehen 77 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 19.10.2021, S.11). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S.14).

Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemalige Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft [Stand Februar 2022], im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020) sowie einer ebensolchen nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung des Antragstellers zu gewährleisten (CoE-CoM 2.12.2021). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der „Kobane-Proteste“ im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S.2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 19.10.2021, S.3, 10). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um ein weiteres Jahr (EC 19.10.2021, S.3; vgl. HDN 19.7.2021). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 19.10.2021, S.5).

Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von „Treuhändern“ anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S.15). Mit Stand Oktober 2021 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Seit Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau – das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-BürgermeisterIn] verhaftet, sechs von ihnen befinden sich im Gefängnis und fünf unter Hausarrest (Stand Oktober 2021). Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen hätten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 19.10.2021, S.16). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S.13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 4.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 19.10.2021, S.11).

2. Sicherheitslage

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S.18).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die „Terrorbekämpfung“ und die Sicherung „nationaler Interessen“ hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht, verbunden mit erheblichen Einschränkungen der Grundfreiheiten (AA 3.6.2021). Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren Ableger [TAK], den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).

Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau. Dennoch kommt es mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 18.3.2021, S.12; vgl. HRW 13.1.2022), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 19.10.2021, S.4, 15). Bestehende Spannungen werden auch durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak beeinflusst (EDA 11.11.2021), wo die Türkei ihre Militäraktionen einschließlich Drohnenangriffen auf die autonome Region Kurdistan im Irak konzentriert hat, in welcher sich PKK-Stützpunkte befinden (HRW 13.1.2022).

Die bewaffneten Auseinandersetzungen führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 19.10.2021, S.15). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vorgängig weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden(EDA 10.2.2022).

Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen in der Türkei 2020 230 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen (2019: 440) ums Leben, davon mindestens 55 Angehörige der Sicherheitskräfte (2019: 98), 167 bewaffnete Militante (2019: 324) und acht Zivilisten (2019:18) (İHD 4.10.2021, S.9, İHD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (İHD 19.4.2019). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe rund 5.858 Tote (PKKKämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis 3.2.2022. Im Jahr 2021 wurden 392 Todesopfer (2020: 396) registriert, wobei 255 Opfer auf irakischem und 137 auf türkischem Territorium vermerkt wurden; alleine die Provinz Şırnak verzeichnete 45 Tote (ICG 3.2.2022). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 19.10.2021, S.15).

Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Şanlıurfa, Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mit Ausgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (AA 11.11.2021; vgl. USDOS 30.3.2021, S.25). Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak, in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Aǧrı (AA 10.2.2022).

Im Jänner 2022 wurden die Militäroperationen gegen die PKK im Südosten der Türkei und im Norden des Iraks fortgesetzt. Insbesondere wurden bei der Explosion eines Sprengsatzes Anfang Jänner drei türkische Soldaten im Bezirk Akçakale in Şanlıurfa an der türkisch-syrischen Grenze getötet. In den folgenden Tagen reagierte das Militär mit Operationen gegen PKK-Mitglieder im Grenzgebiet. Die Bodenoperationen im Südosten konzentrierten sich auf die ländlichen Gebiete der Provinzen Tunceli, Mardin und Şanlıurfa. Die Luftoperationen im Nordirak und in Nordsyrien wurden fortgeführt und richteten sich gegen hochrangige PKK-Mitglieder. In Syrien führten Bombenanschläge auf türkische Sicherheitskräfte und von Ankara unterstützte Rebellen in den türkisch kontrollierten Gebieten Afrin, al-Bab und Azaz Mitte des Monats zu Vergeltungsmaßnahmen des türkischen Militärs. Währenddessen wurde vermeldet, dass die Sicherheitskräfte im Jänner 2022 über 100 Verdächtige mit Verbindungen zum sog. Islamischen Staat festnahmen, allein am 12.1.2022 21 Personen in Mersin mit syrischer und irakischer Herkunft (ICG 1.2022).

Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).

Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vgl. Duvar 26.10.2021).

3. Rechtsschutz/Justizwesen

Die Rückschritte bei den Grundfreiheiten sind schwerwiegend und die Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und ihren Institutionen hält an. Die Verschlechterung der Lage der Grundfreiheiten hat bereits vor dem infolge des Putschversuchs von 2016 verhängten Ausnahmezustands eingesetzt (EP 19.5.2021, S.7, Pt.10, 12; vgl. HRW 13.1.2022, BS 29.4.2020) und markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschen- und Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam gar zu Rückschritten (EC 19.10.2021, S.2, 21; vgl. CoEU 14.12.2021, S.16, Pt.34). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 19.10.2021, S.21, USDOS 30.3.2021, S.1, 14f.). Das Europäische Parlament sah in der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und im systemischen Mangel an der Unabhängigkeit der Justiz die zwei dringlichsten und besorgniserregendsten Probleme und verurteilte die zunehmende Kontrolle durch die Exekutive sowie den politischen Druck, durch den die Tätigkeit von Richtern, Staatsanwälten, Rechtsbeiständen und Anwaltskammern beeinträchtigt wird (EP 19.5.2021, S.9, Pt.17).

Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2021 betrafen von den 76 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 22 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 2.2022, S.11).

Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (CoEU 14.12.2021, S.16, Pt.34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 30.11.2021, S.6). Das Europäische Parlament (EP) betrachtet die aktuellen Bestimmungen zur Terrorismusbekämpfung als zu weit gefasst, sodass „der Missbrauch der Antiterrormaßnahmen zum Fundament dieser staatlichen Politik der Unterdrückung der Menschenrechte und jeglicher kritischen Stimme im Land geworden sind, unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen“, und „fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen“ (EP 19.5.2021, S.9, Pt.14).

Unter anderem auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht. Das EP verurteilt „die Auslieferung [durch Drittstaaten] bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger in die Türkei aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte“ (EP 19.5.2021, S.16, Pt.40). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. „Red Notices“ bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S.44).

Das Europäische Parlament forderte in seiner Entschließung vom 19.5.2021 auch eine Reform des Artikels 299 des Strafgesetzbuches (über die Beleidigung des Präsidenten), der ständig zur Verfolgung von, insbesondere Schriftstellern, Reportern, Kolumnisten und Redakteuren missbraucht wird (EP 19.5.2021, S.11, Pt.25). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021). Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (DW 9.2.2022) und 9.773 strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021). Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt. Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022).

Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 30.11.2021, S.6). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.).

Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin „einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen“ (EP 19.5.2021, S.10, Pt.19).

Im vom World Justice Project jährlich erstellten „Rule of Law Index“ rangierte die Türkei im Jahr 2021 auf Rang 117 von 139 Ländern (2020: Platz 107 von 128 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator verschlechterte sich von 0,43 auf 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien „Grundrechte“ mit 0,31 (Rang 133 von 139) und „Einschränkungen der Macht der Regierung“ mit 0,28 (Platz 134 von 139) sowie bei der Strafjustiz mit 0,36 ab. Gut war der Wert für „Ordnung und Sicherheit“ mit 0,70, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 29.10.2021).

Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obwohl dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020, S.6). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S.5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).

Die Ernennung Tausender loyaler Richter, die potenziellen beruflichen Kosten einer richterlichen Entscheidung in einem wichtigen Fall entgegen den Interessen der Regierung sowie die Auswirkungen der Säuberungen nach dem Putsch haben die richterliche Unabhängigkeit in der Türkei stark geschwächt (FH 3.3.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission 3.968 Richter und Staatsanwälte wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen. Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken (EC 19.10.2021, S.4f, 23f).

Die in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 festgestellten Mängel in Bezug auf die Mindeststandards für die Entlassung von Richtern sowie die rechtlichen Garantien für die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten wurden nicht behoben. Einsprüche gegen solche Versetzungen sind möglich, aber in der Regel erfolglos. Während des gesamten Jahres 2020 wurden weiterhin Richter und Staatsanwälte ohne ihre Zustimmung und ohne jegliche Rechtfertigung, abgesehen von dienstlichen Erfordernissen, versetzt. Im Mai 2021 versetzte der HSK 3.070 Richter und Staatsanwälte (EC 19.10.2021, S.23). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.8). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weitverbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020, S.6, 21). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignoierten (EC 19.10.2021, S.23).

Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze im HSK gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB 30.11.2021, S.7f; vgl. SCF 3.2021, S.46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S.46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im „European Network of Councils for the Judiciary“ seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB 30.11.2021, S.7f).

Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 30.11.2021, S.7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP 10.6.2021, S.3).

Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 30.11.2021, S.8).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) [Anm.: entspricht etwa dem hiesigen Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 30.11.2021, S.6).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sondern wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurde, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden. Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium im Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 30.11.2021, S.6f). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S.24).

Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 3.6.2021), eingeführt u.a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5% seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022).

Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100% (ÖB 30.11.2021, S.7).

Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nichtbeachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte (USDOS 30.3.2021, S.16; vgl. IPI 18.11.2019), wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 30.3.2021, S.16.). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).

Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 3.6.2021).

Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden (USDOS 30.3.2021, S.17). Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 30.3.2021, S.12). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (HRW 13.1.2021). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen „Terrorismus“-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben. Da die Ermittlungen einer Geheimhaltungsanordnung unterlagen, war es den Anwälten und ihren Rechtsvertretern nicht gestattet, die Ermittlungsakten einzusehen oder Informationen über den Inhalt der Vorwürfe zu erhalten, bis ihre Mandanten im Sicherheitsdirektorat von Ankara verhört wurden, wodurch ihnen das Recht auf angemessene Zeit zur Vorbereitung einer Verteidigung verweigert wurde (AI 26.10.2020).

Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 30.11.2021, S.9). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 19.10.2021, S.31).

Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 30.11.2021, S.9).

Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB 30.11.2021, S.15).

Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war. Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen bestimmte Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).

Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen

Die mittels Präsidentendekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission [türkische Abk.: OHAL] begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB 30.11.2021, S.15). Bis zum 31.12.2021 waren 126.783 Anträge gestellt worden. Davon hat die Untersuchungskommission bis zu 120.703 bearbeitet, wobei lediglich 16.060 positiv gelöst wurden. 6.080 Fälle waren mit Jahresende 2021 noch anhängig. 61 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen und Fernsehstationen (ICSEM 31.12.2021). Die Bearbeitungsrate der Anträge gibt laut Europäischer Kommission Anlass zur Sorge, ob jeder Fall einzeln geprüft wird (EC 19.10.2021; S.20). Am 21.1.2022 wurde die Funktionsdauer der Kommission mittels Präsidentendekret um ein Jahr verlängert (Ahval 23.1.2022).

Die Beschwerdekommission steht in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder werden von der Regierung ernannt (ÖB 30.11.2021, S.15). Betroffene haben keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrechterhalten wird, stützt sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zieht an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB 30.11.2021, S.15; vgl. EC 19.10.2021, S.20). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen (einige warten nach über einem Jahr immer noch auf eine Entscheidung) kritisiert (ÖB 30.11.2021, S.15).

4. Sicherheitsbehörden

Die Nationale Polizei und die „Jandarma“ (Gendarmerie), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten respektive in ländlichen und Grenzgebieten zuständig (AA 3.6.2021, S.7; vgl. USDOS 30.3.2021, S.1, ÖB 30.11.2021, S.16), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 30.3.2021, S.1). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei (BICC 12.2021, S.2). Die Jandarma mit einer Stärke von – je nach Quelle - zwischen 152.000 und 186.170 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 30.11.2021, S.16; vgl. BICC 12.2021, S.25). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 12.2021, S.17, 25). Die Verantwortung für die Jandarma wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 12.2021, S.18). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sogenannten „Sicherheitskräfte“ [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen „Dorfschützer“, eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten des Landes sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019). Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Jandarma, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 12.2021, S.19). Polizei, Jandarma und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (AA 3.6.2021, S.7).

Die 2008 abgeschaffte „Nachtwache“ (Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BI 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen, sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (NL-MFA 18.3.2021; S.19). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als „AKP-Miliz“ kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum (lediglich ein 90-tägiges Training) ausgebildet sein (AA 3.6.2021, S.7; vgl. BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Hinweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Istanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020).

Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 30.11.2021, S.18).

Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).

Die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Militär, Polizei und Nachrichtendiensten sind nach wie vor sehr eingeschränkt. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung weiterhin einen erheblichen gerichtlichen und administrativen Schutz. Im Juni 2021 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, mit dem Rechtsschutz und Ausnahmen für das Militärpersonal eingeführt wurden. Mit Ausnahme der Fälle von in flagranti begangenen Straftaten unterliegt die Untersuchung von Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, einer vorherigen Genehmigung. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsbehörden ist unwirksam (EC 19.10.2021, S.15).

Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S.15, Pt.38).

5. Folter und unmenschliche Behandlung

Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 3.6.2021, S.17). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 30.11.2021, S.31).

Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin (ÖB 30.11.2021, S.31). Folter und Misshandlung kommen weiterhin in Haftzentren der Polizei, Gendarmerie, des Militärs sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, beim Transport und auf der Straße vor (NL-MFA 18.3.2021, S.34; vgl. EC 19.10.2021, S.16; İHD 4.10.2021, S.11, İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann dennoch nicht die Rede sein (ÖB 30.11.2021, S.31). Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß der Folter entsprechen (İHD 4.10.2021, S.11; vgl. TİHV 6.2021, S.13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 13.1.2021, vgl. İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). In einer Entschließung vom 19.5.2021 zeigte sich auch das Europäische Parlament „zutiefst besorgt über die anhaltenden Vorwürfe von gewaltsamen Verhaftungen, Schlägen, Folter, Misshandlungen und grausamer und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Polizei- und Militärgewahrsam und in Gefängnissen sowie über Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen in den vergangenen vier Jahren, über das Versäumnis der Staatsanwaltschaft, effektive Ermittlungen zu diesen Vorwürfen aufzunehmen, und über die allgegenwärtige Kultur der Straflosigkeit für die involvierten Mitglieder der Sicherheitskräfte und Amtsträger“ (EP 19.5.2021; S.15, Pt.37). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte. Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weit verbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 13.1.2022).

Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten jener Kläger, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).

Opfer von Misshandlungen und Folter haben formal die Möglichkeit, sich bei verschiedenen Stellen zu beschweren, darunter bei der Ombudspersonstelle und der Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu - HREI). Beide Behörden stehen jedoch unter der Kontrolle der Regierung und sind nicht dafür bekannt, dass sie effizient gegen Missbräuche durch Regierungsmitarbeiter vorgehen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen. Es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (NL-MFA 18.3.2021, S.34). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S.30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vgl. EC 29.5.2019).

Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).

Nach Angaben der İHD wurden im Jahr 2020 776 Menschen in offiziellen oder informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 358 weitere in den Gefängnissen. 2.980 Demonstranten wurden während rund 850 Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 4.10.2021, S.11). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021).

Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S.26).

Beispiele:

Infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa wurden 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Anwälte und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der Inhaftierten in der dortigen Gendarmeriewache von Bozova Yaylak gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vgl. WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete nach Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden (SCF 19.8.2019). Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).

6. Allgemeine Menschenrechtslage

Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam zu weiteren Rückschritten, vor allem in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Verfahrensrechte, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 19.10.2021, S.18, 21, 28, 31, 36, 40). Viele Menschenrechtsverletzungen werden zudem nicht geahndet und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen (ÖB 30.11.2021, S.30). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021; vgl. EC 19.10.2021, S.4, 13). Sie „und ihre Organisationen sind bei ihren Tätigkeiten anhaltendem Druck ausgesetzt und arbeiten in einem zunehmend schwierigen Umfeld“ (EU-Rat 14.12.2021, S.16, Pt.34). Menschenrechtsverteidiger sehen sich zunehmendem Druck durch Einschüchterung, gerichtliche Verfolgung, gewalttätige Angriffe, Drohungen, Überwachung, längere willkürliche Inhaftierung und Misshandlung ausgesetzt (EC 19.10.2021, S.29f). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (EU-Rat 14.12.2021, S.16, Pt.34).

Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 19.10.2021, S.5). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 3.6.2021, S.16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S.10).

Das harte Durchgreifen gegen tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende wurde trotz des Endes des zweijährigen Ausnahmezustands fortgesetzt. Tausende Menschen werden in langer Untersuchungshaft mit Sanktionscharakter festgehalten, oft ohne glaubwürdige Beweise dafür, dass sie eine völkerrechtlich anerkannte Straftat begangen hatten. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Personen, die als kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung gelten – vor allem Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger – werden inhaftiert oder mit erfundenen Anklagen konfrontiert. Die Behörden verbieten auch weiterhin willkürlich Demonstrationen und wenden bei der Auflösung friedlicher Protestaktionen unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an. Es gibt glaubwürdige Berichte über Folter und Verschwindenlassen (AI 7.4.2021).

Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen werden weiterhin gemeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht. Hiervon sind vor allem mutmaßliche Mitglieder der Gülenbewegung betroffen (HRW 13.1.2022; vgl. ÖB 30.11.2021, S.31).

Eine Reihe negativer Entwicklungen, insbesondere die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen, haben einen abschreckenden Effekt erzeugt und zu einem zunehmend feindseligen Umfeld für Menschenrechtsverteidiger beigetragen. Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020).

Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlamanets vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach „die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen“ (EP 19.5.2021, S.17, Pt.45).

Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z.B. Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 30.11.2021, S.30) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen im großen Umfang hält an. Neben Tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen [siehe Kapitel Gülen- oder Hizmet-Bewegung], befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021).

Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S.20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert. Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S.16f). Der Europarat setzte der Türkei im Dezember 2021 eine Frist, Kavala bis 19.1.2022 freizulassen oder eine Begründung für seine Inhaftierung vorzulegen. Ein Gericht in Istanbul lehnte dem zum Trotz die Enthaftung Kavalas ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den EGMR mit der Frage zu befassen (CoE 3.12.2021), verwies dieses nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE 3.2.2022).

Mit Stand 30.11.2021 waren 14.950 Verfahren beim EGMR aus der Türkei, das waren 21,4% aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 30.11.2021), was neuerlich eine Steigerung zum Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutete, als mit Stand 30.11.2020 11.150 Verfahren aus der Türkei, das waren damals 18,1% aller am EGMR anhängigen Fälle, stammten (ECHR 30.11.2020). Im Jahr 2020 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 104) Verletzungen der EMRK fest (EC 19.10.2021, S.28). Hiervon betrafen 31 Urteile das Recht auf freie Meinungsäußerung, 21 Urteile das Recht auf ein faires Verfahren und 16 das Recht auf Freiheit und Sicherheit (ECHR 17.2.2021).

7. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Allerdings bestehen für viele verfassungsmäßige Rechte Ausnahmen, nämlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit (DFAT 10.9.2020, S.16, 27; vgl. AA 3.6.2021), der öffentlichen Moral oder der Verbrechensverhütung Versammlungen zu verbieten, ohne die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen nachzuweisen. Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).

Im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es weitere gravierende Rückschritte angesichts wiederholter Verbote, unverhältnismäßiger Eingriffe und übermäßiger Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Bußgelder und strafrechtlicher Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf terrorismusbezogener Aktivitäten. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung stehen nicht im Einklang mit der türkischen Verfassung, den europäischen Standards und den internationalen Konventionen (EC 19.10.2021, S.5). Infolgedessen haben viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).

Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt, sodass mittlerweile auch bekanntermaßen friedliche Kundgebungen mit langer Tradition verboten werden. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB 30.11.2021, S.34; vgl. EC 19.10.2021, S.16, 37). Die seit langem bestehenden Versammlungsverbote im Südosten des Landes blieben auch 2020 in Kraft. Das ganze Jahr 2020 über haben die Gouverneure von Van, Tunceli, Muş, Hâkkari und mehreren anderen Provinzen öffentliche Proteste, Demonstrationen, Versammlungen jeglicher Art und die Verteilung von Broschüren verboten (USDOS 30.3.2021, S.42). Im Jahr 2020 wurden 253 Mal pauschale und 115 Mal gezielte Versammlungsverbote verhängt (EC 19.10.2021, S.37).

In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 3.6.2021, S.9). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, werden regierungskritische Versammlungen routinemäßig verboten. Die Stadt Ankara schränkte 2021 Feierlichkeiten zum 1. Mai ebenso ein wie Studentenproteste (FH 2.2022, E1). Versammlungen von linken und gewerkschaftlichen Gruppen, Proteste von Opfern staatlicher Säuberungen, Parteiversammlungen der Opposition wurden ebenso verboten wie Demonstrationen oder Festivitäten von Kurden (FH 3.3.2021, E1; vgl. BS 29.4.2020). Einschränkungen der Versammlungsfreiheit betreffen nicht selten Frauen und besonders vulnerable Gruppen wie LGBTI-Personen und Minderheiten (ÖB 30.11.2021, S.34; vgl. FH 2.2022, E1). Auch Proteste für politische und sozio-ökonomische Rechte wurden in mehreren Provinzen immer wieder verboten. Demonstrationen entlassener Beamter, die ihre Wiedereinstellung forderten, und von Arbeitnehmern, die für ihre Gesundheitsrechte demonstrierten, wurden unterbunden (EC 19.10.2021, S.36). Demonstrationen von Umweltaktivisten oder solche, welche die militärischen Interventionen der Türkei in Syrien zum Thema hatten, sowie Proteste gegen die Absetzung von Bürgermeistern meist der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) bzw. die Ernennung von Regierungssachwaltern an deren Stelle, wurden von den Behörden aus Sicherheitsgründen verboten (EC 6.10.2020, S.37).

Nach den vom Justizministerium veröffentlichten offiziellen Zahlen wurden 2020 Ermittlungen gegen 6.770 Personen wegen Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Kundgebungen eingeleitet, während gegen 3.171 dieser Personen Strafanzeige erstattet wurde (İHD 4.10.2021, S.28). Unabhängigen Angaben zufolge nahmen die Behörden bei mindestens 320 friedlichen Versammlungen mindestens 2.123 Demonstranten wegen des Verdachts der „Aufstachelung zum Hass“, des „Verstoßes gegen das Demonstrationsgesetz“ und des „Widerstands gegen polizeiliche Anordnungen“ fest (EC 19.10.2021, S.34).

Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen „Propagandamarsch“ für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei auch, Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in „Schutzhaft“ zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 30.3.2021, S.40).

Am 30.4.2021 erließ das Innenministerium ein Verbot der Sprach- und Filmaufnahme von Polizeibeamten während Protesten und Demonstrationen. Verstöße gegen das Verbot sollten künftig strafrechtlich geahndet werden (BAMF 3.5.2021, S.12; vgl. BI 30.4.2021). Allerdings entschied der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] am 15.12.2021 infolge einer Klage der Media and Law Studies Association (MLSA), dass der Vollzug des Rundschreibens auszusetzen sei, weil dieses die Informations- und Pressefreiheit einschränke. Der Staatsrat wies in seinem Urteil darauf hin, dass Einschränkungen der Grundrechte nur in vom Gesetzgeber vorgesehenen Fällen verhängt werden können. Außerdem verstoße das Rundschreiben gegen Artikel 7 der türkischen Verfassung, nach dem jegliche Handlungen verboten sind, die keine Grundlage in der Verfassung haben, sowie gegen Artikel 13, der die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger schützt (FNS 1.2.2022).

Die extensive Auslegung des unklar formulierten Art. 220 des Strafgesetzbuches hinsichtlich krimineller Vereinigungen durch den Kassationsgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Teilnehmer müssen, auch bei Demonstrationen im Ausland, mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen (AA 3.6.2021).

Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies war das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020, S.37). In einem weiteren Fall urteile das Verfassungsgericht am 8.9.2021, dass das vom Gouverneursamt verhängte Verbot aller Proteste in der südöstlichen Stadt Kahramanmaraş das verfassungsmäßige Recht der Kläger auf Versammlung und Demonstration verletzt habe. Das Verfassungsgericht ordnete zudem eine Schadensersatzzahlung an jeden der vier Kläger an, welche eine Klage beim Verfassungsgericht einbrachten, nachdem andere Rechtsmittel nicht dazu geführt hatten, dass die Entscheidung des Gouverneursamtes von Kahramanmaraş, alle Proteste in der Stadt für einen Monat zu verbieten und anschließend viermal zu verlängern, aufgehoben wurde (BAMF 13.9.2021, S.16f; vgl. TM 8.9.2021).

Ein türkisches Gericht in der östlichen Provinz Erzincan hat im Oktober 2021 15 Angeklagte zu insgesamt 93 Jahren und 10 Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie an den massiven regierungsfeindlichen Demonstrationen von 2013, den sogenannten Gezi-Protesten, teilgenommen hatten. Die Angeklagten bekamen Haftstrafen zwischen sechs Jahren und acht Monaten und zweieinhalb Jahren wegen der Teilnahme an einer illegalen Demonstration, Widerstand gegen einen diensthabenden Polizeibeamten und Beschädigung öffentlichen Eigentums (Ahval 27.10.2021).

Vereinigungsfreiheit

Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte (USDOS 30.3.2021, S.42).

Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020, S.15; vgl. USDOS 30.3.2021, S.44). Diese Gesetzesänderung verpflichtet die Vereine, die lokalen Verwaltungsbehörden innerhalb von 30 Tagen über Änderungen in der Mitgliedschaft zu informieren, sonst drohen Strafen (USDOS 30.3.2021, S.44).

Gesetze und Verordnungen erlegen Vereinigungen zahlreiche administrative Anforderungen auf. Komplexe Bestimmungen, die unterschiedlich ausgelegt werden können und über verschiedene Rechtsvorschriften verstreut sind, sowie der Mangel an Fachleuten, die sich mit diesem Bereich befassen, führen dazu, dass Vereinigungen in ihrem Bemühen um die Einhaltung der Gesetze in einem Zustand der Unsicherheit verharren. Die Vereinigungen unterliegen der Prüfung durch mehrere Behörden, darunter das Finanzamt, die Nationale Bildungsdirektion, die zuständigen Gouvernements sowie die Direktion für Zivilgesellschaft, zuständig für Vereinigungen im Innenministerium sowie die Generaldirektion für Stiftungen im Kulturministerium (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, S.26).

Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarates stellte in ihrem 2020 veröffentlichten Bericht zu ihrem Besuch der Türkei 2019 fest, dass die völlige Schließung einer großen Zahl von NGOs sowie die Liquidation ihres Vermögens durch Notverordnungen, und zwar durch eine einfache Entscheidung der Exekutive ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Kontrolle, ein besonderes Vermächtnis des Ausnahmezustands war. Trotz des dringenden Aufrufs bereits des vormaligen Kommissars gleich zu Beginn des Ausnahmezustands, diese Praxis unverzüglich zu beenden, schlossen die Behörden, ohne Erklärung oder Begründung, 1.410 Vereine, 109 Stiftungen und 19 Gewerkschaften (CoE-CommDH 19.2.2020). Laut Bericht der Berufungskommission zum Ausnahmezustand [türk. OHAL] waren mit Jahresende 2020 von 1.598 Vereinigungen, welche durch die Notstandsdekrete aufgelöst wurden, 188 wieder zugelassen worden. Von den 129 aufgelösten Stiftungen waren 20 rehabilitiert, während keine der 19 Gewerkschaften und 23 Föderationen bzw. Konföderationen wieder zugelassen wurde (ICSEM 31.12.2021b, S.9 Tab.). Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verlaufen intransparent und bleiben unwirksam (USDOS 30.3.2021, S.42).

Gewerkschaftsaktivitäten, einschließlich des Streikrechts, sind gesetzlich und in der Praxis eingeschränkt. Gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten der Arbeitgeber sind weit verbreitet, und der gesetzliche Schutz wird nur unzureichend durchgesetzt. Gewerkschaften und Berufsverbände haben unter Massenverhaftungen und Entlassungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand 2016-18 und dem allgemeinen Zusammenbruch der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gelitten (FH 2.2022, E3; vgl. EP 19.5.2021, S.19, Pt.53).

Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 30.3.2021, S.42).

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Pandemie-bedingte Regeln zur sozialen Abstandsregelung sind oft selektiv angewandt worden, um die Auflösung von nicht genehmigten Demonstrationen im Jahr 2020 zu rechtfertigen (FH 3.3.2021; vgl. USDOS 30.3.2021, S.41). So haben, unter dem Vorwand von Covid-19, Provinzgouverneure friedliche Proteste von Frauenrechtsaktivisten, Studenten, Arbeitern, Oppositionsparteien, und Vertretern sexueller Minderheiten verboten (HRW 13.1.2022).

8. Haftbedingungen

Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.11). In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Vorbehalte gibt es allerdings bei einigen Gefängnissen mit Überbelegung, wo die Ausstattung der Gefängnisse und zum Beispiel die medizinische Versorgung nicht auf die Anzahl der Insassen ausgelegt sind (AA 3.6.2021, S.19; vgl. ÖB 30.11.2021, S.11). Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund von Überbelegung, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u.a. die Einrichtungen in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa (ÖB 30.11.2021, S.11). Während sich die Hafteinrichtungen im Allgemeinen in einem guten Zustand befinden, weisen etliche Einrichtungen bauliche Mängel auf, die sie für eine, über ein paar Tage hinausgehende, Inhaftierung ungeeignet machen (USDOS 30.3.2021). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) besucht (ÖB 30.11.2021, S.11). Die Regierung gestattete es NGOs nicht, Gefängnisse zu kontrollieren (USDOS 30.3.2021, S.10).

In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, S.38). Die 369 Strafvollzugsanstalten in der Türkei verfügen über eine Gesamtkapazität von 251.299 (Stand 1.10.2021). Die Zahl der Insassen betrug am 30.9.2021 laut türkischen Angaben 292.074 (inkl. 38.900 in U-Haft). Das entspricht einem Belegungsgrad von 116% (ÖB 30.11.2021, S.11). Nach Angaben des Justizministeriums befinden sich 13% der gesamten Gefängnispopulation wegen Terror-Vorwürfen in Haft, darunter viele Journalisten, politische Aktivisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger (EC 6.10.2020, S.31f). Das Justizministerium lässt weitere 26 Gefängnisse bauen, während 17 Haftanstalten 2020 renoviert wurden, um die steigende Anzahl von Insassen bewältigen zu können, die sich laut Ministerium von 120.000 im Jahr 2010 auf fast 251.000 Ende 2020 mehr als verdoppelt hat (Ahval 3.4.2021). Unter den Mitgliedern des Europarates führt die Türkei die Gefängnisstatistik sowohl hinsichtlich der Inhaftierungsrate als auch bezüglich der Belegungsdichte an (CoE 30.3.2021 S.4f; S.32 Tab.).

Die Überbelegung und die Verschlechterung der Haftbedingungen geben laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zu tiefer Besorgnis. Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EC 19.10.2020, S.31; vgl. DFAT 10.9.2020). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt. NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBT-Personen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, S.1).

Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung beschwert sowie über den Umstand, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, S.1).

Häftlinge erklärten, dass auf die meisten ihrer Beschwerden nicht eingegangen wurde und dass sich die Lebensbedingungen nicht verbessert haben. Die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen sind nach wie vor weitgehend wirkungslos. Auch die Institution für Menschenrechte und Gleichbehandlung (HREI), die als Nationaler Präventionsmechanismus (gemäß Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter) fungieren soll, ist nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt. Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der „Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens“ darstellt (EC 6.10.2020, S.32).

Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 30.3.2021, S.8; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z.B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, S.29). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, S.19), zuletzt z.B. auch Anfang April 2021 (SCF 5.4.2021).

LGBTI-Häftlinge werden in der Regel von heterosexuellen Häftlingen getrennt, obwohl es immer noch Berichte über Diskriminierung, sexuelle Belästigung und Erniedrigung gibt, insbesondere von transsexuellen Häftlingen (DFAT 10.9.2020). Laut der türkischen NGO Civil Society in the Penal System Association (CİSST) gehören Mitglieder von sexuellen Minderheiten zu jenen, die in Gefängnissen am häufigsten Gewalt, Diskriminierung, Demütigung und sexueller Belästigung ausgesetzt sind. Neben der Tatsache, dass es keine spezifischen Regelungen für die Bedürfnisse dieser Personengruppen gibt, sind auch die Programme zur Ausbildung von Verwaltungspersonal, Vollzugsbeamten und Sozialarbeitern in Bezug auf die Arbeit mit LGBTI-Personen unzureichend. Beschwerden von Angehörigen sexueller Minderheiten über Rechtsverletzungen und Übergriffe, die sie erleben, bleiben aufgrund homophober Positionen und verwurzelter Vorurteile ergebnislos (CİSST 26.3.2021, S.48).

Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter speziellen Einschränkungen, darunter lange Einzelhaft, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung (USDOS 30.3.2021, S.21). In Medienberichten wurde auch behauptet, dass Besucher von Häftlingen mit Terrorbezug Übergriffen, und Insassen Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter ausgesetzt waren. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 30.3.2021, S.21).

Aus Berichten von Menschenrechtsorganisationen geht hervor, dass einige Ärzte aus Angst vor Repressalien ihre Unterschrift nicht unter medizinische Berichte setzen, in denen Folter behauptet wird. Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 30.3.2021, S.9).

Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft. Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden zu sein (CoE-CPT 5.8.2020).

Laut der Menschenrechtsvereinigung (İHD) ist eines der größten Probleme in den türkischen Gefängnissen die Verletzung der Rechte kranker Gefangener. Die İHD konnte 1.605 kranke Gefangene dokumentieren. 604 von ihnen sollen sich in einem schlechten Zustand befinden. Seit Anfang 2020 sollen mindestens 59 kranke Häftlinge verstorben sein (BAMF 20.12.2021, S.12; vgl. Ahval 2.1.2022).

9. Todesstrafe

Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d.h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vgl. ÖB 30.11.2021, S.12).

Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der EMRK beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019). Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vgl. FIDH 13.10.2020).

10. Religionsfreiheit

Die Türkei definiert sich zwar als säkularer Staat, dessen Verfassung die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Religionsausübung garantiert und Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet (USDOS 12.5.2021), de facto besteht jedoch keine Trennung von Religion und Staat (BMZ 10.2020). Das Land ist von der jahrzehntelangen kemalistischen Tradition geprägt mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde (ÖB 30.11.2021, S.23; vgl. BMZ 10.2020). Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB 30.11.2021, S.23). Der Staat beansprucht das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens (BMZ 10.2020).

Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind nur armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Christen sowie Juden (USDOS 12.5.2021; vgl. ÖB 30.11.2021, S.23). Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha’i, Protestanten, römische Katholiken oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status. Davon unabhängig kommt zudem im türkischen Recht keiner nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft als solcher Rechtspersönlichkeit zu (ÖB 30.11.2021, S.23). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Da die Regierung seit 2013 keine neue Wahlregelung für diese Stiftungen erlässt, können die Mitglieder des Stiftungsrates nicht bestellt werden. In der Praxis wird dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB 30.11.2021, S.23f; vgl. DFAT 10.9.2020). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethno-religiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgemeinschaften, darunter auch römisch-katholische und protestantische Christen, dürfen keine Stiftungen gründen. Seit 2004 dürfen sie sich allerdings legal als Vereine organisieren (AA 3.6.2021, S.11).

Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) sowie Logen (Cemaats), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 12.5.2021).

In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt. Es gibt jedoch weit verbreitete Berichte über Druck in der Familie, am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld, insbesondere auf Personen, die eine andere Religion, einen anderen Glauben oder eine andere Weltanschauung als den Islam haben - einschließlich der Angst, diskriminiert zu werden. Für Atheisten, Konvertiten zum Christentum, Aleviten und Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten sind diese Erfahrungen weit verbreitet. Die rechtlichen Instrumente zur Wiedergutmachung von diesbezüglichen Rechtsverletzungen sind nicht effektiv (NHC 11.9.2020, S.10).

Es gibt kein eigenes Blasphemiegesetz. Das Strafgesetzbuch sieht Strafen für Taten im Zusammenhang mit der „Provozierung von Hass und Feindseligkeit“ vor, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Strafgesetzbuch verbietet es, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates „zu tadeln oder zu verunglimpfen“. Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden (USDOS 12.5.2021), oder die Störung von religiösen Veranstaltungen (z.B. Gottesdienste) einer Glaubensgemeinschaft bzw. die Beschädigung deren Eigentums (USDOS 10.6.2020). Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert (USDOS 12.5.2021). Nach einer Flut von Strafverfolgungen zwischen 2014 und 2016 - darunter Journalisten, die 2016 französische Charlie-Hebdo-Karikaturen des Propheten Mohammad nachgedruckt haben - ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Beschwerden, Strafverfolgungen und Verurteilungen zu verzeichnen (DFAT 10.9.2020).

Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird (USDOS 12.5.2021). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).

In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, geschätzte 77,5% davon sind Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Vertreter anderer, nichtmuslimischer Religionsgruppen schätzen ihren Anteil auf 0,2% der Bevölkerung. Die Aleviten-Stiftung geht davon aus, dass 25 bis 31% der Bevölkerung Aleviten sind, während andere Quellen davon ausgehen, dass die Aleviten nur 5% aller Muslime ausmachen. 4% der Muslime sind schiitische Dschafari (USDOS 12.5.2021; vgl. BMZ 10.2020). Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha’i. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000-10.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.500 sind griechisch-orthodoxe Christen (USDOS 12.5.2021).

Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (NL-MFA 31.10.2019). Laut einer aktuellen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Konda gibt es in der Türkei immer mehr Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen - in den vergangenen zehn Jahren habe sich ihre Zahl verdreifacht (DW 9.1.2019). 3% bezeichnen sich mittlerweile als Atheisten - 2008 waren es nur 1% - und 2% als nicht gläubig (AM 9.1.2019; vgl. USDOS 12.5.2021). Der Prozentsatz derjenigen, die sich als Muslime verstehen, sank dagegen von 55% auf 51%, was im Widerspruch zu den offiziell kolportierten 99% steht. Allerdings sehen sich viele soziologisch und kulturell als Muslime, ohne religiös zu sein. Schätzungen zu Folge gelten 60% als praktizierende Muslime (DW 9.1.2019).

Kritiker behaupten, dass die AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u.a. die Vergrößerung des Diyanet und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 2.2022, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie die Darwin’sche Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. „nationale und spirituelle Werte“ durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (NL-MFA 31.10.2019).

Neben der Rhetorik gegen Minderheitengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt sowie ein anti-westlicher, insbesondere gegen Europa gerichteter Islamophobie-Narrativ Anlass zu Besorgnis. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begünstigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet - von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert - und ermutigt implizit zu Gewalt und Aggression (ÖB 30.11.2021, S.24).

Religiöse und ethno-religiöse Minderheiten sind Aggressionen, Intoleranz und Diskriminierung ausgesetzt (NL-MFA 18.3.2021, S.53). Im Jahr 2020 hat sich die Lage der Religionsfreiheit in der Türkei weiterhin besorgniserregend entwickelt. Die Regierung unternahm wenig bis gar keine Anstrengungen, um viele seit Langem bestehende Probleme im Bereich der Religionsfreiheit anzugehen, und sie ignorierte die anhaltenden Angriffe auf und die Zerstörung von Eigentum religiöser Minderheiten im ganzen Land. Trotz wiederholter Bitten seitens der Gemeinden religiöser Minderheiten, um die Erlaubnis, interne Vorstandswahlen für nicht-muslimische Stiftungen abzuhalten, hat die Regierung diese Wahlen 2020 nicht zugelassen. Viele religiöse Minderheiten fühlten sich weiterhin im Zusammenhang mit Vorfällen bedroht, die von nicht-staatlichen Akteuren oder aufgrund von direktem Druck seitens des Staates verübt wurden. Alevitische, armenische und protestantische Gemeinden und Organisationen berichteten, dass sie Morddrohungen erhalten haben. Die Behörden erhoben politisch motivierte Anklagen wegen Blasphemie gegen Einzelpersonen und Gruppen, während offizielle Vertreter des Staates durch Hassreden und die Verunglimpfung nicht-religiöser Personen auffielen. Religiöse Stätten – einschließlich Gotteshäuser und Friedhöfe - waren Vandalismus, Beschädigung und in einigen Fällen Zerstörung ausgesetzt, was die Regierung regelmäßig nicht verhinderte oder bestrafte (USCIRF 4.2021, S.82).

Hassreden und Hassverbrechen gegen Christen und Juden (EC 19.10.2021, S.32; vgl. BMZ 10.2020), inklusive solcher Äußerungen seitens Regierungsvertreter und Politiker, auch der Opposition (USCIRF 4.2020; vgl. BMZ 10.2020), sowie Angriffe oder Vandalenakte auf Kultstätten von Minderheiten werden weiterhin verübt. Nur sehr wenige Täter wurden tatsächlich strafrechtlich verfolgt. Es wurden keine Schritte zur Überarbeitung der Schulbücher unternommen, um die Reste diskriminierender Anspielungen zu streichen (EC 19.10.2021, S.40).

Die antisemitische Rhetorik in Printmedien und in sozialen Medien hält an, wobei diese nun auch Verschwörungstheorien hinsichtlich der Ausbreitung von COVID-19 beinhaltet (USDOS 30.3.2021, S.68; vgl. USCIRF 4.2021, S.82). In TV-Shows und Interviews werden Juden und dem Staat Israel die absichtliche Verbreitung des Virus unterstellt. Laut einem Bericht der armenischen Hrant-Dink-Stiftung über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, S.68).

Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (NL-MFA 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht (USDOS 12.5.2021). Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist ausschließlich sunnitisch-hanafitisch. Das Erziehungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr in dem Personalausweis, wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung und die Polizei einsehbar. Die Freistellung von alevitischen Kindern vom obligatorischen Religionsunterricht muss in der Regel auf dem Klageweg erstritten werden, da sie im Register als Muslime erfasst werden. Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung (BMZ 10.2020). Atheisten, Agnostiker, Baha’i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt „Religion“ auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 12.5.2021).

Es gibt glaubwürdige Berichte über staatliche Diskriminierung von Nicht-Muslimen und Aleviten bei der Anstellung im öffentlichen Dienst (FH 2.2022, F4; vgl. AA 3.6.2021, S.11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften weder im öffentlichen Dienst noch in der Armee zu finden. Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. Im türkischen Parlament zählt lediglich die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht-muslimische Abgeordnete in ihren Reihen (ÖB 30.11.2021, S.26).

Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 3.6.2021, S.11; vgl. BMZ 10.2020; USDOS 12.5.2021) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 10.2020). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 3.6.2021, S.11).

11. Bewegungsfreiheit

Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern. In der Türkei sind die Richter befugt, ein Ausreiseverbot zu verhängen (ÖB 30.11.2021, S.10; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45). Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MFA-NL 18.3.2021, S.27f). Es ist zudem gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat (ÖB 30.11.2021, S.10).

Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MFA-NL 18.3.2021, S.27f).

Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das galt auch für deren Familienangehörige. Die Behörden haben auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran gehindert, das Land zu verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 30.3.2021, S.45f.).

Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45). Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war, und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Allerdings entschied das Verfassungsgericht Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).

Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 3.6.2021, S.23, 26). Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde (AA 24.8.2020, S.27).

Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 30.11.2021, S.6).

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Der Innenminister und die Provinzbehörden schränkten den Reiseverkehr zwischen den Provinzen zwischen März und Mai 2020 ein, gefolgt von begrenzten Bewegungseinschränkungen in und aus den Großstädten als Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie. Einige Gouverneure, insbesondere im Nordwesten und Südosten, verhängten weitere Reiseverbote als Maßnahmen gegen COVID-19 während des ganzen Jahres 2020 (USDOS 30.3.2021, S.45).

12. Grundversorgung/Wirtschaft

Die Türkei war eines der wenigen Länder, die 2020 ein Wachstum verzeichneten, vor allem dank günstiger Kredite nach einer Reihe von Zinssenkungen durch die Zentralbank, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzuwehren. Im Jahr 2021 nahm das Wachstum wieder zu, da die COVID-19-Beschränkungen weitgehend aufgehoben wurden. Doch eine Währungskrise Ende 2021, die die Inflation auf fast 50% ansteigen ließ, hat die Wachstumserwartungen für 2022 gedämpft (Reuters 22.2.2022). Das 2021 starke Wachstum von 8,5% des Bruttoinlandsprodukts dürfte sich 2022 deutlich auf prognostizierte 3,3% abschwächen. Der Türkei droht eine Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Situation hat sich im letzten Quartal 2021 zugespitzt. Das Wirtschaftswachstum wird teuer erkauft durch niedrige Zinsen, hohe Inflation und eine starke Abwertung der Währung. Die Auslandsschulden der Unternehmen und des Staates sind hoch. Die Währungsreserven hingegen sind gering und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 14.1.2022).

2020 mussten rund hunderttausend kleine Betriebe schließen. In den ersten drei Monaten von 2021 machten 30.000 Gewerbebetriebe zu, neun Millionen Menschen sind erwerbslos. In jedem Haushalt sucht statistisch mindestens eine Person Arbeit. Laut Umfragen im April können 53,6% der Bürger gerade ihre Bedürfnisse decken. 26,6% haben nicht genug für ihre Grundbedürfnisse. Wer in der Lage ist, Lebensmittel zu kaufen, hat aus Mangel seine Ernährungsgewohnheiten umgestellt. Laut einer von der EU finanziell unterstützten Studie ist in den letzten zwölf Monaten der Konsum von Hühnerfleisch von 18,5% auf 4% gesunken, der von Fisch von 10,4% auf 2,9%. Der Konsum von Pflanzenöl ging um 32% zurück (FAZ 20.5.2021). Präsident Erdoğan hat angesichts der hohen Inflation von zuletzt 50% und des steigenden Unmuts in der Bevölkerung eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel von acht auf ein Prozent angekündigt (DW 12.2.2022).

Die Arbeitslosigkeit in der Türkei betrifft insbesondere die jüngere Generation. Die türkische Plattform für Jugendarbeitslosigkeit schätzt, dass im November 2021 mehr als elf Millionen Menschen zwischen 15 und 34 Jahren arbeitslos waren. Im dritten Quartal 2021 lag die offizielle Jugendarbeitslosenquote bei 22% (AT 3.1.2022). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73% „gerne in einem anderen Land leben würden“. 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).

Laut Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Aksoy Research vom Jänner 2022 gaben nur 4% an, dass sie alle ihre grundlegenden Lebenshaltungskosten decken können, weitere 13,7% zumindest „die meisten“. Währenddessen sagten 17%, keines ihrer Grundbedürfnisse decken zu können. Weitere 36,6% meinten, ihre Grundbedürfnisse nur „sehr wenig“ befriedigen zu können, immerhin 28,5% zumindest „einige“ davon (TM 27.1.2022)

Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialprodukts für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).

In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1% des BIP (ÖB 30.11.2021, S.39).

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5% aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Eine Simulationsanalyse der Auswirkungen der Pandemie deutet darauf hin, dass es in der Türkei im Jahr 2021 1,6 Millionen mehr arme Menschen geben wird als 2020, womit die höchste Armutsquote seit 2012 erreicht wird. Rasches und frühzeitiges Handeln der Regierung, einschließlich Maßnahmen zur Unterstützung der Haushalte, verhinderte laut Weltbank Schlimmeres. Diese Maßnahmen liefen jedoch im Juli 2021 aus, und die zunehmenden COVID-19-Fälle und Schließungen werden zusätzliche Unterstützung zum Schutz gefährdeter Haushalte erfordern. Der starke Aufschwung des Wirtschaftswachstums, des Arbeitsmarktes und der Haushaltseinkommen wird die Armutsquote voraussichtlich von 12,2% im Jahr 2020 auf 11,6% im Jahr 2021 senken. Die weitere Verringerung der Armut hängt davon ab, so die Weltbank, ob ein umfassender Aufschwung mit angemessener Unterstützung für gefährdete Gruppen gewährleistet wird (WB 12.10.2021).

Auch 2021 verblieb die Türkei im Bann der COVID-19-Pandemie. Nach Angaben des türkischen Finanzministeriums wurden bis August 2021 zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Krise insgesamt 70,55 Mrd. Euro an fiskalen Maßnahmen in Form von öffentlichen Unterstützungen und Steuererleichterungen aufgewendet, welche 10,6 % des BIP ausmachen (WKO 14.10.2021).

12.1. Sozialbeihilfen/-versicherung

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 3.6.2021, S.21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 3.6.2021, S.21f). Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. „Milchgeld“ in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2021 alle zwei Monate Anspruch auf 650 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 5.641 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 30.11.2021, S.40).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).

12.2. Arbeitslosenunterstützung

Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40% des Durchschnittslohns, maximal jedoch 80% des Bruttomindestlohns. Nach Erhöhung des Mindestlohns beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 1.420 TL, der Maximalbetrag 2.840 TL. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (ÖB 30.11.2021, S.39). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2021; vgl. ÖB 30.11.2021, S.39).

12.3. Pension

Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung.

Berechtigung:

 Staatsbürger über 18 Jahre

 Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar)

 Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben.

Voraussetzungen:

 Anmelden bei der Sozialversicherung SGK

 Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden

 Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr

 

Personen älter als 65 Jahre, Menschen mit Behinderungen über 18 und Personen mit Verwandten unter 18 Jahren mit Behinderungen, für die sie die gesetzliche Vormundschaft übernehmen, können eine regelmäßige monatliche Zahlung erhalten. Unmittelbare Familienmitglieder von Versicherten, die nach ihrer Pensionierung verstorben sind und/oder mindestens zehn Jahre gearbeitet haben, haben Anspruch auf Witwen- oder Waisenhilfe. Wenn der/die Verstorbene länger als fünf Jahre gearbeitet hat, haben seine/ihre Kinder unter 18 Jahren, Kinder in der Sekundarschule unter 20 Jahren und Kinder, die unter 25 Jahre alt sind und an einer Hochschule eingeschrieben sind, Anspruch auf Waisenhilfe (IOM 2021).

Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2% für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90%. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018).

Obwohl die staatliche Mindestpension zu Beginn des Jahres 2022 von 1.500 auf 2.500 Lira gestiegen ist, blieb sie hinter dem Mindestlohn zurück, der im Dezember 2021 um 50 % auf 4.250 Lira angehoben wurde. Und dies angesichts einer offiziellen Inflationsrate von rund 40%, die von unabhängigen Instituten auf über 80% im Jahr 2021 geschätzt wurde. Etwa 1,3 Millionen der 13,4 Millionen türkischen Sozialhilfeempfänger erhalten den niedrigsten Satz der staatlichen Pension (AM 19.1.2022; vgl. Bianet 4.1.2022). Die übrigen Pensionen wurden um 25-30% erhöht (Bianet 4.1.2022) Die türkischen Pensionisten gehören zu den ärmsten der Welt. Das Pensionsniveau in der Türkei liegt bei knapp 22% des Wertes der nationalen Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Pension nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern (ILO 2021 S.56f).

13. Medizinische Versorgung

Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der „Nationalen Gesundheitsfürsorge“ und der „Sozialen Krankenkasse“ etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10% tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70%, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3% des Bruttomindestlohnes der Türkei. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 30.11.2021, S.40).

Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).

Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden (MPI-SR 3.2021). Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen (MPI-SR 20.6.2020). Mit Stand März waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SR 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020). Die neuen Stadtkrankenhäuser leisten mit ihren Kapazitäten einen großen Beitrag in der Corona-Krise. In einigen davon wurden sogenannte Corona-Zentren eingerichtet (MPI-SR 3.2021).

Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und postoperationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB 30.11.2021, S.40). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 3.6.2020, S.22). Zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wird allerdings nicht Methadon, sondern entweder eine Kombination aus Buphrenorphin+Naloxan oder Morphin angewandt (MedCOI 18.2.2020)

Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Das Gesundheitsministerium plant, bis 2021 in weiteren 19 Provinzen noch jeweils ein AMATEMZentrum mit einer Gesamtkapazität von 725 Betten einzurichten. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 3.6.2021, S.22f.).

Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Die Beiträge für die allgemeine Krankenversicherung (GSS) hängen vom Einkommen des/der Begünstigten ab und beginnen bei 107,32 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 2021). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SR 3.2021, S.15).

Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (IOM 2021).

14. Behandlung nach Rückkehr

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das „Allgemeine Informationssammlungssystem“ (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll- Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das „Zentrale Melderegistersystem“ (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S.49).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S.27).

Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbullah [Anm.: auch als kurdische Hisbullah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbullah im Libanon verbunden], al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2021, S.38). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. der militärische Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 4.2.2022).

Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z.B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 3.6.2021, S.16; vgl. AA 16.11.2021). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 16.11.2021). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, S.52; vgl. AA 16.11.2021). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen gar Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen „Terrorismuspropaganda“, „Beleidigung des Präsidenten“ und „Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit“. Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 16.11.2021).

Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 16.11.2021).

Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in „Sippenhaft“ genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2021, S.10).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2021, S.37). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S.50; vgl. ÖB 30.11.2021, S.38). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. §3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 30.11.2021, S.42). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S.50; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, S.71).

Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt. Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d.h. wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).

Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:

• Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

• Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/

• TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 30.11.2021, S.39).

Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung

Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Art. 9 des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S.50).

Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9) (ÖB 30.11.2021, S.38). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Art. 9 Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben (DFAT 10.9.2020, S.50). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11 (1)). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben (ÖB 30.11.2021, S.38).

Eine weitere Ausnahme vom Prinzip „ne bis in idem“, d.h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat entweder begangen wird: gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016).

COVID-19-Pandemie

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Im Februar 2022 verzeichnete die Türkei täglich im Schnitt rund 93.000 Neuinfektionen und 240 Tote. Bis Ende Februar 2022 waren rund 94.500 Menschen offiziell an den Folgen von COVID-19 verstorben (JHU 1.3.2022).

Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (DS 11.3.2020). Erst am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca die Aufnahme aller positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020, S.9).

Beginnend mit 1.7.2021 wurde ein fast vollständiger Normalisierungsprozess durchgeführt. Alle Ausgangsbeschränkungen unter der Woche sowie am Wochenende wurden aufgehoben. Einzig muss weiterhin ein Mindestabstand zur nächsten Person eingehalten werden. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Versammlungen und Hochzeiten sind unter Einhaltung der allgemeinen Regeln erlaubt. Mit 15.1.2022 wurde die Verpflichtung zur Vorlage eines negativen PCR-Tests für ungeimpfte Personen beim Besuch von Kinos, Konzerten, Theater oder anderen Events aufgehoben. Bei Inlands- oder internationalen Flügen müssen ungeimpfte Personen aber weiterhin einen negativen PCR-Test vorlegen. Für das Buchen und den Check-in bei Inlandsflügen sowie bei Überlandbussen, Schiffen und Bahn wird ein sogenannter HES-Code (Hayat Eve Sigar) benötigt. Der HES-Code wird auch beim Betreten von Amtsgebäuden und in Einkaufszentren verlangt (WKO 21.2.2022). Ärzte und Krankenhausangestellte kritisierten, dass die Regierung diese Lockerungen viel zu früh eingeleitet habe (DW 2.7.2021).

Die türkische Ärztekammer (TTB) kritisierte im Oktober 2021, dass die Türkei es versäumt hätte, im vergangenen Jahr mindestens 55.000 COVID-19-Todesfälle zu registrieren. Denn bei der Analyse aller Daten von Gemeinden, Regierung, Statistikamt und anderen offiziellen Quellen in 20 Provinzen (i.e. 42% der Bevölkerung) wurden im Jahr 2020 48.000 zusätzliche Todesfälle im Vergleich zum Durchschnitt der letzten drei Jahre verzeichnet. Auch 2021 seien ungewöhnlich hohe Sterberaten beobachtet worden (Ahval 20.10.2021).

 

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zum Verfahrensgang und zum Sachverhalt:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

Der oben unter Punkt II. 1. angeführte Sachverhalt ergibt sich durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde, insbesondere unter Berücksichtigung der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 19.02.2019, durch Einsichtnahme in den bekämpften Bescheid der belangten Behörde vom 30.06.2020, den Beschwerdeschriftsatz vom 11.08.2020, der Stellungnahme vom 24.09.2020, dem Schreiben der JA XXXX samt angeforderter Beilagen vom 06.11.2020 und vom 06.10.2021, sowie den in Vorlage gebrachten Urkunden und den bereits im Verwaltungsakt aufliegenden strafgerichtlichen Urteilen bzw. Protokollsvermerken und gekürzten Urteilausfertigungen, insbesondere das Urteil samt Verhandlungsprotokoll des LG XXXX zu XXXX , samt angeforderter Beilagen und dem bezughabenden Urteil des Oberlandesgerichtes XXXX . Weiters durch Einholung aktueller Auszüge aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister, dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister, dem AJ-WEB und dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich sowie durch Einsichtnahme in das Firmenbuch und im Wege der Einsichtnahme in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers und schließlich dem Inhalt der Stellungnahme des Beschwerdeführers vom 05.11.2021 sowie vom 31.05.2022.

Der Beschwerdeführer stellte keine über die Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinausgehenden Beweisanträge. Der Verwaltungsgerichtshof betont in seiner Rechtsprechung den Grundsatz, dass das Verwaltungsgericht sich bei der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme im Rahmen einer mündlichen Verhandlung selbst einen persönlichen Eindruck vom Fremden zu verschaffen hat (VwGH 25.09.2018, Ra 2017/21/0253 mwN). Das Bundesverwaltungsgericht hat diesbezüglich am 27.10.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt.

2.2. Zur Person des Beschwerdeführers:

2.2.1. Die Identität des Beschwerdeführers konnte aufgrund der Vorlage eines türkischen Personalausweises mit der Nr. XXXX , ausgestellt am XXXX .2017 in XXXX festgestellt werden. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Abstammung, zur Konfession, zu den Sprachkenntnissen und zu den familiären und privaten Verhältnissen des Beschwerdeführers in seinem Herkunftsstaat wie auch in Österreich gründen sich auf in diesen Punkten glaubwürdigen Angaben in der Beschwerdeverhandlung wie auch bereits in der Einvernahme vor dem BFA am 19.02.2019 und den im Akt befindlichen Registerauszügen. Hinsichtlich der Reisebewegungen des Beschwerdeführers wird ebenfalls den dahingehend glaubwürdigen Angaben gefolgt. Die weiteren Feststellungen zu den Familienangehörigen des Beschwerdeführers in Österreich, vor allem seiner Ehegattin und den Kindern ergeben sich aus entsprechenden Registerauszügen zu diesen Personen. Zuletzt wurde dem Beschwerdeführer nochmals im Mai 2022 Parteiengehör gewährt und konnte er zur derzeitigen Situation seiner Familien nochmals Stellung nehmen.

Die Feststellung zum weiteren Ausweisdokument gründet auf der dahingehenden Aussage des Beschwerdeführers vor dem BFA vom 19.02.2019, wonach ihm zuletzt am XXXX .2017 von der türkischen Botschaft in XXXX ein türkischer Reisepass ausgestellt wurde. Einzig in Hinblick auf die Sprachkenntnisse seiner Kinder waren die Angaben des Beschwerdeführers wenig plausibel, so hatte er in seiner Befragung vor dem BFA angegeben, dass seine Kinder gar nicht türkisch sprechen könnten (AS 53). Dem ist aus zwei Gründen keine Glaubwürdigkeit zuzusprechen. Die älteren vier Kinder wurden in der Türkei geboren und ist es dahingehend völlig abwegig, dass diese der türkischen Sprache nicht mächtig wären. Aus den eigenen Wahrnehmungen des Bundesverwaltungsgerichtes ergibt sich zudem, dass der Beschwerdeführer der deutschen Sprache gar nicht in einem Umfang mächtig ist, um mit seinen Kindern umfassende oder tiefgehendere Gespräche, wie sie zwischen Eltern und Kindern jedoch zu erwarten sind, führen könnte und ergibt sich auch aus der Zusammenschau des Bekannten- und Verwandtenkreises des Beschwerdeführers und seiner Familie in Österreich und der regelmäßigen Besuche in der Türkei, dass die Kinder jedenfalls die türkische Sprache beherrschen. Aus der Geburt der vier älteren Kinder in der Türkei und der Familienzusammenführung im Jahr 2001 ergibt sich die Feststellung, dass der Beschwerdeführer bis 2001 regelmäßig in die Türkei zu seiner Ehegattin und den Kindern, wie auch seiner eigenen Familie gereist ist.

2.2.2. Feststellungen zu den versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen in Österreich gründen auf einem Auszug aus dem AJ-WEB, aus welchem sich ergibt, dass der Beschwerdeführer immer am Bau beschäftigt war. Es entspricht dem allgemeinen Wissensstand, dass das Baugewerbe immer wieder von längeren, saisonbedingten Unterbrechungen geprägt ist und sollen derartige beschäftigungslose Zeiten dem Beschwerdeführer nicht zum Nachteil gereichen. Auffällig ist jedoch, dass der Beschwerdeführer – der seit 1989 in Österreich aufhältig ist – bis auf einen Arbeitgeber, der XXXX , ständig wechselnde Arbeitgeber hatte und keine längeren oder zumindest wiederholten Beschäftigungsverhältnisse vorliegen. Aus Einsichtnahme in das Firmenbuch konnten die vom Beschwerdeführer getätigten Aussagen zu seiner selbständigen Tätigkeit, ebenfalls im Baugewerbe, verifiziert werden. Dabei zeigt sich, dass der Beschwerdeführer im Bundesgebiet an insgesamt vier Unternehmen in unterschiedlichen Funktionen beteiligt war bzw. ist. Noch bedeutsamer ist aber der Umstand, dass drei dieser vier Firmen inzwischen aus dem Firmenbuch gelöscht wurden – immer aufgrund des Umstandes, dass ein Konkurs stattgefunden hatte bzw. dieser mangels Masse gar nicht durchgeführt werden konnte. In diesem Zusammenhang ist auch auf das Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2012, Zl. XXXX zu verweisen, wonach der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des schweren Betruges mit einem EUR 3.000,00 übersteigenden Schaden nach den §§ 146, 147 Abs. 2 StGB sowie wegen des Vergehens des betrügerischen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen und Zuschlägen nach dem Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungsgesetz nach dem § 153d Abs. 1 und 3 StGB, sowie wegen des Vergehens der grob fahrlässigen Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen als leitender Angestellter nach den § 159 Abs. 2 und 5 sowie § 159 Abs. 1 und 5 je iVm § 161 StGB zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt wurde, wobei die Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Die Probezeit wurde später auf fünf Jahre verlängert.

Aus diesem beruflichen Lebenslauf ist auch die Feststellung über Schulden in Höhe von über EUR 210.000,00 nachvollziehbar und plausibel. Der Beschwerdeführer hatte seine Schulden in einer Strafverhandlung im Jahr 2015 mit EUR 35.000,00 angegeben (AS 109); im Urteil des LG XXXX aus dem Jahr 2018 finden sich sodann keine Feststellungen zu Schulden; Angaben finden sich aber in den dazugehörigen und übermittelten Beilagen. In seiner Stellungnahme vom 05.11.2021 beziffert der Beschwerdeführer seine Schulden aber nunmehr mit über EUR 210.000,00 und spezifiziert auch die Gläubiger mit „Privat Darlehen“ und „Finanzamt, WGKK, BUWAG und Banken“. Diesen Angaben ist er in seiner letzten Stellungnahme vom 31.05.2022 nicht entgegengetreten.

2.2.3. Die derzeitige Tätigkeit als Fleischer während der Haftzeit ergibt sich schließlich aus der Stellungnahme der JA XXXX vom 06.11.2020 und vom 06.10.2021, va. auch aus der Freigängerliste. Diese beweist wiederum im Umkehrschluss die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers. Aus den Stellungnahmen der Justizanstalt samt den angeforderten Unterlagen ergibt sich ferner das Wohlverhalten des Beschwerdeführers während der Haft, der Umstand des gelockerten Vollzuges, aber auch die Ablehnung einer bedingten Entlassung im Sommer 2020. Aus der Besucherliste ergibt sich eindeutig, dass familiärer Kontakt besteht und legte der Beschwerdeführer die Frequenz dieser Besuche auch schlüssig in seiner Einvernahme vor dem Bundesverwaltungsgericht dar. Aus der Ausgangsliste ergibt sich, dass der Beschwerdeführer seine Ausgänge zum Besuch der Familie nützt und die vorgegebenen Zeiten immer korrekt einhält.

2.2.4. Zu den Feststellungen einer weiteren Integration ist festzuhalten, dass sich das Bundesverwaltungsgericht über die Deutschkenntnisse in der Beschwerdeverhandlung selbst ein Bild gemacht hat und sind diese – vor allem in Anbetracht des mehr als 30jährigen Aufenthalts in Österreich – äußerst dürftig und gereichen lediglich zu einer einfachen Alltagskonversation. Die vom Beschwerdeführer sonstigen erwähnten Sprachkenntnisse können vor allem in Hinblick auf seinen Lebenswandel (Erwerbstätigkeit samt Verurteilung; Drogenhandel über die Grenze) nicht als positiv gewertet werden. Der Beschwerdeführer hat laut eigenem auch keine Ausbildung in Österreich absolviert; zum Spracherwerb wurden keinerlei Zertifikate in Vorlage gebracht. Zur Weiterbildung während des Haftzeit ist anzumerken, dass diese nicht auf die Eigenmotivation des Beschwerdeführers zurückzuführen ist. Zu den weiteren Anknüpfungspunkten in Österreich ist festzustellen, dass von besonderen sozialen Kontakten im österreichischen Umfeld, welche über die Verbindungen, die durch den Aufenthalt automatisch geknüpft werden hinausgehen, nicht ausgegangen werden kann. Wie der Beschwerdeführer selbst ausführte, besteht sein soziales Gefüge in erster Linie aus der eigenen türkischstämmigen Familie.

2.2.5. Zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers liegen zumindest seit seiner Inhaftierung entsprechende Berichte vor. Laut eigenem und wie sich auch aus den Strafurteilen ergibt, ist der Beschwerdeführer drogenabhängig und befindet sich zurzeit in Therapie. Er brachte im Verfahren ein Schreiben des XXXX , einer spezialisierten Einrichtung, vom 24.09.2020 in Vorlage worin seine Bewerbung um eine stationäre Drogentherapie dokumentiert ist. Kurz zuvor, am 20.08.2020 fand seine Anhörung um vorzeitige Haftentlassung statt und wurde diese abgelehnt bzw. ihm mitgeteilt, dass eine Entlassung jedenfalls mit der Weisung einer Drogentherapie verbunden sein wird. Mit Schreiben des XXXX vom 16.12.2021 wurde dem Beschwerdeführer schlussendlich ein Therapieplatz für den Fall einer bedingten Entlassung zugesagt. Laut Vermerke der behandelnden Ärzte in der JA XXXX vom November 2020 leidet der Beschwerdeführer weder an chronischen Erkrankungen, bedarf keinerlei Medikation, ist psychiatrisch unauffällig und liegt bzw lag keine Substanzstörung vor. Im letzten Jahr litt der Beschwerdeführer an der behandelbaren Erkrankung der Alopezie. Er hat laut übermittelter Krankengeschichte auch entsprechende COVID-Schutzimpfungen erhalten und ergeben sich aus der Krankengeschichte keinerlei Hinweise auf die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe nach der COVID-19-Risikogruppe-Verordnung, BGBl. II Nr. 203/2020. Zusammenfassend wird dem Beschwerdeführer eine Substanzabhängigkeit nicht in Abrede gestellt, diese ist durch die fortlaufenden Therapien belegt, eine schwerwiegende multiple Abhängigkeit samt Substanzstörung kann aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen aber nicht abgeleitet werden.

Ausweislich den Länderfeststellungen, können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Diabetes oder Drogenabhängigkeit. Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Auch Substitutionsprogramme sind erhältlich; wobei der Beschwerdeführer bisher keinerlei Medikation zur Behandlung seiner Drogenabhängigkeit benötigte.

2.2.8. Dass der Beschwerdeführer seit 01.03.2007 über einen „Daueraufenthalt – EU“ verfügt ergibt sich eindeutig aus dem Zentralen Fremdenregister.

2.2.9. Zur Situation im Herkunftsstaat ist festzuhalten, dass die Mutter des Beschwerdeführers ein Haus besitzt und sich aus dem Verfahren keine Anhaltspunkte ergeben hätten, dass diese ihren Sohn nicht wieder bei sich aufnehmen würde; gleiches gilt für den jüngeren Bruder. Wenn der Beschwerdeführer im Laufe des Verfahrens angab, dass sich das Verhältnis ob seiner Drogensucht getrübt habe, so wird dies vom Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich nicht in Zweifel gezogen. Aus den Beschreibungen und Aussagen – sowie zuletzt aus der Stellungnahme vom 31.05.2022 - ergibt sich aber eindeutig, dass Kontakt mit Mutter und Bruder in der Türkei besteht. Zudem befindet sich der Beschwerdeführer in einer Drogentherapie und kann damit gegenüber seinen Verwandten seine dahingehenden Bemühungen sicherlich zum Ausdruck bringen, und können diese auch seitens seiner Ehegattin bestätigt werden. Das Bundesverwaltungsgericht geht im Übrigen davon aus, dass weniger die Drogensucht als die strafgerichtlichen Verurteilungen das Verhältnis innerhalb der Familie getrübt haben. Aufgrund des kulturellen Umfeldes und dem Zusammenhalt in türkischen Großfamilien kann davon ausgegangen werden, dass die Verwandten des Beschwerdeführers und seiner Ehegattin ihm bei der Eingliederung in die türkische Gesellschaft behilflich sein werden. Dass die Inhaftierung des Beschwerdeführers die Kontakte zu den türkischen Familienangehörigen und Bekannten nicht völlig zerstörte zeigen im Übrigen die Besuchslisten der JA XXXX , wonach der Beschwerdeführer nicht nur von seiner Ehegattin und Kindern, sondern auch von weiteren Freunden und Bekannten Besuch erhält. Der Beschwerdeführer spricht türkisch und war auch in den letzten Jahren (zumindest in den Jahren in denen er nicht inhaftiert war, zuletzt 2018) in der Türkei und reisen seine Ehegattin wie auch seine Kinder laut Aussagen des Beschwerdeführers regelmäßig in die Türkei.

2.3. Die Feststellungen zum Inhalt der wider den Beschwerdeführer ergangenen strafgerichtlichen Urteile ergeben sich aus dem Strafregisterauszug und den mit den Verwaltungsakten übermittelten Urteilen bzw. Protokollsvermerken und gekürzten Urteilsausfertigungen sowie den zuletzt angeforderten Beilagen zum Verfahren vor dem Landesgericht XXXX zu XXXX . Die verwaltungsstrafrechtliche Vormerkung ergibt sich aus der Vollzugsinformation vom 06.10.2021. Im Zusammenhang mit den strafgerichtlichen Urteilen ist darauf zu verweisen, dass die fremdenpolizeilichen Beurteilungen unabhängig und eigenständig, von denen des Strafgerichts für die Strafbemessung, die bedingte Strafnachsicht und den Aufschub des Strafvollzugs betreffenden Erwägungen zu treffen sind (vgl. VwGH 05.07.2010, Zl. 2010/22/0096). Es obliegt daher dem erkennenden Gericht festzustellen, ob eine Gefährdung im Sinne des FPG vorliegt oder nicht. Feststellungen zum Verhalten und Tätigkeiten während der Haft ergeben sich aus den Stellungnahmen der zuständigen Justizanstalten vom 06.11.2020 und vom 06.10.2021 samt den Beilagen, wie Besucher-, Freigänger- und Ausgangslisten; Krankengeschichte und Stellungnahmen.

2.4. Die vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den in das Verfahren eingebrachten herkunftsbezogenen Erkenntnisquellen.

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln bzw. wurden Gründe, die an der Richtigkeit der Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Zweifel aufkommen ließen, nicht aufgezeigt. Der Beschwerdeführer trat den Quellen nicht substantiiert entgegen und traf keinerlei Ausführungen in diesem Zusammenhang.

2.5. Zu den Feststellungen zur Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei geht das Bundesverwaltungsgericht – trotz des langen Aufenthalts im Inland – davon aus, dass er sich mit Hilfe seiner Verwandten wieder in das soziale Umfeld in der Türkei integrieren kann; auch in Österreich lebt er nach eigener Aussage im Umfeld seiner türkischen Verwandten. Auch wenn sich im Übrigen die Befürchtungen des Beschwerdeführers im Hinblick auf einen in der Türkei nicht vorhandenen Freundeskreis und auf Schwierigkeiten bei der Eingliederung in den dortigen Arbeitsmarkt als schlüssig darstellen, steht dem gegenüber, dass eine schwierige Lebenssituation insbesondere bei der Arbeitsplatzsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht ausreicht, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (VwGH 17.09.2019, Ra 2019/14/0160).

Darüber hinaus stehen dem Beschwerdeführer die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter offen, da er über die türkische Staatsbürgerschaft verfügt. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 3294 bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Wenn der Mutter des Beschwerdeführers seinem Vorbringen zufolge Sozialleistungen zur Bestreitung des Lebensunterhaltes gewährt werden, besteht kein Anlass zu Annahme, dass dem Beschwerdeführer derartiges verweigert werden sollte.

Hinweise auf eine individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers im Fall einer Rückkehr in die Türkei kamen im Verfahren nicht hervor. Der Beschwerdeführer erstattete weder ein Vorbringen, dass er im Fall einer Rückkehr in die Türkei einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden und von staatlichen Organe oder Dritten ausgehenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre, noch stellte er einen Antrag auf internationalen Schutz. In der Einvernahme vor dem BFA vom 19.02.2019 wurde der Beschwerdeführer nach etwaigen Rückkehrbefürchtungen befragt und antwortete dieser „Das hat nur familiäre Gründe. Weil eben meine ganze Familie hier ist. Ich befürchte bei einer Rückkehr in der Türkei keinerlei Verfolgung. Ich werde in der Türkei weder gesucht, noch bedroht. Es geht mir nur um meine Kinder und meine Frau. Meine Kinder können gar nicht türkisch.“ (AS 53).

Das Bundesverwaltungsgericht geht zusammenfassend davon aus, dass aufgrund des persönlichen Profils des Beschwerdeführers davon auszugehen ist, dass dieser in der Türkei eine durch eigene Erwerbstätigkeit gesicherte Existenzgrundlage vorfindet, wobei er außerdem auf die Unterstützung des dort bestehenden familiären Netzwerkes zumindest im Hinblick auf die anfängliche Befriedigung seines Wohnbedürfnisses zurückgreifen können wird.

Da der Beschwerdeführer keine staatliche Strafverfolgung in der Türkei aufgrund eines Kapitalverbrechens in den Raum gestellt hat und die Todesstrafe in der Türkei abgeschafft ist, war ferner zur Feststellung zu gelangen, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr nicht der Todesstrafe unterzogen wird. Ebenso kann aus seinem Vorbringen keine anderweitige individuelle Gefährdung durch drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe abgeleitet werden.

Ausweislich der Feststellungen zur Lage in der Türkei ereignen sich an der Grenze zu den Nachbarstaaten Irak und Syrien sowie fallweise im Landesinneren Terroranschläge und bewaffnete Auseinandersetzungen mit Kämpfern der PKK. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass die Sicherheitslage in der Türkei als angespannt zu bezeichnen ist und die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder der PKK und ihrer Splittergruppe TAK konfrontiert ist. Der Beschwerdeführer hat indes diesbezüglich nicht dargetan, dass er von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wäre. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Art. 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren. Eine individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers von Kampfhandlungen ist auch deshalb auszuschließen, weil eine Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Heimatstadt, die sich rund 200 km östlich von XXXX befindet anzunehmen ist und diese in einiger Entfernung von den Unruheprovinzen im Südosten der Türkei und auch von der türkisch-syrischen Grenze liegt. Sohin ist auszuschließen, dass der Beschwerdeführer im Rückkehrfall von Kampfhandlungen, Ausgangssperren und/oder inneren Unruhen betroffen sein wird. Risikoerhöhende Umstände im Hinblick auf die Person des Beschwerdeführers, welche zu einer im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung stark erhöhte Gefährdung durch terroristische Aktivitäten hindeuten würden, wurden im Verfahren schließlich nicht vorgebracht. Der Beschwerdeführer gehört insbesondere nicht den staatlichen Sicherheitskräften an und ist auch sonst keine im sozialen oder politischen Gefüge exponierte Person.

Die unmittelbare Erreichbarkeit des Flughafens XXXX ist in öffentlich zugänglichen Buchungsplattformen jederzeit überprüfbar. Aus den Länderberichten ergeben sich zur Straßensicherheit keine Anhaltspunkte auf Gefährdungen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A)

3.1.1. Gemäß § 52 Abs. 5 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" verfügt, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.

Gleichwohl hat der Verwaltungsgerichtshof aber festgehalten, dass es dabei zu bleiben hat, dass diese Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot eine Gefährdung voraussetzt, die jener gleichkommt, die die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger rechtfertigt oder, wie sich aus EuGH 8.12.2011, Ziebell, C-371/08, ergibt, im Fall eines türkischen Staatsangehörigen, der sich seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen rechtmäßig in Österreich aufhält, Art. 12 der Daueraufenthalts-RL - umgesetzt durch § 52 Abs. 5 FrPolG 2005 – entspricht (VwGH 04.04.2019, Ra 2019/21/0009).

Ferner ist der Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG 2014 idF. vor dem FrÄG 2018 zu berücksichtigen, dessen Wertungen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG 2014 weiter beachtlich sind. Um vor diesem Hintergrund - auch unter Berücksichtigung der mit dem langjährigen Aufenthalt verbundenen Integration und des in Österreich vorhandenen Familienlebens - dennoch eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot rechtfertigen zu können, bedarf es einer spezifischen, auf Grund besonders gravierender Straftaten vom Fremden ausgehenden Gefahr (vgl. zuletzt VwGH 11.11.2021, Ra 2021/21/0243 mit Verweis auf VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12, und die dort genannten Beispiele, nämlich Vergewaltigung und grenzüberschreitender Suchtgifthandel sowie die Fälle des § 53 Abs. 3 Z 6 bis 8 FPG).

3.1.2. Die Einreise des Beschwerdeführers in das Gebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich ist nach den, dem Bundesverwaltungsgericht zur Verfügung stehenden Unterlagen rechtmäßig erfolgt. Er verfügt seit 01.03.2007 über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“.

Der Beschwerdeführer wurde unter anderem mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2018, Zl. XXXX , wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 zweiter und dritter Fall, Abs. 2 Z 3 SMG, teils iVm § 12 zweite Alternative StGB und des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten rechtskräftig verurteilt.

Dementsprechend war das BFA berechtigt eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 5 FPG zu erlassen unter der Prämisse, dass die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG die Annahme rechtfertigen, dass der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.

Für die Annahme einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Erstellung einer Gefährlichkeitsprognose bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes zurückzugreifen. Der Verwaltungsgerichtshof hält zur Gefährlichkeitsprognose fest, dass das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (VwGH zuletzt 15.02.2021, Ra 2020/21/0246).

Im Folgenden ist demnach - aufgrund des engen sachlichen Zusammenhangs unter einem mit der Prüfung des wider den Beschwerdeführer ausgesprochenen Einreiseverbotes - einerseits zu klären, ob die vom Beschwerdeführer ausgehende Gefahr das in § 52 Abs. 5 FPG 2005 angesprochene Niveau erreicht und somit eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist und ob die familiären und privaten Bindungen des Beschwerdeführers im Bundesgebiet einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen.

3.2. Erlassung eines Einreiseverbotes (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides)

3.2.1. Der mit Einreiseverbot betitelte § 53 FPG lautet auszugsweise wie folgt:(1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.

[…]

(3) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn

1.

ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;

2.

ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist;

3.

ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei rechtskräftig verurteilt worden ist;

4.

ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist;

5.

ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist;

6.

auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (§ 278a StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (§ 278b StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (§ 278c StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (§ 278d StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (§ 278e StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (§ 278f StGB);

7.

auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet;

8.

ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt oder

9.

der Drittstaatsangehörige ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können, oder auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass er durch Verbreitung in Wort, Bild oder Schrift andere Personen oder Organisationen von seiner gegen die Wertvorstellungen eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft gerichteten Einstellung zu überzeugen versucht oder versucht hat oder auf andere Weise eine Person oder Organisation unterstützt, die die Verbreitung solchen Gedankengutes fördert oder gutheißt.

  

(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.

(5) Eine gemäß Abs. 3 maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. § 73 StGB gilt.

3.2.2. Bei der Bemessung eines Einreiseverbotes ist eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, bei der die Behörde das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen und zu berücksichtigen hat, ob (bzw. inwieweit über die im unrechtmäßigen Aufenthalt als solchem zu erblickende Störung der öffentlichen Ordnung hinaus) der (weitere) Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs. 2 MRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Eine derartige Gefährdung ist nach der Gesetzessystematik insbesondere in den Fällen der Z 1 bis 9 des § 53 Abs. 2 FPG anzunehmen. In den Fällen des § 53 Abs. 3 Z 1 bis 8 (nunmehr bis 9) FPG ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinn der Z 5 bis 8 (nunmehr bis 9) vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht (vgl. VwGH 24.05.2018, Ra 2017/19/0311).

Der Beurteilung des durch den Fremden zu erwartenden Gefährdungspotentials kommt sowohl für die Frage, ob ein Einreiseverbot überhaupt zu verhängen ist, als auch hinsichtlich der Bemessung seiner Dauer zentrale Bedeutung zu. Bei der Prüfung, ob die Annahme einer gegenwärtigen, hinreichend schweren Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit Gefährdung gerechtfertigt ist, muss eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung vorgenommen werden (vgl. VwGH 22.03.2018, Ra 2017/22/0194). Dabei ist auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme (hier: eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit) gerechtfertigt ist (vgl. VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289). Es ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109; 31.8.2017, Ra 2017/21/0120). Dabei ist - abgesehen von der Bewertung des bisherigen Verhaltens - auch darauf abzustellen, wie lange die von einer Person ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist. Diese Prognose ist nachvollziehbar zu begründen (VwGH 30.06.2015, Ra 2015/21/0002, mwN).

Es geht bei der Erlassung eines Einreiseverbotes in keiner Weise um eine Beurteilung der Schuld des Fremden an seinen Straftaten und auch nicht um eine Bestrafung (vgl. VwGH 08.07.2004, Zl. 2001/21/0119).

Das Ausschöpfen der vorgesehenen Höchstfristen darf nicht regelmäßig schon dann erfolgen, wenn einer der Fälle des § 53 Abs. 2 Z. 1 bis 9 bzw. Abs. 3 Z. 1 bis 8 FPG vorliegt (VwGH 30.06.2015, Ra 2015/21/0002). Allerdings ist bei Verurteilungen nach § 53 Abs. 3 Z. 1 FPG das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit wie bereits erwähnt indiziert (VwGH vom 30.07.2014, Zl. 2013/22/0281).

3.2.3. Ausgehend von diesen in der Rechtsprechung herausgebildeten Grundsätzen erweisen sich die mit dem angefochtenen Bescheid verfügte Rückkehrentscheidung sowie die Verhängung eines Einreiseverbotes als dem Grunde nach zutreffend und stellt der Beschwerdeführer aus den nachstehenden angeführten Gründen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar:

Der im Jahr 1989 in Österreich eingereiste Beschwerdeführer wurde erstmals im Jahr 2004 in Österreich straffällig und wurde wegen Körperverletzung und Betrug zu einer Geldstrafe verurteilt. Es folgte im Jahr 2009 eine Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten wegen Hehlerei in Bezug auf eine die Wertgrenze von EUR 3.000,00 übersteigende Sache. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Beschwerdeführer bereits seine Ehegattin aus der Türkei im Wege der Familienzusammenführung nach Österreich geholt. Die älteren vier Kinder des Ehepaares wurden in der Türkei geboren und haben dort bis zum Jahr 2001 gelebt. In den Jahren 2002 und 2003 wurden die beiden jüngsten Söhne des Beschwerdeführers in XXXX geboren.

Im Zeitpunkt seiner dritten Verurteilung war der Beschwerdeführer bereits an drei Baufirmen als Gesellschafter und/oder Geschäftsführer beteiligt gewesen, die allesamt in Konkurs gingen und mangels Masse aus dem Firmenbuch gelöscht wurden. Der Beschwerdeführer hatte weder aus dem Konkurs im Jahre 2003 – noch aus dem Jahre 2005 und im Grunde auch nicht aus dem Konkurs im Jahre 2007 dazugelernt. Denn mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2012, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des schweren Betruges mit einem EUR 3.000,00 übersteigenden Schaden nach den §§ 146, 147 Abs. 2 StGB sowie wegen des Vergehens des betrügerischen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen und Zuschlägen nach dem Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungsgesetz nach dem § 153d Abs. 1 und 3 StGB, sowie wegen des Vergehens der grob fahrlässigen Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen als leitender Angestellter nach den § 159 Abs. 2 und 5 sowie § 159 Abs. 1 und 5 je iVm § 161 StGB zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt, wobei die Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Der Beschwerdeführer hatte daher im Zuge seiner beruflichen Position zumindest bis zum 30.06.2011 kridaträchtig gehandelt und Gläubigerinteressen geschmälert bzw. vereitelt. Dies im Übrigen zu einem Zeitpunkt wo der Beschwerdeführer bereits über mehrere Monate hinweg Arbeitslosengeld und Notstandhilfe vom Staat empfing.

Aus dieser Zeit stammen auch die Schulden des Beschwerdeführers gegenüber der öffentlichen Hand, die bis zum heutigen Tage von ihm nicht getilgt wurden.

In der Folge wurde der Beschwerdeführer wegen einer Vielzahl von Tatbeständen des § 27 SMG und wegen zwei Tatbeständen nach § 28a SMG verurteilt. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2013, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, achter Fall und Abs. 3 SMG, sowie wegen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, achter Fall SMG und wegen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, erster und zweiter Fall und Abs. 2 SMG, wegen des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB und wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach § 83 Abs. 1, § 84 Abs. 2 Z 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt und erfüllt damit den Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z. 1 FPG bereits dem Grunde nach. Auch mit der zweiten Verurteilung des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2015, Zl. XXXX , wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, fünfter und sechster Fall und Abs. 3 und 5 SMG, sowie wegen des Vergehens des teils vollendeten, teils versuchten Suchtgifthandels nach den §§ 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG und Abs. 3 erster Fall SMG, § 15 StGB und des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtmitteln nach § 27 Abs. 1 Z 1 1. Und 2. Fall und Absatz 2 SMG und einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten erfüllt er den Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z. 1 FPG.

Bei diesen ersten beiden Verurteilungen im Bereich der Suchtgiftkriminalität wurde dem Beschwerdeführer bei der Strafbemessung zugestanden, dass er an Suchtmittel gewöhnt sei und die Straftaten vorwiegend deshalb begangen hätte, um sich für seinen persönlichen Gebrauch Suchtmittel oder Mittel zu deren Erwerb zu verschaffen; auf dieses Privileg nimmt die zweite Verurteilung mit Verweis auf § 27 Abs. 5 SMG explizit Bezug.

Bei der Strafzumessung zeigt sich zudem bei der erstgenannten Verurteilung, dass diese im unteren Bereich angesetzt wurde. Bei einer möglichen Strafdrohung von sechs Monaten bis fünf Jahren wurde der Beschwerdeführer zu 18 Monaten verurteilt und ist dies entsprechend zu werten. Es handelte sich dabei auch um die erste Verurteilung mit Bezug auf eine Drogenerkrankung und wurde dem Beschwerdeführer Strafaufschub gemäß § 39 SMG gewährt. Auch die, die Grenzmenge im Zweifel nicht übersteigende Menge bei der gewerbsmäßigen entgeltlichen Überlassung (Spruchpunkt I./) ist entsprechend zu berücksichtigen. Andererseits fällt bereits der lange Zeitraum von einem Jahr hinsichtlich der unentgeltlichen Überlassung von Metamphetamin an zumindest sechs Personen negativ ins Gewicht.

Gravierend ist aber, dass der Beschwerdeführer die Zeit des Strafaufschubes genutzt hat um erneut straffällig zu werden. Entsprechend der zweiten oben genannten Verurteilung hat der Beschwerdeführer nur ein halbes Jahr später wieder Methamphetamin anderen überlassen und zum Eigenbedarf besessen; allerdings steigerte er seine kriminelle Energie indem er eine die Grenzmenge des § 28b SMG übersteigende Menge überließ und vor allem führte er dieses Mal – gemeinsam mit einem Mittäter – im Zeitraum von April 2014 bis September 2014 Chrystal-Meth gewerbsmäßig mehrmals in Österreich ein. Dadurch, dass dem Beschwerdeführer die Privilegierung des § 27 Abs. 5 SMG zugestanden wurde, reduzierte sich der Strafrahmen des § 28b SMG von einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren auf eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren. Der Beschwerdeführer wurde schließlich zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt, gleichzeitig wurde die zu XXXX gewährte bedingte Strafnachsicht widerrufen.

Das Gericht wertete das umfassende Geständnis, den Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist sowie die Sicherstellung eines Großteils des Suchtgiftes als mildernde Umstände. Dass es in einem Fall beim Versuch geblieben ist (Spruchpunkt B./II./) wertete das erkennende Gericht im gegebenen Fall nicht für den Beschwerdeführer, da es sich dabei um den Versuch des Beschwerdeführers gehandelt hat, einem verdeckten Ermittler Suchtgift zu überlassen und lediglich dieser Umstand zur erneuten Festnahme und Inhaftierung des Beschwerdeführers führte – und in Folge dazu, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage war weiter Suchtgift in Österreich anderen zu überlassen bzw. seinen Drogenhandel zu forcieren. Schwer wiegen in diesem Fall weiter die Anzahl der Fälle (Spruchpunkt B./I./) wie auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer eine andere Person bereits dazu bestimmt hatte selbst Suchtmittel zu überlassen. Vom Gericht wurden zudem die vier einschlägigen Vorstrafen, die Tatbegehung binnen zweier offener Probezeiten und die Tatbegehung binnen offenen Strafaufschubs gemäß § 39 Abs. 1 SMG als erschwerend gewertet.

Der Beschwerdeführer befand sich in Hinblick auf die beiden zuvor genannten Verurteilungen einerseits von der Festnahme am 08.03.2013, bei der er versuchten Widerstand gegen die Staatsgewalt leistete bzw. Beamten am Körper verletzte bis zum 02.09.2013 und sodann von 04.12.2014 bis 18.01.2017 jeweils in Untersuchungs- bzw. Strafhaft.

Aus dem Vollzug dieser Strafen wurde er vom Landesgericht XXXX zu Zl. XXXX mit Beschluss vom XXXX .2016 vorzeitig entlassen und wurde ihm der Rest der Freiheitsstrafe von 15 Monaten und 20 Tagen für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Bereits im Februar 2016 hatte das Behandlungsteam der JA XXXX die bedingte Entlassung befürwortet, der Beschwerdeführer „arbeitet stetig an seiner spezifischen Rückfallsrisikominimierung […] mittlerweile ist die Familie eine wichtige Ressource in der sozialen Kontrolle für sein Vorhaben in Hinkunft auf berauschende Substanzen zu verzichten.“

Dieser Zeitraum ist in zweierlei Hinsicht interessant und greift bereits der Abwägung nach Artikel 8 EMRK voraus. Im Zeitpunkt der ersten halbjährigen Inhaftierung des Beschwerdeführers lebten die sechs Kinder, von der damals bereits 21-jährigen erstgeborenen Tochter bis zu den jüngsten damals rund 11 und 10-jährigen Söhnen bei ihrer Mutter und wurden von dieser alleine erzogen und versorgt. Sodann wuchsen die Kinder zwei weitere Jahre ohne ihren Vater auf. Der zweite Aspekt, welcher auch in der dritten Verurteilung aus dem Bereich der Suchtgiftkriminalität aufgegriffen wurde, trifft den raschen Rückfall. Der Beschwerdeführer wurde am 18.01.2017 vorzeitig unter Setzung einer Probezeit bedingt entlassen und beging spätestens im April 2017 bereits die nächsten Straftaten.

Auch die zweite Verurteilung samt knapp 26-monatiger Haft konnte den Beschwerdeführer nicht davon abhalten wieder in den Drogenhandel einzusteigen und so folgte die dritte und bis dato letzte Verurteilung des Beschwerdeführers in Zusammenhang mit Suchtgiftkriminalität:

Konkret wurde er mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2018, Zl. XXXX , wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 zweiter und dritter Fall, Abs. 2 Z 3 SMG, teils iVm § 12 zweite Alternative StGB und des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG bei einer Strafdrohung von einem Jahr bis zu zehn Jahren sodann zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt und erfüllt diese Verurteilung den Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z. 5 FPG. Gleichzeitig mit diesem Urteil wurde dem Beschwerdeführer die mit Urteil des Landesgerichtes XXXX zu Zl. XXXX gewährte bedingte Entlassung widerrufen um den Beschwerdeführer von der Begehung weiterer strafbarer Handlungen abzuhalten.

Ist der Beschwerdeführer ob der Privilegierung des § 27 Abs. 5 iVm § 28a Abs. 3 SMG bei der Verurteilung zu 71 Hv 6/2015y noch an einem – zumindest strafrechtlich definierten - Verbrechen vorbeigeschrammt so wurde ihm dies nunmehr nicht mehr zugestanden bzw. wurde er überhaupt nicht mehr wegen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften im Sinne des § 27 Abs. 1 Z. 1. und Abs. 2 SMG verurteilt. Mit der Einteilung in Verbrechen und Vergehen trifft § 17 StGB eine grundsätzliche Unterscheidung der Straftaten, durch die das besondere Gewicht der als Verbrechen geltenden Straftaten ihrer Art nach betont werden soll. Über die Bezeichnung dieser Straftaten hinaus - mit "Verbrechen" wird schon rein sprachlich ein höherer Unwert konnotiert - bringt die Anknüpfung an ein Mindestmaß der Strafdrohung von mehr als dreijähriger oder lebenslanger Freiheitsstrafe sowie die Einschränkung auf Vorsatztaten zum Ausdruck, dass es sich um solche handelt, denen ein besonders hoher Unrechtsgehalt innewohnt (VwGH 05.04.2018, Ra 2017/19/0531 mwN). Bei bewaffneten Raub und bei Drogenhandel tritt hinzu, dass solche Straftaten sogar als besonders schweres Verbrechen anzusehen sind. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fallen unter den Begriff des "besonders schweren Verbrechens" (der zwar hier nicht unmittelbar von Relevanz ist, weil § 6 Abs. 1 Z. 4 AsylG 2005 betreffend, jedoch dennoch als Orientierungshilfe herangezogen werden kann) Straftaten, die objektiv besonders wichtige Rechtsgüter verletzen. Typische schwere Verbrechen sind etwa Tötungsdelikte, Brandstiftung, Drogenhandel, bewaffneter Raub und dergleichen (VwGH 29.08.2019, Ra 2018/19/0522; 25.10.2018, Ra 2018/20/0360).

Unabhängig davon, dass der Beschwerdeführer damit eindeutig ein schweres Verbrechen begangen hat, ist auf weitere Aspekte Rücksicht zu nehmen. Die konkrete Tathandlung bestand darin, dass der Beschwerdeführer aus der Slowakei Suchtgift, nämlich Pico (Pervitin) mit einem durchschnittlichen Reinheitsgehalt von zumindest 60 % Methamphetamin ausführte bzw. in Österreich einführte und dies in Bezug auf eine das Fünfzehnfache der Grenzmenge gemäß § 28b SMG übersteigenden Menge. bzw. einen anderen zur Einfuhr bestimmte (§ 12 zweiter Fall StGB), und zwar indem er einerseits im Oktober 2017 als Mittäter eine Menge von 30 Gramm brutto in einem Pkw von der Slowakei aus nach Österreich brachte und andererseits indem er von Oktober 2017 bis März 2018 einen Mittäter zur vorschriftswidrigen Ausfuhr aus der Slowakei bzw. Einfuhr nach Österreich von rund 320 Gramm brutto bestimmte, indem er das Suchtgift in Teilmengen in wiederholten Angriffen bei einem Mittelsmann bestellte und es in weiterer Folge im Bundesgebiet übernahm. Ferner hat der Beschwerdeführer zwischen Ende Jänner 2017 und Ende März 2018 insgesamt 165 Gramm Pervitin, sohin in einer die Grenzmenge des § 28b SMG um mehr als das Neunfache übersteigenden Menge mehreren im Urteil namentlich bekannten Personen in jedenfalls mehr als acht Angriffen überlassen. Seiner Verhaftung ging eine längere Ermittlung voraus und stand er bereits im Februar 2017, dh. nur kurze Zeit nach der letzten Haftentlassung, unter entsprechendem Verdacht seitens der zuständigen Behörden (AS 9).

Eine sich inhaltlich nur gegen die Nichtanwendung der Privilegierung nach § 28a Abs. 3 SMG erhobene und mit der diesbezüglichen Begründung des Landesgerichtes XXXX und soeben besprochen Entscheidung in Zusammenhang stehende Nichtigkeitsbeschwerde des Beschwerdeführers wurde mit Beschluss des Obersten Gerichtshofes vom XXXX .2019, Zl. XXXX , zurückgewiesen. In der Begründung wurde unter anderem festgehalten, dass die vom Landesgericht vorgenommene Beweiswürdigung bzw. in der Konstatierung, wonach der Angeklagte die Straftaten nicht vorwiegend deshalb beging, um sich für seinen persönlichen Gebrauch Suchtgift oder die Mittel zu dessen Erwerb zu verschaffen, obwohl er im Tatzeitraum auch selbst fallweise Pervitin konsumierte (US 8), und der Erwägung, unabhängig von einer allfälligen Suchtmittelgewöhnung habe der Angeklagte durch die Tatbegehung primär sein bescheidenes legales Einkommen zur Finanzierung des Lebensunterhalts seiner vierköpfigen Familie aufbessern wollen (US 13 f), gerade keine Berufungsinteresse geltend gemacht werden konnte.

Der Beschwerdeführer legte weiter Berufung gegen den Ausspruch der Strafe sowie gegen den Beschluss nach § 494a StPO ein. Mit Entscheidung des Oberlandesgerichtes XXXX vom XXXX .2019, XXXX wurde dieser jedoch nicht Folge gegeben und auf die Strafbemessungsgründe des Erstgerichtes detailliert eingegangen.

So hatte das Erstgericht einzig das Teilgeständnis als mildernd berücksichtigt. Erschwerend wurden das Zusammentreffen von Straftaten, zwei einschlägige Vorstrafen und der rasche Rückfall des Angeklagten sowie der Tatbegehung während offener Probezeit und als Rückfallstäter nach § 39 StGB gewertet. Das Oberlandesgericht hielt in seiner Entscheidung fest, dass „zunächst sind die besonderen Strafzumessungsparameter dahin zu präzisieren, dass dem Angeklagten das Zusammentreffen von (bloß) zwei strafbaren Handlungen erschwerend zur Last fällt. [...]

Entgegen dem Schöffensenat lassen sich der Strafregisterauskunft des Rechtsmittelwerbers nicht nur zwei, sondern gleich fünf einschlägige Vorstrafen entnehmen. So beruhen Vermögensdelinquenz und durch Gewinnstreben gekennzeichnete Suchtgiftkriminalität auf der gleichen schädlichen Neigung, während sich strafbare Handlungen gegen Leib und Leben wiederum gegen dasselbe Rechtsgut richten wie Suchtgiftdelikte [...].

Ferner ist der Strafzumessungskatalog zum Nachteil des Angeklagten um sein „Gewinnstreben“ zu ergänzen, zumal er die Taten zur Erzielung eines finanziellen Profits ausführte (US 6 f) und dieser Umstand die Strafdrohung nicht bestimmt (13 Os 1/09k). [...]

gestand zwar die den Schuldsprüchen A./b./ und B./ zugrunde liegenden Tathandlungen im Wesentlichen zu, bestritt jedoch in den meisten Fällen die letztlich zur Aburteilung gelangten Mengen und trachtete danach, diese als übertrieben darzustellen [...]

Zur Klarstellung sei an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass sich im Falle des durch den Beschwerdeführer verwirklichten Sachverhalts hier nicht eine strafrechtliche, sondern eine fremdenrechtliche Betrachtungsweise zum Tragen kommt, welche schon ihrem Wesen nach von der ersteren abweicht. So ist für die Beurteilung nicht das Vorliegen der rechtskräftigen Verurteilung, sondern das diesen zu Grunde liegende Verhalten des Fremden maßgeblich, demzufolge ist auf die Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten und auf das daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. VwGH 22.03.2011, Zl. 2008/21/0246).

Zu Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten ist zusammenfassend festzuhalten, dass der Beschwerdeführer bereits seit 2004 kriminelle Energie in Österreich verwirklichte, die immer auf sein eigenes Gewinnstreben und die Verbesserung seiner wirtschaftlichen Situation gerichtet war, daran ändert der Umstand, dass er dies wohl auch für den Lebensunterhalt seiner Familie machte, nichts. Der ersten Betrugshandlung und der Involvierung in insgesamt drei Firmenkonkursen folgte eine Verurteilung wegen Hehlerei und schließlich 2009 die Verurteilung wegen schweren Betruges und mehrfacher Kridadelikte, die mit der beruflichen Selbständigkeit des Beschwerdeführers in Zusammenhang standen. Der Beschwerdeführer hatte also bereits zwischen seinem 30. und 40. Lebensjahr mehrfach versucht durch teils illegales, teils nicht der gebotenen wirtschaftlichen Sorgfalt entsprechenden Verhaltens seine Vermögenssituation zu verbessern. Dazu trat später eine Zeit der Drogenabhängigkeit, welche auch zur ersten diesbezüglichen Verurteilung im Jahr 2013 führte. Der Beschwerdeführer nahm keine ihm zugestandene Nachsicht (Strafaufschub nach § 39 SMG, bedingte Entlassung) an, sondern steigerte in den folgenden Jahren seine kriminelle Energie und nutzte jede Zeit in Freiheit in kürzester Zeit um sich wieder durch kriminelle Handlungen einen finanziellen Vorteil zu verschaffen – anstatt den legalen Weg der Erwerbstätigkeit zu wählen. Das Verb „wählen“ wird an dieser Stelle bewusst verwendet, denn der Beschwerdeführer hatte nach jeder seiner Taten bzw. Haftentlassungen die Gelegenheit seine Familie auf legalem Weg zu unterstützen. Er hat auch immer wieder legal als Bauarbeiter gearbeitet, aber das Einkommen dürfte ihm nicht gereicht haben. Der Beschwerdeführer hat sich nicht um legale Alternativen bemüht, wie eine Umschulung, die Verbesserung seiner sprachlichen Fähigkeiten, die Bewerbung um eine höhere Funktion, eine Zusatzausbildung oder dergleichen – er wählte bewusst den Weg der ihn zur andauernden Inhaftierung führte.

Und dieser Weg führte 2015 zur ersten Verurteilung wegen Drogenhandels (Tatzeitraum November 2013 bis Frühjahr 2014). Nach der Diktion der Strafgesetze handelt es sich dabei um ein Verbrechen mit einer grundsätzlichen Strafdrohung von bis zu fünf Jahren. Das zuständige Gericht erkannte auch, dass sich der Beschwerdeführer dadurch eine fortlaufende Einnahme zur Finanzierung seines Lebensunterhaltes verschaffen wollte; allerdings wurde ihm zugestanden, dass er an Suchtmittel gewöhnt war und die strafbaren Handlungen vorwiegend beging um seinen Eigenkonsum zu finanzieren und wurde er schlussendlich – formalita – wegen eines Vergehens verurteilt. Die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen ist von grundsätzlicher Relevanz, für die fremdenrechtliche Perspektive relativiert sie sich beispielsweise bereits mit Verweis auf die Formulierung in Artikel 33 GFK der von „wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde“, spricht. Auch wenn gegenständlich kein Asylverfahren vorliegt so sind die diesbezüglichen Wertungen für eine Beurteilung des gegenständlichen Falles durchaus anwendbar. Der EGMR wiederum hat den Drogenhandel als Plage ["scourge"] bezeichnet und ein hartes Vorgehen nationaler Behörden dagegen billigt (vgl. EGMR 15.10.2020, Akbay u.a./Deutschland, 40495/15, Z 110). Der EuGH hält ferner fest, dass der illegale Drogenhandel eine Bedrohung der Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit, der Stabilität und der Sicherheit der Mitgliedstaaten darstellt (vgl. EuGH 23.11.2010, C- 145/09, Panagiotis Tsakouridis).

Auch der Verwaltungsgerichtshof hat in Bezug auf Suchtgiftdelinquenz wiederholt festgehalten, dass diese ein besonders verpöntes Fehlverhalten darstellt, bei dem erfahrungsgemäß eine hohe Wiederholungsgefahr gegeben ist und an dessen Verhinderung ein besonders großes öffentliches Interesse besteht (vgl. VwGH 08.07.2020, Ra 2019/14/0272, mwN) sowie, dass eine durch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme bewirkte Trennung von Familienangehörigen im großen öffentlichen Interesse an der Verhinderung von Suchtgiftkriminalität in bestimmten Konstellationen in Kauf zu nehmen ist (VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0034 mwN).

Die Wiederholungsgefahr hat sich gegenständlich auch umgehend bewahrheitet. Der Beschwerdeführer wurde am 18.01.2017 entlassen und beging zumindest ab April 2017 erneut Straftaten – diese setzte er bis zu einer Verhaftung im März 2018 fort. Damit ist auch festzuhalten, dass der Beschwerdeführer bei seinen Aktivitäten immer nur durch Festnahmen gestoppt wurde; ein eigenes Ablassen lag nie vor. Aus dem Verhalten des Beschwerdeführers und vor allem auch aus seiner Verantwortung in der Verhandlung vor dem Landesgericht XXXX im Jahr 2018 wie auch den einzelnen Tathandlungen samt deren Anzahl zeigt sich deutlich, dass der Beschwerdeführer einerseits seine Aktivitäten fortgesetzt hätte und andererseits, dass er damit dem (verbotenen) Konsum von Suchtmitteln im Bundesland XXXX Vorschub geleistet hat. Er hat die Abhängigkeit anderer Personen ausgenützt, diesen einen Zugang zu verbotenen Suchtmitteln eröffnet und damit die Nachteile Dritter verstärkt.

Ferner ist festzuhalten, dass den Beschwerdeführer auch die Verankerung in seine Familie nie von kriminellen Aktivitäten abhalten konnte.

Der Beschwerdeführer hat somit zwei schwere Verbrechen verübt, nämlich das Verbrechen des Suchtgifthandels gemäß § 28a Abs. 1 5. Fall und Abs. 3 1. Fall, wobei es teilweise beim Versuch geblieben ist sowie gemäß § 28a Abs. 1 2., 3. Fall und Abs. 2 Z. 3 SMG (im zweiten Fall als Bestimmungstäter iSd § 12 StGB) einschließlich der damit einhergehenden weiteren Taten, wobei die Verbrechen jeweils aufgrund ihrer Gravidität und des Zusammentreffens die Erlassung eines Einreiseverbotes gemäß § 52 Abs. 5 FPG 2005 aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes rechtfertigt.

Die vom Bundesverwaltungsgericht angenommene zweifache Begehung eines Verbrechens gründet auf einer fremdenrechtlichen Perspektive, wonach Drogenhandel sowohl vom Verwaltungsgerichtshof als auch vom EGMR als besonders schweres Verbrechen angesehen werden und die bei der Verurteilung im Jahr 2015 zugestandene Privilegierung hierfür nicht von Belang ist. Insbesondere kann im vorliegenden Falle nicht von einem einmaligen Fehlverhalten des Beschwerdeführers gesprochen werden, auch nicht davon, dass er lediglich als Konsument in das Suchtgiftmilieu abglitt und sich vorrangig selbst mit Suchtmitteln versorgen wollte. Mit seinem Verhalten demonstrierte der Beschwerdeführer eindrucksvoll die von ihm ausgehende schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit.

Was das Persönlichkeitsbild des Beschwerdeführers betrifft so ist festzuhalten, dass zu dessen Beurteilung auch getilgte Strafen herangezogen werden dürfen. Somit wird konstatiert, dass sich der Beschwerdeführer bereits seit dem Jahr 2004 durch kriminelles Verhalten Vermögensvorteile verschaffen wollte. Dahingehend relativiert sich auch der lange Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich und auch sein bestehendes Familienleben.

Weiters zeigt sich deutlich, dass es dem Beschwerdeführer bei seiner letzten rechtskräftigen Verurteilung schon lange nicht mehr um den eigenen Konsum ging. Laut Bestätigung der Justizanstalt XXXX hatte er im Jahr 2015 so erfolgreich an einer Entwöhnungsbehandlung teilgenommen, dass er schon im Februar 2016 keinen Suchtdruck mehr verspürte, sodass vom Behandlungsteam seine bedingte Entlassung mit Anordnung von Bewährungshilfe (ohne weiterführende Entwöhnungsbehandlung) bereits im Februar 2016 befürwortet wurde. Nach seiner Festnahme im März 2018 wiederum zeigte der Beschwerdeführer keinerlei Entzugserscheinen und wurde weder substituiert noch nahm er ärztliche, psychologische oder psychiatrische Hilfe wegen einer allfälligen Suchtmittelgewöhnung in Anspruch.

Bemerkenswert sind auch die beiden ärztlichen Vermerke in der Krankengeschichte des Beschwerdeführers vom 04. und 05.11.2020. Laut dem Arzt für Allgemeinmedizin sei der „Insasse [...] hierorts nicht wegen chron. Erkrankungen in Behandlung und hat keinerlei Medikation. Er ist medizinisch insgesamt unauffällig.“ Die Fachärztin für Psychiatrie konstatierte ferner „Der Untersuchte ist hierorts psychiatrisch unbehandelt und medikamentenfrei. Eine aktuelle Substanzstörung liegt nicht vor bzw. ist sie uns nicht bekannt.“

Zusammenfassend stand beim Beschwerdeführer die eigene Drogensucht nie im Mittelpunkt seiner kriminellen Aktivitäten. Er hat vielmehr aktiv Suchtmittelhandel zwischen der Slowakei und Österreich betrieben und in einer Vielzahl von Angriffen anderen Personen kleinere Mengen Suchtgift überlassen um sich selbst im Sinne eines regelmäßigen Einkommens finanzielle Vorteile zu verschaffen. Drogenhandel ist wie bereits festhalten eine Plage, die gesundheitlichen und finanziellen Schaden bei anderen Personen verursacht, die Misere und körperliche Abhängigkeit anderer ausnützt, gleichzeitig der Volkswirtschaft wie auch dem Gemeinwohl argen Schaden hinterlässt. Gegenständlich hat der Beschwerdeführer mit dem Wirkstoff Metamphetamin (Grundlage von Pervitin und Chrystal Meth) gehandelt, einem Stoff der schon nach wenigen Sekunden des Konsums zu einem starken Rauschgefühl führt, dessen Wirkungen relativ lange andauern und welches starkes Suchtpotential entwickelt (vgl. http://www.praevention.at ). Konkret ist auch die teilweise unentgeltliche Überlassung von Suchtmitteln durch den Beschwerdeführer besonders gravierend, zumal dieses Verhalten objektiv betrachtet dazu geeignet ist, Einstiegsbarrieren zu beseitigen um Personen an Suchtgifte zu gewöhnen, sprich um zukünftige Kunden zu gewinnen.

Schwer wiegen zusammengefasst auch die langen Tatzeiträume, die immer nur durch Festnahmen unterbrochen wurden; die raschen Rückfälle und die völlige Ignoranz des Beschwerdeführers gegenüber staatlichen Sanktionen. Dem Beschwerdeführer wurde durch Strafaufschub oder bedingte Entlassung immer wieder entgegengekommen – dieses Entgegenkommen von staatlicher Seite wurde vom Beschwerdeführer aber nie zur Resozialisierung und Verantwortungsübernahme gegenüber seiner Familie genützt, sondern lediglich zu erneuter Straffälligkeit. Die immer kürzer werdenden Zeiten an rechtmäßen Verhalten, die sich steigernde Delinquenz (beispielsweise in Tatformen, Mengen und Angriffen) lässt weiterer sozialschädliches Verhalten des Beschwerdeführers in Zukunft vermuten.

Das Bundesverwaltungsgericht tritt daher der Anschauung des belangten Bundesamtes bei, dass vom Beschwerdeführer eine schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinn des § 52 Abs. 5 FPG 2005 und des § 53 Abs. 3 FPG ausgeht.

3.2.2. Zur weiter anzustellenden zukunftsgerichteten Prognose ist eingangs festzuhalten, dass, um von einem Wegfall oder einer wesentlichen Minderung der vom Fremden ausgehenden Gefährlichkeit ausgehen zu können, es eines Zeitraums des Wohlverhaltens bedarf, wobei in erster Linie das gezeigte Wohlverhalten in Freiheit maßgeblich ist (VwGH 22.03.2018, Ra 2017/22/0194). Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die Entscheidung nur nach Einzelfallbeurteilung erfolgen kann, weshalb insoweit die abstrakte allgemeine Festlegung eines Wohlverhaltenszeitraumes nicht in Betracht kommt. Während einer Anhaltung in Strafhaft besteht in der Regel keine Gelegenheit für ein Fehlverhalten, sodass die in Haft verbrachte Zeit bei der Beurteilung des Wohlverhaltens außer Betracht zu bleiben hat (VwGH 25.11.2010, Zl. 2008/18/0458).

Bei der Prognosebeurteilung kommt es nicht (nur) auf die strafgerichtlichen Verurteilungen als solche an, es ist vielmehr eine – aktuelle – Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Fremden vorzunehmen und die Frage zu beantworten, ob sich daraus (weiterhin) eine maßgebliche Gefahr ableiten lässt (VwGH 24.04.2013, Zl. 2012/18/0072).

Bei strafbaren Handlungen infolge Gewöhnung an Suchtmittel bedarf es der Rechtsprechung zufolge eines maßgeblichen Zeitraums des Wohlverhaltens zusätzlich zum Abschluss einer Therapie, um einen Wegfall der Gefährdung annehmen zu können (VwGH 01.03.2018, Ra 2018/19/0014; 22.05.2014, Ro 2014/21/0007 mwN).

3.2.3. Der Beschwerdeführer befindet sich im Zeitpunkt der Erlassung der gegenständlichen Entscheidung noch in Strafhaft. Das voraussichtliche Strafende ist der 31.01.2023. Eine bedingte Entlassung zum 1/2-Stichtag wurde nach Anhörung am 20.08.2020 abgelehnt. Ein nach ständiger Rechtsprechung geforderter Wohlverhaltenszeitraum in Freiheit ist im vorliegenden Fall daher denkmöglich. Im Übrigen stellt das in den letzten zwei Verurteilungen dargestellte Verhalten des Beschwerdeführers ein besonders verpöntes Fehlverhalten dar, bei dem erfahrungsgemäß eine hohe Wiederholungsgefahr besteht (vgl. dazu VwGH 22.11.2012, Zl. 2011/23/0556, 04.04.2019, Ra 2019/21/0060).

Für diesen Umstand spielt das Wohlverhalten der Beschwerdeführers in der Haft, seine dort ausgeübte berufliche Tätigkeit, wie auch der gelockerte Vollzug samt Freigang zur integrativen Berufsausübung keine Rolle. Der Verwaltungsgerichtshof hat zum Status eines „Freigängers“ bereits judiziert, dass sich daraus keine maßgebliche Minderung der sich aus dem strafbaren Vorverhalten ergebenden Gefährdung ableiten lässt (vgl. VwGH 12.10.2010, Zl. 2010/21/0335, zuletzt auch 31.05.2022, Ra 2020/21/0176).

Zur Suchtmittelgewöhnung ist bereits darauf zu verweisen, dass der Beschwerdeführer nach erfolgreicher Suchtmittelentwöhnung wieder in den Drogenhandel eingestiegen ist und dies primär zum Zwecke der Finanzierung seines Lebensunterhaltes und jedenfalls nicht (mehr) zur Beschaffung für den eigenen Konsum.

Somit kann aus dem bisherigen Verhalten des Beschwerdeführers in der Haft keine Garantie für einen nachhaltigen Gesinnungswandel und ein künftiges Wohlverhalten in Freiheit erachtet werden (vgl. ua. VwGH 19.04.2012, Zl. 2010/21/0507).

Schließlich ist nochmals auf die ständige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach es sich bei der Suchtgiftkriminalität um eine besonders gefährliche Art der Kriminalität handelt, bei der die Wiederholungsgefahr erfahrungsgemäß besonders groß ist (was sich auch im gegenständlichen Fall durch die raschen Rückfälle bereits in der Vergangenheit gezeigt hatte) und bei Verbrechen in Zusammenhang mit Suchtmitteln in der Regel weder ein langjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet noch eine vollkommene soziale Integration im Inland einem Einreiseverbot entgegenstehen (vgl. ua. VwGH 30.06.2021, Ra 2018/22/0124, 25.02.2016, Ra 2016/21/0022, 03.07.2018, Ra 2018/21/0066 mwN).

Das Bundesverwaltungsgericht gelangt daher in Ansehung der vom Verwaltungsgerichtshof geforderten Voraussetzung und der dem strafgerichtlichen Verhalten des Beschwerdeführers zugrunde gelegten Taten nicht von einer positiven Zukunftsprognose aus. Das seitens der belangten Behörde ausgesprochene Einreisverbot erweist sich daher dem Grunde nach als rechtmäßig.

3.2.4. Zur Höhe des verhängten Einreiseverbotes ist festzuhalten, dass als maßgebliche Umstände für die Dauer des Einreiseverbotes außer dem konkret gesetzten Fehlverhalten und der daraus resultierenden Gefährdung öffentlicher Interessen auch auf die privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen ist. In diesem Zusammenhang ist – wie sogleich zu erörtern sein wird – zu berücksichtigen, dass, der Beschwerdeführer in aufrechter Ehe zur Mutter seiner sechs in Österreich lebenden Kinder steht und sich ein Großteil der Familie in Österreich befindet und dem Privatleben des Beschwerdeführers damit auch ein höheres Gewicht einzuräumen ist.

Ausgehend von den vorstehenden Erwägungen und den dargelegten Kriterien der Strafzumessung bedarf es eines entsprechend langen Zeitraums des Wohlverhaltens, um von einem Wegfall der Gefährdung ausgehen zu können. Ein Einreiseverbot von fünf Jahren, währenddessen der Beschwerdeführer sein Wohlverhalten unter Beweis zu stellen hat, erweist sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes in einer Gesamtwürdigung des festgestellten Sachverhaltes in diesem Zusammenhang als ausreichend, aber insgesamt notwendig. Dementsprechend wurde Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides mit der Maßgabe geändert, dass ein Einreiseverbot von einer Dauer von 5 Jahren verhängt wurde.

3.3. Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):

3.3.1. Der mit „Schutz des Privat- und Familienlebens“ betitelte § 9 des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG) lautet:

(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,4. der Grad der Integration,5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.“

Der durch das Fremdenpolizeirechtsänderungsgesetz 2018 mit Ablauf des 31.08.2018 aufgehobene Absatz 4 des § 9 BFA-VG lautete wie folgt:

Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 Abs. 1a FPG nicht erlassen werden, wenn

 

1.

ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl. Nr. 311, verliehen hätte werden können, oder

 

2.

er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.

   

Dass sich der Fremde vor Begehung seiner Straftaten iSd. § 10 Abs. 1 Z 1 StbG 1985 mehr als zehn Jahre rechtmäßig und ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hatte und davon zumindest fünf Jahre niedergelassen war, lässt den Schluss zu, dass der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG 2014 idF. vor dem FrÄG 2018 erfüllt sein dürfte (vgl. dazu, dass die darin enthaltenen Wertungen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG 2014 weiter beachtlich sind, etwa VwGH 16.07.2020, Ra 2019/21/0335; VwGH 18.01.2021, Ra 2020/21/0306). Um vor diesem Hintergrund dennoch eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot rechtfertigen zu können, bedarf es einer spezifischen, auf Grund besonders gravierender Straftaten vom Fremden ausgehenden Gefahr (vgl. VwGH 31.08.2021, Ra 2021/21/0075).

3.3.2. Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt. Konkret ist zu prüfen ob durch Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme im gegenständlichen Fall ein Eingriff in das Grundrecht auf Schutz des Familien- und Privatlebens vorliegt und ob bei Vorliegen eines Eingriffs dieser im Sinne der in Artikel 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen notwendig (verhältnismäßig) ist, was nichts anderes bedeutet, als dass die Privat- und Familieninteressen gegen die öffentlichen Interessen abzuwägen sind. Dabei hat die Behörde eine umfassende Würdigung vorliegender Tatsachen und Beurteilungsparameter vorzunehmen.

Artikel 8 EMRK besitzt im Gegensatz zu anderen Konventionsrechten keinen Absolutheitscharakter, dh. ein Eingriff in die geschützten Rechte kann daher unter Umständen gerechtfertigt sein. Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt. Die Unterscheidung zwischen Familien- und Privatleben soll nicht überbewertet werden und können die entsprechenden Faktoren gemeinsam behandelt werden.

Der EGMR unterscheidet in seiner Rechtsprechung nicht zwischen einer ehelichen Familie (sog. "famille légitime") oder einer unehelichen Familie ("famille naturelle"), sondern stellt auf das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens ab (siehe EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 454; 18.12.1986, Johnston u.a., EuGRZ 1987, 313; 26.05.1994, Keegan, EuGRZ 1995, 113; 12.07.2001 [GK], K. u. T., Zl. 25702/94; 20.01.2009, Serife Yigit, Zl. 03976/05). Als Kriterien für die Beurteilung, ob eine Beziehung im Einzelfall einem Familienleben iSd. Art. 8 EMRK entspricht, kommen tatsächliche Anhaltspunkte in Frage, wie etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes, die Art und die Dauer der Beziehung sowie das Interesse und die Bindung der Partner aneinander, etwa durch gemeinsame Kinder, oder andere Umstände, wie etwa die Gewährung von Unterhaltsleistungen (EGMR 22.04.1997, X., Y. und Z., Zl. 21830/93; 22.12.2004, Merger u. Cros, Zl. 68864/01). So verlangt der EGMR auch das Vorliegen besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgeht (siehe Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 [2008] 197 ff.).

Nach der Rechtsprechung des EGMR sind Kinder aus einer Familienbeziehung im Sinne des Art. 8 EMRK allein auf Grund ihrer Geburt und von diesem Zeitpunkt an ipso iure Teil dieser Familie. Mit der Trennung der Eltern endet nicht automatisch das Familienleben eines der Elternteile zu seinem minderjährigen Kind. Ob ein „Familienleben" im Sinne von Artikel 8 besteht, ist im Wesentlichen eine Tatsachenfrage, bei der es darauf ankommt, ob tatsächlich und praktisch enge persönliche Bindungen vorliegen, insbesondere das nachweisbare Interesse des Vaters an dem Kind und sein Bekenntnis zu ihm sowohl vor als auch nach der Geburt (EGMR 03.12.2009, Zaunegger gegen Deutschland, Zl. 22028/04, Rdnr. 37 und 38)

3.3.3. Zum Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers iSd Art 8 EMRK (gemäß den Kriterien des § 9 Abs. 2 BFA-VG und der Boultif-Kriterien wie auch in Hinblick auf Artikel 12 der Daueraufenthaltsrichtlinie und dem EuGH Urteil in Sachen Ziebell, C-371/08) ist folgendes auszuführen:

Der ist mit einer türkischen Staatsangehörigen, welche im Wege der Familienzusammenführung im Jahr 2001 in das Bundesgebiet einreiste, verheiratet. Die gemeinsamen Kinder wurden 1992, 1994, 1996 und 1999 in der Türkei bzw. die beiden jüngsten Kinder 2002 und 2003 bereits in Österreich geboren. Die älteren Kinder wurden bereits in der Türkei sozialisiert und gingen dort teilweise in die Schule. Die Kernfamilie des Beschwerdeführers befindet sich in XXXX und liegt durch die Rückkehrentscheidung ein Eingriff in das Familienleben vor, der auf seine Zulässigkeit hin zu prüfen ist.

Das Familienleben dauert trotz Inhaftierung des Beschwerdeführers an, durch die im Verfahren übermittelten Besucher- und Ausgangslisten ergibt sich eindeutig, dass regelmäßiger Kontakt zwischen den Eheleuten bzw. mit den Kindern besteht. Auch konnte der Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung und zuletzt in seinen Stellungnahmen detailliert Auskunft über das Leben seiner Kinder geben. Gegenständlich ist jedoch zu bedenken, dass die Kinder bereits volljährig sind. Zwei der Töchter sind bereits verheiratet und haben somit ein eigenes Familienleben. Vier Kinder wohnen gemeinsam mit der Mutter in einer Gemeindewohnung und hat diese es in den letzten Jahren auch ohne den Beschwerdeführer geschafft diese zu erziehen bzw. finanziell das Leben der Familie zu bestreiten. Die drei älteren der vier im gemeinsamen Haushalt verbleibenden Kinder können bereits finanziell zum Familieneinkommen beitragen; der jüngste Sohn befindet sich in der letzten Klasse einer HTL.

Wenn der Beschwerdeführer vermeint er könne deswegen nicht in die Türkei zurückgehen, weil er für seine Kinder sorgen müsse so kann das Bundesverwaltungsgericht dieser Argumentation nicht folgen. Die Kinder benötigen die finanzielle Hilfe ihres Vaters nicht mehr. Die Mutter ist arbeitsfähig und kann daher für sich und ihren jüngsten Sohn – sollte er nach der Matura nicht gleich eine Arbeit finden - sorgen. Der Beschwerdeführer hat in den letzten Jahren zudem überhaupt nichts zum Haushaltseinkommen der Familie beigetragen. Auch zuvor hat er diese größtenteils nur durch seine illegalen Machenschaften unterstützt; die letzte legale Erwerbstätigkeit liegt immerhin sechs Jahre zurück. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Beschwerdeführer nunmehr in der Haft einer regelmäßigen Tätigkeit als Fleischer nachgeht und im offenen Vollzug in einer berufsintegrierenden Einrichtung tätig ist. Die vom Beschwerdeführer zuletzt vorgebrachte Möglichkeit nach Haftentlassung als Bauhelfer arbeiten zu können ändert an dieser Einschätzung ebensowenig; die diesbezügliche Einstellungszusage enthält nicht einmal Angaben zum konkreten Lohn und erschließt sich dem Bundesverwaltungsgericht auch nicht, warum der Beschwerdeführer – der jahrzehntelang am Bau immer nur kurzfristig beschäftigt gewesen ist und damit gerade nicht durchgehend für die Familie sorgen konnte – sich nunmehr beispielsweise nicht eine Arbeit als Fleischer sucht. Die Einstellungszusage wird in konkreten Kontext lediglich als Gefälligkeitsdienst bewertet.

Der Beschwerdeführer befand sich im Jahr 2013 ein halbes Jahr in Haft; sodann von Dezember 2014 bis Jänner 2017 durchgehend und nunmehr laufend seit März 2018. Er war keinem seiner Kinder in den letzten Jahren daher ein Vater oder erziehungstechnisches Vorbild. Er hat weder mit seinen jüngsten Söhnen Fußballspiele besucht, er hat keine schulischen Hausübungen kontrolliert und stand den Schulen nicht als Ansprechpartner zur Verfügung, er war nicht da wenn ein Kind krank war oder seiner Hilfe bedurfte und kann daher nicht erkannt werden inwiefern der Beschwerdeführer für seine Kinder eine weitere derart wichtige Rolle spielen würde, als dass eine weitere Trennung – zumindest auf Dauer des Einreiseverbotes – nicht möglich wäre. Es liegen damit auch unter Beachtung des Kindeswohles keine außergewöhnlichen Umstände vor, die eine Verletzung des Art. 8 EMRK erkennen lassen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang ferner, dass die Familie des Beschwerdeführers regelmäßig in die Türkei reist und daher der Kontakt auch durch Besuche und regelmäßig über Telefon oder neue Medien aufrechterhalten werden kann. Die älteren Kinder haben in der Türkei bereits eine Sozialisation erfahren, die Ehegattin hatte die Kinder bis zu ihrer Einreise nach Österreich 2001 bereits alleine versorgt und sprechen alle die türkische Sprache und sind zudem alle Familienmitglieder nach wie vor türkische Staatsangehörige, was Reisen bzw. Besuche ebenfalls erleichtert.

Die Ehegattin und die Kinder des Beschwerdeführers sind in Anbetracht der Sachlage und der daraus abzuleitenden gesicherten Existenzgrundlage in Österreich auch ohne Anwesenheit des Beschwerdeführers nicht dazu gezwungen, das Bundesgebiet bzw. das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen (siehe dazu etwa VwGH 17.04.2013, Zl. 2013/22/0062).

Umgekehrt ist der Ehegattin und den Kindern auch eine Wiederansiedelung in der Türkei zumutbar. Ehegattin und sämtliche Kinder sind türkische Staatsangehörige und sprechen auch die Mehrheitssprache der Türkei. Die älteren Kinder sind in der Türkei geboren und erhielten dort eine grundlegende Sozialisation, zudem bewegt sich die Familie entsprechend den Aussagen des Beschwerdeführers und der Registerauszüge vornehmlich im türkischen Milieu. Somit stünde einer Übersiedelung der Familie oder auch bloß Teilen der Familie in die Türkei nichts entgegen. Die volljährigen Kinder können dies für sich selbst (und ihre Familien) inzwischen selbst entscheiden. Die Gemeindewohnung kann ohne größeres Procedere aufgegeben werden; der Ehegattin stehen auch in der Türkei Berufsmöglichkeiten zur Verfügung und verfügt sie über familiären Anschluss in der Türkei.

Eine Trennung von einem österreichischen oder in Österreich dauerhaft niedergelassenen Ehepartner ist im Ergebnis nur dann gerechtfertigt, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie insbesondere bei Straffälligkeit des Fremden (vgl. VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0162 unter Hinweis auf VwGH 23.03.2017, Ra 2016/21/0199; VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0271). Die durch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme bewirkte Trennung von Familienangehörigen ist im großen öffentlichen Interesse an der Verhinderung von Suchtgiftkriminalität in bestimmten Konstellationen in Kauf zu nehmen (vgl. VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0162 unter Hinweis auf VwGH 05.10.2017, Ra 2017/21/0174; VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0271).

Das Bundesverwaltungsgericht hält die Trennung des Beschwerdeführers von seiner Familie im konkreten Fall ob seiner mehrfachen Verbrechen des Suchtgifthandels und der mehrfachen Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften und unter Berücksichtigung seiner weiteren im Bundesgebiet begangenen Straftaten für gerechtfertigt (siehe noch unten Pkt. 3.3.5.).

3.3.4. Die öffentlichen Interessen an der Erlassung einer Rückkehrentscheidung überwiegen die Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich und ist dieser Eingriff im Sinne des Art 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig. Dazu treten noch weitere Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichtes:

Der Beschwerdeführer hält sich seit dem Jahr 1989 rechtmäßig in Österreich auf und verfügt über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0185)

Zur Integration ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer in Österreich vornehmlich im Baugewerbe beschäftigt war. Dem Bundesverwaltungsgericht ist bewusst, dass das Baugewerbe auftragsbezogen arbeitet und daher immer wieder Zeiten von Arbeitslosigkeit entstehen können. Gegenständlich weist der Beschwerdeführer aber 19 Arbeitgeber auf und konnte sich– bis auf einen Arbeitgeber – nie länger bei einer Firma halten. Vielmehr gründete er im Laufe der Jahre eigene Firmen im Baugewerbe, wobei diese zumeist in Konkurs gingen. Zwischen den Zeiten einer Erwerbstätigkeit war der Beschwerdeführer immer wieder auf Transferleistungen durch den Staat angewiesen. Erschwerend wiegt in diesem Zusammenhang auch die rechtskräftige Verurteilung wegen Kridadelikten aus dem Jahr 2012.

Zur weiteren Integration ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer selbst nach 30 Jahren der deutschen Sprache nur insoweit mächtig ist, als er eine Konversation in alltäglichen Situationen führen kann. Er hat auch keinerlei Deutschkurse oder sonstige Ausbildungen besucht. Der vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte große Bekannten- und Verwandtenkreis besteht überwiegend wiederum aus türkischen oder türkischstämmigen Personen. Bezeichnend ist auch, dass sich kein Familienmitglied bis dato um die österreichische Staatsbürgerschaft bemüht hat. Eine tiefergehende Integration in die österreichische Gesellschaft kann nicht erkannt werden.

Der Beschwerdeführer wurde in der Türkei sozialisiert, ist dort zur Schule gegangen, und hat selbst nach seiner dauerhaften Einreise nach Österreich sein Familienleben quasi in der Türkei fortgesetzt, indem er dort seine Cousine heiratete und vier Kinder bekam. Er spricht die Mehrheitssprache seiner Heimat und verfügt durch seine Mutter und seinen Bruder über familiäre Anknüpfungspunkte. Es ist dem Beschwerdeführer nicht in Abrede zu stellen, dass die Verbindungen ob seiner früheren Drogensucht und seiner Straffälligkeit getrübt sind, aus dem Ermittlungsverfahren ergeben sich aber keinerlei Hinweise darauf, dass er seitens seiner (erweiterten) Familie nicht wiederaufgenommen werden würde, immerhin haben sich auch die türkischen Freunde und Bekannten in Österreich nicht von ihm abgewendet, wie sich seinen Aussagen und den Besucherlisten entnehmen lässt. Der Kontakt und damit auch das Wissen über die kulturellen Gepflogenheiten in der Türkei sind zudem ob der bis zur letzten Inhaftierung regelmäßigen Besuche (zuletzt von Mitte Jänner bis Mitte Februar 2018) nicht abgerissen.

Wie bereits in der Beweiswürdigung festgehalten, ist nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr keine gesicherte Existenzgrundlage vorfinden würde und wurden dahingehend auch keine Befürchtungen seitens des Beschwerdeführers geäußert. Es ist ihm als erwerbsfähiger Mann zumutbar, seine Berufserfahrungen im Baugewerbe wie auch seine nunmehrige Ausbildung zum Fleischer in der Türkei zur Einkommenserwerb einzusetzen. Das persönliche Profil des Beschwerdeführers bietet keinen Anlass zu Befürchtung, dass er in der Türkei keine Lebensgrundlage vorfinden würde. Auch wenn die Arbeitslosigkeit in der Türkei erhöht und die wirtschaftliche Lage ob der COVID-19 Pandemie angespannt ist, ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer als Arbeiter mit mehrjähriger Berufserfahrung - nach einer anfänglichen Zeit der Arbeitssuche - eine Beschäftigung auffinden wird, zumal Gegenteiliges im Verfahren auch nicht substantiiert vorgebracht wurde. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer im Rückkehrfall als türkischen Staatsbürger der Zugang zum dortigen Sozialsystem (siehe dazu die Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Türkei) offensteht, sodass insgesamt eine gesicherte Existenzgrundlage in der Türkei als erwiesen anzusehen ist. Alter und Gesundheitszustand des Beschwerdeführers stehen einer Rückkehrentscheidung ebenfalls nicht entgegen.

Soweit der Beschwerdeführer über private Bindungen in Österreich verfügt, werden diese zwar durch eine (zeitweilige) Rückkehr in die Türkei gelockert, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass der Beschwerdeführer hierdurch gezwungen wird, den Kontakt zu jenen Personen, die ihm in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Auch hier steht es ihm frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte gegebenenfalls auch in einem Drittstaat etc.) aufrecht zu erhalten.

Zusammenfassend liegen daher – bis auf die lange Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet - keine außergewöhnlichen privaten Anknüpfungspunkte vor.

3.3.5. Der Beschwerdeführer wurde in Österreich sechsmal rechtskräftig verurteilt und wirkt sich die dahinterstehende massive Straffälligkeit maßgeblich relativierend auf das festgestellt Privat- und Familienleben in Österreich aus.

Selbst wenn die Straftaten schon länger zurückliegen, so ist wegen des generell besonders großen öffentlichen Interesses an der Unterbindung von Suchtgiftdelikten und im Falle eines raschen einschlägigen Rückfalls und der Begehung von gewerbsmäßigem Suchtgifthandel von einer maßgeblichen Vergrößerung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung auszugehen (VwGH 20.03.2012, Zl. 2010/21/0147 zur Interessenabwägung gemäß § 66 Abs. 2 Z 6 FrPolG 2005 bei zweimaliger rechtskräftiger Verurteilung wegen Suchtmitteldelikten). Im gegenständlichen Fall liegen drei rechtskräftige Verurteilungen wegen Suchtmitteldelikten vor; die letzten beiden in Bezug auf Drogenhandel.

Auch das Gewicht des langjährigen Aufenthaltes erfährt durch die begangenen Straftaten eine maßgebliche Minderung. Der Verwaltungsgerichtshof geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält, als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält. Zu Lasten eines Fremden ins Gewicht fallen demnach rechtskräftige Verurteilungen durch ein inländisches Gericht (VwGH 27.02.2007, Zl. 2006/21/0164 mwN, wonach das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung den öffentlichen Interessen im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK eine besondere Gewichtung zukommen lässt).

Das Bundesverwaltungsgericht hat oben unter Punkt 3.2. mit näherer Begründung ausgeführt, dass vom Beschwerdeführer eine schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgeht. Diese schwere Gefahr ist aufgrund der geringen zeitlichen Distanz zu den verübten Straftaten, der raschen Rückfälle, der langjährigen Delinquenz, der Anzahl von Verurteilungen (vor allem mit der darin festgestellten Vielzahl an Angriffen), dem Umstand, dass der Drogenhandel zuletzt jedenfalls aus reinem Gewinnstreben und zur Finanzierung des Lebensunterhaltes, der Gesamtdauer der verhängten Freiheitsstrafen, sowie der bereits zuvor getätigten strafbaren Handlungen aufgrund der gleichen schädlichen Neigung (Betrug, Kridadelikte, Hehlerei) und in Anbetracht des insgesamt in der mündlichen Beschwerdeverhandlung von der Persönlichkeit des Beschwerdeführers gewonnenen Bildes als gegenwärtig und aktuell zu beurteilen. Aufgrund dessen überwiegt das öffentliche Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in jedem Fall das - grundsätzlich berechtigte - Interesse des Beschwerdeführers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet bei seinen Kindern und seiner Ehegattin sowie das aus dem langjährigen Aufenthalt abzuleitende berechtigte Interesse an einer Fortsetzung des Aufenthaltes im Bundesgebiet.

Bei der Abwägung der Interessen ist auch zu berücksichtigen, dass es dem Beschwerdeführer nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen nach dem Ablauf des Einreiseverbotes und einem entsprechenden Wohlverhalten in der Türkei wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren oder schon vor dessen Ablauf die Aufhebung des Einreiseverbotes bei geänderten Verhältnissen zu beantragen.

In Hinblick auf den früheren Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG 2014 idF. vor dem FrÄG 2018 und die dahingehende höchstgerichtliche Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zuletzt VwGH 31.08.2012, Ra 2021/21/0075 mit Verweis auf 19.12.2019, Ra 2019/21/0238) ist festzuhalten, dass die Interessenabwägung – trotz einer vom Fremden ausgehenden Gefährdung – regelmäßig zu seinen Gunsten auszugehen ist – außer dieser erfüllt die Einreiseverbotstatbestände nach den Z 6, 7 und 8 des § 52 Abs. 3 FPG oder eine andere Form gravierende Strafffälligkeit. Einer der genannten Einreiseverbotstatbestände liegt nicht vor, allerdings ist beim Beschwerdeführer von einer gravierenden Straffälligkeit, sowohl in Hinblick auf bloße Tatsache der Verurteilung und Bestrafung, wie auch in Hinblick auf Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild auszugehen, was bereits unter Punkt 3.2. hinlänglich behandelt wurde.

Der Vollständigkeit halber ist noch festzuhalten, dass der Beschwerdeführer keine Rechte aus dem Assoziierungsabkommen ARB 1/80 erworben hat und damit eine Auseinandersetzung mit Artikel 14 ARB 1/80 unterbleiben kann.

3.3.6. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 5 FPG 2005 wider den Beschwerdeführer keine gesetzlich normierten Hindernisse entgegenstehen. Aufgrund der erörterten rezenten und massiven Strafffälligkeit erweist sich fallbezogen eine Rückkehrentscheidung ungeachtet des bestehenden Familienlebens und der privaten Interessen des Beschwerdeführers am weiteren Verbleib im Bundesgebiet als notwendig und zulässig.

3.4. Zur Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):

3.4.1. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG von Amts wegen gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (VwGH 15.9.2016, Ra 2016/21/0234).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Fremde das Bestehen einer aktuellen, also im Fall der Abschiebung in den von seinem Antrag erfassten Staat dort gegebenen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwendbaren Bedrohung im Sinn des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG – diese Bestimmungen stellen auf dieselben Gründe ab, wie sie in §§ 3 und 8 AsylG enthalten sind – glaubhaft zu machen. Es ist die konkrete Einzelsituation des Fremden in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Fremden in diesen Staat zu beurteilen; für diese Beurteilung ist nicht unmaßgeblich, ob allenfalls gehäufte Verstöße im Sinn des § 50 Abs. 1 FPG durch den betroffenen Staat bekannt geworden sind (VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).

Der Prüfungsmaßstab im Hinblick auf den subsidiären Schutz entspricht somit jenem des Refoulementverbots im FPG. Erkennbar eben deshalb ist nach den Vorstellungen des Gesetzgebers aber auch ein gesonderter Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Grunde des § 50 FPG nicht möglich; einem Fremden ist es verwehrt, eine derartige Feststellung zu begehren, weil über das Thema dieser Feststellung ohnehin im Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz abzusprechen ist. Ein inhaltliches Auseinanderfallen der genannten Entscheidungen (insbesondere nach § 8 AsylG) einerseits und der Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG andererseits ist ausgeschlossen (VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119).

3.4.2. Bezüglich § 50 Abs. 1 FPG bleibt festzuhalten, dass im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden konnte, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung, noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage in der Türkei ebenfalls nicht vor.

Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

Ebenso sind keine von Amts wegen aufzugreifenden stichhaltige Gründe für die Annahme erkennbar, dass im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers dessen Leben oder dessen Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Ansichten im Sinn des § 50 Abs. 2 FPG bedroht wäre.

Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 3 FPG schließlich unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine solche Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme besteht hinsichtlich des Staates Türkei nicht.

Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides war gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG mit der Maßgabe zu bestätigen, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist, da im gegenständlichen Verfahren der Zielstaat der Abschiebung des Beschwerdeführers zweifelsfrei festgestellt werden konnte. Die belangte Behörde ist bei der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in Spruchpunkt II. eindeutig von der Türkei als Zielstaat ausgegangen. Insoweit handelte es sich bei der unterbliebenen Bezugnahme auf den Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides um ein bloßes Versehen der belangten Behörde, welches nunmehr korrigiert wurde.

3.5 Freiwillige Ausreise (Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides)

3.5.1. Gemäß § 55 Abs. 4 FPG 2005 hat das BFA von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG aberkannt wurde.

Mit Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides wurde die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid gemäß § 18 Abs. 2 Z. 1 BFA-VG aberkannt, sodass der Ausspruch gemäß § 55 Abs. 4 FPG 2005 zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides rechtmäßig war.

3.5.2. Gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird in der gegenständlichen Beschwerde nichts vorgebracht, kein Antrag gestellt und insbesondere nicht dargetan, weshalb die Einräumung einer Frist zur freiwilligen Ausreise des derzeit in Strafhaft angehaltenen Beschwerdeführer erforderlich wäre, sodass der der Anfechtungserklärung zufolge auch gegen diesen Spruchpunkt erhobenen Beschwerde schon mangels einer Begründung nicht Folge zu geben war.

3.6. Ausschluss der aufschiebenden Wirkung (Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides)

3.6.1. Das belangte BFA stützt die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung auf § 18 Abs. 2 Z. 1 BFA-VG, wobei die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung aufgrund der Anhaltung des Beschwerdeführers in Strafhaft und der damit verbundenen Hemmung der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 59 Abs. 4 FPG 2005 von vornherein ins Leere ging und sich auch auf die rechtliche Position des Beschwerdeführers nicht nachteilig auswirken konnte.

3.6.2. Im gegebenen Zusammenhang ist festzuhalten, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung wie bereits dargelegt aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit geboten, da der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers eine gegenwärtige, schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde. Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z. 1 BFA-VG ist daher zu Recht erfolgt.

3.6.3. Die dagegen erhobene Beschwerde ist mit der hier getroffenen Sachentscheidung gegenstandslos (VwGH 30.01.2015, Ra 2014/02/0174 mwH) und darüber hinaus unbegründet, da die umgehende Ausreise des Beschwerdeführers aufgrund der von ihm ausgehenden Gefährdung im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit grundsätzlich erforderlich ist. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen unter Punkt 3.4. ist damit auch kein unzulässiger Eingriff in Rechte des Beschwerdeführers nach Art. 8 EMRK verbunden.

Zu Spruchteil B):

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Vor allem aber war die Entscheidungsfindung im gegenständlichen Fall nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängig, sondern von der Beurteilung der Glaubwürdigkeit der beschwerdeführenden Partei.

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