BVwG G315 2166659-1

BVwGG315 2166659-117.5.2021

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:G315.2166659.1.00

 

Spruch:

G315 2166659-1/32EG315 2166659-2/20E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M., über die Beschwerden des XXXX (alias: XXXX ), geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit: Irak, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.07.2017, Zahl: XXXX , betreffend die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, sowie vom 30.08.2018, Zahl: XXXX , betreffend den Verlust des Aufenthaltsrechtes nach § 13 AsylG 2005, nach Durchführung einer gemeinsamen, öffentlichen mündlichen Verhandlung am 04.03.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen den Bescheid vom 17.07.2017, Zahl: XXXX , wird als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen den Bescheid vom 30.08.2018, Zahl: XXXX , wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der Beschwerdeführer sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 ab 13.02.2019 verloren hat.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als „BF“ bezeichnet) stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten, unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 29.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005.

2. Am 01.07.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF zu seinem Antrag auf internationalen Schutz statt. Der BF begründete die Antragstellung damit, dass in seinem Heimatland Krieg sei und er bei einem Vorfall im Jahr 2012 den Beschluss gefasst habe, die Heimat zu verlassen. Er habe Angst vor der Miliz und den Islamisten und den täglichen Bombardierungen.

3. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, der nunmehr belangten Behörde (in der Folge kurz als „bB“ bezeichnet) am 25.04.2017 im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich einvernommen.

Anlässlich dieser Befragung gab er zu den Motiven für die Ausreise aus dem Irak zusammengefasst an, dass er durch eine Explosion im August 2012 eine Verletzung erlitten und Bagdad im Jahr 2015 verlassen habe. Die Bombe sei im Müll versteckt gewesen und detoniert als er diesen Platz auf dem Weg zu einem Fest passiert habe. Insgesamt sei er 67 Tage lang im Krankenhaus gewesen und zwei Tage lang im Koma gelegen. Er sei mehrmals operiert worden und habe Physiotherapie erhalten. Er habe auch eine Anzeige über den Vorfall gelegt. Medikamente müsse er keine mehr einnehmen. Die letzte Operation sei im Mai 2013 gewesen. Bis zu seiner Ausreise habe es keine weiteren Vorfälle gegeben. Er sei nicht früher ausgereist, weil er in physiotherapeutischer Behandlung gewesen sei. Die physiotherapeutische Behandlung habe in einem städtischen Krankenhaus stattgefunden, weshalb er nur etwa 0,80 Euro pro Behandlung habe aufwenden müssen. Sein Lebensunterhalt sei von den Eltern finanziert worden.

Ferner gab der BF an, dass der Vater im Irak einmal bestohlen worden sei. Ein Bruder sei während eines Autodiebstahls im Jahr 2007 angeschossen worden, ein anderer Bruder sei im Jahr 2011 durch eine Autobombe verletzt worden.

Im Falle der Rückkehr habe er Angst vor weiteren Explosionen.

4. Mit dem gegenständlichen ersten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.07.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des BF in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 betrage die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

5. Mit Verfahrensanordnung vom 18.07.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beigegeben.

6. Mit dem am 01.08.2017 beim Bundesamt eingebrachten Schriftsatz vom selben Tag erhob der BF durch seine damalige bevollmächtigte Rechtsvertretung fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde gegen den Bescheid der bB vom 17.07.2017. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge der Beschwerde allenfalls nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung stattgeben und dem BF den Status des Asylberechtigten oder allenfalls des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen; in eventu dem BF einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilen; in eventu den angefochtenen Bescheid beheben und das Verfahren an die bB zurückverweisen; in eventu die Rückkehrentscheidung sowie den Ausspruch über die Zulässigkeit der Abschiebung in den Irak aufheben.

In der Beschwerde wurde geltend gemacht, dass der BF unbestritten am 24.08.2012 schwere Verletzungen infolge einer Bombenexplosion erlitten habe und der Staat Irak nicht schutzfähig sei. Darüber hinaus sei die allgemeine Lage, insbesondere in Bagdad und bezogen auf Sunniten und schiitische Milizen, derart prekär, dass dem BF schon deswegen eine Rückkehr in den Irak nicht zumutbar sei. der BF habe sich in Österreich um Integration bemüht und habe eine asylberechtigte Tante in Österreich, mit der er drei- bis viermal wöchentlich telefonischen Kontakt habe. Es liege sein schützenswertes Privatleben iSd Art. 8 EMRK vor. Außerdem sei der BF am 21.07.2017 wegen der Verletzungen infolge Explosion im Irak in Österreich neuerlich operiert worden. Ein Operationsbericht sowie ein Kurzarztbrief wurden der Beschwerde beigelegt.

7. Die gegenständliche Beschwerde zum Bescheid vom 17.07.2017 und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 04.08.2017 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt. Sie wurde ursprünglich der Gerichtsabteilung L519 zugewiesen.

Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L519 abgenommen und der Gerichtsabteilung L526 neu zugewiesen.

8. Am 04.12.2017 langte bei der bB ein mit 28.11.2017 datierter Arztbrief des BF ein, welcher an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet wurde und am 07.12.2017 einlangte.

9. Die bB übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht am 25.05.2018 zudem einen Strafantrag der Bezirksanwältin der Staatsanwaltschaft Innsbruck vom 22.05.2018, woraus hervorgeht, dass der BF am 25.04.2018 im Zuge einer Auseinandersetzung seinem Gegner durch Versetzen eines Stoßes mit einem Messer gegen den Bauchbereich, wodurch dieser eine Schnittverletzung im Bereich der rechten Rippen erlitt, vorsätzlich leicht am Körper verletzt habe (§ 83 Abs. 1 StGB).

10. Am 26.06.2018 langte neuerlich ein von der bB weitergeleitetes ärztliches Attest des BF vom 07.06.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

11. Der Abschlussbericht der LPD Tirol vom 15.07.2018 über eine Anzeige des Gegners/Opfers des Vorfalles vom 25.04.2018, wonach gegen den BF der Verdacht der Schlepperei (§ 114 FPG) bestehe, langte am 16.07.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Bereits am 18.07.2018 langte dazu jedoch die Mitteilung über die Einstellung des Verfahrens vom 17.07.2018 durch die zuständige Staatsanwaltschaft Innsbruck ein.

12. Mit Urteil des Bezirksgerichtes Lienz vom XXXX .2018, Zahl XXXX , rechtskräftig am 07.08.2018, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je EUR 4,00 (gesamt EUR 400,00) und im Falle der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 50 Tagen verurteilt, wobei ein Teil von 50 Tagessätzen zu je EUR 4,00 (gesamt EUR 200,00) und eine Ersatzfreiheitsstrafe von 25 Tagen bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren nachgesehen wurden.

13. Mit Verfahrensanordnung vom 30.08.2018 wurde dem BF gemäß § 13 AsylG der Verlust seines Aufenthaltsrechtes mit 10.08.2018 wegen Straffälligkeit iSd § 2 Abs. 3 AsylG mitgeteilt.

14. Mit dem gegenständlichen zweiten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.08.2018 wurde auch bescheidmäßig ausgesprochen, dass der BF gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 10.08.2018 verloren hat.

Begründend wurde auf die rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung vom 07.08.2018 verwiesen.

15. Mit Verfahrensanordnung vom 31.08.2018 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beigegeben.

16. Mit am 14.09.2018 bei der bB fristgerecht einlangenden Schriftsatz der ehemaligen bevollmächtigten Rechtsvertretung vom 14.09.2018 erhob der BF auch gegen den gegenständlichen zweiten Bescheid der bB fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge den Bescheid ersatzlos beheben und feststellen, dass dem BF weiterhin das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet zukommt.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es zur Verletzung im Zuge eines Streites mit seinem Zimmerkollegen gekommen sei, weil dieser entgegen der Wünsche des BF immer wieder andere Personen eingeladen und mit diesen gemeinsam Cannabis konsumiert habe, obwohl der BF ihn wiederholt gebeten habe, dies zu unterlassen. Es sei außerdem kein Messer im Spiel gewesen und habe er den Zimmerkollegen nur geschlagen. Er bereue seien Tat und habe die Geldstrafe bereits beglichen.

Der Beschwerde wurde weiters ein mit 13.09.2018 datierter Sozialbericht beigelegt.

17. Die ebenfalls gegenständliche Beschwerde vom 14.09.2018 zum Bescheid vom 30.08.2018 und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 17.09.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt. Sie wurde ursprünglich der Gerichtsabteilung L526 zugewiesen.

18. Am 08.02.2019 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein von der bB weitergeleiteter Abschlussbericht der LPD Tirol vom 23.01.2019 über einen Vorfall am 14.10.2018, an welchem unter anderem der BF beteiligt gewesen sein soll, ein.

Die entsprechende Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Innsbruck vom 13.02.2019 sowie die Ladung zur Hauptverhandlung vor dem Landesgericht Innsbruck am 28.03.2019 langten am 26.02.2019, die Verhandlungsmitschrift der Hauptverhandlung sowie die darin enthaltene Protokollierung des mündliche verkündeten Strafurteils vom XXXX .2019, XXXX , am 17.04.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Mit dem mündlich verkündeten Strafurteil des Landesgerichtes Innsbruck zur oben angeführten Zahl, rechtskräftig am XXXX .2019, wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt gemäß § 15, § 269 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens des Raufhandels gemäß § 91 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer Geldstrafe von 360 Tagessätzen zu je EUR 4,00 (gesamt EUR 1.440,00) und im Uneinbringlichkeitsfalle zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 180 Tagen verurteilt (vgl. aktenkundiges Urteil des Landesgerichtes, AS 245 ff).

19. Die Vertretungsvollmacht der bisherigen Rechtsvertretung des BF wurde mit Schreiben vom 23.11.2020 ab 31.12.2020 niedergelegt.

Am 19.01.2021 bzw. am 03.02.2021 langte die Vertretungsvollmacht der nunmehrigen bevollmächtigten Rechtsvertretung des BF in den gegenständlichen Verfahren ein.

20. Mit Verfügungen des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.2021 wurden die gegenständlichen Rechtssachen jeweils der Gerichtsabteilung L526 abgenommen und der Gerichtsabteilung G315 neu zugewiesen.

21. Mit Ladung zu einer in beiden Beschwerdeverfahren gemeinsam durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden dem BF Länderberichte zur aktuellen Lage im Irak mit der Einladung zur schriftlichen Stellungnahme bis spätestens einer Woche vor der mündlichen Verhandlung übermittelt.

22. Am 01.03.2020 langte seine schriftliche Stellungnahme der Rechtsvertretung des BF zu den gemeinsam mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung übermittelten Länderberichten ein.

Unter einem wurden ergänzende Unterlagen zur Integration des BF im Bundesgebiet vorgelegt, und zwar:

- Teilnahmebestätigungen über Deutschkurse für das Sprach-Niveau A1 vom 29.09.2020 und vom 24.02.2021

- Bestätigung über gemeinnützige Arbeit des BF im Zeitraum von 22.07.2019-28.08.2019 sowie von 03.10.2019 bis 17.10.2019 im XXXX vom 25.11.2019

- Arbeitsbestätigung des Bundesgymnasiums und Bundesrealgymnasiums XXXX vom 01.10.2020 und Bestätigung über dort verrichtete Gartenhilfsarbeiten am 30.07.2019, 09.10.2019 und 17.10.2019

- Arbeitszeitnachweise sowie Auflistung der monatlichen Auszahlungen für den BF bei der FH XXXX vom Oktober 2018 sowie März und April 2019

- Arbeitsbeschreibung über freiwillige und unentgeltliche Arbeit im Sozialladen vom 29.09.2020

- Screenshot eines Social Media Accounts

- diverse Fotos

- Bestätigung über die Teilnahme an einem Werte- und Orientierungskurs vom 17.10.2018

- Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs für Asylwerber im Zeitraum 12.02.2016-06.06.2016

- Stellungnahme des Sozialen Dienstes vom 22.02.2021 und Bestätigung vom 22.03.2017 über freiwillige und gemeinnützige Tätigkeiten des BF

sowie ein Konvolut medizinischer Unterlagen (teilweise bereits aktenkundig), und zwar:

- Ambulanzkarte, zugehöriger Arztbrief einer Universitätsklinik für Unfallchirurgie vom 15.12.2015 sowie zugehöriges Karteiblatt für den Zeitraum 15.12.2015 bis 22.09.2016

- ambulanter Befundbericht einer Ambulanz für Unfallchirurgie und Sporttraumatologie vom 16.07.2015, vom 11.10.2015 und vom 16.10.2015

- Erstversorgungsbericht und Ambulanzkarte vom 27.05.2016 einer Universitätsklinik für Unfallchirurgie

- OP-Bericht vom 21.07.2017

- ärztliches Attest und Arztbrief jeweils vom 25.02.2021

23. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 04.03.2021 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung hinsichtlich beider Beschwerden des BF durch, an welcher der BF, seine bevollmächtigte Rechtsvertretung und ein Dolmetscher für die Sprache Arabisch teilnahmen. Das Bundesamt verzichtete auf eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurden die beiden Beschwerdeverfahren des BF gemäß § 39 Abs. 2 AVG iVm § 17 VwGVG zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.

Die erkennende Richterin übergab der Rechtsvertretung in der mündlichen Verhandlung zudem das Dokument „Country Police and Information Note Iraq: Medical an healthcare issues und räumte diesbezüglich die Möglichkeit zu einer weiteren Stellungnahme binnen einer Woche ein. Darüber hinaus wurden von der erkennenden Richterin Statistiken zu den aktuellen Corona-Infektionszahlen im Irak und Berichte (z.B. der österreichischen Wirtschaftskammer) über die vom Irak diesbezüglich gesetzten Maßnahmen verlesen und die Rechtsvertretung zur Äußerung eingeladen. Die Rechtsvertretung verwies diesbezüglich auf die schriftliche Stellungnahme vom 01.03.2021.

Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG.

24. Schließlich langte am 12.03.2021 schriftliche Stellungnahme des BF mit Schriftsatz seiner Rechtsvertretung vom 11.03.2021 ein. Weiters wurde bekanntgegeben, welche Salbe der BF aktuell für seine Verletzung am Arm verwendet.

25. Bis dato erfolgte keine weitere Äußerung des BF.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF führt die im Spruch angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum) und ist Staatsangehöriger des Irak, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung. Seine Muttersprache ist Arabisch, er ist ledig und hat keine Kinder (vgl. Erstbefragung vom 01.07.2015, AS 11 ff; aktenkundige Kopie des irakischen Personalausweises, AS 121 f, und des irakischen Staatsbürgerschaftsnachweises, AS 123 f; Niederschrift Bundesamt vom 25.04.2017, AS 174 ff; Verhandlungsprotokoll vom 04.03.2021, S 3 ff).

Geboren und aufgewachsen ist der BF in Bagdad/Irak, wo er sechs Jahre eine Grundschule und drei Jahre eine Mittelschule besuchte sowie eine Ausbildung zum Fliesenleger absolvierte. Er war von 2008-2009 als Fliesenleger und von 2010 bis 24.08.2012 als Hilfsarbeiter jeweils in Bagdad erwerbstätig und verdiente dabei monatlich etwa USD 1.000,00. Er lebte bis zu seiner Ausreise im Juni 2015 im Elternhaus in Bagdad. Die Eltern, vier Brüder und die Schwester des BF leben nach wie vor in Bagdad. Zu seinen Familienangehörigen im Irak hat der BF regelmäßig Kontakt; meistens mit seiner Mutter. Es leben auch noch weitere Angehörige des BF (Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen) in Bagdad. Der BF ist seit zwei Jahren mit seiner im Irak lebenden Cousine verlobt (vgl. Erstbefragung vom 01.07.2015, AS 11 ff; Niederschrift Bundesamt vom 25.04.2017, AS 174 ff; Verhandlungsprotokoll vom 04.03.2021, S 3 ff & S 9 f).

Der BF leidet an den gesundheitlichen Folgen einer Bombenexplosion in Bagdad am 24.08.2012, bei der sein rechter Arm, insbesondere das Ellbogengelenk, schwer verletzt wurde. Insgesamt wurde beim Beschwerdeführer ein Zustand nach Osteosynthese am Ellbogen rechts bei Explosionsverletzung im Irak 2012 mit verbliebenen Fremdkörpern aus Metall, Muskel- und Sehnendefekte, eine Nervus-ulnaris-Läsion und damit verbundener Bewegungs- und Sensibilitätseinschränkungen insbesondere der Finger III-V der rechten Hand bei leichter Krallenbildung der Hand, sichtbare knöcherne Defekte sowie Defekte der Haut mit Narbenbildung, eine fast aufgehobene Beuge- und Streckfunktion des Ellbogens und eine komplett fehlende distale Oberarmmuskulatur streckseitig diagnostiziert (vgl. aktenkundiges Konvolut der vorgelegten medizinischen Befunde, AS 122 ff, sowie ergänzend mit der Stellungnahme vom 01.03.2021 vorgelegte Befunde, insbesondere das ärztliche Attest des Allgemeinmediziners vom 25.02.2021).

Er wurde deswegen im Irak bereits dreimal, zuletzt am 15.05.2013, operiert und erhielt in weiterer Folge zumindest bis Anfang des Jahres 2015 Physiotherapie zum Selbstkostenpreis von EUR 0,80 pro Behandlung (vgl. Erstbefragung vom 01.07.2015, AS 15; Niederschrift Bundesamt vom 25.04.2017, AS 177 f).

In Österreich wurde der BF zuletzt am 21.07.2017 am rechten Arm wegen einer eitrigen Entzündung durch einen Metallfremdkörper operiert. Der Fremdkörper wurde entfernt und befand sich der BF dabei von 21.07.2017 bis 24.07.2017 in stationärer Behandlung mit intravenöser Antibiotika- und Schmerztherapie (vgl. aktenkundiger OP-Bericht vom 21.07.2017, AS 331, sowie Kurzarztbrief einer unfallchirurgischen Abteilung vom 24.07.2017, AS 333).

Zum Entscheidungszeitpunkt wird der BF wegen seiner Verletzung abgesehen von der Anwendung einer Salbe mit dem Wirkstoff Betamethason-Dipropionat („Diproderm“) weder medikamentös noch physiotherapeutisch oder auf eine andere Art behandelt (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 04.03.2021, S 3 f; mit Stellungnahme vom 01.03.2021 vorgelegtes Konvolut medizinischer Befunde; Stellungnahme vom 11.03.2021, S 4).

Abgesehen von dieser Verletzung des rechten Armes ist der Beschwerdeführer gesund und eingeschränkt arbeitsfähig. Er leidet an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen, die im Irak nicht behandelbar wären.

1.2. Der BF verließ den Irak am 12.06.2015 legal von Bagdad aus auf dem Luftweg und reiste nach Ankara in der Türkei, von wo aus er nach einem kurzen Aufenthalt über Izmir schlepperunterstützt mit einem Schlauchboot nach Griechenland und von dort weiter teils schlepperunterstützt in einem LKW über dem BF unbekannte Länder bis nach Österreich reiste, wo er am 29.06.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte (vgl. Erstbefragung vom 01.07.2015, AS 17 f; Niederschrift Bundesamt vom 25.04.2017, AS 176; Verhandlungsprotokoll vom 04.03.2021, S ).

1.3. Der BF gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an. Er hatte vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften seines Herkunftsstaates zu gewärtigen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der BF konkretes Ziel des Bombenanschlages im August 2012 gewesen ist oder nunmehr einer individuellen Bedrohung durch Mitglieder der schiitischen Miliz „Imam-Ali-Brigade“, einer sonstigen schiitischen Miliz oder anderen Gruppierung unterliegt.

Der BF ist im Fall einer Rückkehr nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt aufgrund seines Bekenntnisses zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam ausgesetzt.

1.4. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des BF festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.

Der BF ist ein eingeschränkt arbeitsfähiger, aber anpassungsfähiger Mensch mit guter Schulbildung und mehrjähriger Berufserfahrung. Der Gesundheitszustand des BF steht der generellen Aufnahme einer Arbeit nicht entgegen. Der BF verfügt über Berufserfahrung als Fliesenleger und Hilfsarbeiter. Er verfügt über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte. Ihm ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.

1.5. Es konnte beim BF kein Reisepass sichergestellt werden. Seine Angaben zur Identität können jedoch aufgrund der von ihm vorgelegten irakischen Dokumente, konkret des Personalausweises und des Staatsbürgerschaftsnachweises verifiziert werden.

1.6. Seit seiner Asylantragstellung hält sich der BF ununterbrochen im Bundesgebiet auf und verfügt hier seit 07.07.2015 über eine durchgehende Hauptwohnsitzmeldung. Er verfügt seither über ein Aufenthaltsrecht als Asylerwerber, welches ihm jedoch mit dem gegenständlich zweitangefochtenen Bescheid der bB vom 30.08.2018 ab 10.08.2018 gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG abgesprochen wurde. Über ein anderes Aufenthaltsrecht oder einen sonstigen Aufenthaltstitel verfügt der BF nicht. Er ging bisher keiner sozialversicherten Erwerbstätigkeit nach und lebt nach wie vor von den Leistungen der Grundversorgung. Er konnte bis dato auch keine Einstellungszusage vorlegen (vgl. aktenkundige Auszüge aus dem Zentralen Melderegister, dem Fremdenregister sowie den Sozialversicherungs- und Grundversorgungsdaten jeweils vom 02.03.2021; Bescheid der bB vom 30.08.2018, AS 95 ff Gerichtsakt zur Zahl G315 2166659-2).

Der BF hat in Österreich einige Deutschkurse, zuletzt auf Niveau A1 von 07.09.2020 bis 25.02.2021, besucht, jedoch bisher keine Deutsch-Sprachprüfung absolviert. Die an den BF im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf Deutsch gerichteten und nicht übersetzten Fragen konnte er weder verstehen, noch auf Deutsch beantworten. Der Beschwerdeführer verfügt damit über keine maßgeblichen Deutschkenntnisse (vgl. etwa die mit Stellungnahme vom 01.03.2021 vorgelegten Kurs-Teilnahmebestätigungen; Verhandlungsprotokoll vom 04.03.2021, S 10).

Jedoch ist der BF in Österreich mehreren gemeinnützigen, freiwilligen und auch ehrenamtlichen Tätigkeiten nachgegangen. Er hat etwa in den Zeiträumen von 22.07.2019 bis 28.08.2019 sowie von 03.10.2019 bis 17.10.2019 in einem Nationalpark bei einem Zaunbauprojekt und Wildbeobachtungsturm mitgearbeitet, bei einem Bundegymnasium am 30.07.2019, 09.10.2019 und 17.10.2019 Gartenhilfsarbeiten geleistet, im Oktober 2018 sowie März und April 2019 Tätigkeiten für eine Fachhochschule ausgeübt und dabei monatlich durchschnittlich zwischen EUR 52,50 und EUR 190,25 erhalten. Er hat weiters in einem nicht näher feststellbaren Zeitraum im Sozialladen seines Wohnortes sowie bei den XXXX Sozialen Diensten mitgearbeitet und am 17.10.2018 einen Werte- und Orientierungskurs absolviert (vgl. dazu insbesondere das Konvolut der mit der Stellungnahme vom 01.03.2021 vorgelegten Arbeitsbestätigungen und Integrationsunterlagen).

Einzige in Österreich lebende Verwandte des BF ist eine Tante mit deren Ehemann und Kindern, der laut Angaben des BF der Status einer Asylberechtigten zukommt. Mit der Tante hat er zeitweise Kontakt und besucht sie etwa alle sechs Monate. Ein besonderes Nahe- oder Abhängigkeitsverhältnis liegt daher nicht vor (vgl. etwa Verhandlungsprotokoll vom 04.03.2021, S 10).

1.7. Der BF wurde in Österreich bereits zwei Mal rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt (vgl. Strafregisterauszug vom 02.03.2021):

Mit Urteil des Bezirksgerichtes Lienz vom XXXX .2018, XXXX , rechtskräftig am XXXX .2018, wurde der BF wegen des Vergehens der Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je EUR 4,00 (gesamt EUR 400,00) und im Falle der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 50 Tagen verurteilt, wobei ein Teil von 50 Tagessätzen zu je EUR 4,00 (gesamt EUR 200,00) und eine Ersatzfreiheitsstrafe von 25 Tagen bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren nachgesehen wurden (vgl. aktenkundige Strafkarte, AS 93 f Gerichtsakt zu G315 2166659-2). Aus dem Abschlussbericht der LPD vom 08.05.2018 (vgl. AS 13 ff) sowie dem Strafantrag der Bezirksanwältin vom 22.05.2018 (vgl. AS 29) ergibt sich, dass der BF am 25.04.2018 im Zuge einer Auseinandersetzung seinem Gegner durch Versetzen eines Stoßes mit einem Messer gegen den Bauchbereich, wodurch dieser eine Schnittverletzung im Bereich der rechten Rippen erlitt, vorsätzlich leicht am Körper verletzt habe.

Darüber hinaus wurde der BF vom Opfer/Gegner seines der Verurteilung vom 01.08.2018 zugrundeliegenden Vergehens am 26.04.2018 wegen des Verdachtes der Schlepperei nach § 114 FPG angezeigt. Das Verfahren wurde durch die zuständige Staatsanwaltschaft jedoch mit 17.07.2018 eingestellt (vgl. Abschluss-Bericht der LPD vom 15.07.2018, AS 39 ff; Mitteilung über die Einstellung des Verfahrens, AS 49).

Am 26.02.2019 langte beim Bundesverwaltungsgericht der Strafantrag des BF vom 13.02.2019 hinsichtlich seiner nachfolgenden zweiten strafgerichtlichen Verurteilung durch das Landesgericht Innsbruck vom XXXX .2019, XXXX , ein (vgl. AS 25 Gerichtsakt G315 2166659-2).

Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom XXXX .2019, XXXX , rechtskräftig am 02.04.2019, wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt gemäß § 15, § 269 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens des Raufhandels gemäß § 91 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer Geldstrafe von 360 Tagessätzen zu je EUR 4,00 (gesamt EUR 1.440,00) und im Uneinbringlichkeitsfalle zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 180 Tagen verurteilt. Der im Zuge der Vorverurteilung durch das Bezirksgericht Lienz bedingt ausgesetzte Teil der Geldstrafe wurde zudem widerrufen. Der Verurteilung lag zugrunde, dass BF sowie weitere vier Mittäter am 14.10.2018 an einer Schlägerei mit drei weiteren Personen teilnahm, wobei die Schlägerei eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1 StGB) eines Mitglieds der gegnerischen Gruppe, nämlich eine mit länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung und Berufsunfähigkeit verbundenen Schulterluxation links und eine Gesichtsprellung rechts zur Folge hatte. Darüber hinaus hat der BF zwei Polizeibeamte mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich seiner Verbringung aus dem Verwahrungsraum der Polizeiinspektion nach der Aufhebung seiner Festnahme, zu hindern versucht, indem er, als ihn diese an den Oberarmen erfassten, mit seinen Armen wild um sich schlug und mit seinen Füßen gezielt nach dem Beamten trat, wobei diesen den Schlägen und Tritten ausweichen konnten. Bei der Strafbemessung wertete das Strafgericht als mildernd keinen Umstand, als erschwerend hingegen das Zusammentreffen mehrerer (zweier) Vergehen, eine einschlägige Vorstrafe, der rasche Rückfall während der Probezeit sowie die Opfermehrheit (vgl. aktenkundiges Urteil des Landesgerichtes, AS 251 ff).

1.8. Der Aufenthalt des BF war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Er wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.9. Zur gegenwärtigen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem BF offengelegten Quellen getroffen:

1.9.1. Zur Lage in Bezug auf die weltweit herrschende Corona-Pandemie und den Irak werden folgende Feststellungen getroffen:

Mit Stichtag 7.5.2021 starben im Irak von den etwa 1,1 Mio. CoVid19 Erkrankten 15.673 Personen, 986.000 Personen sind wieder genesen (vgl. die aus Wikipedia und anderen Informationsquellen gespeisten und über die Suchmaschine google einzusehenden Statistik „Karte mit Fallzahlen (letzte 14 Tage)“ ).

Mit Stand 25.03.2021 ergibt sich aus der Zusammenfassung der WKO (https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-situation-im-irak.html , Zugriff am 31.03.2021), dass der Zentralirak das Ein- und Ausreiseverbot für 21 Länder, die Autonome Region Kurdistan für 22 Länder, unter anderem jeweils Österreich, aufgehoben hat. Alle Landgrenzen sind bis auf weiteres geschlossen. Die internationalen Flughäfen Bagdad, Najaf und Basra sind für kommerzielle Linienflüge geöffnet. Bei einer Einreise in den Zentralirak müssen Passagiere, maximal 72 Stunden vor Abflug über einen negativen COVID-19 Test verfügen. Solche Passagiere müssen am Flughafen keinen Test mehr machen. Alle Passagiere, die ohne PCR-Test ankommen, müssen sich dem Test des medizinischen Teams des Flughafens unterziehen und die Kosten dafür (USD 50,00) tragen. Alle Ministerien arbeiten bis auf weiters mit 50 % Kapazität. Es gilt eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 21:00 Uhr und 05:00 Uhr und komplette Ausgangssperren an Freitagen und Samstagen sowie eine generelle Maskenpflicht. Reisebewegungen zwischen Provinzen werden nicht beschränkt, jedoch ist die Einreise in den Irak aus touristischen oder religiösen Zwecken verboten. Einkaufszentren, Cafés/Restaurants, Supermärkte sind unter Auflagen des Gesundheitskomitees wieder geöffnet. Bei einer Einreise in die Autonome Region Kurdistan müssen Passagiere, die in Erbil einreisen wollen, einen negativen COVID-19-Test vorweisen, der nicht älter als 48 Stunden ist. Alle ankommenden Passagiere müssen sich bei Ankunft am Flughafen einem COVID-19 Test unterziehen und es gilt eine 2-tägige Quarantäne, für deren Kosten der Reisende aufkommen muss. Ist das Testergebnis positiv, muss der/die Reisende ein Formular ausfüllen und erklären, dass er/sie in einer 14-tägigen Quarantäne bleiben wird. Die Landgrenze mit der Türkei ist wieder geöffnet und muss bei Auftreten von Symptomen das kurdische Gesundheitsministerium kontaktiert werden. Nächtliche Ausgangssperren in der ARK wurden aufgehoben. Reisen zwischen der Region Kurdistan und dem Irak sind an Wochenenden wieder erlaubt. Geschäfte, Restaurants, Einkaufszentren, Cafés, Fitness und Sportzentren sind wieder geöffnet. Alle Ministerien arbeiten bis auf weiters mit 50 % Kapazität und es gilt eine Maskenpflicht für alle. In öffentlichen Einrichtungen und auf öffentlichen Plätzen sowie in Einkaufszentren und Märkten gilt die Pflicht zum Tragen einer Maske und zur Einhaltung der Abstandsregeln.

1.9.2. Zur sonstigen asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak werden folgende Feststellungen (Staatendokumentation des BFA, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020) getroffen:

1. Politische Lage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafazāt) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwāb, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).

Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).

Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).

Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).

Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).

Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).

Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- Al Jazeera (15.9.2018): Deadlock broken as Iraqi parliament elects speaker, https://www.aljazeera.com/news/2018/09/deadlock-broken-iraqi-parliament-elects-speaker-180915115434675.html , Zugriff 13.3.2020

- AW - Arab Weekly, The (4.12.2019): Confessional politics ensured Iran’s colonisation of Iraq, https://thearabweekly.com/confessional-politics-ensured-irans-colonisation-iraq , Zugriff 13.3.2020

- CIA - Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook – Iraq, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/iz.html , Zugriff 13.3.2020

- DW - Deutsche Welle (2.10.2018): Iraqi parliament elects Kurdish moderate Barham Salih as new president, https://www.dw.com/en/iraqi-parliament-elects-kurdish-moderate-barham-salih-as-new-president/a-45733912 , Zugriff 13.3.2020

- Fanack (2.9.2019): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq/ , Zugriff 13.3.2020

- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/ , Zugriff 13.3.2020

- ISW - Institute for the Study of War (24.5.2018): Breaking Down Iraq's Election Results, http://www.understandingwar.org/backgrounder/breaking-down-iraqs-election-results , Zugriff 13.3.2020

- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (5.10.2018): Politische Weichenstellungen in Bagdad und Wahlen in der Autonomen Region Kurdistan, https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=e646d401-329d-97e0-6217-69f08dbc782a&groupId=252038 , Zugriff 13.3.2020

- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459 , Zugriff 13.3.2020

- Kurdistan24 (17.6.2019): Iraq's electoral commission postpones local elections until April 2020, https://www.kurdistan24.net/en/news/80728bf3-eb95-4e76-a30f-345cf9a48d3c , Zugriff 13.3.2020

- NYT - The New York Times (24.12.2019): Iraq’s New Election Law Draws Much Criticism and Few Cheers, https://www.nytimes.com/2019/12/24/world/middleeast/iraq-election-law.html , Zugriff 13.3.2020

- Reuters (17.3.2020): Little-known ex-governor Zurfi named as new Iraqi prime minister-designate, https://www.reuters.com/article/us-iraq-pm-designate/iraqi-president-salih-names-adnan-al-zurfi-as-new-prime-minister-designate-state-tv-says-idUSKBN21419J?il=0 , Zugriff 17.3.2020

- Reuters (1.3.2020): Iraq's Allawi withdraws his candidacy for prime minister post: tweet, https://www.reuters.com/article/us-iraq-politics-primeminister/iraqs-allawi-withdraws-his-candidacy-for-prime-minister-post-tweet-idUSKBN20O2AD , Zugriff 13.3.2020

- RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (6.2.2020): Iraqi Protesters Clash With Sadr Backers In Deadly Najaf Standoff, https://www.ecoi.net/en/document/2024704.html , Zugriff 13.3.2020

- RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (24.12.2019): Iraqi Parliament Approves New Election Law, https://www.ecoi.net/de/dokument/2021836.html , Zugriff 13.3.2020

- RoI - Republic of Iraq (15.10.2005): Constitution of the Republic of Iraq, http://www.refworld.org/docid/454f50804.html , Zugriff 13.3.2020

- Standard, Der (2.3.2020): Designierter irakischer Premier Allawi bei Regierungsbildung gescheitert, https://www.derstandard.at/story/2000115222708/designierter-irakischer-premier-allawi-bei-regierungsbildung-gescheitert , Zugriff 13.3.2020

- ZO - Zeit Online (2.10.2018): Irak hat neuen Präsidenten gewählt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-10/barham-salih-irak-praesident-wahl , Zugriff 13.3.2020

1.1. Parteienlandschaft

Letzte Änderung: 17.3.2020

Laut einer Statistik der irakischen Wahlkommission beläuft sich die Zahl der bei ihr registrierten politischen Parteien und politischen Bewegungen auf über 200. 85% davon, national und regional, haben religiös-konfessionellen Charakter (RCRSS 24.2.2019).

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da‘wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (eng. SCIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander – eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die Gründung von Parteien, die mit militärischen oder paramilitärischen Organisationen in Verbindung stehen ist verboten (RCRSS 24.2.2019) und laut Executive Order 91, die im Februar 2016 vom damaligen Premierminister Abadi erlassen wurde, sind Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF) von politischer Betätigung ausgeschlossen (Wilson Center 27.4.2018). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018). Im Jahr 2018 traten über 500 Milizionäre und mit Milizen verbundene Politiker, viele davon mit einem Naheverhältnis zum Iran, bei den Wahlen an (Wilson Center 27.4.2018).

Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikte zwischen Kräften, die auf Gouvernements-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren, gekennzeichnet. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon (ein Bündnis aus der Sadr-Bewegung und der Kommunistischen Partei) unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fatah-Koalition des Führers der Badr-Milizen, Hadi al-Amiri und der Nasr-Allianz unter Haider al-Abadi und der Dawlat al Qanoon-Allianz des ehemaligen Regierungschefs Maliki (LSE 7.2018).

(LSE 7.2018)

Quellen:

- CGP - Center for Global Policy (4.2018): The Role of Iraq‘s Shiite Militias in the 2018 Elections, https://www.cgpolicy.org/wp-content/uploads/2018/04/Mustafa-Gurbuz-Policy-Brief.pdf , Zugriff 13.3.2020

- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459 , Zugriff 13.3.2020

- LSE - London School of Economics and Political Science (7.2018): The 2018 Iraqi Federal Elections: A Population in Transition?, http://eprints.lse.ac.uk/89698/7/MEC_Iraqi-elections_Report_2018.pdf , Zugriff 13.3.2020

- RCRSS - Rawabet Center for Research and Strategic Studies (24.2.2019): Law of political parties in Iraq: proposals for amendment, https://rawabetcenter.com/en/?p=6954 , Zugriff 13.3.2020

- Wilson Center (27.4.2018): Part 2: Pro-Iran Militias in Iraq, https://www.wilsoncenter.org/article/part-2-pro-iran-militias-iraq , Zugriff 13.3.2020

2. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/ , Zugriff 13.3.2020

- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019b): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middle-east-2-october-2019/ , Zugriff 13.3.2020

- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf , Zugriff 13.3.2020

- Al Jazeera (24.9.2019): Two rockets 'hit' near US embassy in Baghdad's Green Zone, https://www.aljazeera.com/news/2019/09/rockets-hit-embassy-baghdad-green-zone-190924052551906.html , Zugriff 13.3.2020

- Al Jazeera (25.8.2019): Iraq paramilitary: Israel behind drone attack near Syria border, https://www.aljazeera.com/news/2019/08/iraq-paramilitary-israel-drone-attack-syria-border-190825184711737.html , Zugriff 13.3.2020

- Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html , Zugriff 13.3.2020

- Diyaruna (5.2.2019): Baghdad sees steep decline in kidnappings, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/02/05/feature-02 , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- FIS - Finnish Immigration Service (6.2.2018): Finnish Immigration Service report: Security in Iraq variable but improving, https://yle.fi/uutiset/osasto/news/finnish_immigration_service_report_security_in_iraq_variable_but_improving/10061710 , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (15.1.2020): Pro-Iran Hashd Continue Attacks Upon US Interests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/pro-iran-hashd-continue-attacks-upon-us.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html , Zugriff 13.3.2020

- MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor to Al-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-head-as-successor-to-al-muhandis/ , Zugriff 13.3.2020

- New Arab, The (12.12.2019): 'We are not safe': UN urges accountability over spate of kidnappings, assassinations in Iraq, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2019/12/11/un-urges-accountability-over-spate-of-iraq-kidnappings-assassinations , Zugriff 13.3.2020

- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9 , Zugriff 13.3.2020

- Reuters (30.9.2019): Iraqi PM says Israel is responsible for attacks on Iraqi militias: Al Jazeera, https://www.reuters.com/article/us-iraq-security/iraqi-pm-says-israel-is-responsible-for-attacks-on-iraqi-militias-al-jazeera-idUSKBN1WF1E5 , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html , Zugriff 13.3.2020

2.1. Islamischer Staat (IS)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

Quellen:

- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/ , Zugriff 13.3.2020

- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (18.6.2019): Regional Overview – Middle East 18 June 2019, https://www.acleddata.com/2019/06/18/regional-overview-middle-east-18-june-2019/ , Zugriff 13.3.2020

- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (27.5.2019): Briefing Notes 27. Mai 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010482/briefingnotes-kw22-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- BBC News (23.12.2019): Isis in Iraq: Militants 'getting stronger again', https://www.bbc.com/news/world-middle-east-50850325 , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- Garda World (3.3.2020): Iraq Country Report, https://www.garda.com/crisis24/country-reports/iraq , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (5.6.2019): Islamic State’s Revenge Of The Levant Campaign In Full Swing, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/06/islamic-states-revenge-of-levant.html , Zugriff 13.3.2020

- Military Times (7.7.2019): Iraqi forces begin operation against ISIS along Syrian border, https://www.militarytimes.com/flashpoints/2019/07/07/iraqi-forces-begin-operation-against-isis-along-syrian-border/ , Zugriff 13.3.2020

- NINA - National Iraqi News Agency (17.1.2020): ISIS Elements executed a herd of buffalo by firing bullets northeast of Baquba. http://ninanews.com/Website/News/Details?key=808154 , Zugriff 13.3.2020

- PGN - Political Geography Now (11.1.2020): Iraq Control Map & Timeline - January 2020, https://www.polgeonow.com/2020/01/isis-iraq-control-map-2020.html , Zugriff 13.3.2020

- Portal, The (9.10.2019): Iraq launches a new process of “Will to Victory", http://www.theportal-center.com/2019/10/iraq-launches-a-new-process-of-will-to-victory/ , Zugriff 13.3.2020

- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9 , Zugriff 13.3.2020

- UN General Assembly (30.7.2019): Children and armed conflict; Report of the Secretary-General [A/73/907–S/2019/509], https://www.ecoi.net/en/file/local/2013574/A_73_907_E.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html , Zugriff 13.3.2020

2.2. Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).

(ACCORD 26.2.2020)

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).

(IBC 2.2020)

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).

(IBC 2.2020)

Quellen:

- ACCORD (26.2.2020): Irak, 4. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025321/2018q4Iraq_de.pdf , Zugriff 13.3.2020

- IBC - Iraq Bodycount (2.2020): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/ , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019,https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html ,

Zugriff 13.3.2020

2.3. Sicherheitslage Bagdad

Letzte Änderung: 17.3.2020

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

[Anm.: Weiterführende Informationen zu den Demonstrationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden.]

Quellen:

- Al Monitor (11.3.2016): The rise of Islamic State sleeper cells in Baghdad, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/03/iraq-baghdad-belts-harbor-islamic-state.html , Zugriff 13.3.2020

- ISW - Institute for the Study of War (2008): Baghdad Belts, http://www.understandingwar.org/region/baghdad-belts , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (5.8.2019): Islamic State’s Offensive Could Be Winding Down, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/08/islamic-states-offensive-could-be.html , Zugriff 13.3.2020

- OFPRA - Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (10.11.2017): The Security situation in Baghdad Governorate, https://www.ofpra.gouv.fr/sites/default/files/atoms/files/39_irq_security_situation_in_baghdad.pdf , Zugriff 13.3.2020

3. Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die irakische Gerichtsbarkeit besteht aus dem Obersten Justizrat, dem Obersten Gerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission, dem Zentralen Strafgericht und anderen föderalen Gerichten mit jeweils eigenen Kompetenzen (Fanack 2.9.2019). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.1.2019).

Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.1.2019; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.1.2019). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).

Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.1.2019). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft. Willkürliche Verhaftungen, einschließlich Verhaftungen ohne Haftbefehl, sind üblich (FH 4.3.2020). Eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.1.2019).

Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente oder Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 26.2.2019). Nicht nur Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).

Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).

Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausernder sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vgl. CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).

Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).

Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- Al Monitor (12.4.2018): Will Iraq's new 'tribal court' undermine rule of law?, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/04/iraq-tribalism-sheikhs-justice-law.html , Zugriff 13.3.2020

- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf , Zugriff 13.3.2020

- CEDAW - UN Committee on the Elimination of Discrimination Against Women (30.9.2019): The Compliance of Iraq with Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women; Alternative Report about the Death Penalty, https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CEDAW/SharedDocuments/IRQ/INT_CEDAW_CSS_IRQ_37410_E.DOCX , Zugriff 13.3.2020

- Fanack (2.9.2019): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq/ , Zugriff 13.12.2019

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2022678.html , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (25.9.2019): Iraq: Appeals Courts Ignoring Torture Claims, https://www.ecoi.net/de/dokument/2017141.html , Zugriff 13.3.2020

- LIFOS (8.5.2014): Iraq: Rule of Law in the Security and Legal System, https://landinfo.no/asset/2872/1/2872_1.pdf , Zugriff 13.3.2020

- Stanford - Stanford Law School (2013): Constitutional Law of Iraq, https://law.stanford.edu/wp-content/uploads/2018/04/ILEI-Constitutional-Law-2013.pdf , Zugriff 13.3.2020

- TCF - The Century Foundation (7.11.2019): Tribal Justice in a Fragile Iraq, https://tcf.org/content/report/tribal-justice-fragile-iraq/?agreed=1 , Zugriff 13.3.2020

- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

4. Sicherheitskräfte und Milizen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen (Fanack 2.9.2019).

Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) (USDOS 11.3.2020). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) (GS 18.7.2019).

Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vgl. GS 18.7.2019).

Quellen:

- Fanack (2.9.2019): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq/ , Zugriff 13.3.2020

- GS - Global Security (18.7.2019): Hashd al-Shaabi / Hashd Shaabi, Popular Mobilisation Units / People’s Mobilization Forces, https://www.globalsecurity.org/military/world/para/hashd-al-shaabi.htm , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

4.1. Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019).

Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

4.2. Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi

Letzte Änderung: 17.3.2020

Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).

Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).

Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vgl. FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).

Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).

In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).

Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vgl. TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vgl GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellte Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).

Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).

Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).

Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).

Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen (MEE 16.2.2020).

Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahe stehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020).

Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des „Obersten Rates für die Islamische Revolution im Irak“ gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war [Anm. der „Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak“ wurde später zum „Obersten Islamischen Rat im Irak“ (OIRI), siehe Abschnitt „Politische Lage“]. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt heute als die bedeutendste Teilorganisation und dominierende Kraft der PMF. Sie ist besonders mächtig, weil sie die Kontrolle über das irakische Innenministerium und damit auch über die Polizeikräfte besitzt; ein Großteil der bewaffneten Kräfte der Organisation wurde ab 2005 in die irakische Polizei aufgenommen (Süß 21.8.2017). Die Badr-Organisation besteht offiziell aus elf Brigaden, kontrolliert aber auch einige weitere Einheiten (FPRI 19.8.2019). Zu Badr und seinen Mitgliedsorganisationen gehören Berichten zufolge die 1., 3., 4., 5., 9., 10., 16., 21., 22., 23., 24., 27., 30., 52., 55. und 110. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Sie soll über etwa 20.000 bis 50.000 Mann verfügen und ist Miliz und politische Partei in einem (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018). Bei den Wahlen 2018 bildete die Badr-Organisation gemeinsam mit Asa‘ib Ahl al-Haqq und Kata‘ib Hizbullah die Fatah-Koalition (Wilson Center 27.4.2018), die 48 Sitze gewann (FPRI 19.8.2019), 22 davon gewann die Badr-Organisation (Wilson Center 27.4.2018). Viele Badr-Mitglieder waren Teil der offiziellen Staatssicherheitsapparate, insbesondere des Innenministeriums und der Bundespolizei (FPRI 19.8.2019). Die Badr-Organisation strebt die Erweiterung der schiitischen Macht in den Sicherheitskräften an, durch Wahlen und durch Eindämmung sunnitischer Bewegungen (Wilson Center 27.4.2018). Badr-Mitglieder und andere schiitische Milizen misshandelten und misshandeln weiterhin sunnitisch-arabische Zivilisten, insbesondere Sunniten im ehemaligen IS-Gebiet (FPRI 19.8.2019).

Die Kata’ib Hizbullah (Bataillone der Partei Gottes, Hezbollah Brigades) wurden 2007 von Abu Mahdi al-Muhandis gegründet und bis zu seinem Tode 2019 auch angeführt. Die Miliz kann als Eliteeinheit begriffen werden, die häufig die gefährlichsten Operationen übernimmt und vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv ist (Süß 21.8.2017). Kata’ib Hizbullah bilden die 45. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018). Ihre Personalstärke ist umstritten, teilweise ist die Rede von mindestens 400 bis zu 30.000 Mann (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center). Die Ausrüstung und militärische Ausbildung ihrer Mitglieder sind besser als die der anderen Milizen innerhalb der PMF. Kata’ib Hizbullah arbeiten intensiv mit Badr und der libanesischen Hizbullah zusammen und gelten als Instrument der iranischen Politik im Irak. Die Miliz wird von den USA seit 2009 als Terrororganisation geführt (Süß 21.8.2017). Ihr Anführer Jamal Jaafar Ibrahimi alias Abu Mahdi al Muhandis war auch stellvertretender Leiter der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission (Al-Tamini 31.10.2017).

Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak (Süß 21.8.2017). Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch (Clingendael 6.2018). Asa‘ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern (Süß 21.8.2017). Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018).

Die Harakat Hezbollah al Nujaba (HHN, Bewegung der Partei der Edlen Gottes) ist ein Ableger von Kata’ib Hizbullah und Asa‘ib Ahl al-Haqq, die 2013 zur Unterstützung des Assad Regimes in Syrien von Sheikh Akram al Ka‘abi gegründet wurde. Die pro-iranische HHN hat eigenen Angaben zufolge etwa 9.000 Kämpfer, von denen einige nach wie vor in Syrien aktiv sind. Sie stellt die 12. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017).

Die Kata‘ib Sayyid al Shuhada (KSS, Meister der Märtyrerbrigade), ist eine Miliz, die im Mai 2013 gegründet wurde, um an der Seite des Assad-Regimes in Syrien zu kämpfen. Nach dem Aufstieg des IS im Jahr 2014 dehnte die KSS ihre Operationen auf den Irak aus und war insbesondere im Gouvernement Salah ad-Din, aber auch in Anbar und Ninewa aktiv. Geschätzt auf über 2.000 Kämpfer im Jahr 2017, wird die KSS von den Iranischen Revolutionsgarden (Islamic Revolutionary Guards Corps, IRGC) unterstützt und finanziert (Wilson Center 27.4.2018). Sie stellt die 14. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017).

Die Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa von Großayatollah Ali as-Sistani, in der alle junge Männer dazu aufgerufen wurden, sich im Kampf gegen den IS den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten im Irak anzuschließen, von Muqtada as-Sadr gegründet. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam sind der militärische Arm der Sairoun Partei (Allianz für Reformen, Marsch in Richtung Reform). Diese ist eine multiethnische, nicht-konfessionelle (wenn auch meist schiitische), parlamentarische Koalition, die sich aus anti-iranischen Schiiten-Parteien, der Kommunistischen Partei und einigen anderen kleineren Parteien zusammensetzt (FPRI 19.8.2019). Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann. Ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam bilden mindestens drei Brigaden und stellen damit das zweitgrößte Kontingent der PMF. Muqtada as-Sadr verkündete, dass die Saraya as-Salam-Brigaden die Durchführungsverordnung von Premierminister Mahdi sofort annehmen würden und fortan nur noch unter den ihnen zugeteilten Nummern, 313, 314 und 315, bekannt sein würden. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass Sadr auch weiterhin großen Einfluss auf diese Milizen haben wird (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass schätzungsweise 15.000 weitere seiner Kämpfer außerhalb der PMF-Brigaden organisiert sind (Wilson Center 27.4.2018).

Auch die Kata’ib al-Imam Ali (KIA, Bataillone des Imam Ali, Imam Ali Batallions) ist eine der Milizen, die im Juni 2014 neu gebildet wurden (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018). Sie ist den PMF als 40. Brigade beigetreten (Wilson Center 27.4.2018). Sie sticht hervor, weil sie sich rasant zu einer schlagkräftigen Gruppe entwickelte, die an den meisten wichtigen Auseinandersetzungen im Kampf gegen den IS beteiligt war. Dies lässt auf eine beträchtliche Kämpferzahl schließen. Die Funktion des Generalsekretärs hat Shibl al-Zaidi inne, ein früherer Angehöriger der Sadr-Bewegung. Zaidi stand in engem Kontakt zu Muhandis (bis zu dessen Tod) und den Pasdaran, weshalb die Miliz intensive Beziehungen zur Badr-Organisation, den Kata’ib Hizbullah und den iranischen Revolutionsgarden unterhält. Die Miliz betreibt außerdem wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit, wodurch ihr Bekanntheitsgrad schnell gestiegen ist. Vor allem der Feldkommandeur Abu Azra‘el erlangte durch Videos mit äußerst brutalen Inhalten zweifelhafte Berühmtheit. Die Gruppe scheint Gefangene routinemäßig zu foltern und hinzurichten (Süß 21.8.2017). Kata’ib al-Imam Ali hat im Dezember 2014 die kleine syriakische (Anm.: aramäisch- assyrisch) Christenmiliz Kata‘ib Roh Allah Issa Ibn Miriam (Die Brigade vom Geist Gottes, Jesus, Sohn der Maria) gegründet und ausgebildet (Wilson Center 27.4.2018).

Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF

Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert (Süß 21.8.2017).

Die PMF genießen auch breite Unterstützung in der irakischen Bevölkerung für ihre Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat nach dem teilweisen Zusammenbruch der irakischen Armee im Jahr 2014 (TDP 3.7.2019). Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht (Süß 21.8.2017).

Einige PMF haben sich Einkommensquellen erschlossen, die sie nicht aufgeben wollen, darunter Raub, Erpressung und Altmetallbergung (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass die PMF einen Teil der lokalen Wirtschaft in Ninewa kontollieren, was von diesen zurückgewiesen wird (Reuters 29.8.2019). Im Norden und Westen des Irak haben Amtspersonen und Bürger über Schikanen durch PMF-Milizen und deren Eingreifen in die Stadtverwaltungen und das alltägliche Leben berichtet. Damit geht der Versuch einher, bisweilen unter Einsatz von Demütigungen und Prügel, Kontrolle über Bürgermeister, Distrikt-Vorsteher und andere Amtsträger auszuüben (ACCORD 11.12.2019). In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mossul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß (ICG 30.7.2018).

Neben der Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind (Posch 8.2017).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (11.12.2019): ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, https://www.ecoi.net/en/document/2021156.html , Zugriff 13.3.2020

- Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html , Zugriff 13.3.2020

- Al-Tamini - Aymenn Jawad Al-Tamimi (31.10.2017): Hashd Brigade Numbers Index, http://www.aymennjawad.org/2017/10/hashd-brigade-numbers-index , Zugriff 13.3.2020

- Clingendael - Netherlands Institute of International Relations (6.2018): Power in perspective:Four key insights into Iraq’s Al-Hashd al-Sha’abi, https://www.clingendael.org/sites/default/files/2018-06/PB_Power_in_perspective.pdf , Zugriff 13.3.2020

- DIS/Landinfo - Danish Immigration Service; Norwegian Country of Origin Information Center (5.11.2018): Northern Iraq: Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), https://www.ecoi.net/en/file/local/1450541/1226_1542182184_iraq-report-security-idps-and-access-nov2018.pdf , Zugriff 13.3.2020

- ICG - International Crisis Group (30.7.2018): Iraq’s Paramilitary Groups: The Challenge of Rebuilding a Functioning State, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/iraq/188-iraqs-paramilitary-groups-challenge-rebuilding-functioning-state , Zugriff 13.3.2020

- FPRI - Foreign Policy Research Institute (19.8.2019): The Future of the Iraqi Popular Mobilization Forces, https://www.fpri.org/article/2019/08/the-future-of-the-iraqi-popular-mobilization-forces/ , Zugriff 13.3.2020

- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/ , Zugriff 13.3.2020

- GS - Global Security (18.7.2019): Hashd al-Shaabi / Hashd Shaabi, Popular Mobilisation Units / People’s Mobilization Forces, https://www.globalsecurity.org/military/world/para/hashd-al-shaabi.htm , Zugriff 13.3.2020

- MEE - Middle East Eye (16.2.2020): Iran and Najaf struggle for control over Hashd al-Shaabi after Muhandis's killing, https://www.middleeasteye.net/news/iran-and-najaf-struggle-control-over-hashd-al-shaabi-after-muhandis-killing , Zugriff 13.3.2020

- MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor to Al-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-head-as-successor-to-al-muhandis/ , Zugriff 13.3.2020

- Posch, Walter (8.2017): Schiitische Milizen im Irak und in Syrien –Volksmobilisierungseinheiten und andere, per E-mail

- Reuters (29.8.2019): Baghdad's crackdown on Iran-allied militias faces resistance, https://www.reuters.com/article/us-iraq-militias-usa/baghdads-crackdown-on-iran-allied-militias-faces-resistance-idUSKCN1VJ0GS , Zugriff 13.3.2020

- Süß, Clara-Auguste (21.8.2017): Al-Hashd ash-Sha’bi: Die irakischen „Volksmobilisierungseinheiten“ (PMU/PMF), in BFA Staatendokumentation: Fact Finding Mission Report Syrien mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1410004/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf , Zugriff 13.3.2020

- TDP - The Defense Post (3.7.2019): Mahdi orders full integration of Shia militias into Iraq’s armed forces, https://thedefensepost.com/2019/07/03/iraq-mahdi-orders-popular-mobilization-units-integration/ , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004254.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- Wilson Center (27.4.2018): Part 2: Pro-Iran Militias in Iraq, https://www.wilsoncenter.org/article/part-2-pro-iran-militias-iraq , Zugriff 13.3.2020

5. Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 17.3.2020

Folter und unmenschliche Behandlung sind laut der irakischen Verfassung ausdrücklich verboten. Im Juli 2011 hat die irakische Regierung die UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) unterzeichnet. Folter wird jedoch auch in der jüngsten Zeit von staatlichen Akteuren angewandt, etwa bei Befragungen durch irakische (einschließlich kurdische) Polizei- und andere Sicherheitskräfte (AA 12.1.2019), oder auch um Geständnisse zu erzwingen (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020; AI 10.4.2019) und Gerichte diese als Beweismittel akzeptieren (USDOS 11.3.2020) auch für die Vollstreckung von Todesurteilen (AI 10.4.2019). Laut Informationen von UNAMI sollen u.a. Bedrohung mit dem Tod, Fixierung mit Handschellen in schmerzhaften Positionen und Elektroschocks an allen Körperteilen zu den Praktiken gehören (AA 12.1.2019). Ehemalige Häftlinge berichten auch über Todesfälle aufgrund von Folter (AI 26.2.2019). Auch Minderjährige werden Folter unterzogen, um Geständnisse zu erpressen (HRW 6.3.2019).

Weiterhin misshandeln und foltern die Sicherheitskräfte der Regierung, einschließlich der mit den Volksmobilisierungskräften (PMF) verbundenen Milizen und Asayish, Personen während Verhaftungen, Untersuchungshaft und nach Verurteilungen. Internationale Menschenrechtsorganisationen dokumentierten Fälle von Folter und Misshandlung in Einrichtungen des Innenministeriums und in geringerem Umfang in Haftanstalten des Verteidigungsministeriums sowie in Einrichtungen unter Kontrolle der kurdischen Regionalregierung (KRG). Ehemalige Gefangene, Häftlinge und Menschenrechtsgruppen berichteten von einer Vielzahl von Folterungen und Misshandlungen (USDOS 11.3.2020). Eine Studie zu Berufungsgerichtsentscheidungen zeigt, dass Richter bei fast zwei Dutzend Fällen aus den Jahren 2018 und 2019 Foltervorwürfe ignorierten und auf Grundlage von Geständnissen ohne weitere Beweise Schuldsprüche erließen. Einige dieser Foltervorwürfe waren durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet. Die Berufungsgerichte sprachen die Angeklagten in jedem dieser Fälle frei (HRW 14.1.2020). Das im August 2015 abgeschaffte Menschenrechtsministerium hat nach eigenen Angaben 500 Fälle unerlaubter Gewaltanwendung an die Justiz übergeben, allerdings wurden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen (AA 12.1.2019).

Trotz der Zusage des damaligen Premierministers Haidar Abadi im September 2017, den Vorwürfen von Folter und außergerichtlichen Tötungen nachzugehen, haben die Behörden im Jahr 2019 keine Schritte unternommen, um diese Missstände zu untersuchen (HRW 14.1.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- AI - Amnesty International (10.4.2019): Death Sentences and Executions 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/2006174/ACT5098702019ENGLISH.PDF , Zugriff 13.3.2020

- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2022678.html , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (6.3.2019): Iraq: ISIS Child Suspects Arbitrarily Arrested, Tortured, https://www.hrw.org/news/2019/03/06/iraq-isis-child-suspects-arbitrarily-arrested-tortured , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

6. NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Letzte Änderung: 17.3.2020

Nichtregierungsorganisationen (NGOs) müssen sich registrieren (FH 4.3.2020). Mit Stand September 2019 waren laut der irakischen Bundesdirektion für Nichtregierungsorganisationen 4.365 NGOs registriert (USDOS 11.3.2020). In der Kurdischen Region im Irak (KRI) betrug die Zahl registrierter NGOs 4.300 im Jahr 2018 (USDOS 13.3.2019). In der KRI sind die Registrierungen jährlich zu erneuern (FH 4.3.2020).

Seit 2010 gibt es ein Gesetz zu NGOs, das die Beschränkungen der Auslandsfinanzierung von NGOs lockert, die Ablehnung von Registrierungsanträgen einschränkt, strafrechtliche Sanktionen beseitigt, unbegründete Überprüfungen und Inspektionen untersagt, sowie gerichtliche Kontrollen über die Suspendierung von NGOs schafft (ICNL 26.6.2019). NGOs, die nur in Bagdad registriert waren, konnten nicht in der KRI tätig werden, und vice versa (USDOS 11.3.2020).

Im gesamten Irak existierten allein im Bereich Menschenrechte zuletzt etwa 368 registrierte NGOs. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen, unterliegen in ihrer Registrierung keinen besonderen Einschränkungen. Die schwierige Sicherheitslage und weiter bestehende regulatorische Hindernisse erschweren dennoch die Arbeit vieler NGOs. Sie unterliegen der Kontrolle durch die Behörde für Angelegenheiten der Zivilgesellschaft. Zahlreiche NGOs berichten von bürokratischen und intransparenten Registrierungsverfahren, willkürlichem Einfrieren von Bankkonten sowie unangekündigten und einschüchternden „Besuchen“ durch Vertreter des Ministeriums. Die Präsenz von ausländischen NGOs im Zentral- und Südirak ist nach wie vor gering. Dies gilt nicht für die KRI, wo viele ausländische NGOs tätig sind, die derzeit aber unter verschärften Kontrollen durch die Zentralregierung in ihrer Arbeit beeinträchtigt sind (AA 12.1.2019).

Nationale und internationale NGOs operieren in den meisten Fällen unter geringer staatlicher Einflussnahme, jedoch gibt es Berichte über staatliche Einmischung, wenn NGOs Menschenrechtsverletzungen von staatlichen Akteuren untersuchen. In Basra im Südirak wurden Berichten zufolge mehrere Menschenrechtsvertreter willkürlich festgenommen und gezwungen Dokumente ihnen unbekannten Inhalts zu unterzeichnen, bevor sie wieder freigelassen wurden(USDOS 11.3.2020). Ende 2019 gibt es im Zuge der Protestbewegung auch Berichte über Entführungen und Ermordnungen von regierungskritischen Aktivisten (FH 4.3.2020). Die KRI verfügt über eine aktive Gemeinschaft von meist kurdischen NGOs, viele mit engen Beziehungen zu den politischen Parteien PUK und KDP (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- ICNL - The International Center for Not-for-Profit Law (26.6.2019): Civic Freedom Monitor: Iraq, https://www.icnl.org/resources/civic-freedom-monitor/iraq , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004254.html , Zugriff 13.3.2020

7. Wehrdienst, Rekrutierungen und Wehrdienstverweigerung

Letzte Änderung: 17.3.2020

Im Irak besteht keine Wehrpflicht. Männer zwischen 18 und 40 Jahren können sich freiwillig zum Militärdienst melden (AA 12.1.2019; vgl. CIA 21.8.2019). Nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 wurde die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft (BasNews 7.8.2019). Juden sind per Gesetz vom Militärdienst ausgeschlossen (USDOS 21.6.2019). Die irakische Regierung und das irakische Parlament planen, die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu prüfen. Hierbei wird auch die Möglichkeit erwogen, anstelle des Militärdienstes eine Ersatzzahlung leisten zu können (BasNews 7.8.2019).

Laut Kapitel 5 des irakischen Militärstrafgesetzes von 2007 ist Desertion in Gefechtssituationen mit bis zu sieben Jahren Haft strafbar. Das Überlaufen zum Feind ist mit dem Tode strafbar (MoD 10.2007). Die Armee hat kaum die Kapazitäten, um gegen Desertion von niederen Rängen vorzugehen. Es sind keine konkreten Fälle bekannt, in denen es zur Verfolgung von Deserteuren gekommen wäre (DIS/Landinfo 5.11.2018). Im Jahr 2014 entließ das Verteidigungsministerium Tausende Soldaten, die während der IS-Invasion im Nordirak ihre Posten verlassen haben und geflohen sind. Im November 2019 wurden, mit der behördlichen Anordnungen alle entlassenen Soldaten wieder zu verpflichten, über 45.000 wieder in Dienst gestellt (MEMO 6.11.2019).

Die Rekrutierung in die Volksmobilisierungskräfte (PMF) erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Basis. Viele schließen sich den PMF aus wirtschaftlichen Gründen an. Desertion von den PMF kam in den Jahren 2014 bis 2015 seltener vor als bei der irakischen Armee. Desertion von Kämpfern niederer Ränge hätte wahrscheinlich keine Konsequenzen oder Vergeltungsmaßnahmen zur Folge (DIS/Landinfo 5.11.2018).

Auch in der Kurdischen Region im Irak (KRI) herrscht keine Wehrpflicht. Kurdische Männer und Frauen können sich freiwillig zu den Peshmerga melden (DIS 12.4.2016). Rekruten für die Peshmerga unterzeichnen einen Vertrag für eine bestimmte Dienstzeit, nach dessen Ablauf die Person freiwillig gehen kann (EASO 3.2019).

Die Strafe für Desertion von den Peshmerga kann, je nach den Umständen, von der Auflösung des Vertrages bis zur Verurteilung zum Tode reichen. Für letzteres gibt es jedoch keine Berichte (DIS 12.4.2016; vgl. EASO 3.2019). Wenn ein Peshmerga von der Frontlinie desertiert, wird er vor ein Militärgericht gestellt und kann nach irakischem Militärrecht zum Tode verurteilt werden. Einige Peshmerga-Soldaten verlassen die Streitkräfte, weil sie keinen Sold erhalten. Bislang wurden jedoch keine Fälle von Desertion durch die Peshmerga-Truppen vor Gericht gebracht (DIS 12.4.2016).

Es gibt Vorwürfe der Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), der Shingal Protection Units (YBS) und von PMF-Milizen (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- BasNews (7.8.2019): Iraq to Consider Compulsory Military Service: MP, http://www.basnews.com/index.php/en/news/iraq/538607 , Zugriff 13.3.2020

- CIA - Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook – Iraq, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/iz.html , Zugriff 13.3.2020

- DIS - Danish Immigration Service (12.4.2016): The Kurdistan Region of Iraq (KRI); Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation; Report from fact finding mission to Erbil, the Kurdistan Region of Iraq (KRI) and Beirut, Lebanon, 26 September to 6 October 2015, https://www.ecoi.net/en/file/local/1302021/1226_1460710389_factfindingreportkurdistanregionofiraq11042016.pdf , Zugriff 13.3.2020

- DIS/Landinfo - Danish Immigration Service; Norwegian Country of Origin Information Center (5.11.2018): Northern Iraq: Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), https://www.ecoi.net/en/file/local/1450541/1226_1542182184_iraq-report-security-idps-and-access-nov2018.pdf , Zugriff 13.3.2020

- EASO - European Asylum Support Office (3.2019): Iraq; Targeting of Individuals, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003960/Iraq_targeting_of_individuals.pdf , Zugriff 13.3.2020

- MEMO - Middle East Monitor (6.11.2019): Iraq announces return of over 45,000 people to military service, https://www.middleeastmonitor.com/20191106-iraq-announces-return-of-over-45000-people-to-military-service/ , Zugriff 13.3.2020

- MoD - Republic of Iraq, Ministry of Defense (10.2007): Military Penal Code No. 19 of 2007, https://ihl-databases.icrc.org/applic/ihl/ihl-nat.nsf/implementingLaws.xsp?documentId=9C60EDC34C397A53C1257C080040F111&action=openDocument&xp_countrySelected=IQ&xp_topicSelected=GVAL-992BUA&from=state , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html , Zugriff 13.3.2020

8. Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die Verfassung vom 15.10.2005 garantiert demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung. Der Irak hat wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert. Es kommt jedoch weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte. Der in der Verfassung festgeschriebene Aufbau von Menschenrechtsinstitutionen kommt weiterhin nur schleppend voran. Die unabhängige Menschenrechtskommission konnte sich bisher nicht als geschlossener und durchsetzungsstarker Akteur etablieren. Internationale Beobachter kritisieren, dass Mitglieder der Kommission sich kaum mit der Verletzung individueller Menschenrechte beschäftigen, sondern insbesondere mit den Partikularinteressen ihrer jeweils eigenen ethnisch-konfessionellen Gruppe. Ähnliches gilt für den Menschenrechtsausschuss im irakischen Parlament. Das Menschenrechtsministerium wurde 2015 abgeschafft (AA 12.1.2019).

Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen durch Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte, insbesondere durch einige Elemente der PMF; Verschwindenlassen; Folter; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit; Gewalt gegen Journalisten; weit verbreitete Korruption; gesetzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen; Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Shingal Protection Units (YBS) und PMF-Milizen; Menschenhandel; Kriminalisierung und Gewalt gegen LGBTIQ-Personen. Es gibt auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten, einschließlich Einschränkungen bei der Gründung unabhängiger Gewerkschaften (USDOS 11.3.2020).

Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 21.6.2019). Es wird berichtet, dass tausende Männer und Buben, die aus Gebieten unter IS-Herrschaft geflohen sind, von zentral-irakischen und kurdischen Kräften willkürlich verhaftet wurden und nach wie vor als vermisst gelten. Sicherheitskräfte einschließlich PMFs haben Personen mit angeblichen IS-Beziehungen auch in Lagern inhaftiert und gewaltsam verschwinden lassen (AI 26.2.2019).

Die Verfassung und das Gesetz verbieten Enteignungen, außer im öffentlichen Interesse und gegen eine gerechte Entschädigung. In den vergangenen Jahren wurden Häuser und Eigentum von mutmaßlichen IS-Angehörigen, sowie Mitgliedern religiöser und konfessioneller Minderheiten, durch Regierungstruppen und PMF-Milizen konfisziert und besetzt (USDOS 11.3.2020).

Die Regierung, einschließlich des Büros des Premierministers, untersucht Vorwürfe über Missbräuche und Gräueltaten, bestraft die Verantwortlichen jedoch selten (USDOS 11.3.2020).

Im Zuge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste haben Sicherheitskräfte unter anderem scharfe Munition gegen Demonstranten eingesetzt und hunderte Menschen getötet (HRW 31.1.2020).

Der IS begeht weiterhin schwere Gräueltaten, darunter Tötungen durch Selbstmordattentate und improvisierte Sprengsätze (IEDs). Die Behörden untersuchen IS-Handlungen und verfolgen IS-Mitglieder nach dem Anti-Terrorgesetz von 2005 (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (31.1.2020): Iraq: Authorities Violently Remove Protesters, https://www.ecoi.net/en/document/2023934.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html , Zugriff 13.3.2020

9. Meinungs- und Pressefreiheit

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die Verfassung garantiert die Meinungs- und Pressefreiheit, solange diese nicht die öffentliche Ordnung und Moral verletzt (AA 12.1.2019), Unterstützung für die verbotene Ba‘ath-Partei ausdrückt oder die gewaltsame Änderung der Grenzen des Landes befürwortet. Einzelpersonen und Medien betreiben jedoch Selbstzensur aufgrund der begründeten Furcht vor Repressalien durch die Regierung, politische Parteien, ethnische und konfessionellen Kräfte, terroristische und extremistische Gruppen oder kriminelle Banden. Kontrolle und Zensur der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung behindern manchmal den Medienbetrieb, was mitunter die Schließung von Medien, Einschränkungen der Berichterstattung und Behinderung von Internetdiensten zur Folge hat. Einzelpersonen können die Regierung öffentlich oder privat kritisieren, jedoch nicht ohne Angst vor Vergeltung (USDOS 11.3.2020).

Im Irak existiert eine lebendige, aber wenig professionelle, zumeist die ethnisch-religiösen Lagerbildungen nachzeichnende Medienlandschaft, die sich zudem weitgehend in ökonomischer Abhängigkeit von Personen oder Parteien befindet, die regelmäßig direkten Einfluss auf die Berichterstattung nehmen (AA 12.1.2019). Die meisten der mehreren hundert Printmedien, die im Irak täglich oder wöchentlich erscheinen, sowie dutzende Radio- und Fernsehsender, werden von politischen Parteien stark beeinflusst oder vollständig kontrolliert (USDOS 11.3.2020). Es gibt nur wenige politisch unabhängige Nachrichtenquellen. Journalisten, die sich nicht selbst zensieren, können mit rechtlichen Konsequenzen oder gewaltsamen Vergeltungsmaßnahmen rechnen (FH 4.2.2018).

Einige Medienorganisationen berichteten über Verhaftungen von und Schikanen gegenüber Journalisten sowie darüber, dass die Regierung sie davon abhielt, politisch heikle Themen zu behandeln, darunter Sicherheitsfragen, Korruption und das Unvermögen der Regierung öffentliche Dienstleistungen sicherzustellen (USDOS 11.3.2020). Das „Gesetz zum Schutz von Journalisten“ von 2011 hält unter anderem mehrere Kategorien des Straftatbestands der Verleumdung aufrecht, die in ihrem Strafmaß zum Teil unverhältnismäßig hoch sind. Klagen gegen das Gesetz sind anhängig (AA 12.1.2019).

Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen ist der Irak für Journalisten eines der gefährlichsten Länder der Welt (AA 12.1.2019). Auf ihrem Index für Pressefreiheit kommt der Irak im Jahr 2019 auf Platz 156 von 180 (RSF 2020).

Journalisten sind häufig Opfer von bewaffneten Angriffen, Verhaftungen oder Einschüchterungen durch regierungsnahe Milizen und Sicherheitskräfte in allen Teilen des Landes. Morde an Journalisten bleiben ungestraft (RSF 2020). So wurden etwa auch im Zuge der am 1.10.2019 begonnenen Massenproteste im Südirak und Bagdad Journalisten durch willkürliche Verhaftungen, Belästigungen, Drohungen und die widerrechtliche Beschlagnahme von Equipment daran gehindert über die Demonstrationen zu berichten (UNAMI 10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Neun Journalisten gelten seit 2014 nach wie vor als vermisst. Zwei Journalisten wurden 2019 getötet (CPJ 2020). Zwei Journalisten, die in Basra über die Proteste berichteten, wurden am 10.1.2020 erschossen (CPJ 10.1.2020). Seit Mitte Oktober verließen die meisten internationalen Medien und viele lokale Journalisten Bagdad in Richtung Erbil und andere Oerte in der Kurdischen Region im Irak (KRI), nachdem berichtet wurde, dass die Sicherheitskräfte eine Liste von Journalisten und Aktivisten in Umlauf brachten, die verhaftet und eingeschüchtert werden sollten (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- CPJ - Committee to Protect Journalists (10.1.2020): Gunmen open fire on car, kill 2 Dijlah TV journalists at Iraq protest, https://cpj.org/2020/01/dijlah-tv-journalists-killed-protest-basra.php , Zugriff 13.3.2020

- CPJ - Committee to Protect Journalists (2020): Iraq / Middle East & North Africa, Journalists attacked in Iraq since 1992, https://cpj.org/mideast/iraq/ , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- RSF - Reporters sans frontiers (2020): Iraq, Still dangerous for journalists, https://rsf.org/en/iraq , Zugriff 13.3.2020

- UNAMI - UN Assistance Mission for Iraq (10.2019): Demonstraitons in Iraq; 1-9 October 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019889/UNAMI_Special_Report_on_Demonstrations_in_Iraq_22_October_2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

9.1. Internet und soziale Medien

Letzte Änderung: 17.3.2020

Es gibt offene staatliche Einschränkungen beim Zugang zum Internet und Berichte (jedoch kein offizielles Eingeständnis), dass die Regierung E-Mail- und Internetkommunikation ohne entsprechende rechtliche Befugnisse überwacht (USDOS 11.3.2020).

Es gibt Fälle von Vergeltungsmaßnahmen aufgrund von Aussagen bzw. Beiträgen in sozialen Medien (FH 4.3.2020). Trotz Einschränkungen nutzen politische Persönlichkeiten und Aktivisten das Internet, um korrupte und ineffektive Politiker zu kritisieren, Demonstranten zu mobilisieren und sich über soziale Medien für Kandidaten zu engagieren bzw. Wahlkampf zu betreiben (USDOS 11.3.2020).

Die Regierung räumt ein in manchen Gebieten den Internetzugang beschränkt zu haben, angeblich aufgrund von Sicherheitsfragen, wie der Nutzung von Social Media Plattformen durch den IS (USDOS 11.3.2020). Während Großereignissen wird regelmäßig das Internet für einige Stunden gesperrt (AA 12.1.2019).

Im Zuge der am 1.10.2019 begonnen Massenproteste hat die Regierung wiederholt das Internet gedrosselt, um zu verhindern, dass Fotos und Videos der Proteste hochgeladen und ausgetauscht werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020), und blockierte Messaging-Apps. Einige Iraker wurden verhaftet, weil sie mit Facebook-Nachrichten ihre Unterstützung für die Proteste zum Ausdruck gebracht hatten (HRW 14.1.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2022678.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

10. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition

10.1. Versammlungsfreiheit

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die Verfassung sieht das Recht auf Versammlung und friedliche Demonstration „nach den Regeln des Gesetzes“ vor (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Entsprechend einfach gesetzlichen Bestimmungen fehlen jedoch. Im Alltag wird die Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch das seit dem 7.11.2004 geltende „Gesetz zur Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit“ eingeschränkt, das u.a. die Verhängung eines bis zu 60-tägigen Ausnahmezustands ermöglicht (AA 12.1.2019).

Die gesetzlichen Regelungen schreiben vor, dass die Veranstalter sieben Tage vor einer Demonstration um Genehmigung ansuchen und detaillierte Informationen über Veranstalter, Grund des Protests und Teilnehmer einreichen müssen. Die Vorschriften verbieten jegliche Slogans, Schilder, Druckschriften oder Zeichnungen, die Konfessionalismus, Rassismus oder die Segregation der Bürger zum Inhalt haben. Die Vorschriften verbieten auch alles, was gegen die Verfassung oder gegen das Gesetz verstößt; alles, was zu Gewalt, Hass oder Mord ermutigt; und alles, was eine Beleidigung des Islam, der Ehre, der Moral, der Religion, heiliger Gruppen oder irakischer Einrichtungen im Allgemeinen darstellt. Die Behörden erteilen Genehmigungen in der Regel in Übereinstimmung mit diesen Vorschriften (USDOS 11.3.2020).

Demonstranten sind häufig der Gefahr von Gewalt oder Verhaftung ausgesetzt (FH 4.3.2020). Als die Demonstrationen ab Oktober 2019 eskalierten, versäumten es die Behörden, die Demonstranten vor Gewalt zu schützen (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

10.1.1 Protestbewegung

Letzte Änderung: 17.3.2020

Seit 2014 gibt es eine Protestbewegung, in der zumeist junge Leute in Scharen auf die Straße strömen, um bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus zu fordern (WZ 9.10.2018).

So kam es bereits 2018 im Südirak zu weitreichenden Protesten in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Ebenso kam es im Jahr 2019 zu Protesten, wobei pro-iranische Volksmobilisierungskräfte (PMF) beschuldigt wurden, sich an der Unterdrückung der Proteste beteiligt und Demonstranten sowie Menschenrechtsaktivisten angegriffen zu haben (Diyaruna 7.8.2019; vgl. Al Jazeera 25.10.2019).

Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019).

Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr-Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma (Carnegie 14.11.2019; vgl. ICG 10.10.2019), sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala (RFE/RL 4.11.2019) und Najaf (RFE/RL 1.12.2019).

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweiig riefen die Behörden im Oktober und November 2019 Ausgangssperren aus (AI 18.2.2020; vgl. Al Jazeera 5.10.2019; ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und implementierten zeitweilige Internetblockaden (UNAMI 10.2019; vgl. AI 18.2.2020; USDOS 11.3.2020).

Die irakische Menschenrechtskommission berichtete Ende Dezember 2019, dass seit Beginn der Proteste am 1.10.2019 mindestens 490 Demonstranten getötet wurden (AAA 28.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020), darunter 33 Aktivisten, die gezielt getötet wurden. Mehr als 22.000 Menschen wurden verletzt. 56 Demonstranten gelten nach berichteten Entführungen als vermisst, während zwölf weitere wieder freigelassen wurden (AAA 28.12.2019). Mitte Jänner 2020 berichtet Amnesty International von 600 Toten Demonstranten seit Beginn der Proteste (AI 23.1.2020).

Quellen:

- AAA - Asharq Al-Awsat (28.12.2019): Iraq: Human Rights Commission Says 490 Protesters Killed Since October, https://aawsat.com/english/home/article/2056146/iraq-human-rights-commission-says-490-protesters-killed-october , Zugriff 13.3.2020

- AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019; Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2025831.html , Zugriff 13.3.2020

- AI - Amnesty International (23.1.2020): Iraq: Protest death toll surges as security forces resume brutal repression, https://www.ecoi.net/de/dokument/2023297.html , Zugriff 13.3.2020

- Al Jazeera (25.10.2019): Dozens killed as fierce anti-government protests sweep Iraq, https://www.aljazeera.com/news/2019/10/dozens-killed-fierce-anti-government-demonstrations-sweep-iraq-191025171801458.html , Zugriff 13.3.2020

- Al Jazeera (5.10.2019): Iraq PM lifts Baghdad curfew, https://www.aljazeera.com/news/2019/10/iraq-pm-lifts-baghdad-curfew-191005070529047.html , Zugriff 13.3.2020

- Al Mada (2.10.2019): ساحاتالاحتجاجتتحولإلىمناطقحرب („Proteste werden zu Kriegsgebieten“), https://almadapaper.net/view.php?cat=221822 , Zugriff 13.3.2020

- AW - Arab Weekly, The (4.12.2019): Confessional politics ensured Iran’s colonisation of Iraq, https://thearabweekly.com/confessional-politics-ensured-irans-colonisation-iraq , Zugriff 13.3.2020

- BBC News (4.10.2019): Iraq protests: 'No magic solution' to problems, PM says, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-49929280 , Zugriff 13.3.2020

- Carnegie - Carnegie Middle East Center (14.11.2019): How Deep Is Anti-Iranian Sentiment in Iraq?, https://carnegie-mec.org/diwan/80313 , Zugriff 13.3.2020

- Diyaruna (7.8.2019): Iran-backed militias suppress Iraqi protests, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/08/07/feature-01 , Zugriff 13.3.2020

- ICG - International Crisis Group (10.10.2019): Widespread Protests Point to Iraq’s Cycle of Social Crisis, https://www.ecoi.net/de/dokument/2018263.html , Zugriff 13.3.2020

- ICG - International Crisis Group (31.7.2018): How to cope with Iraq’s summer brushfire, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/iraq/b61-how-cope-iraqs-summer-brushfire , Zugriff 13.3.2020

- ISW - Institute for the Study of War (22.10.2019): Iraq's Sustained Protests and Political Crisis, https://iswresearch.blogspot.com/2019/10/iraqs-sustained-protests-and-political.html , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (3.10.2019): Iraq’s October Protests Escalate And Grow, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/iraqs-october-protests-escalate-and-grow.html , Zugriff 13.3.2020

- RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (6.2.2020): Iraqi Protesters Clash With Sadr Backers In Deadly Najaf Standoff, https://www.ecoi.net/en/document/2024704.html , Zugriff 13.3.2020

- RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (1.12.2019): Iraqi Protesters Torch Iranian Consulate For Second Time Within Week, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022938.html , Zugriff 13.3.2020

- RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (4.11.2019): Security Forces Shoot At Baghdad Protesters, Several Killed In Karbala, https://www.ecoi.net/de/dokument/2019395.html , Zugriff 13.3.2020

- Rudaw (13.10.2019): Iraq launches probe into killing of protesters, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/13102019 , Zugriff 13.3.2020

- UNAMI - UN Assistance Mission for Iraq (10.2019): Demonstraitons in Iraq; 1-9 October 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019889/UNAMI_Special_Report_on_Demonstrations_in_Iraq_22_October_2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- WZ - Wiener Zeitung (9.10.2018): Schlüsselland Irak, https://www.wienerzeitung.at/_em_cms/globals/print.php?em_ssc=LCwsLA==&em_cnt=994916&em_loc=69&em_ref=/nachrichten/welt/weltpolitik/&em_ivw=RedCont/Politik/Ausland&em_absatz_bold=0 , Zugriff 13.3.2020

10.2 Vereinigungsfreiheit / Opposition

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die Verfassung garantiert, mit einigen Ausnahmen, das Recht auf Gründung von und Mitgliedschaft in Vereinen und politischen Parteien. Die Regierung respektiert diese Rechte im Allgemeinen. Ausnahmen betreffen das gesetzliche Verbot von Gruppen, die Unterstützung für die Ba‘ath-Partei oder für zionistische Prinzipien bekunden (USDOS 11.3.2020). Belastbare Erkenntnisse über die gezielte Unterdrückung der politischen Opposition durch staatliche Organe liegen nicht vor. Politische Aktivisten berichten jedoch von Einschüchterungen und Gewalt durch staatliche, nichtstaatliche oder paramilitärische Akteure, die abschrecken sollen, neue politische Bewegungen zu etablieren und die freie Meinungsäußerung teils massiv einschränken (AA 12.1.2019).

Die Arbeitsgesetze garantieren Arbeitsnehmern das Recht auf die Bildung von Gewerkschaften, von Tarifverhandlungen und auf das Abhalten von Streiks, schützen sie aber nicht vor gewerkschaftsfeindlicher Diskriminierung bis hin zu Entlassungen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

11. Religionsfreiheit

Letzte Änderung: 17.3.2020

Aufgrund der komplexen Verflechtung religiöser und ethnischer Identitäten ist eine strikte Unterscheidung zwischen rein religiösen Minderheiten und rein ethnischen Minderheiten im Irak oft nur schwer möglich. Um eine willkürliche Trennung zu vermeiden, werden alle Minderheiten, einschließlich derer, bei denen das religiöse Element überwiegt, im Abschnitt 15 (Minderheiten) behandelt.

Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an. Gemäß Artikel 2 Absatz 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung (AA 12.1.2019). Es darf kein Gesetz erlassen werden, das den „erwiesenen Bestimmungen des Islams“ widerspricht. In Absatz 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Explizit erwähnt werden in diesem Zusammenhang Christen, Jesiden und Mandäer-Sabäer, jedoch nicht Anhänger anderer Religionen oder Atheisten (RoI 15.10.2005; vgl. USDOS 21.6.2019).

Artikel 3 der Verfassung legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Irak fest, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes (AA 12.1.2019; vgl. ROI 15.10.2005). Artikel 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten (AA 12.1.2019; vgl. ROI 15.10.2005).

Die folgenden religiösen Gruppen werden durch das Personenstandsgesetz anerkannt: Muslime, chaldäische Christen, assyrische Christen, assyrisch-katholische Christen, syrisch-orthodoxe Christen, syrisch-katholische Christen, armenisch-apostolische Christen, armenisch-katholische Christen, römisch-orthodoxe Christen, römisch-katholische Christen, lateinisch-dominikanische Christen, nationale Protestanten, Anglikaner, evangelisch-protestantische Assyrer, Adventisten, koptisch-orthodoxe Christen, Jesiden, Sabäer-Mandäer und Juden. Die staatliche Anerkennung ermöglicht es den Gruppen, Rechtsvertreter zu bestellen und Rechtsgeschäfte wie den Kauf und Verkauf von Immobilien durchzuführen. Alle anerkannten religiösen Gruppen haben ihre eigenen Personenstandsgerichte, die für die Behandlung von Ehe-, Scheidungs- und Erbschaftsfragen zuständig sind. Laut der Regierung gibt es jedoch kein Personenstandsgericht für Jesiden (USDOS 21.6.2019).

Das Gesetz verbietet die Ausübung des Bahai-Glaubens und der wahhabitischen Strömung des sunnitischen Islams (USDOS 21.6.2019; vgl. UNHCR 5.2019).

Die alten irakischen Personalausweise enthielten Informationen zur Religionszugehörigkeit einer Person, was von Menschenrechtsorganisationen als Sicherheitsrisiko im aktuell herrschenden Klima religiös-konfessioneller Gewalt kritisiert wurde. Mit Einführung des neuen Personalausweises wurde dieser Eintrag zeitweise abgeschafft. Mit Verabschiedung eines Gesetzes zum neuen Personalausweis im November 2015 wurde allerdings auch wieder ein religiöse Minderheiten diskriminierender Passus aufgenommen (AA 12.1.2019). Die Religionen, die auf dem Antrag für den nationalen Personalausweis angegeben werden können, sind christlich, sabäisch-mandäisch, jesidisch, jüdisch und muslimisch. Dabei wird zwischen den verschiedenen Konfessionen des Islams (Shi‘a-Sunni) bzw. den unterschiedlichen Denominationen des Christentums nicht unterschieden. Personen, die anderen Glaubensrichtungen angehören, können nur dann einen Ausweis erhalten, wenn sie sich selbst als Muslim, Jeside, Sabäer-Mandäer, Jude oder Christ deklarieren (USDOS 21.6.2019) Artikel 26 besagt, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden (AA 12.1.2019). Es wird berichtet, dass das Gesetz faktisch zu Zwangskonvertierungen führt, indem Kinder mit nur einem muslimischen Elternteil als Muslime angeführt werden müssen. Christen, die formell als Muslims registriert sind, aber den christlichen oder einen anderen Glauben praktizieren, berichten auch, dass sie gezwungen sind, ihr Kind als Muslim zu registrieren oder das Kind undokumentiert zu lassen, was die Berechtigung auf staatliche Leistungen beeinträchtigt (USDOS 21.6.2019; vgl. USCIRF 4.2019).

Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im irakischen Parlament vertreten. Grundlage bildet ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze (fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie jeweils einen Sitz für Jesiden, Mandäer-Sabäer, Schabak und Faili Kurden). Das kurdische Regionalparlament sieht jeweils fünf Sitze für Turkmenen, Chaldäer und assyrische Christen sowie einen für Armenier vor (AA 12.1.2019).

Institutionelle und gesellschaftliche Einschränkungen der Religionsfreiheit sowie Gewalt gegen Minderheitengruppen sind nach Ansicht von Religionsführern und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich auf Religionsfreiheit konzentrieren, nach wie vor weit verbreitet. Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 21.6.2019). Diskriminierung von Minderheiten durch Regierungstruppen, insbesondere durch manche PMF-Gruppen, und andere Milizen, sowie das Vorgehen verbliebener aktiver IS-Kämpfer, hat ethnisch-konfessionelle Spannungen in den umstrittenen Gebieten weiter verschärft. Es kommt weiterhin zu Vertreibungen wegen vermeintlicher IS- Zugehörigkeit. Kurden und Turkmenen in Kirkuk, sowie Christen und andere Minderheiten im Westen Ninewas und in der Ninewa-Ebene berichten über willkürliche und unrechtmäßige Verhaftungen durch Volksmobilisierungskräfte (PMF) (USDOS 11.3.2020).

Da Religion, Politik und Ethnizität oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, viele Vorfälle als ausschließlich auf religiöser Identität beruhend zu kategorisieren (USDOS 11.3.2020).

Vertreter religiöser Minderheiten berichten, dass die Zentralregierung im Allgemeinen nicht in religiöse Handlungen eingreift und sogar für die Sicherheit von Gotteshäusern und anderen religiösen Stätten, einschließlich Kirchen, Moscheen, Schreinen, religiösen Pilgerstätten und Pilgerrouten, sorgt. Manche Minderheitenvertreter berichten jedoch über Schikane und Restriktionen durch lokale Behörden (USDOS 21.6.2019).

Vertreter religiöser Minderheiten berichten weiterhin über Druck auf ihre Gemeinschaften Landrechte abzugeben, wenn sie sich nicht stärker an islamische Gebote halten (USDOS 21.6.2019).

Die Kurdische Region im Irak (KRI) war für viele religiöse und ethnische Minderheiten im Nordirak ein wichtiger Zufluchtsort, während der Phase der konfessionellen Gewalt nach 2003 und während der IS-Krise (USCIRF4.2019). Einige jesidische und christliche Führer berichten über Schikanen und Misshandlungen durch Peshmerga und Asayesh im von der kurdischen Regionalregierung (KRG) kontrollierten Teil von Ninewa, jedoch sagen einige dieser Führer, dass die Mehrheit dieser Fälle eher politisch als religiös motiviert seien (USDOS 21.6.2019).

[Anm.: Weiterführende Informationen zur Situation einzelner religiöser Minderheiten können dem Kapitel 15 Minderheiten entnommen werden.]

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- RoI - Republic of Iraq (15.10.2005): Constitution of the Republic of Iraq, http://www.refworld.org/docid/454f50804.html , Zugriff 13.3.2020

- UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (5.2019): International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2007789/5cc9b20c4.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html , Zugriff 13.3.2020

12. Minderheiten

Letzte Änderung: 17.3.2020

Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten faktisch unter weitreichender Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 12.1.2019). Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 4.3.2020). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch PMF-Milizen, in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der Ninewa-Ebene (USDOS 11.3.2020).

Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60-65% der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17-22%) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15-20%) (AA 12.1.2019). Genaue demografische Aufschlüsselungen sind jedoch mangels aktueller Bevölkerungsstatistiken sowie aufgrund der politisch heiklen Natur des Themas nicht verfügbar (MRG 5.2018). Zahlenangaben zu einzelnen Gruppen variieren oft massiv (siehe unten).

Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Kurdischen Region im Irak (KRI), oft benachteiligt. Zudem ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen – eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnisch-konfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht (AA 12.1.2019).

Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des IS standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäer-Sabäern, Kaka‘i, Schabak und Christen. Aus dieser Zeit liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert (AA 12.1.2019).

In der KRI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (AA 12.1.2019; vgl. KAS 8.2017). Mit der Verabschiedung des Gesetzes zum Schutze der Minderheiten in der KRI durch das kurdische Regionalparlament im Jahr 2015 wurden die ethnischen und religiösen Minderheiten zumindest rechtlich mit der kurdisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaft gleichgestellt. Dennoch ist nicht immer gewährleistet, dass die bestehenden Minderheitsrechte auch tatsächlich umgesetzt werden (KAS 8.2017). Es gibt auch Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten (Turkmenen, Arabern, Jesiden, Schabak und Christen) durch KRI-Behörden in den sogenannten umstrittenen Gebieten (USDOS 13.3.2019). Darüber hinaus empfinden dort Angehörige von Minderheiten seit Oktober 2017 erneute Unsicherheit aufgrund der Präsenz der irakischen Streitkräfte und v.a. der schiitischen Milizen (AA 12.1.2019).

Im Zusammenhang mit der Rückeroberung von Gebieten aus IS-Hand wurden problematische Versuche einer ethnisch-konfessionellen Neuordnung unternommen, besonders in dem ethnisch-konfessionell sehr heterogenen Gouvernement Diyala (AA 12.1.2019). Im Gouvernement Ninewa wurden alle Distriktverwaltungen angeordnet, dem Bundesgesetz von 2017 folge zu leisten und den Familien von PMF-Märtyrern, die im Kampf gegen den IS gefallen sind (zumeist Schiiten), Land zuzuweisen. Diese Anordnung schloss auch Distrikte mit sunnitischer und nicht-muslimischer Mehrheit ein. Es kam zu Widerstand unter Verweis auf das in der Verfassung verankerte Verbot eines erzwungenen demografischen Wandels, insbesondere im mehrheitlich christlichen Distrikt Hamdaniya (USDOS 21.6.2019).

BMI (2016): Atlas - Middle East & North Africa: Religious Groups

BMI (2016): Atlas - Middle East & North Africa: Ethnic Groups

Anmerkung zu beiden Karten: Die religiös-konfessionelle sowie ethnisch-linguistische Zusammensetzung der irakischen Bevölkerung ist höchst heterogen. Die hier dargebotenen Karten zeigen nur die ungefähre Verteilung der Hauptsiedlungsgebiete religiös-konfessioneller bzw. ethnisch-linguistischer Gruppen und Minderheiten. Insbesondere in Städten kann die Verteilung deutlich von der ländlichen Umgebung abweichen (BMI 2016). Dazu muss hervorgehoben werden, dass ein und dieselbe Gruppe in einer Gegend die Minderheit, in einer anderen jedoch die Mehrheitsbevölkerung stellen kann und umgekehrt (Lattimer EASO 26.4.2017).

Die territoriale Niederlage des IS im Jahr 2017 beendete dessen Kampagne zur Umwälzung der religiösen Demografie des Landes. Viele Schiiten und religiöse Minderheiten, die vom IS vertrieben wurden, sind bis heute nicht in ihre Häuser zurückgekehrt. Die Rückkehr irakischer Streitkräfte in Gebiete, die seit 2014 von kurdischen Streitkräften gehalten wurden, führte Ende 2017 zu einer weiteren Runde demografischer Veränderungen, wobei manche kurdische Bewohner auszogen, und Araber zurückkehrten. In Gebieten, die von schiitischen Milizen befreit wurden, gab es wiederum Berichte von der Vertreibung sunnitischer Araber (FH 4.3.2020). Aufgrund der konfliktbedingten internen Vertreibungen und Rückkehrbewegungen hat sich seit 2014 die Demographie einiger Gebiete von mehrheitlich sunnitisch zu mehrheitlich schiitisch bzw. zu konfessionell gemischt entwickelt, insbesondere in den Gouvernements Bagdad, Basra und Diyala. Im Distrikt Khanaqin in Diyala ist die Anzahl der Orte mit einer sunnitischen Mehrheit von 81 auf 73 gesunken, jene mit einer kurdisch-sunnitischen Mehrheit von 20 auf 17. Im Gouvernement Babil sind vormals arabisch-sunnitisch-schiitische Mischstädte wie Jurf al-Sakhr und Musayab vollständig schiitisch geworden. In der KRI hat die Präsenz sunnitischer Araber zugenommen, sodass die Anzahl der Orte mit einer sunnitisch-arabischen Mehrheit seit 2014 von 2 auf 25 angewachsen ist (IOM 2019).

Ebenso wurde ein Rückgang von assyrischen Christen in vormals gemischt-konfessionellen Regionen im Gouvernement Ninewa verzeichnet, sowie von vormals ethnisch-konfessionell gemischten Orten in den Distrikten Mossul, Sinjar und Telfar, in denen die Zahl der kurdischen Sunniten, Jesiden und Schabak zurückging. Im Gouvernement Diyala sind turkmenisch-sunnitische Mischgebiete verschwunden, während sich die turkmenische Präsenz in der Region um Kirkuk verstärkt zu haben scheint (IOM 2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- BMI - Bundesministerium für Inneres; BMLVS - Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport (2016 – Stand Irak: 2014): Atlas: Middle East & North Africa, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1487770786_2017-02-bfa-mena-atlas.pdf , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- IOM - International Organization for Migration (2019): Integrated Location Assessment IV, IOM Iraq, https://publications.iom.int/system/files/pdf/integrated_location_assessment_4.pdf , Zugriff 13.3.2020

- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (8.2017): Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten in Kurdistan-Irak, http://www.kas.de/wf/doc/kas_50065-1522-1-30.pdf?170918113417 , Zugriff 13.3.2020

- Lattimer, Mark in EASO - European Asylum Support Office (26.4.2017): Minorities and Vulnerable Groups - EASO COI Meeting Report Iraq: Practical Cooperation Meeting, 25-26 April 2017, Brussels, https://www.ecoi.net/en/file/local/1404903/90_1501570991_easo-2017-07-iraq-meeting-report.pdf , Zugriff 13.3.2020

- MRG - Minority Rights Group International (5.2018): Iraq - Minorities and indigenous peoples, http://minorityrights.org/country/iraq/ , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004254.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

12.1. Sunnitische Araber

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt (AA 12.1.2019). Bei willkürlichen Verhaftungen meist junger sunnitischer Männer wird durch die Behörden auf das Anti-Terror-Gesetz verwiesen, welches das Recht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren vorenthält (USDOS 21.6.2019). Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.1.2019).

Es gibt zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, PMF und Peshmerga (USDOS 11.3.2020). Noch für das Jahr 2018 gibt es Hinweise auf außergerichtliche Hinrichtungen von sunnitischen Muslimen in und um Mossul (USCIRF 4.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html , Zugriff 13.3.2020

13. Relevante Bevölkerungsgruppen

13.1. Menschen mit Behinderung oder besonderen Bedürfnissen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Der Irak hat internationale Vereinbarungen zum Schutz der Rechte von Personen mit Behinderungen ratifiziert (AA 12.1.2019; vgl. UNAMI 12.2016) und Gesetze und Verordnungen erlassen, welche die Sozial- und Gesundheitssicherheit von Menschen mit Behinderungen garantieren, einschließlich des Schutzes vor Diskriminierung und der Bereitstellung von Wohnraum sowie spezieller Programme zur Pflege und Rehabilitation (USDOS 11.3.2020). Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wurde 2013 vom Irak ratifiziert (IOM 3.12.2019).

Es fehlen umfassende und zuverlässige Daten über die Prävalenz oder die Arten von Behinderungen im Irak (UNAMI 12.2016; vgl. IOM 3.12.2019). Generell hat das Land eine der weltweit größten Raten an Invaliden (OHCHR 11.9.2019). Schätzungen gehen davon aus, dass die Invalidenrate bei etwa 15% liegt (IOM 3.12.2019). Etwa 25% aller irakischen Haushalte haben mindestens ein Familienmitglied mit einer Behinderung, etwa 20% haben mehr als zwei oder drei bedürftige Angehörige (IOM 4.2019).

Im Jahr 2009 wurde Gesetz 20 erlassen (Änderungen 2015 und 2019), das erstmals Opfern u.a. von Militäroperationen, militärischen Irrtümern und terroristischen Akten Kompensationen zuspricht. Dies gilt auch für teilweise oder vollständige Invalidität. Bei einer Invalidität von 75-100% kann den Opfern entweder eine einmalige Zahlung von 5 Millionen Irakischen Dinar (IQD) (Anm.: ca. 3.883 EUR) oder eine monatliche Zuwendung gewährt werden. Bei einer Invalidität von 50-75% beträgt der Zuschuss 3 bis 4,5 Millionen IQD (Anm.: ca. 2.330-3.494 EUR), bei einer Invalidität von weniger als 50% beträgt der Zuschuss 2,5 Millionen IQD (Anm.: ca. 1.941 EUR) (MRG 21.1.2020). Insgesamt werden Familien von Personen mit Behinderungen vom Staat nur sehr begrenzt unterstützt (UNAMI 12.2016).

Sowohl die irakische Regierung als auch die kurdische Regionalregierung haben Gesetze zur Versorgung von Personen mit Behinderungen verabschiedet: Diese sind für den Irak: die irakische Verfassung von 2005, das Gesetz Nr. 38 über die Betreuung von Menschen mit Behinderungen und besonderen Bedürfnissen von 2013 (UNAMI 12.2016; vgl. OHCHR 11.9.2019), das Sozialversicherungsgesetz von 1980, das Sozialschutzgesetz von 2014 (UNAMI 12.2016) und das - bereits erwähnte - Gesetz Nr. 20 von 2009 zur Entschädigung von Opfern militärischer Operationen und terroristischer Angriffe ab 2003 (UNAMI 12.2016; vgl. MRG 21.1.2020). Für die Kurdische Region im Irak (KRI) sind dies der Verfassungsentwurf der Region Kurdistan von 2009 und das Gesetz Nr. 22 über die Rechte und Privilegien von Menschen mit Behinderungen und besonderen Bedürfnissen einschlägige Bestimmungen (UNAMI 12.2016) Letzteres Gesetz trägt die Zahl 22/2011. Menschen mit Behinderungen wird Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und Schutz gewährt. Im Jahr 2018 erhielten 95.500 Personen mit Behinderungen monatliche Zuwendungen (OHCHR 11.9.2019).

Trotz allem zählen Personen mit Behinderungen zu den gefährdetsten Bevölkerungsgruppen im Irak (UN OCHA 11.2018). Sie sind überproportional vom bewaffneten Konflikt, Gewalt und anderen Notsituationen betroffen (UNAMI 12.2016; vgl. IOM 3.12.2019). Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen ist nach wie vor weit verbreitet, insbesondere von Menschen mit psychischen Behinderungen und von Frauen mit Behinderungen (CRPD 23.10.2019). Diskriminierung erfolgt aufgrund eines sozialen Stigmas. Behinderte werden häufig gesellschaftlich isoliert und innerhalb der Familie betreut (UNAMI 12.2016). In der Gesellschaft gibt es nur wenig Bewusstsein für Behinderungen (UNAMI 12.2016).

Laut Artikel 16 (1) des Gesetzes 38 von 2013 gibt es eine 5%-Quote für die Beschäftigung von invaliden Personen im öffentlichen Sektor (UNAMI 12.2016; vgl. OHCHR 11.9.2019), die in der Praxis mit 11% überschritten wird (OHCHR 11.9.2019). Insgesamt haben Menschen mit Behinderung aber nur begrenzten Zugang zu Bildung, Beschäftigung und Gesundheitsdiensten (USDOS 11.3.2020). Im privaten Sektor existieren nur wenige Anstellungsmöglichkeiten (UNAMI 12.2016).

Kinder mit Behinderungen werden zwar in die Lehrpläne integriert (OHCHR 11.9.2019), erleben aber physische und soziale Barrieren beim Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und sind anfälliger für Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch (UN OCHA 11.2018).

Personen mit psychosoziale Störungen werden im Irak stigmatisiert. Es wird angenommen, dass die Rate der Personen mit psychosozialen Störungen bei etwa 35,5% liegt, wobei etwa 94% unbehandelt bleiben. Spezialisierte Behandlungszentren existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend. Personen mit psychosozialen Störungen sind besonders gefährdet Opfer von Gewalt oder ausgebeutet zu werden, etwa als Selbstmordattentäter, während Frauen besonders gefährdet sind, Opfer sexueller Ausbeutung und Missbrauchs zu werden (UNAMI 12.2016).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- CRPD - UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities (23.10.2019): Concluding observations on the initial report of Iraq [CRPD/C/IRQ/CO/1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2019535/G1931119.pdf , Zugriff 13.3.2020

- IOM - International Organization for Migration (3.12.2019): Disbility Inclusion Strategy 2019-2021, https://iraq.iom.int/publications/disability-inclusion-strategy-2019-2021 , Zugriff 13.3.2020

- IOM - International Organization for Migration (4.2019): reasons to remain: an in-depth analysis of the main districts of displacement, http://iraqdtm.iom.int/LastDTMRound/IDP_Districts_of_Displacement_Factsheets.pdf , Zugriff 13.3.2020

- MRG - Minority Rights Group International (21.1.2020): Mosul after the Battle: Reparations for civilian harm and the future of Ninewa, https://www.ecoi.net/en/file/local/2023155/MRG_CFR_Iraq_EN_Jan201.pdf , Zugriff 13.3.2020

- OHCHR - Office of the High Commissioner for Human Rights (11.9.2019): Committee on the Rights of Persons with Disabilities discusses the impact of the armed conflict on persons with disabilities in Iraq, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=24976&LangID=E , Zugriff 13.3.2020

- UNAMI - United Nations Assistance Mission to Iraq (12.2016): Report on the Rights of Persons with Disabilities in Iraq, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/UNAMI_OHCHR__Report_on_the_Rights_of_PWD_FINAL_2Jan2017.pdf , Zugriff 13.3.2020

- UN OCHA – United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (11.2018): 2019; Humanitarian Needs Overview; Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/1456047/1930_1547030177_irq-2019-hno.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

14. Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit, Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an. Die Regierung respektiert das Recht auf Bewegungsfreiheit jedoch nicht konsequent. In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von IDPs und verbieten Bewohnern von IDP-Lagern, ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften, die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen, Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen (USDOS 11.3.2020).

Checkpoints unterliegen oft undurchschaubaren Regeln verschiedenster Gruppierungen (NYT 2.4.2018). Der Islamische Staat (IS) richtet falsche Checkpoints an Straßen zur Hauptstadt ein, um Zivilisten zu entführen bzw. Angriffe auf Sicherheitskräfte und Zivilisten zu verüben (AI 26.2.2019; vgl. Zeidel/al-Hashimis 6.2019).

Der offizielle Wohnort wird durch die Aufenthaltskarte ausgewiesen. Bei einem Umzug muss eine neue Aufenthaltskarte beschafft werden, ebenso bei einer Rückkehr in die Heimatregion, sollte die ursprüngliche Bescheinigung fehlen (FIS 17.6.2019). Es gab zahlreiche Berichte, dass Sicherheitskräfte (ISF, Peshmerga, PMF) aus ethno-konfessionellen Gründen Bestimmungen, die Aufenthaltsgenehmigungen vorschreiben, selektiv umgesetzt haben, um die Einreise von Personen in befreite Gebiete unter ihrer Kontrolle zu beschränken (USDOS 11.3.2020).

Angesichts der massiven Vertreibung von Menschen aufgrund der IS-Expansion und der anschließenden Militäroperationen gegen den IS, zwischen 2014 und 2017, führten viele lokale Behörden strenge Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen ein, darunter unter anderem Bürgschafts-Anforderungen und in einigen Gebieten nahezu vollständige Einreiseverbote für Personen, die aus ehemals vom IS kontrollierten oder konfliktbehafteten Gebieten geflohen sind, insbesondere sunnitische Araber, einschließlich Personen, die aus einem Drittland in den Irak zurückkehren. Die Zugangs- und Aufenthaltsbedingungen sind nicht immer klar definiert und/oder die Umsetzung kann je nach Sicherheitslage variieren oder sich ändern. Bürgschafts-Anforderungen sind in der Regel weder gesetzlich verankert noch werden sie offiziell bekannt gegeben (UNHCR 11.2019). Die Bewegungsfreiheit verbesserte sich etwas, nachdem die vom IS kontrollierten Gebiete wieder unter staatliche Kontrolle gebracht wurden (FH 4.3.2020).

Die Regierung verlangt von Bürgern, die das Land verlassen, eine Ausreisegenehmigung. Diese Vorschrift wird jedoch nicht konsequent durchgesetzt (USDOS 11.3.2020). An den Grenzen zu den Nachbarstaaten haben sich in den letzten Monaten immer wieder Änderungen der Ein- und Ausreisemöglichkeiten, Kontrollen, Anerkennung von Dokumenten etc. ergeben. Nach wie vor muss mit solchen Änderungen – auch kurzfristig – gerechnet werden (AA 12.1.2019).

Einreise und Einwanderung in die Kurdische Region im Irak (KRI)

Die Kurdischen Region im Irak (KRI) schränkt die Bewegungsfreiheit in den von ihr verwalteten Gebieten ein (USDOS 11.3.2020). Während die Einreise in die Gouvernements Erbil und Sulaymaniyah ohne Bürgen möglich ist, wird für die Einreise nach Dohuk ein Bürge benötigt. Insbesondere Araber aus den ehemals vom IS kontrollierten Gebieten, sowie Turkmenen aus Tal Afar im Gouvernement Ninewa benötigen einen Bürgen aus Dohuk, es sei denn, sie erhalten eine vorübergehende Reisegenehmigung vom Checkpoint in der Nähe des Dorfes Hatara. Diese Genehmigung wird für kurzfristige Besuche aus medizinischen oder ähnlichen Gründen erteilt (UNHCR 11.2019).

Inner-irakische Migration aus dem Zentralirak in die KRI ist grundsätzlich möglich. Durch ein Registrierungsverfahren wird der Zuzug jedoch kontrolliert (AA 12.1.2019). Wer dauerhaft bleiben möchte, muss sich bei der Asayish-Behörde des jeweiligen Bezirks anmelden (AA 12.1.2019; vgl. UNHRC 11.2019). Eine Sicherheitsfreigabe ist dabei in allen Regionen der KRI notwendig (UNHCR 11.2019). Die Behörden verlangen von Nicht-Ortsansässigen, dass sie einen in der Region ansässigen Bürgen vorweisen können (USDOS 11.3.2020). Eine zusätzliche Anforderung für alleinstehende arabische und turkmenische Männer ist, dass sie eine feste Anstellung und ein Unterstützungsschreiben ihres Arbeitgebers vorweisen müssen (UNHCR 11.2019). In Dohuk muss eine Person in Begleitung des Bürgen, der die Einreise ermöglicht, vorstellig werden, um eine Aufenthaltskarte („Informationskarte“) zu erhalten (UNHCR 11.2019). Die Aufenthaltsgenehmigung ist in der Regel einjährig erneuerbar (UNHCR 11.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Personen ohne feste Anstellung erhalten jedoch nur eine einmonatige, erneuerbare Genehmigung (UNHCR 11.2019). Informationen über die Anzahl der Anträge und Ablehnungen werden nicht veröffentlicht (AA 12.1.2019). Bürger, die aus dem Zentral- oder Südirak in die KRI einreisen (egal welcher ethno-religiösen Gruppe sie angehörten, auch Kurden) müssen Checkpoints passieren und Personen- und Fahrzeugkontrollen über sich ergehen lassen (USDOS 11.3.2020).

Die KRI-Behörden wenden Beschränkungen unterschiedlich streng an. Die Wiedereinreise von IDPs und Flüchtlingen wird - je nach ethno-religiösem Hintergrund und Rückkehrgebiet - mehr oder weniger restriktiv gehandhabt. Checkpoints werden manchmal für längere Zeit geschlossen. Beamte hindern Personen, die ihrer Meinung nach ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten, an der Einreise in die Region. Die Einreise ist für Männer oft schwieriger, insbesondere für arabische Männer, die ohne Familie reisen (USDOS 11.3.2020).

Einreise und Einwanderung in den Irak unter der Zentralregierung

Es gibt keine Bürgschaftsanforderungen für die Einreise in die Gouvernements Babil, Bagdad, Basra, Diyala, Kerbala, Kirkuk, Najaf, Qadissiya und Wassit. Für den Zugang zu den Gouvernements Maysan und Muthanna wird hingegen ein Bürge benötigt, der die Person an einem Grenz-Checkpoint in Empfang nimmt, oder mit ihr bei der zuständigen Sicherheitsbehörde für eine Freigabe vorstellig wird. Ohne Bürge wird der Zugang wahrscheinlich verweigert, auch wenn die Sicherheitsbehörden über einen Ermessensspielraum für Ausnahmen verfügen (UNHCR 11.2019).

Für die Niederlassung in den verschiedenen Gouvernements existieren für Personen aus den vormals vom IS kontrollierten Gebieten unterschiedliche Regelungen. Für eine Ansiedlung in Bagdad werden zwei Bürgen aus der Nachbarschaft benötigt, in der die Person wohnen möchte, sowie ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar (Anm.: etwa Dorf-, Gemeindevorsteher). Für die Ansiedlung in Diyala, sowie in den südlichen Gouvernements Babil, Basra, Dhi-Qar, Kerbala, Maysan, Muthanna, Najaf, Qadisiya und Wassit sind ein Bürge und ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar erforderlich. Eine Ausnahme stellt der Bezirk Khanaqin dar, in dem Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar, des nationalen Sicherheitsdiensts (National Security Service, NSS), und des Nachrichtendienstes notwendig sind. Für die Ansiedlung in der Stadt Kirkuk wird ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar benötigt (UNHCR 11.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- FIS - Finnish Migrations Service (17.6.2019): Irak: Tiendonhankintamatka Bagdadiin Helmikuussa 2019 Paluut Kotialueille (Entisille ISIS-Alueille); Ajankohtaista Irakilaisista Asiakirjoista, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Irak+Tiedonhankintamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+%28entisille+ISIS-alueille%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf/c5019f7f-e3f7-981b-7cea-3edc1303aa78/Irak+Tiedonhankintamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+%28entisille+ISIS-alueille%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf , Zugriff 13.3.2020

- NYT - New York Times, The (2.4.2018): In Iraq, I Found Checkpoints as Endless as the Whims of Armed Men, https://www.nytimes.com/2018/04/02/magazine/iraq-sinjar-checkpoints-militias.html , Zugriff 13.3.2020

- UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (11.2019): Iraq: Country of Origin Information on Access and Residency Requirements in Iraq (Update I), https://www.ecoi.net/en/file/local/2019573/5dc04ef74.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- Zeidel, Ronan, al-Hashimis Hisham in Terrorism Research Initiative (6.2019): A Phoenix Rising from the Ashes? Daesh after its Territorial Losses in Iraq and Syria, https://www.jstor.org/stable/26681907 , Zugriff 13.3.2020

15. IDPs und Flüchtlinge

Letzte Änderung: 17.3.2020

Seit Jänner 2014 hat der Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) im Irak die Vertreibung von ca. sechs Millionen Irakern verursacht, rund 15% der Gesamtbevölkerung des Landes (IOM 4.9.2018). Anfang 2019 waren noch etwa 1,8 Millionen Menschen intern Vertrieben (IDPs) (FIS 17.6.2019; vgl. HRW 14.6.2019). Anfang 2020 betrug die Zahl der IDPs noch 1,4 Millionen (IOM 28.2.2020; vgl. UNICEF 31.12.2019; UNOCHA 27.1.2020). Die Zahl der IDPs sinkt seit der zweiten Hälfte des Jahres 2017 sukzessive (IOM 28.2.2020); die Zahl der Rückkehrer ist gestiegen (IOM 10.2019). Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Zahlen an IDPs im Irak von März 2014 bis Februar 2020. Das Diagramm mit den blauen Balken links unten veranschaulicht die Verteilung der IDPs auf die jeweiligen Gouvernements.

(IOM 29.2.2020)

Wie den folgenden Grafiken zu entnehmen ist, sind die Gouvernements mit den höchsten Zahlen an IDPs Ninewa, gefolgt von Anbar, Salah ad-Din, Kirkuk, Diyala, Bagdad, Erbil und Dohuk (IOM 31.12.2019).

(IOM 31.12.2019)

Etwa 450.000 bis 500.000 Personen leben in Lagern, die meisten davon seit ungefähr zwei bis drei Jahren (FIS 17.6.2019; vgl. HRW 14.6.2019), während die übrigen in privaten oder informellen Unterkünften leben (HRW 14.6.2019).

Erzwungene Rückkehr und die Blockierung der Rückkehr dauerten im Jahr 2019 an (HRW 14.1.2020). Personen aus vormals vom IS kontrollierten oder vom Konflikt betroffenen Gebieten werden in vielen Gebieten, wegen mutmaßlicher Nähe zum IS und aus ethno-konfessionellen Gründen, von lokalen Behörden oder anderen Akteuren, wie den Volksmobilisierungskräften (PMF) unter Druck gesetzt oder gezwungen, in ihre Heimatregionen zurückzukehren (UNHCR 11.2019; vgl. USDOS 11.3.2020).

Behörden der Zentralregierung und der Gouvernements unternahmen manchmal Maßnahmen zur Schließung oder Konsolidierung von Flüchtlingslagern, um IDPs zur Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete zu zwingen. Aufgrund der verordneten Lagerschließungen ist die Zahl der formellen IDP-Lager zwischen August und September 2019 von 89 auf 77 gesunken. Häufig resultierte eine zwangsweise Rückkehr in neuerlicher Vertreibung (USDOS 11.3.2020). So gibt es Berichte über die Ausweisung von tausenden Flüchtlingen aus Lagern in Ninewa, die aus anderen Gouvernements stammten (HRW 4.9.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Ende August 2019 wurden schätzungsweise 1.600 IDPs (300 Haushalte) aus Flüchtlingslagern im Gouvernement Ninewa (Hamam Al Alil (HAA), As Salamiyah und Nimrud) nach Anbar, Kirkuk und Slah ad-Din verbracht. Dabei gab es einen Mangel an Informationsweitergabe an die betroffenen Personen und zwischen den jeweiligen Behörden. Trotz vorangegangener Sicherheitsüberprüfungen wurde einigen IDPs der Zugang zu Lagern in Anbar verwehrt (UN OCHA 15.9.2019).

Rückkehrer riskieren Landminen, Racheangriffe von Nachbarn oder die Zwangsrekrutierung in lokale bewaffnete Gruppen (HRW 14.6.2019). Anfang Juli 2019 begannen Sicherheitskräfte damit hunderte IDPs aus Lagern in Ninewa und Salah ad-Din zwangsweise in deren Heimatgouvernements zu verbringen, ungeachtet der Sicherheitsbedenken (HRW 14.1.2020). Vertreibungen ohne Rücksicht auf die Sicherheit der Personen hat häufig neuerliche Vertreibung zur Folge (UNHCR 11.2019). In vielen Fällen führt erzwungene Rückkehr zu sekundärer oder tertiärer Vertreibungen (USDOS 11.3.2020).

Einige IDPs werden auch an der Rückkehr gehindert und effektiv in Lagern festgehalten (HRW 14.6.2019). Etwa eine Million Menschen aufgrund angeblicher Verbindungen zum IS an einer Rückkehr in ihre Heimat gehindert (FIS 17.6.2019). IDPs, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, müssen laut lokalen Organisationen über bestimmte Ausweispapiere verfügen, etwa einen irakischen Personalausweis, eine Staatsangehörigkeitsbescheinigung und eine Aufenthaltsgenehmigung. Manchmal wird auch ein Reisepass angefordert (FIS 17.6.2019). Manche IDPs konnten verlorene Dokumente wieder einholen (IOM 13.11.2019).

Die Regierung und internationale Organisationen, einschließlich UN-Einrichtungen und NGOs, gewähren IDPs Schutz und andere Hilfe. Humanitäre Akteure unterstützen IDP-Lager und gewähren auch IDPs außerhalb der Lager Dienstleistungen, um die Belastung der Ressourcen der Gastgebergemeinden zu begrenzen (USDOS 11.3.2020). Der Großteil der humanitären Hilfe kommt Projekten in den Gouvernements Ninewa und Dohuk zugute, in denen sich auch die meisten IDPs befinden (UN OCHA 15.9.2019). Der Zugang zu humanitärer Hilfe hat sich allerdings verringert. Weniger als 10% der IDP-Haushalte berichten, dass sie Hilfe erhalten, meist in Form von Nahrungsmitteln und Wasser durch NGOs (IOM 13.11.2019). Von befragten IDP-Haushalten in Lagern im gesamten Irak wurde am häufigsten der Bedarf an Nahrungsmitteln (76% der Haushalte) angegeben, gefolgt von Beschäftigung (59 %) und medizinischer Versorgung (54%). Der Anteil der Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand in IDP-Lagern lag Mitte 2019 bei etwa 21%. Etwa 90% der befragten IDP-Haushalte gab an, dass sie bei Tageslicht ohne Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit das Lager verlassen und wieder betreten konnten (REACH 8.2019).

Die Regierung stellt vielen - aber nicht allen - IDPs, auch in der Kurdischen Region im Irak (KRI), Nahrungsmittel, Wasser und finanzielle Hilfe zur Verfügung. Viele IDPs leben in informellen Siedlungen, wo sie keine ausreichende Versorgung mit Wasser, sanitären Einrichtungen oder anderen wichtigen Dienstleistungen erhalten. Alle Bürger sind berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des Public Distribution System (PDS) zu erhalten. Die Behörden verteilen aber nicht jeden Monat alle Waren. Nicht alle IDPs können in jedem Gouvernement auf Lebensmittel aus dem Public Distribution System (PDS) zugreifen, insbesondere nicht in den befreiten Gebieten. Die Bürger können die PDS-Rationen nur an ihrem Wohnort und in ihrem eingetragenen Gouvernement einlösen, was zu einem Verlust des Zugangs und der Ansprüche aufgrund von Vertreibungen führt (USDOS 11.3.2020).

Die lokalen Behörden entscheiden oft darüber, ob IDPs Zugang zu örtlichen Leistungen erhalten. Humanitäre Organisationen berichten, dass einige IDPs mangels erforderlicher Unterlagen Schwierigkeiten bei der Registrierung haben. Viele Bürger, die zuvor in den vom IS kontrollierten Gebieten gelebt haben, besitzen keine Personenstandsdokumente, was die Schwierigkeit, einen Ausweis und andere persönliche Dokumente zu erhalten, noch vergrößerte. Laut einem Bericht von Februar 2018 hat die lokale Polizei Ausweispapiere von Personen in Lagern beschlagnahmt, was ihre Bewegungsfreiheit, einschließlich ihrer Möglichkeit das Lager zu verlassen beeinträchtigte (HRW 4.2.2018; vgl. USDOS 11.3.2020). Die Vereinten Nationen und andere humanitäre Organisationen unterstützen IDPs bei der Beschaffung von Dokumenten und der Registrierung bei den Behörden, um den Zugang zu Dienstleistungen und Bezugsrechten zu verbessern (USDOS 11.3.2020).

Die schwierigsten Rückkehrbedingungen finden sich unter anderem in den Distrikten Al-Khalis, Al-Muqdadiya und Khanaqin im Gouvernement Diyala, in den Distrikten Daquq und Kirkuk im Gouvernement Kirkuk, in den Distrikten Al-Ba'aj, Hatra, Sinjar und Telafar im Gouvernement Ninewa und in den Distrikten Balad, Samarra und Tooz im Gouvernement Salah ad-Din. Ninewa (196.644) und Salah ad-Din (154.674) sind die Gouvernements mit der höchsten Anzahl von Rückkehrern, die unter schweren Bedingungen leben. Verbesserungen in der Versorgung mit Elektrizität und Wasser haben die Lebensbedingungen für Rückkehrer in einigen Bezirken, darunter auch Ost-Mossul in Ninewa und Khanaqin in Diyala etwas verbessert (IOM 10.2019).

Massive Zerstörung von Wohnungen und Infrastruktur, die Präsenz konfessioneller- oder parteiischer Milizen, sowie die anhaltende Bedrohung durch Gewalt machten es vielen IDPs schwer, nach Hause zurückzukehren (FH 4.3.2020). In einigen Gebieten behindern Gewalt und Unsicherheit sowie langjährige politische, stammes- und konfessionelle Spannungen die Fortschritte bei der nationalen Aussöhnung und erschweren den Schutz von IDPs. Tausende Familien sahen sich aus wirtschaftlichen und sicherheitstechnischen Gründen mit einer neuerlichen Vertreibung konfrontiert. Zwangsvertreibungen, kombiniert mit dem langwierigen und weitgehend ungelösten Problem von Millionen von Menschen, die in den letzten Jahrzehnten entwurzelt wurden, belasten die Kapazitäten der lokalen Behörden (USDOS 11.3.2020).

Haushalte mit vermeintlichen Verbindungen zum IS sind stigmatisiert und werden mit einem erhöhten Risiko ihrer Grundrechte beraubt. Probleme bei der Beschaffung der notwendigen Zivildokumente und die häufig vorenthaltenen Sicherheitsfreigaben schränken ihre Bewegungsfreiheit ein, einschließlich ihrer Möglichkeiten zur Inanspruchnahme medizinischer Versorgung, wegen der Gefahr von Verhaftungen und eines Verbots ins Lager zurückzukehren (USDOS 11.3.2020).

Ausländische Flüchtlinge

Das Gesetz sieht die Gewährung von Asyl vor, und die Regierung hat ein System zum Schutz von Flüchtlingen eingerichtet (USDOS 11.3.2020). Unter den etwa 335.000 ausländischen Flüchtlingen sind etwa 249.000 Syrer und ca. 40.000 Flüchtlinge aus anderen Gebieten, sowie knapp 50.000 Staatenlose. Ihren Status regelt das „Gesetz über politische Flüchtlinge“, Nr. 51 (1971). Der Entwurf einer Novellierung des Gesetzes wurde bislang nicht verabschiedet. Die Flüchtlinge befinden sich überwiegend in und um Bagdad sowie unmittelbar im Grenzbereich zu Syrien und Jordanien (AA 12.1.2019). Die Regierung arbeitet im Allgemeinen mit dem UNHCR und anderen humanitären Organisationen zusammen, um Flüchtlingen im Land Schutz und Unterstützung zu bieten (USDOS 11.3.2020).

Seit 2014 hat die KRI mehr als eine Million IDPs aus verschiedenen Teilen des Irak aufgenommen. Es bestehen etwa 39 Lager für IDPs und Flüchtlinge, in denen die Mehrzahl der vertriebenen religiösen Minderheiten leben (OHCHR 11.9.2019). Darunter befinden sich, je nach Quelle auch über 228.000, bis mehr als 240.000 syrische Flüchtlinge (USAID 30.9.2019; vgl. OHCHR 11.9.2019). Es wird erwartet, dass die Zahl der syrischen Flüchtlinge im Zuge des anhaltenden militärischen Konflikts in Nordost-Syrien weiter ansteigen wird (USAID 30.9.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 , Zugriff 13.3.2020

- FIS - Finnish Migrations Service (17.6.2019): Irak: Tiendonhankintamatka Bagdadiin Helmikuussa 2019 Paluut Kotialueille (Entisille ISIS-Alueille); Ajankohtaista Irakilaisista Asiakirjoista, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Irak+Tiedonhankintamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+%28entisille+ISIS-alueille%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf/c5019f7f-e3f7-981b-7cea-3edc1303aa78/Irak+Tiedonhankintamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+%28entisille+ISIS-alueille%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2022678.html , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (4.9.2019): Iraq: Camps Expel Over 2,000 People Seen As ISIS-Linked, https://www.hrw.org/news/2019/09/04/iraq-camps-expel-over-2000-people-seen-isis-linked , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (14.6.2019): Iraq: Not a Homecoming, https://www.ecoi.net/en/document/2011734.html , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (4.2.2018): Families with ISIS relatives Forced into Camps, https://www.ecoi.net/de/dokument/1423562.html , Zugriff 13.3.2020

- IOM - International Organization for Migration (29.2.2020): Iraq Mission: Displacement Tracking Matrix (DTM): IDPs, http://iraqdtm.iom.int/IDPsML.aspx , Zugriff 13.3.2020

- IOM - International Organization for Migration (31.12.2019): Iraq Mission: Displacement Tracking Matrix (DTM): IDPs, http://iraqdtm.iom.int/DTMReturnDashboards.aspx , Zugriff 13.3.2020

- IOM - International Organization for Migration (13.11.2019): Access to Durable Solutions Among IDPs in Iraq Four Years in Displacement, https://iraq.iom.int/publications/access-durable-solutions-among-idps-iraq-four-years-displacement , Zugriff 13.3.2020

- IOM - Internationale Organisation für Migration (10.2019): Return Index, Findings Round Five – Iraq, http://iraqdtm.iom.int/LastDTMRound/IOM%20dtm%20return%20index_round_5_Oct2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- IOM - International Organization for Migration (4.9.2018): Iraq Displacement Figures Drop Below Two Million for First Time Since 2014; Nearly Four Million Have Returned Home, https://www.iom.int/news/iraq-displacement-figures-drop-below-two-million-first-time-2014-nearly-four-million-have , Zugriff 13.3.2020

- OHCHR - Office of the High Commissioner for Human Rights (11.9.2019): Committee on the Rights of Persons with Disabilities discusses the impact of the armed conflict on persons with disabilities in Iraq, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=24976&LangID=E , Zugriff 13.3.2020

- REACH (8.2019): Iraq - IDP Camp Directory, Comparative Dashboard & Camp Profiles Round XII, https://drive.google.com/file/d/1AYaoNcmeGr8bC8PqPHXI8C9PcMxNcBrM/view , Zugriff 13.3.2020

- UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (11.2019): Iraq: Country of Origin Information on Access and Residency Requirements in Iraq (Update I), https://www.ecoi.net/en/file/local/2019573/5dc04ef74.pdf , Zugriff 13.3.2020

- UNICEF - United Nations International Children's Emergency Fund (31.12.2019): Iraq 2019 Humanitarian Situation Report, https://www.unicef.org/appeals/files/Iraq_Humanitarian_Situation_Report_End_of_Year_2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- UN OCHA - United Nations Office for the Coordination of Humantitarian Affairs (27.1.2020): Iraq Humanitarian Response Plan 2020 (January 2020), https://reliefweb.int/report/iraq/iraq-humanitarian-response-plan-2020-january-2020 , Zugriff 13.3.2020

- UN OCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (15.9.2019): Iraq: Humanitarian Bulletin, August 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2016706/humanitarian_bulletin_august_2019_en.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USAID - Unites States Agency for International Development (30.9.2019): Food Assistance Fact Sheet: Iraq, https://www.usaid.gov/iraq/food-assistance , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

16. Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung: 17.3.2020

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 12.1.2019). Der irakische humanitäre Reaktionsplan schätzt, dass im Jahr 2019 etwa 6,7 Millionen Menschen dringend Unterstützung benötigten (IOM o.D.; vgl. USAID 30.9.2019). Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die grassierende Korruption verstärkt vorhandene Defizite zusätzlich. In vom Islamischen Staat (IS) befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 12.1.2019).

Nach Angaben der UN-Agentur UN-Habitat leben 70% der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums (AA 12.1.2019). Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich (K4D 18.5.2018). Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig (AA 12.1.2019).

Wirtschaftslage

Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019 (GIZ 1.2020c). Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet (WKO 18.10.2019).

Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 1.2020c). Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.1.2019).

Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiters Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung (WB 12.2019).

Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen (OHCHR 11.9.2019). Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an (WB 19.4.2019). Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikt 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen (Joel Wing 18.2.2020). Die Regierung strebt bis Ende 2022 eine Senkung der Armutsrate auf 16% an (Rudaw 16.2.2020).

Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD (Anm.: ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD (Anm.: ca. 0,9 EUR) pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land sind derzeit keine dieser Weiterbildungsprogramme, die nur durch spezielle Fonds zugänglich sind, aktiv (IOM 1.4.2019).

Stromversorgung

Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 12.1.2019). Sie deckt nur etwa 60% der Nachfrage ab, wobei etwa 20% der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 17.9.2019). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste (AA 12.1.2019).

Wasserversorgung

Etwa 70% des irakischen Wassers haben ihren Ursprung in Gebieten außerhalb des Landes, vor allem in der Türkei und im Iran. Der Wasserfluss aus diesen Ländern wurde durch Staudammprojekte stark reduziert. Das verbleibende Wasser wird zu einem großen Teil für die Landwirtschaft genutzt und dient somit als Lebensgrundlage für etwa 13 Millionen Menschen (GRI 24.11.2019).

Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist (Clingendael 10.7.2018). Insbesondere Dammprojekte der irakischen Nachbarländer, wie in der Türkei, haben großen Einfluss auf die Wassermenge und Qualität von Euphrat und Tigris. Der damit einhergehende Rückgang der Wasserführung in den Flüssen hat ein Vordringen des stark salzhaltigen Wassers des Persischen Golfs ins Landesinnere zur Folge und beeinflusst sowohl die Landwirtschaft als auch die Viehhaltung. Das bringt in den besonders betroffenen südirakischen Gouvernements Ernährungsunsicherheit und sinkenden Einkommensquellen aus der Landwirtschaft mit sich (EPIC 18.7.2017).

Die Wasserversorgung wird zudem von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (AA 12.1.2019). Im Südirak und insbesondere Basra führten schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass im Jahr 2018 mindestens 118.000 Menschen wegen Magen-Darm Erkrankungen in Krankenhäusern behandelt werden mussten (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).

Nahrungsmittelversorgung

Etwa 1,77 Millionen Menschen im Irak sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, ein Rückgang im Vergleich zu 2,5 Millionen Betroffenen im Jahr 2019 (USAID 30.9.2019; vgl. FAO 31.1.2020). Die meisten davon sind IDPs und Rückkehrer. Besonders betroffen sind jene in den Gouvernements Diyala, Ninewa, Salah al-Din, Anbar und Kirkuk (FAO 31.1.2020). 22,6% der Kinder sind unterernährt (AA 12.1.2019).

Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurden unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen (FAO 8.2.2018). Trotz konfliktbedingter Einschränkungen und Überschwemmungen entlang des Tigris (betroffene Gouvernements: Diyala, Wasit, Missan und Basra), die im März 2019 aufgetreten sind, wird die Getreideernte 2019 wegen günstiger Witterungsbedingungen auf ein Rekordniveau von 6,4 Millionen Tonnen geschätzt (FAO 31.2.2020).

Trotzdem ist das Land von Nahrungsmittelimporten abhängig (FAO 31.1.2020). Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (UNFAO) schätzt, dass der Irak zwischen Juli 2018 und Juni 2019 etwa 5,2 Millionen Tonnen Mehl, Weizen und Reis importiert hat, um den Inlandsbedarf zu decken (USAID 30.9.2019).

Im Südirak und insbesondere Basra führen schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass Landwirte ihre Flächen mit verschmutztem und salzhaltigem Wasser bewässern, was zu einer Degradierung der Böden und zum Absterben von Nutzpflanzen und Vieh führt (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).

Das Sozialsystem wird vom sogenannten „Public Distribution System“ (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen (K4D 18.5.2018; vgl. USAID 30.9.2019). Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schwerer Ineffizienz gekennzeichnet ist (K4D 18.5.2018). Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).

[Anm.: Informationen zum Unterkünften können dem Kapitel 21 Rückkehr entnommen werden.]

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- Clingendael - Netherlands Institute of International Relations (10.7.2018): More than infrastructures: water challenges in Iraq, https://www.clingendael.org/sites/default/files/2018-07/PB_PSI_water_challenges_Iraq.pdf , Zugriff 13.3.2020

- EPIC - Enabling Peace in Iraq Center (18.7.2017): Drought in the land between two rives, https://www.epic-usa.org/iraq-water/ , Zugriff 13.3.2020

- Fanack (17.9.2019): Energy file: Iraq, https://fanack.com/fanack-energy/iraq/ , Zugriff 18.2.2020

- FAO - Food and Agriculture Organization of the United Nations (31.1.2020): Country Briefs, Iraq, http://www.fao.org/giews/countrybrief/country.jsp?code=IRQ , Zugriff 13.3.2020

- FAO - Food and Agriculture Organization of the United Nations (8.2.2018): Iraq: Recovery and Resilience Programme 2018-2019, http://www.fao.org/3/I8658EN/i8658en.pdf , Zugriff 13.3.2020

- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020c): Irak - Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/irak/wirtschaft-entwicklung/ , Zugriff 13.3.2020

- GRI - Global Risk Insights (24.11.2019): Water Shortage and Unrest in Iraq, https://globalriskinsights.com/2019/11/water-shortage-and-unrest-in-iraq/ , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2022678.html , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (22.7.2019): Irak: Wasserkrise in Basra, https://www.hrw.org/de/news/2019/07/22/irak-wasserkrise-basra , Zugriff 13.3.2020

- IOM - Internationale Organisation für Migration (1.4.2019): Länderinformationsblatt Irak (Country Fact Sheet 2018), https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698617/18363939/Irak_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101157&vernum=-2 , Zugriff 13.3.2020

- IOM - Internationale Organisation für Migration (o.D.): Iraq 2019, Humanitarian Compendium, https://humanitariancompendium.iom.int/appeals/iraq-2019 , Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (18.2.2020): Poverty Rate In Iraq Down But Still Higher Than Pre-War Level, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/poverty-rate-in-iraq-down-but-still.html , Zugriff 13.3.2020

- K4D - Knowledge for Development Program (18.5.2018): Iraqi state capabilities, https://assets.publishing.service.gov.uk/media/5b18e952e5274a18eb1ee3aa/Iraqi_state_capabilities.pdf , Zugriff 13.3.2020

- OHCHR - Office of the High Commissioner for Human Rights (11.9.2019): Committee on the Rights of Persons with Disabilities discusses the impact of the armed conflict on persons with disabilities in Iraq, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=24976&LangID=E , Zugriff 13.3.2020

- Rudaw (16.2.2020): ISIS caused massive spike in Iraq’s poverty rate, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/160220201 , Zugriff 13.3.2020

- USAID - Unites States Agency for International Development (30.9.2019): Food Assistance Fact Sheet: Iraq, https://www.usaid.gov/iraq/food-assistance , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

- WB - World Bank, The (12.2019): Unemployment, youth total (% of total labor force ages 15-24) (modeled ILO estimate), Iraq, https://data.worldbank.org/indicator/SL.UEM.1524.ZS?locations=IQ , Zugriff 13.3.2020

- WB - World Bank, The (19.4.2019): Republic of Iraq, http://pubdocs.worldbank.org/en/300251553672479193/Iraq-MEU-April-2019-Eng.pdf , Zugriff 13.3.2020

- WKO - Wirtschaftskammer Österreich (18.10.2019): Die irakische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-irakische-wirtschaft.html , Zugriff 13.3.2020

17. Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 17.3.2020

Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können - für den Zugang zum Gesundheitswesen wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt - haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen (IOM 1.4.2019). Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD (Anm.: ca. 12-16 EUR). Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 12.2019).

Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt (AA 12.1.2019). Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung (GIZ 12.2019). In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.1.2019). Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosoziale Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend (UNAMI 12.2016). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).

Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Hinzu kommt, dass durch die Kampfhandlungen nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch schwierige Schusswunden und Kriegsverletzungen behandelt werden müssen (AA 12.1.2019). Für das Jahr 2020 werden in Flüchtlingslagern der kurdischen Gouvernements Dohuk und Sulaymaniyah erhebliche Lücken in der Gesundheitsversorgung erwartet, die auf Finanzierungsengpässe zurückzuführen sind (UNOCHA 17.2.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2019): Alltag, https://www.liportal.de/irak/alltag/ , Zugriff 13.3.2020

- IOM - Internationale Organisation für Migration (1.4.2019): Länderinformationsblatt Irak (Country Fact Sheet 2018), https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698617/18363939/Irak_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101157&vernum=-2 , Zugriff 13.3.2020

- UNAMI - United Nations Assistance Mission to Iraq (12.2016): Report on the Rights of Persons with Disabilities in Iraq, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/UNAMI_OHCHR__Report_on_the_Rights_of_PWD_FINAL_2Jan2017.pdf , Zugriff 13.3.2020

- UN OCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (17.2.2020): Iraq: Humanitarian Bulletin, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/humanitarian-bulletin-january-2020.pdf , Zugriff 13.3.2020

- WHO - World Health Organization (o.D.): Iraq: Primary Health Care, http://www.emro.who.int/irq/programmes/primary-health-care.html , Zugriff 13.3.2020

18. Rückkehr

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Kurdischen Region im Irak (KRI) finden regelmäßig statt. In der KRI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Eine Fortführung dieser Tendenzen wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 12.1.2019).

Studien zufolge ist die größte Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak (IOM 2.2018; vgl. REACH 30.6.2017).

Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger (IOM 1.4.2019). Die Miete für 250 m² in Bagdad liegt bei ca. 320 USD (Anm.: ca. 296 EUR) (IOM 13.6.2018). Die Wohnungspreise in der KRI sind 2018 um 20% gestiegen, während die Miete um 15% gestiegen ist, wobei noch höhere Preise prognostiziert werden (Ekurd 8.1.2019). In den Städten der KRI liegt die Miete bei 200-600 USD (Anm.: ca. 185-554 EUR) für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD (Anm.: ca. 12 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD (Anm.: ca. 8-19 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD (Anm.: ca. 23-31 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000-60.000 IQD (Anm.: ca. 31-46 EUR) für privaten oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom. Die Rückkehr von IDPs in ihre Heimatorte hat eine leichte Senkung der Mietpreise bewirkt. Generell ist es für alleinstehende Männer schwierig Häuser zu mieten, während es in Hinblick auf Wohnungen einfacher ist (IOM 1.4.2019).

Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. In der Zeit nach Saddam Hussen sind die Besitzverhältnisse von Immobilien zuweilen noch ungeklärt. Nicht jeder Vermieter besitzt auch eine ausreichende Legitimation zur Vermietung (GIZ 12.2019).

Im Zuge seines Rückzugs aus der nordwestlichen Region des Irak, 2016 und 2017, hat der Islamische Staat (IS) die landwirtschaftlichen Ressourcen vieler ländlicher Gemeinden ausgelöscht, indem er Brunnen, Obstgärten und Infrastruktur zerstörte. Für viele Bauerngemeinschaften gibt es kaum noch eine Lebensgrundlage (USCIRF 4.2019). Im Rahmen eines Projekts der UN-Agentur UN-Habitat und des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) wurden im Distrikt Sinjar, Gouvernement Ninewa, binnen zweier Jahre 1.064 Häuser saniert, die während der IS-Besatzung stark beschädigt worden waren. 1.501 Wohnzertifikate wurden an jesidische Heimkehrer vergeben (UNDP 28.4.2019).

Es besteht keine öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche für Rückkehrer. Private Immobilienfirmen können jedoch helfen (IOM 1.4.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- Ekurd Daily (8.1.2019): Property prices increasing in Iraqi Kurdistan after years of stagnation, https://ekurd.net/property-prices-kurdistan-2019-01-08 , Zugriff 13.3.2020

- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2019): Alltag, https://www.liportal.de/irak/alltag/ , Zugriff 13.3.2020

- IOM - Internationale Organisation für Migration (1.4.2019): Länderinformationsblatt Irak (Country Fact Sheet 2018), https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698617/18363939/Irak_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101157&vernum=-2 , Zugriff 13.3.2020

- IOM - International Organization for Migration (13.6.2018): Länderinformationsblatt Irak (2017), https://www.bamf.de/SharedDocs/MILo-DB/DE/Rueckkehrfoerderung/Laenderinformationen/Informationsblaetter/cfs_irak-dl_de.pdf;jsessionid=0E66FF3FBC9BF77D6FB52022F1A7B611.1_cid294?__blob=publicationFile , Zugriff 13.3.2020

- IOM - International Organization for Migration (2.2018): Iraqi returnees from Europe: A snapshot report on Iraqi Nationals upon return in Iraq, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/DP.1635%20-%20Iraq_Returnees_Snapshot-Report%20-%20V5.pdf , Zugriff 13.3.2020

- REACH (30.6.2017): Iraqi migration to Europe in 2016: Profiles, Drivers and Return, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/reach_irq_grc_report_iraqi_migration_to_europe_in_2016_june_2017%20%281%29.pdf , Zugriff 13.3.2020

- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- UNDP - United Nations Development Programme (28.4.2019): UN-Habitat and UNDP Upscale Support on Housing Rehabilitation and Secure Tenure for the Returnees in Sinjar, https://www.iq.undp.org/content/iraq/en/home/presscenter/pressreleases/2019/04/28/un-habitat-and-undp-upscale-support-on-housing-rehabilitation-an.html , Zugriff 13.3.2020

19. Staatsbürgerschaft und Dokumente

Letzte Änderung: 17.3.2020

Artikel 18 der irakischen Verfassung besagt, dass jede Person, die zumindest über einen irakischen Elternteil verfügt, die Staatsbürgerschaft erhält und somit Anspruch auf Ausweispapiere hat (Irakische Nationalversammlung 15.10.2005; vgl. HRW 28.8.2019; USDOS 11.3.2020). Dies wird in Artikel 3 des irakischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 2006 bestätigt, jedoch wird in Artikel 4 darauf hingewiesen, dass Personen, die außerhalb des Iraks von einer irakischen Mutter geboren werden und deren Vater entweder unbekannt oder staatenlos ist, vom Minister für die irakischen Staatsbürgerschaft in Betracht gezogen werden können. Dies geschieht, wenn sich die besagte Person innerhalb eines Jahres nach ihrer Vollmündigkeit für die irakische Staatsbürgerschaft entscheidet. Wenn dies aus schwierigen Gründen unmöglich ist, kann die Person trotzdem noch um die irakische Staatsbürgerschaft ansuchen. In jedem Fall muss der Antragsteller zum Zeitpunkt seiner Bewerbung aber im Irak ansässig sein (Irakische Nationalversammlung 7.3.2006). Eine Doppelstaatsbürgerschaft ist per Staatsbürgerschaftsgesetz No.26/2006, Artikel 10 erlaubt (RoI MoFA 2020).

Nach dem Geburts- und Todesregistergesetz (1971) und dem Zivilstandsgesetz (1972), muss für den Erhalt einer Heiratsurkunde der Eheschluss von beiden Ehepartnern bezeugt werden, bzw. muss im Fall einer Wiederverheiratung die Sterbeurkunde des früheren Ehepartners vorgelegt werden. Es sind jeweils zwei Zeugen notwendig (HRW 25.2.2018).

Der irakische Personalausweis (arabisch: bitaqat hawwiyat al-ahwal al-shakhsiya) wird für alle behördlichen Angelegenheiten benötigt, wie beispielsweise Gesundheits- und Sozialdienste, Schulen, sowie für den Kauf und Verkauf einer Unterkunft und eines Autos. Er wird auch für die Beantragung anderer amtlicher Dokumente, wie den Reisepass, benötigt. Im Oktober 2015 ist ein neues nationales Ausweisgesetz in Kraft getreten. Laut diesem soll ein neuer biometrischer Personalausweis vier Karten ersetzen: den alten Personalausweis, den Staatsangehörigkeitsnachweis, den Aufenthaltsnachweis und den Lebensmittelausweis. Seit der Jahreswende 2015/2016 werden die neuen Ausweise sukzessive ausgestellt, bisher mehr als zehn Millionen. Viele Iraker besitzen nach wie vor ihren alten Personalausweis und die erforderlichen Staatsangehörigkeitsbescheinigungen. Zwar haben die alten Ausweise kein Ablaufdatum, doch werden sie laut irakischen Behörden im Jahr 2024 ihre Gültigkeit verlieren. Die alten Ausweise werden dabei nach wie vor an Orten ausgegeben, an denen die notwendigen Gegebenheiten für die Ausstellung der neuen Dokumente nicht vorhanden sind. So werden etwa nach Angaben der irakischen Behörden in Teilen der Gouvernements Ninewa, Diyala, Salah ad-Din und Anbar immer noch alte Personalausweise und Staatsangehörigkeitsbescheinigungen ausgestellt. Von den 356 Ausweisämtern des Landes stellen derzeit 266 die neuen elektronischen Ausweise aus. Da Ausweise in der Regel nur an den Orten der Aufenthaltsmeldung ausgestellt werden, benötigen IDPs häufig die Hilfe anderer, um zumindest an einen alten Ausweis zu kommen (FIS 17.6.2019).

Laut dem irakischen Passgesetz kann jede Person über 18 Jahren, unabhängig von ihrem Geschlecht und ohne Erlaubnis des Vormunds einen Pass erhalten (Irakisches Innenministerium 2017). Jedoch können Frauen ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters weder einen Reisepass beantragen (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020), noch einen Personalausweis bekommen, der etwa für den Zugang zu Nahrungsmittelhilfe, Gesundheitsversorgung, Beschäftigung, Bildung und Wohnen benötigt wird (FIS 22.5.2018; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die neuen irakischen Pässe enthalten einen maschinenlesbaren Abschnitt sowie einen 3D-Barcode und gelten, im Vergleich zu den Vorgängermodellen, als fälschungssicherer. Vor allem können diese nur noch persönlich und nicht mehr durch Dritte beantragt werden (AA 12.1.2019; vgl. FIS 17.6.2019), da Fingerabdrücke aller Finger, ein Foto und ein Iris-Scan angefertigt werden. Davon ausgenommen sind Kinder unter zwölf Jahren (FIS 17.6.2019). Die irakischen Botschaften haben erst vereinzelt begonnen, diese Pässe auszustellen (AA 12.1.2019). Nur etwa 25-30 Millionen Iraker (etwa 60-75% der Bevölkerung) besitzen einen Reisepass (FIS 17.6.2019). Der Islamische Staat (IS) konfiszierte in Gebieten unter seiner Kontrolle regelmäßig offizielle Dokumente, die von staatlichen irakischen Stellen ausgestellt worden waren und stellte eigene Dokumente aus, wie z.B. Heirats- und Geburtsurkunden. Diese werden von den irakischen Behörden jedoch nicht anerkannt (HRW 28.8.2019; vgl. NRC 4.2019).

Jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, ist gegen Bezahlung zu beschaffen. Zur Jahresmitte 2014 tauchten vermehrt gefälschte Visaetiketten auf. Auch gefälschte Beglaubigungsstempel des irakischen Außenministeriums sind im Umlauf; zudem kann nicht von einer verlässlichen Vorbeglaubigungskette ausgegangen werden (AA 12.1.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf , Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020 ,, Zugriff 13.3.2020

- FIS - Finnish Immigration Service (17.6.2019): Irak: Tiendonhankintamatka Bagdadiin Helmikuussa 2019 Paluut Kotialueille (Entisille ISIS-Alueille); Ajankohtaista Irakilaisista Asiakirjoista, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Irak+Tiedonhankintamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+%28entisille+ISIS-alueille%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf/c5019f7f-e3f7-981b-7cea-3edc1303aa78/Irak+Tiedonhankintamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+%28entisille+ISIS-alueille%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf , Zugriff 13.3.2020

- FIS - Finnish Immigration Service (22.5.2018): Overview of the status of women living without a safety net in Iraq, https://coi.easo.europa.eu/administration/finland/Plib/Report_Women_Iraq_Migri_CIS.pdf , Zugriff 13.3.2020

- HRW - Human Rights Watch (28.8.2019): Iraq: School Doors Barred to Many Children, https://www.ecoi.net/de/dokument/2015675.html , Zugriff 13.3.2020

- Irakisches Innenministerium (2017): تعليمات الحصول على جواز سفر مقروء آليا, http://www.iraqinationality.gov.iq/InstructionstoapplyforElectronicallyReadPassport.html , Zugriff 13.3.2020

- Irakische Nationalversammlung (7.3.2006): Irakisches Nationalitätsgesetz, http://www.refworld.org/topic ,50ffbce524d,50ffbce525c,4b1e364c2,0,,LEGISLATION,IRQ.html, Zugriff 13.3.2020

- Irakische Nationalversammlung (15.10.2005): Verfassung der Republik Irak, http://www.refworld.org/topic ,50ffbce524d,50ffbce525c,454f50804,0,,LEGISLATION,IRQ.html, Zugriff 13.3.2020

- NRC - Norwegian Refugee Council (4.2019): Barriers from birth: Undocumented children in Iraq sentenced to a life on the margins, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/barriers-from-birth---report.pdf , 13.3.2020

- RoI MoFA - Republic of Iraq, Ministry of Foreign Affairs (2020): Passport Issuance, https://www.mofa.gov.iq/passport-issuance , Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 13.3.2020

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in die von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakten unter zentraler Zugrundelegung der niederschriftlichen Angaben des BF und der im Gefolge seiner Einvernahme in Vorlage gebrachten Unterlagen sowie des Inhaltes der gegen die angefochtenen Bescheide erhobenen Beschwerden, ferner durch Vernehmung des BF als Partei in der vor dem erkennenden Gericht am 04.03.2021 durchgeführten mündlichen Verhandlung, Einsicht in die im Rechtsmittelverfahren vorgelegten Unterlagen und in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat, die dem BF zur Kenntnis gebracht und mit ihm erörtert wurden. Dabei handelt es sich um folgende Anfragebeantwortungen, Berichte und Artikel:

 aktuelle länderkundliche Informationen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak vom 17.03.2020)

 Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zum Irak: Sicherheitslage in Bagdad, ACCORD vom 8.3.2018

 Kurzübersicht über sicherheitsrelevante Vorfälle im Irak, zusammengestellt von ACCORD betreffend das Jahr 2019 und das erste Quartal 2020.

 Staatendokumentation Research paper „Socio-economic dynamics: Baghdad"

 Artikel von DW, 23.05. 2019 „Die neuen Freiheiten von Bagdad“

 Ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: „ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen“, Dokument #2028772 - ecoi.net, veröffentlicht am 27.04.2020

 EASO COI Report, Security situation and information on civilians killed in Iraq in 2017-2018 (by Iraq Body Count), https://easo.europa.eu/news-events/easo-publishes-coi-report-iraq-security-situation-andinformation-civilians-killed

 EASO COI Report, Iraq – Key socio-economic indicators (February 2019), EASO Country of Origin Information Report: Iraq - Key socio-economic indicators (February 2019) - Iraq | ReliefWeb

 EASO COI Report, Security situation Iraq October 2020, https://bvwg-dms.cna.at/otcs/cs.exe/fetch/-44174311/44300368/48052239/10_2020_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation_0.pdf?nodeid=51291225&vernum=-2

2.2. Der eingangs angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbestrittenen Inhalt der vorgelegten Verfahrensakte der belangten Behörde, die ein mängelfreies und ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt hat.

Die Angaben zur Identität und zur Staatsangehörigkeit des BF ergeben sich aus dessen Angaben in den Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und dem erkennenden Gericht. Der BF brachte einen irakischen Personalausweis und einen irakischen Staatsbürgerschaftsnachweis im Original in Vorlage, sodass seine Angaben zur Identität anhand dieser Urkunden nachvollzogen werden können.

Das Bundesverwaltungsgericht nahm weiters Einsicht in das Fremdenregister, das Strafregister, das Zentrale Melderegister sowie die Grundversorgungs- und Sozialversicherungsdaten und holte die aktenkundigen Auszüge ein.

Die Feststellungen zu den Deutschkenntnissen des BF ergeben sich neben den diesbezüglichen eigenen Angaben und den wenigen vorgelegten Bestätigungen, insbesondere aus dem persönlichen Eindruck der erkennenden Richterin im Rahmen der mündlichen Verhandlung. Es war daher festzustellen, dass der Beschwerdeführer über keine maßgeblichen Deutschkenntnisse verfügt.

Die übrigen Feststellungen zu den Lebensumständen sowie den familiären Bindungen ergeben sich aus den im Verwaltungs- bzw. Gerichtsakt einliegenden Beweismitteln und insbesondere den im gesamten Verfahren vom Beschwerdeführer gemachten, diesbezüglich gleichbleibenden eigenen Angaben, welche bei den Feststellungen jeweils in Klammer zitiert und vom Beschwerdeführer zu keiner Zeit bestritten wurden.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand, den Verletzungen und Einschränkungen des rechten Armes des BF sowie der erfolgten Behandlung ergeben sich einerseits bereits aus den entsprechenden Feststellungen der bB im angefochtenen Bescheid, darüber hinaus aus den eindeutigen aktenkundigen medizinischen Unterlagen und Befunden und darüber hinaus auch aus dem entsprechenden Vorbringen des BF im Rahmen der Erstbefragung, der Niederschrift vor dem Bundesamt und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Narben am Ober- und Unterarm waren für die erkennende Richterin im Rahmen der mündlichen Verhandlung auch deutlich sichtbar. Darüber hinaus hat der BF jedoch weder vorgebracht noch nachgewiesen, sich derzeit – abgesehen von der Anwendung einer Salbe – in medizinischer, medikamentöser oder physiotherapeutischer Behandlung zu befinden. Auch hat er zu keiner Zeit das Vorliegen anderer Erkrankungen vorgebracht und hat sich dies auch sonst nicht aus dem Akteninhalt ergeben.

Der BF brachte mehrere Nachweise über seine gemeinnützigen und ehrenamtlichen Tätigkeiten in Österreich, darunter etwa Gartenarbeiten oder Tätigkeiten in Wildparks vor. Dass der BF somit völlig arbeitsunfähig wäre, hat sich daher im Verfahren nicht ergeben und wurde auch nicht vorgebracht. Fest steht, dass der BF jedoch entsprechend der massiv eingeschränkten Funktion seines rechten Armes nur eingeschränkt arbeitsfähig ist.

Eine schwere Erkrankung, die einer Rückkehr des BF in den Irak entgegenstehen würde, kann aufgrund der vorliegenden Befunde und den Schilderungen des BF jedoch nicht festgestellt werden.

Zwar bleibt die medizinische Versorgung im Irak ausweislich der den Feststellungen zugrundeliegenden Berichte angespannt, der BF hat als irakische Staatsbürger jedoch Zugang zum Gesundheitssystem. Den eingesehenen Berichten zufolge ist eine flächendeckende Versorgung mit Krankenhäusern bzw. Gesundheitszentren gegeben (aktuelles Länderinformationsblatt der Staatendokumentation; Country Policy and Information Note Iraq: Medical and healthcare issues vom Mai 2019), in welchen der BF seinen eigenen Angaben nach bereits zwischen August 2012 und Mai 2013 drei Mal in den öffentlichen Krankenhäusern XXXX und XXXX im Bezirk XXXX in Bagdad operiert wurde und dann bis Ende 2015 Physiotherapie mit einem Selbstbehalt von lediglich EUR 0,80 pro Behandlung erhielt.

Wenngleich die Beweglichkeit des rechten Armes des BF massiv eingeschränkt und er diesbezüglich eine körperliche Behinderung aufweist, so kann – wie bereits ausgeführt – schon aufgrund der ehrenamtlichen Tätigkeiten und nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der tätlichen Auseinandersetzungen des BF, die zu seinen beiden strafgerichtlichen Verurteilungen in Österreich geführt haben, nicht erkannt werden, dass der BF derart eingeschränkt in seiner Erwerbstätigkeit oder seiner selbstständigen Lebensführung ist, dass er auf staatliche finanzielle Unterstützung oder sogar auf eine staatliche Betreuungseinrichtung angewiesen wäre. Schlussendlich liegt beim BF auch keine psychische bzw. geistige Behinderung vor. Neurologische und muskulo-skelettale Probleme wie die des BF können in Bagdad in öffentlichen Krankenhäusern, aber etwa auch in der privaten Einrichtung Al – Ulom Al- Asabia Hospital, Sader al- Qano in Bagdad oder in der privaten Einrichtung der LST Medical Company in Bagdad behandelt werden. Dabei steht bei letzterer Einrichtung auch Langzeitbetreuung für physisch beeinträchtigte Personen zur Verfügung (vgl. etwa Country Policy and Information Note Iraq: Medical and healthcare issues vom Mai 2019, S 27).

Zusammengefasst ist festzuhalten, dass der BF bereits im Irak mehrfach operativ und physiotherapeutisch behandelt wurde und derzeit bis auf eine Betamethason enthaltende Salbe keine weitere Behandlung benötigt. Wie in der rechtlichen Beurteilung noch näher ausgeführt wird, ist es nicht ausschlaggebend, ob besonders wirksame Therapien bzw. Operationsmöglichkeiten für den BF im Irak gleichsam wie in Österreich bestehen bzw. zugänglich sind.

Im Zuge des gegenständlichen Verfahrens sowie insbesondere in der Beschwerdeverhandlung und der nachfolgenden Stellungnahme wurde auch kein Vorbringen erstattet, aus welchem abzuleiten wäre, dass der BF hinsichtlich einer möglichen Infektion mit dem Corona-Virus einer Risikogruppe angehören würde oder warum sonst mit Nachdruck davon auszugehen wäre, dass konkret der BF im Falle einer Rückkehr mit einer Gesundheitsgefährdung zu rechnen hätte, zumal er selbst keinerlei, hinsichtlich einer COVID-19-Erkrankung relevante, Erkrankungen vorgebracht hat. Es kann nicht erkannt werden, dass der BF durch eine Rückkehr in den Irak einem höheren Risiko ausgesetzt wäre, an COVID-19 zu erkranken, als in Österreich.

Auch kann aus dem tragischen Vorfall Ende April dieses Jahres, bei welchem durch einen Brand in einer Corona-Intensivstation, vermutlich ausgelöst durch falsch gelagerte Sauerstoffflaschen, etwa achtzig Menschen getötet wurden, kein besonderes Gefährdungsmoment für den BF abgeleitet werden.

Das Gericht verkennt nicht, dass das Gesundheitssystem des Irak noch an den Auswirkungen des langjährigen Embargos nach dem zweiten Golfkrieg leidet und die weit verbreitete Korruption im Irak wohl auch zur Missachtung von Sicherheitsvorschriften in Krankenhäusern führt. Dass im Irak und dort in Bagdad generell keine Versorgung von Corona-Patienten erfolgen könnte oder diese generell geringe Überlebenschancen hätten, lässt sich den eingesehenen Berichten, Daten und aktuellen Medienberichten jedoch nicht entnehmen, zumal mit Stichtag 7.5.2021 unter den 1,1 Mio Erkrankten 15.673 Corona-Todesfällen im Irak auch 986.000 Fälle von wieder Genesenen gegenüberstehen, wie der aus Wikipedia und anderen Informationsquellen gespeisten und über die Suchmaschine google einzusehenden Statistik „Karte mit Fallzahlen (letzte 14 Tage)“ zu entnehmen ist. Wiewohl die Statistiken keine weiteren Aufschlüsse darüber geben, welche Personen wieder genesen sind und welchen Verlauf die Krankheit bei diesen genommen hat, so lässt sich jedoch schon aus der Sterblichkeitsrate (zum Stichtag 7.5.2021 sind 1,42 Prozent der an Corona Erkrankten im Irak verstorben, während dieser Prozentsatz in Österreich 1,6 betrug) ableiten, dass das Gesundheitssystem im Irak nicht völlig zum erliegen gekommen ist. Davon abgesehen ist im vorliegenden Fall aber vor allem maßgeblich, dass im Fall des BF weder Krankheitssymptome noch die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe im Sinne der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz über die Definition der allgemeinen COVID-19-Risikogruppe (COVID-19-Risikogruppe-Verordnung) behauptet wurde.

Insgesamt kommt das Bundesverwaltungsgericht zum Schluss, dass die vom BF genannten gesundheitlichen Probleme einer Abschiebung in den Irak nicht entgegenstehen.

Die strafgerichtlichen Verurteilungen bzw. das diesen zugrundeliegende strafbare Verhalten des BF ergibt sich aus dem Strafregisterauszug vom 02.03.2021 sowie den jeweils aktenkundigen Abschlussberichten der LPD sowie dem Strafantrag bzw. der Anklageschrift sowie insbesondere hinsichtlich der aktuellsten Verurteilung vom 28.03.2019 aus der aktenkundigen Verhandlungsniederschrift sowie Urteilsausfertigung. Beide strafgerichtlichen Verurteilungen sind in Rechtskraft erwachsen.

Zu den strafgerichtlichen Verurteilungen des BF in Österreich brachte er auf Befragen in der mündlichen Verhandlung vor, er sei unschuldig und habe keinen Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet. Er habe keinen Polizisten geschubst und sei nur betrunken gewesen. Er habe weiters seit zwei Jahren mit der Personengruppe rund um die Verurteilung von 2019 keinen Kontakt mehr. Es stimme nicht, dass er brutal sei bzw. ein Gewaltproblem habe. Er habe nichts gemacht.

Der BF leugnet somit sein in Österreich an den Tag gelegtes strafbares Verhalten. Angesichts der rechtskräftigen Verurteilungen sind für das erkennende Gericht jedoch keinerlei Zweifel daran entstanden und weisen die Ausführungen des BF vielmehr darauf hin, dass dieser nicht bereit ist, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und das Unrecht seiner Taten einzusehen.

2.3. Die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat, insbesondere zur Sicherheitslage und den schiitischen Milizen im Irak, ergeben sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen, wie unter 2.1. aufgelistet, welche dem BF vorab übermittelt bzw. in der mündlichen Verhandlung übergeben und in der mündlichen Verhandlung auch erörtert wurden. Die Feststellungen und Schlussfolgerungen zur sozioökonomischen Lage in Bagdad und der Situation des BF im Rückkehrfall wurden ebenfalls aufgrund der unter 2.1. genannten Dokumente getätigt.

Zur Sicherstellung der notwendigen Ausgewogenheit in der Darstellung wurden Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen sowie aktuelle Medienberichte berücksichtigt. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie des Umstandes, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zeichnen, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Der BF ist den vom Bundesverwaltungsgericht vor der mündlichen Verhandlung bzw. in dieser Verhandlung übergebenen Berichten nicht substantiiert entgegengetreten.

Eine besondere Auseinandersetzung mit der Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit des Staates einschließlich diesbezüglicher Feststellungen ist nur dann erforderlich, wenn eine Verfolgung durch Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen festgestellt wird (vgl. VwGH 02.10.2014, Ra 2014/18/0088). Da der BF jedoch nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts keine von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehende Verfolgung zu gewärtigen hat, sind spezifische Feststellungen zum staatlichen Sicherheitssystem sowie zur Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit der Behörden des Herkunftsstaates nicht geboten.

2.4. Nach der Rechtsprechung des VwGH ist der Begriff der Glaubhaftmachung im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinn der Zivilprozessordnung zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der hierzu geeigneten Beweismittel, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers, voraus (vgl. VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0058 mwN). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt ebenso wie die Beweisführung den Regeln der freien Beweiswürdigung (VwGH 27.05.1998, Zl. 97/13/0051). Bloßes Leugnen oder eine allgemeine Behauptung reicht für eine Glaubhaftmachung nicht aus (VwGH 24.02.1993, Zl. 92/03/0011; 01.10.1997, Zl. 96/09/0007). Im Falle der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers sind positive Feststellungen von der Behörde nicht zu treffen (VwGH 19.03.1997, Zl. 95/01/0466).

Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit von Angaben eines Asylwerbers hat der Verwaltungsgerichtshof als Leitlinien entwickelt, dass es erforderlich ist, dass der Asylwerber die für die ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert (VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294) und dass diese Gründe objektivierbar sind (VwGH 05.04.1995, Zl. 93/18/0289). Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, genügt zur Dartuung von selbst Erlebtem grundsätzlich nicht. Der Asylwerber hat im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage und allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert wahrheitsgemäß darzulegen (VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069; 30.11.2000, Zl. 2000/01/0356). Die Mitwirkungspflicht des Asylwerbers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in seiner Sphäre gelegen sind, und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214).

Es entspricht ferner der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, wenn Gründe, die zum Verlassen des Heimatlandes beziehungsweise Herkunftsstaates geführt haben, im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens bzw. der niederschriftlichen Einvernahmen unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, Zl. 95/20/0650). Die Unkenntnis in wesentlichen Belangen indiziert ebenso mangelnde Glaubwürdigkeit (VwGH 19.03.1997, Zl. 95/01/0466).

2.5. Unter Berücksichtigung der vorstehend angeführten Rechtsprechung ist es dem BF nicht gelungen, ein asylrelevantes Vorbringen glaubwürdig und in sich schlüssig darzulegen; im Einzelnen:

2.5.1. Im Zuge der Erstbefragung brachte der BF zu seinen Fluchtgründen und seinem Gesundheitszustand befragt zusammengefasst vor, in seiner Heimat herrsche Krieg. Er sei am 24.08.2012 in Bagdad auf eine Tretmine getreten. Dabei sei sein rechter Ellbogen so stark verletzt worden, dass eine Platte habe eingesetzt werden müssen und sein Ellbogengelenk nicht mehr gerettet habe werden können. Seither könne er den rechten Arm nur mehr eingeschränkt nutzen und habe er auch kein Gefühl mehr im Arm. Eine vollständige Streckung sei nicht möglich und der kleine Finger, sowie der Ring- und Mittelfinger würden nicht mehr funktionieren. Wegen dieses Vorfalls 2012 habe er den Beschluss gefasst, seine Heimat zu verlassen. Er habe weiters Angst vor der Miliz und den Islamisten, da es jeden Tag Bombardierungen gebe und man nicht wisse, wann sein letzter Tag sei. Im Fall einer Rückkehr in den Irak fürchte er um sein Leben. Er habe Angst, getötet zu werden.

Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor der bB gab der BF zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass er seine Heimat aufgrund der in Bagdad durch eine Explosion am 24.08.2012 erlittenen Verletzungen schließlich am 12.06.2015 verlassen habe. Er sei zum „Essfest“ am Freitag (nach Ramadan) gegen 12:30 Uhr bei einem Freund eingeladen gewesen. Auf dem Weg dorthin sei eine im Müll versteckte Bombe explodiert und der BF dabei schwer verletzt worden. Er sei 67 Tage im Krankenhaus und davon zwei Tage im Koma gewesen. In weiter Folge habe er drei weitere Operationen am Arm gehabt (die letzte am 15.05.2013) und auch Physiotherapie erhalten. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sei er überwiegend zuhause gewesen. Bis sechs Monate vor seiner Ausreise sei er in medizinischer Behandlung in Bagdad gewesen. Er habe bei der Polizei in Bagdad damals Anzeige erstattet. Finanzielle Unterstützung vom Staat aufgrund der durch die Explosion erlittenen Verletzungen habe er keine erhalten. Seinen Lebensunterhalt nach der Verletzung hätten seine Eltern finanziert. Bis zur Ausreise am 12.06.2015 sei es zu keinerlei weiteren Vorfällen gekommen. Er sei wegen der physiotherapeutischen Behandlung nicht früher aus dem Irak ausgereist. Diese habe im städtischen Krankenhaus bei einem Behandlungsselbstbehalt von EUR 0,80 pro Behandlung stattgefunden. Die Ausreise habe er mit Ersparnissen seiner früheren Erwerbstätigkeit finanziert. Sein Vater sei weiters einmal bestohlen worden und auch das Auto eines seiner Bruders sei gestohlen worden. Während des Autodiebstahls im Jahr 2007 sei dieser Bruder am Kopf und am Bein angeschossen worden. Ein anderer Bruder sei im Jahr 2011 durch eine Autobombe verletzt worden. Die Brüder seien aufgrund dieser Vorfälle jedoch nicht aus dem Irak ausgereist. Er habe im Irak weder mit der Polizei, der Staatsanwaltschaft, einem Gericht oder einer sonstigen Behörde Probleme gehabt und sei auch nie festgenommen oder inhaftiert worden. Er sei weder Mitglied einer politischen Partei, noch von staatlicher Seite wegen seiner politischen Gesinnung, seiner Rasse, Religion (Sunnit), Volksgruppe oder einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt worden.

In der Beschwerde gegen den erstangefochtenen Bescheid hinsichtlich der Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz wurde lediglich ausgeführt, dass auch das Bundesamt entsprechend des gleichlautenden und vor dem Hintergrund der Länderinformationen zum Irak auch nachvollziehbaren Vorbringens des BF festgestellt habe, dass der BF im Irak Opfer einer Bombenexplosion geworden sei und sich dabei die vom BF geltend gemachten Verletzungen des rechten Armes zugezogen habe. Im Hinblick auf diese Länderberichte seien die Rückkehrbefürchtungen des BF aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage nachvollziehbar und stehe ihm staatlicher Schutz nicht zur Verfügung. Wenn dem BF schon nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt werde, so sei ihm aufgrund der prekären allgemeinen Sicherheitslage der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen. Auch wenn das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, fast alle irakischen Einwohner gleichermaßen treffe, sei dem BF eine Rückkehr momentan nicht zumutbar. Das Sicherheitsrisiko sei sehr hoch und verschärfe sich durch vermehrte Anschläge in Großstädten infolge der Bekämpfung der Terrororganisation Islamischer Staat. Es werde weiters auf die Länderinformationen zur allgemeinen Lage, insbesondere der Menschenrechtslage und der Problematik zwischen Sunniten und Schiiten verwiesen. Eine Rückkehr in den Irak – auch nach Bagdad – sei für den BF zurzeit unzumutbar.

Im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der BF auf Befragen zu seinen Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Irak auf Vorhalt der Begründung der bB für die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz vor, dass es richtig sei, dass es 2012 zu dem Unfall gekommen sei und er danach operiert und eine lange medizinische Behandlung in Anspruch habe nehmen müssen. Deswegen habe er nicht gleich nach dem Unfall den Irak verlassen können, sondern erst im Jahr 2015. Er habe aber die ganze Zeit in Angst gelebt. Durch die Bombe seien etwa weitere 30 Personen ums Leben gekommen. Er habe dazu Ermittlungsunterlagen der irakischen Polizei bereits vor dem Bundesamt vorgelegt. Den oder die Täter habe die Polizei nicht feststellen können. Erstmals im gesamten Verfahren brachte der BF weiters vor, er werde nunmehr zudem von einem Freund bedroht, nachdem er auf Facebook am 15.03.2018 ein Foto von Saddam Hussein mit dem Spruch (laut Übersetzung des Dolmetschers in der Verhandlung): „Lebe allein und stirb allein und lass dich nicht von einem Fremden demütigen. Ein rosiger guter Morgen.“ gepostet habe. Er habe das Posting unter seinem Facebook-Profil „Imad MARCELO“ gepostet. Der Freund des BF, dieser sei Polizist, habe das Posting kommentiert und kritisiert. Er habe dem BF dann auch über Messenger geschrieben, weshalb er das gemacht habe. Der BF habe den Freund dann blockiert und verwende derzeit diesen Facebook-Account nicht mehr. Das Passwort zum Account habe er verloren und es sei ihm nicht gelungen, dieses wieder zu beschaffen. Er könne daher die Nachricht bzw. den Kommentar des Freundes nicht vorlegen. Es handle sich dabei um den mit der Stellungnahme vom 01.03.2021 bereits vorgelegten Screenshot. Dieser Polizist sei Mitglied der Iman Ali Brigade. Dabei handle es sich um eine schiitische Miliz. Eine Anzeige bei der Polizei habe der BF nicht erstattet. Er fürchte nun um seine Familie, obwohl dieser Polizist in einem anderen Bezirk lebe und ihm diesbezüglich seitens der Familie keinerlei Vorfälle bekannt wären. Er könnte den BF wegen seiner Zugehörigkeit zu den Milizen im gesamten Irak ausfindig machen. Die autonome Region Kurdistan (ARK) wäre für einen Araber keine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative.

Im Wesentlichen machte der BF somit als Gründe für seine Ausreise aus dem Irak die allgemeine Sicherheitslage und für eine nicht mögliche Rückkehr darüber hinaus eine nunmehr seit 2018 bestehende Bedrohung durch einen Angehörigen einer schiitischen Miliz aufgrund eines Facebook-Postings des BF geltend.

2.5.2. Vorweg ist zum Vorbringen des BF, er sei am 24.08.2012 durch eine im Müll deponierte und detonierte Bombe schwer am rechten Arm verletzt und dann mehrere Monate in Bagdad im Krankenhaus behandelt bzw. insgesamt drei Mal operiert worden, auszuführen, dass – wie auch die bB im erstangefochtenen Bescheid bereits beweiswürdigend ausgeführt hat – es angesichts der deutlich sichtbaren Verletzungsfolgen, den medizinischen Befunden und den diesbezüglich gleichbleibenden Angaben des BF im Verlauf des Verfahrens sowie der allgemeinen Sicherheitslage im Irak des Jahres 2012 als ausreichend wahrscheinlich und damit glaubhaft erscheint, dass der BF Opfer einer Bombenexplosion im Irak wurde.

Jedoch hat der BF im gesamten Verfahren zu keiner Zeit, auch nicht im Zuge der Beschwerde oder der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, vorgebracht, es habe sich um einen gezielt gegen ihn persönlich gerichteten Anschlag gehandelt. Vielmehr räumte er ein, dass er aufgrund einer Einladung eines Freundes auf dem Weg zu einem „Essfest“ nach dem Ramadan gewesen sei, als er an der Mülltonne vorbeigegangen sei, die dann explodiert wäre. Eine Anzeige sei erfolgt, jedoch habe man den oder die Täter nie ausfindig machen können. Im Zuge der mündlichen Verhandlung brachte er zudem vor, es wären bei der Explosion 30 weitere Menschen gestorben und bezeichnete er die Explosion selbst weiter als „Unfall“. Der BF brachte daher zu keiner Zeit einen individuellen Bezug zur Explosion vor und verwies in Summe auf die unsichere allgemeine Lage bzw. Sicherheitslage in Bagdad.

Damit machte der BF aber keine individuelle und konkret gegen ihn persönlich gerichtete Verfolgung oder Bedrohung aus GFK-relevanten Gründen geltend bzw. vereinte diese sogar.

Unabhängig davon ist der bB auch darin zu folgen, wenn sie sinngemäß darstellt, dass nicht von einer tatsächlich bestehenden Furcht vor Verfolgung und einer damit in Zusammenhang stehenden Ausreise auszugehen ist, zumal der BF, der seinen Angaben nach zuletzt am 15.05.2013 in Bagdad operiert wurde, erst im Juni 2015 den Irak verließ und sich in der Zwischenzeit ohne weitere Vorkommnisse in Bagdad aufhielt und dort bis etwa Anfang 2015 seine Physiotherapie durchführte. Er lebte in dieser Zeit so wie auch vor der Explosion bei seinen Eltern. Ein zeitlich aktuelles und zum Zeitpunkt der Ausreise im Juni 2015 kausales, fluchtauslösendes Ereignis hat der BF auch im Rechtsmittelverfahren nicht vorgebracht.

Andere ausreisekausale Fluchtgründe hat der BF zudem ausdrücklich verneint.

2.5.3. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt es nun für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an (VwGH 27.06.2019, Ra 2018/14/0274; 26.06.2018, Ra 2018/20/0307 mwN). Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung (Vorverfolgung) für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn eine Person im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob die Person im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (VwGH 25.9.2018, Ra 2017/01/0203 mwN). Das Bundesverwaltungsgericht hat daher auch zu prüfen, ob den Beschwerdeführern zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in ihrem Heimatstaat Verfolgung zu befürchten haben.

Soweit der BF sodann erstmals im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung als Nachfluchtgrund vorbrachte, er habe wegen eines „Postings“ auf Facebook am 15.03.2018, das ein Foto und ein Zitat Saddam Husseins zeige, eine Drohung von einem in Bagdad lebenden Freund, der Polizist und zugleich Mitglied einer schiitischen Miliz (der Imam-Ali-Brigade) sei, über die Kommentarfunktion bzw. über Messenger erhalten, ist festzuhalten, dass sich dieses Vorbringen als völlig unglaubwürdig und unsubstanziiert erweist:

Der BF hat dem erkennenden Gericht zwar gemeinsam mit der am 01.03.2021 einlangenden Stellungnahme eine Ablichtung seiner Veröffentlichung auf Facebook vom 15.03.2018 übermittelt, aber diesbezüglich keinerlei Belege dargeboten, die eine Verifizierung ermöglichen würden, ob es sich dabei tatsächlich um den Account des BF handelt. Auch durch die die mündliche Darstellung gelang dies dem BF nicht: Zur Frage nach dem auf Facebook verwendeten Namen gab der BF lapidar an, er verwende als Nachnamen den Namen eines Fußballspielers, der ihm gefalle und zur Frage nach dem Passwort zu diesem Account gab er an, dass er dieses verloren habe.

Abgesehen davon, dass die Auskünfte des BF auffallend eintönig ausfielen und ein einmal verwendetes Passwort unter normalen Umständen grundsätzlich zurückgesetzt und neu vergeben werden kann, fällt auch ins Gewicht, dass keinerlei Belege (etwa in Form eines „Screenshots“ oder eines Ausdruckes) über die behauptete Drohung durch den „Freund“ vorliegen. Es kann jedoch angenommen werden, dass eine Person, welche sich in einem Asylverfahren befindet und im Rahmen dessen bereits von einer Behörde einvernommen wurde, um das Erfordernis der Glaubhaftmachung eines Vorbringens im Asylverfahrens weiß und wäre daher jedenfalls zu erwarten gewesen, dass eine Drohbotschaft ausgedruckt, abgelichtet oder weitergeleitet worden wäre. Der BF hatte im Rechtsmittelverfahren auch Zugang zu einer Rechtsberatungsorganisation und wurde im Verfahren auch von verschiedenen Organisationen vertreten. Es ist auch kein Grund ersichtlich, weshalb er eine Drohung – allenfalls mit Hilfe seiner Rechtsvertretungen – nicht der Polizei oder dem Gericht hätte melden sollen.

Überdies konnte der BF trotz entsprechender Nachfrage durch die erkennende Richterin auch nicht angeben, welchen Inhaltes die Drohung dieses Freundes gewesen ist.

Auch bringt der BF völlig unsubstantiiert vor, der Freund wäre Polizist und Mitglied einer schiitischen Miliz. In Anbetracht dessen, dass das vom BF behauptete und äußerst fragwürdige „Posting“ bereits am 15.03.2018 erfolgt ist, weitere Drohungen vom BF danach explizit verneint wurden und auch die noch in Bagdad lebende Familie des BF von keinerlei Vorfällen berichtet hat, ist ebenfalls nicht von einer Gefährdung des BF im Rückkehrfalls auszugehen.

Insgesamt ist eine nunmehr vorliegende, maßgeblich wahrscheinliche Bedrohung des BF bzw. seiner Familie durch seinen Freund bzw. die genannte schiitische Miliz als nicht glaubwürdig zu erkennen.

Im Verfahren kam auch nicht hervor, dass eine Gefährdung oder Verfolgung aus anderen Gründen im Rückkehrfall zu befürchten ist, zumal der BF sich während einer besonders kritischen Zeit bezogen auf die konfessionellen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten, nämlich bis Juni 2015, ohne diesbezüglich vorgebrachte Vorfälle oder Einschränkungen als Sunnit in Bagdad aufhielt.

In Bezug auf die aktuelle Sicherheitslage, auch im Hinblick auf die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Sunniten, wird auf die Feststellungen und die weiteren beweiswürdigenden Ausführungen verwiesen.

Das Bundesverwaltungsgericht kann in Anbetracht der vorstehenden Erwägungen daher nicht feststellen, dass der BF vor der Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der BF einer individuellen Bedrohung unterliegt.

Wie später noch thematisiert wird, hat der BF auch noch Familienmitglieder im Irak und wird dem BF eine Rückkehr in den Familienverband möglich sein.

2.5.4. Schließlich ist noch ein Aspekt anzusprechen, der gegen eine wohlbegründete Furcht des BF vor Verfolgung spricht:

Wenn der BF tatsächlich eine asylrelevante Verfolgung aus den von ihm genannten Gründen befürchtet hätte, wäre wohl anzunehmen, dass er in Griechenland oder in den anderen Ländern, welche er bei seiner Weiterreise nach Österreich durchquerte, einen Asylantrag gestellt hätte.

Insgesamt ergibt sich nach Einsicht in den Verfahrensakt der belangten Behörde sowie nach Anhörung des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht das Bild, dass der BF den Irak aufgrund der schlechten Lage und in der Hoffnung auf eine wirtschaftliche bzw. allenfalls auch medizinische Verbesserung seiner persönlichen Umstände verlassen hat.

2.5.5. Das Bundesverwaltungsgericht kann auch keine Rückkehrgefährdung erkennen, da der BF kein besonders exponiertes persönliches Profil aufweist, welches auf eine gegenüber der Durchschnittsbevölkerung höheres Risiko eines Konfliktes mit Milizen oder Milizionären hindeutet.

Bagdad und die Vororte befinden sich laut EASO-Bericht zur Sicherheitslage im Irak aus März 2019 generell unter staatlicher Kontrolle, wobei es in den Bereichen Verteidigung und Strafverfolgung auch zu Kontrollen der PMF kommt. Im Juni 2019 rief ein Provinzrat dazu auf, die PMF zur Hilfe zu nehmen, um den Bagdad-Gürtel zu sichern. Der Berichtslage lässt sich jedoch auch entnehmen, dass Teile der Regierung sich von verschiedenen Milizen distanzieren und es immer wieder zur Aufklärung von Gewalttaten, in die Milizionäre verwickelt waren, kommt. Im Zuge von Operationen der Sicherheitskräfte in Bagdad wurden auch vier Stützpunkte der PMF durchsucht und geschlossen. Ferner kam es im Februar 2019 innerhalb der PMF-Strukturen zu Auseinandersetzungen, was eine Welle von Festnahmen und Schließungen von PMF-Stützpunkten zur Folge hatte. Im Mai belagerten zum Präsidentenregime gehörige Sicherheitskräfte einen PMF-Stützpunkt im Stadtteil Dschdirya und Fordern zur Räumung derselben auf (siehe ACCORD-Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research Documentation, ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen).

Dem vom Gericht in das Verfahren eingeführten EASO Security Situation Report 2020 lässt sich in Bezug auf die Milizen kein im Wesentlichen anderes Bild ableiten.

Insgesamt ist aus den eingesehenen Anfragebeantwortungen und (Medien-) Berichten abzulesen, dass auch Bagdad weiter zum Wirkungsfeld der PMF gehört und es vereinzelt noch zu Übergriffen auf Stadtbewohner kommt. Die Spitze der kriminellen Aktivitäten der bewaffneten Gruppierungen wie etwa der Asaib Ahl Al Haqq in Bagdad und der Einflussbereich krimineller Elemente wurde mit der Zurückdrängung des Islamischen Staat, was eine deutliche Entspannung der konfessionellen Konflikte auch in Bagdad mit sich brachte, überschritten und hat sich die Lage dort entscheidend verbessert.

Damit einhergehend hat sich auch die Sicherheitslage für die Zivilbevölkerung in Bagdad verbessert. Davon, dass aktuell jeder Stadtbewohner oder jede Stadtbewohnerin Gefahr läuft, von einer Miliz gekidnappt, erpresst, ermordet oder vergewaltigt zu werden, kann nicht mehr die Rede sein.

Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass Einzelpersonen auch nach Jahren der Abwesenheit im Rückkehrfall gezielt verfolgt oder Todeslisten geführt werden. Die Nachfluchtgeschichte des BF wurde bereits als unglaubwürdig erkannt und kamen auch sonst keine Hinweise darauf hervor, dass der BF den in Bagdad operierenden schiitischen Milizen persönlich bekannt wäre.

Im Verfahren kam auch nicht hervor, dass der BF die Terrormiliz Islamischer Staat unterstützte oder dessen auch nur verdächtigt wurde, weshalb auch nicht von einer Rache durch Milizen oder einzelner Radikaler auszugehen ist.

In Bezug auf den Islamischen Staat und dessen Wirken in Bagdad ergibt sich aus dem aktuellen EASO Security Situation Report, dass die Terrormiliz dort seit etwa Mitte des Jahres 2019 in den ländlichen Regionen im Osten und Norden der Stadt operiert und auch Bestrebungen des IS wahrgenommen wurden, in der Stadt Fuß zu fassen. Im Jahr 2019 wurden auch Anschläge verübt, nach welchen sich der Fokus der Aktivität allerdings wieder auf die ländlichen Regionen verlagerte. Es wird auch berichtet, dass sich Terrorzellen in verschiedenen Bezirken Bagdads befinden. Dass der BF einer besonderen Gefährdung oder Bedrohung seitens des IS ausgesetzt war oder einer solchen im Falle einer Rückkehr ausgesetzt sein würde, hat er nicht vorgebracht und kann auch das Bundesverwaltungsgericht kein besonderes Gefährdungsmoment diesbezüglich erkennen.

2.5.6. Der BF wohnte vor seiner Ausreise im Haus seiner Eltern und Geschwister in Bagdad. Dem BF steht die Rückkehr in sein Viertel und das Elternhaus offen. Dazu tritt, dass sich, wie bereits angesprochen, die allgemeine Sicherheitslage im Irak im Allgemeinen und in der Hauptstadt Bagdad im Besonderen seit der militärischen Niederlage des Islamischen Staates im Jahr 2017 entscheidend verbessert hat (siehe beispielsweise die Daten im Update on incidents according to the Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) für das Jahr 2019 und das erste Quartal 2020, welche dem BF auch übergeben wurden). Damit einhergehend sind auch die konfessionellen Spannungen in der irakischen Hauptstadt zum Erliegen gekommen.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt im Hinblick auf die Sicherheitslage in Bagdad nicht, dass Bagdad immer noch oftmals Schauplatz von Anschlägen und Gewaltakten ist und ausweislich der statistischen Daten zu den unsichereren Provinzen gehört. Der aktuellen Berichterstattung folgend gehen Anschläge in Bagdad in erster Linie vom Islamischen Staat aus und richten sich im Wesentlichen gegen die Zivilbevölkerung und staatliche Sicherheitskräfte.

Die Situation im Jahr 2019 war besonders gekennzeichnet durch gewalttätige Auseinandersetzungen, die sich im Zuge von Massenprotesten ergaben. In Bagdad konzentrierte sich das Geschehen vor allem um die sogenannte „grüne Zone“ und die dorthin führende Brücke über den Tigris sowie weitere Brücken, die von Demonstranten im Oktober des Jahres 2019 eingenommen wurden. Dass der BF politisch aktiv ist, kam im Verfahren nicht hervor. Auch für die Annahme, der BF würde im Falle einer Rückkehr an Demonstrationen teilnehmen wird, kamen keine konkreten Anhaltspunkte hervor.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kann in Anbetracht der zu den Feststellungen zur Sicherheitslage herangezogenen Berichten in Zusammenschau mit den beweiswürdigend hinzugezogenen Berichten, insbesondere den Berichten über sicherheitsrelevanten Vorfälle in den Jahren 2019 und 2020 (ACLED-Berichte), und die darin dargestellte Gefahrendichte sowie auch aufgrund der aktuellen Medienberichterstattung nicht erkannt werden, dass schon aufgrund der bloßen Präsenz des BF in Bagdad davon ausgegangen werden muss, dass dieser wahrscheinlich das Opfer eines Anschlages oder Gegenschlages der Sicherheitskräfte in Bagdad werden würde (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137).

Mit der Eingabe vom 01.03.2021 trat der BF den vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten Berichte auch nicht substantiiert entgegen, zumal im Großen und Ganzen aus diesen Berichten zitiert wird, ohne zu Schlüssen zu gelangen, die jenen des Bundesverwaltungsgerichtes zuwiderlaufen. Dass die Lage im Irak und auch in Bagdad noch volatil ist, wird vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht in Abrede gestellt. Wie bereits ausgeführt, kann in Bezug auf den BF jedoch nicht abgeleitet werden, dass gerade der BF im Rückkehrfall aufgrund der allgemeinen Lage Gefahren in dem hier relevanten Ausmaß zu gewärtigen hätte.

Es ergaben sich auch keine Hinweise, dass der BF im Besonderen von den zunehmenden Spannungen zwischen der USA und dem Iran und den damit in Zusammenhang stehenden Angriffen besonders betroffen wäre, auf welche in der Eingabe vom 01.03.2021 hingewiesen wird. Dass sich die allgemeine Sicherheitslage seit den vom US-Militär geführten Luftschlägen gegen die im Irak operierenden iranischen Organisationen und Akteure drastisch erhöht hätten, sodass sich die Situation für die Zivilbevölkerung im Vergleich zu den im Verfahren verwendeten statistischen Daten deutlich verschlechtert hätte, wird weder substantiiert ausgeführt, noch ist dies der aktuellen Medienberichterstattung zu entnehmen.

2.5.7. Der BF ist sunnitischer Moslem. An dieser Stelle ist eine Auseinandersetzung mit der Lage des BF aufgrund seines sunnitischen Glaubensbekenntnisses im Rückkehrfall geboten.

Aus den Feststellungen zur Lage im Irak geht im Hinblick auf die Lage der sunnitischen Minderheit darüber hinaus hervor, dass im Irak zahlreiche Sunniten leben und sunnitische Araber ca. 17 bis 22% der Gesamtbevölkerung von ca. 36 Millionen Einwohnern ausmachen. In Bagdad bekennt sich zwar die Mehrheit der Bevölkerung zum schiitischen Glauben, allerdings bestehen auch sunnitische Viertel, in welchen sich eine namhafte Zahl sunnitischer Bürger aufhält.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt im gegebenen Zusammenhang nicht, dass die irakische Gesellschaft bereits seit dem Sturz des (sunnitisch geprägten) Regimes von Saddam Hussein in zunehmendem Maße religiös gespalten ist und sich in den Jahren 2006 bis 2008 massive konfessionelle Konflikte ereigneten. Während des Bürgerkrieges der (ebenfalls sunnitischen) Milizen des Islamischen Staates wurde die sunnitische Minderheit im Irak darüber hinaus oftmals einerseits für das Erstarken des Islamischen Staates und die damit verbundenen zahlreichen vornehmlich schiitischen Opfer unter den Sicherheitskräften (wie etwa beim Massaker von Tikrit) und Zivilisten verantwortlich gemacht und andererseits selbst fallweise mit einer unterstellten Sympathie gegenüber dem Islamischen Staat konfrontiert. Bagdad und die umgebenden Gebiete sind in zunehmendem Maße religiös gespalten und in schiitische und sunnitische Viertel geteilt, wobei die schiitisch dominierten Viertel aufgrund von Vertreibungen durch Regierungstruppen und schiitische Milizen zunehmen und es bei Straßensperren zu Beschimpfungen und Diskriminierungen von Sunniten kommen kann. Die Feststellungen zeugen ferner davon, dass auch Entführungen zum Zweck der Erpressung von Lösegeld dokumentiert sind.

Die vom BF behauptete systematische und asylrelevante Verfolgung sämtlicher Angehöriger der sunnitischen Minderheit durch die schiitische Mehrheitsbevölkerung in Bagdad kann dessen ungeachtet angesichts der Quellenlage nicht nachvollzogen werden, was sich auch daraus ergibt, dass gegenwärtig nach wie vor die gesamte Kernfamilie des BF, darunter seine beiden Eltern, vier Brüder und eine Schwester, sowie auch mehrere Onkel, Tanten und Cousins/Cousinen, in Bagdad lebt. Der BF gab durchgehend im Verfahren, zuletzt auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 04.03.2021 an, nach wie vor mit seiner Familie, insbesondere mit seiner Mutter, regelmäßig Kontakt zu haben. Von diesbezüglichen Schwierigkeiten hat er nichts berichtet bzw. Probleme seiner Familie im Irak auf Nachfrage der erkennenden Richterin verneint.

Ein genereller Ausschluss von Sunniten vom Arbeitsmarkt und von Bildungseinrichtungen liegt in Anbetracht der Quellenlage sowie den vom Bundesverwaltungsgericht bei der Bearbeitung ähnlich gelagerter, den Irak betreffender Verfahren gewonnenen Wahrnehmungen ebenfalls nicht vor. Dazu tritt, dass ausweislich der Feststellungen zur allgemeinen Lage im Irak hohe Staatsämter, etwa jenes des Parlamentspräsidenten, Sunniten vorbehalten und diese auch im irakischen Parlament angemessen repräsentiert sind, war auch gegen eine Verfolgung sämtlicher Angehöriger des sunnitischen Religionsbekenntnisses im Irak spricht. Würde eine Gruppenverfolgung sämtlicher Angehöriger der sunnitischen Glaubensrichtung im Irak tatsächlich stattfinden, wäre ferner mit Sicherheit davon auszugehen, dass entsprechende eindeutige und aktuelle Quellen vorhanden wären. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt in diesem Zusammenhang nicht, dass von schiitischen Milizen nach wie vor Menschenrechtsverletzungen ausgehen und auch eine nicht feststellbare Zahl von Übergriffen auf sunnitische Iraker stattfindet, welche über die vorstehend dargelegten Diskriminierungen hinausgehen. Ausweislich der Feststellungen sind insbesondere in den von den Milizen des Islamischen Staates zurückeroberten Gebieten von schiitischen Milizen (wie etwa der Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq) ausgehende Gewaltakte gegen männliche sunnitische Araber dokumentiert und kommen Entführungen und außergerichtliche Hinrichtungen ebenso vor, wie die bereits zuvor angesprochenen Vertreibungen mit dem Ziel einer religiösen Homogenisierung. Ferner sind Übergriffe seitens Angehöriger der al-Haschd asch-Schaʿbī im Gefolge von Kampfhandlungen oder Anschlägen in den umkämpften Gebieten bekannt, welche von den Verantwortlichen als Einzelfälle abgetan werden und die als Vergeltungsaktionen in Zusammenhang mit konkreten Angriffen des Islamischen Staates angesehen werden.

Bei Abwägung der Feststellungen zu Übergriffen einerseits und den aus den Feststellungen zur Sicherheitslage ersichtlichen Angaben zu zivilen Opfern andererseits und der Bevölkerungszahl und der Anzahl der Binnenvertriebenen in den Provinzen Bagdad andererseits ist indes nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht davon auszugehen, dass sämtliche sunnitischen Araber in Bagdad mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ungerechtfertigte Eingriffe von erheblicher Intensität in ihre schützende persönliche Sphäre aufgrund ihres religiösen Bekenntnisses oder einer ihnen unterstellten Anhängerschaft zum Islamischen Staat zu gewärtigen hätten. Es gibt auch keine Zahlen, die zeigen würden, wie viele Sunniten etwa aus politischen oder religiösen Gründen getötet wurden. In Anbetracht der in den Feststellungen zur Lage in Bagdad dargelegten jüngsten sicherheitsrelevanten Vorfälle ist die Wahrscheinlichkeit, einem zielgerichteten Übergriff schiitischer Milizen aus den eingangs erörterten Motiven zum Opfer zu fallen, vielmehr nicht als erheblich anzusehen. Diese nur entfernte Möglichkeit, Opfer eines religiös motivierten Übergriffes zu werden, genügt indes nicht zur Annahme einer Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit (VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074). Im Übrigen beträgt bei geschätzten mindestens zehn Prozent Sunniten in Bagdad (Schätzungen des Jahres 2009 zufolge sind ca. 80 - 85% der Einwohner Bagdads der schiitischen Glaubensrichtung zugehörig, vgl. die dazu getroffenen Feststellungen) deren Anzahl bei Zugrundelegung der festgestellten Bevölkerungszahl des Gouvernement Bagdad mindestens 700.000 Personen. Insbesondere vor diesem Hintergrund wäre zu erwarten, dass eine tatsächlich vorhandene zielgerichtete Verfolgung dieser Gruppe entsprechenden deutlichen Niederschlag in den Berichten finden würde, was jedoch nicht gegeben ist.

Dass andere Personen als Binnenvertriebene und diejenigen sunnitischen Männer, die in vom Islamischen Staat zurückeroberten Gebieten im Gefolge der Rückeroberung vorgefunden wurden (und sohin dort während der Machtausübung durch den Islamischen Staat gelebt haben), von schiitischen Milizen oder Sicherheitskräften in den Jahren 2014 bis 2017 systematisch bedrängt wurden oder nunmehr der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt wären, kann den länderkundlichen Informationen auch derzeit nicht entnommen werden. Der BF stammt aus Bagdad, einer Stadt die niemals vom Islamischen Staat eingenommen wurde und demgemäß niemals Teil des sogenannten Kalifates war. Dem BF kann somit nicht vorgeworfen werden, eine gewisse Zeit unter der faktischen Herrschaft des Islamischen Staates zugebracht und dermaßen – wenn auch nur stillschweigend – mit dem Islamischen Staat kooperiert zu haben. Er ist auch nicht in der Situation, binnenvertrieben zu sein. Der BF wird auch nicht in ein vom Islamischen Staat befreites und nunmehr von schiitischen Milizen kontrolliertes Gebiet zurückehren müssen. Die gegenwärtige Lage in Bagdad ist ausweislich der Feststellungen durch eine im Verhältnis zur Bevölkerungszahl wieder geringe Anzahl an Zivilisten betreffender sicherheitsrelevanter Vorfälle gekennzeichnet, zumal aktuell im Jahr 2018 eine maßgebliche Beruhigung der Lage eingetreten ist. Die in Quellen ersichtlichen festgestellten Vorfälle von gewaltsamen Übergriffen gegenüber Sunniten betreffen allesamt das Jahr 2017 oder frühere Jahre und stehen aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes in Zusammenhang mit Kampfhandlungen gegen die Milizen des Islamischen Staates, wobei abschnittsweise diese Motivation in den Feststellungen deutlich hervorkommt. Selbst der im Mai 2019 veröffentlichten Position des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge „International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq“ kann entnommen werden, dass die berichteten gravierenden Übergriffe auf Sunniten „in the context of military operations against ISIS between 2014 and 2017“ berichtet wurden und somit als Folge der Kampfhandlungen bzw. der anschließenden Besatzung zu sehen sind.

Der Verwaltungsgerichtshof ist im Übrigen einer behaupteten Gruppenverfolgung von Sunniten in mehreren Entscheidungen nicht nähergetreten (VwGH 25.04.2017, Ra 2017/18/0014; 19.06.2019, Ra 2018/01/0379; 25.06.2019, Ra 2019/19/0193; 10.07.2019, Ra 2019/14/0225, und 18.07.2019, Ra 2019/19/0191) und es wurde zuletzt im Erkenntnis vom 29.06.2018, Ra 2018/18/0138, auch seitens des Verwaltungsgerichtshofes eine Gruppenverfolgung von Sunniten in Bagdad verneint.

Eine individuelle Gefährdung des BF im Fall einer Rückkehr nach Bagdad aufgrund seines sunnitischen Religionsbekenntnisses ist vor diesem Hintergrund zusammenfassend nicht erkennbar.

2.6. Die Feststellungen betreffend die nicht vorhandene politische Betätigung des BF sowie die nicht vorhandenen Schwierigkeiten mit den Behörden seines Heimatstaates beruhen auf den diesbezüglichen Angaben des BF vor der belangten Behörde und den Ergebnissen der mündlichen Verhandlung. Eine gegen den BF nach seiner Ausreise aus dem Irak hervorgetretene Verfolgungshandlung durch eine schiitische Miliz bzw. ein Mitglied einer schiitischen Miliz konnten nicht glaubhaft gemacht werden und ist demzufolge auch nicht glaubhaft, dass ihm von staatlicher Seite Verfolgung droht.

Darüber hinaus konnte der BF auch keine mit seiner Volksgruppenzugehörigkeit in Zusammenhang stehenden Schwierigkeiten vor der Ausreise glaubhaft machen, bzw. wurden solche auch nicht vorgebracht, zumal er der Mehrheitsgruppe der Araber angehört und in Bezug auf seine Volksgruppenzugehörigkeit auch keine Rückkehrbefürchtungen geltend machte.

2.7. Da der BF keine staatliche Strafverfolgung im Irak aufgrund eines Kapitalverbrechens glaubhaft vorgebracht hat, war dem folgend zur Feststellung zu gelangen, dass er im Fall einer Rückkehr nicht der Todesstrafe unterzogen würde. Ebenso kann aus dem Vorbringen keine anderweitige individuelle Gefährdung des BF durch drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe abgeleitet werden, zumal keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften vorgebracht wurden.

Wie bereits dargelegt, verkennt das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die Sicherheitslage in Bagdad nicht, dass Bagdad nach wie vor oft Schauplatz von Anschlägen und Gewaltakten sowie aktuell auch gerade Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen Polizeikräften und Demonstranten ist und ausweislich der statistischen Daten zu den unsicheren Provinzen des Irak gehört. Wie ebenfalls bereits dargelegt, kann in Anbetracht der zu den Feststellungen zur Sicherheitslage im Irak dargestellten Gefahrendichte jedoch nicht erkannt werden, dass schon aufgrund der bloßen Präsenz des BF in Bagdad davon ausgegangen werden muss, dass diese wahrscheinlich das Opfer eines terroristischen oder sonstigen gewaltsamen Anschlages werden würden.

2.8. In Ansehung des BF sind folgende Erwägungen zu im Rückkehrfall zu erwartenden sozioökonomischen Lage maßgeblich:

Die Feststellungen zum Lebenslauf unter Punkt 1.1. beruhen auf den Angaben des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, in der Einvernahme vor der Landespolizeidirektion und der belangten Behörde.

Demnach ist der BF in Bagdad geboren und hat neun Jahre lang die Schule besucht. Anschließend war er als Fliesenleger und Hilfsarbeiter mehrere Jahre in Bagdad erwerbstätig. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Bis zur Ausreise wohnte er mit seinen Geschwistern und den Eltern in deren Haus in Bagdad. Nach der Bombenexplosion im August 2012 wurde der BF von seinen Eltern finanziell erhalten, bis er den Irak im Juni 2015 verließ.

Der BF ist mit der Sprache sowie den Gebräuchen in seinem Herkunftsstaat vertraut. Er hat im Irak Schulbildung konsumiert und weist jahrelange Berufserfahrung auf.

Es ist nicht ersichtlich, weshalb der BF im arbeitsfähigen Alter, trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen im Irak keinerlei Tätigkeit ausüben sollte. Zwar ist die Situation im Land von einer generell hohen Arbeitslosenquote, insbesondere bei Jugendlichen und Frauen, gekennzeichnet (vgl. etwa Research paper der Staatendokumentation „Socio-economic dynamics: Baghdad“ vom 31.7.2019), allerdings ist auch festzuhalten, dass die Arbeitslosenrate in Bagdad generell niedriger ist als in den übrigen Landesteilen, wie sich dem zuvor genannten Bericht entnehmen lässt. Zuverlässige Daten betreffend Bagdad sind nicht erhältlich, die World Bank ging im Jahr 2019 von einer offiziellen Rate von 9,9 % für den gesamten Irak aus.

Wie bereits ausgeführt, weist der BF infolge der erlittenen Verletzungen erhebliche Einschränkungen der Funktion des rechten Armes auf. Seine Arbeitsfähigkeit ist demnach jedenfalls eingeschränkt. Dennoch geht der BF in Österreich seit Jahren ehrenamtlichen und gemeinnützigen Tätigkeiten nach, wobei er etwa Gartenarbeiten, Putzarbeiten und Zaunbauarbeiten im Wildpark verrichtet hat. Es kann daher – wie bereits ausgeführt – gegenständlich nicht erkannt werden, dass der BF absolut arbeitsunfähig wäre, dies insbesondere auch vor dem Hintergrund seiner zwei Vorstrafen wegen Raufhandels, versuchtem Widerstand gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung. Dem BF steht es frei, im Rückkehrfall neuerlich einer Beschäftigung nachzugehen, wenngleich nicht verkannt wird, dass Personen mit körperlichen Einschränkungen bzw. Behinderungen im Irak nicht mit unerheblichen Schwierigkeiten am ohnehin schon eingeschränkten Arbeitsmarkt konfrontiert sind.

Die Zumutbarkeit der Annahme einer – gegebenenfalls auch unattraktiven – Erwerbsmöglichkeit wurde jedoch bereits in einer Vielzahl ho. Erkenntnisse bejaht und ist auch kein Grund ersichtlich, weshalb der BF nicht auch im Irak Hilfsarbeiten oder Gelegenheitsarbeiten aufnehmen sollte.

Zwar kann die wirtschaftliche Situation im Land für den Großteil der Bevölkerung durchaus als angespannt bezeichnet werden und wird die Wirtschaftsentwicklung sicherlich durch die Corona-Pandemie – wie in anderen Staaten der Erde auch – weiter gedämpft. Dass es Menschen in Bagdad grundsätzlich nicht möglich wäre, einer Arbeit nachzugehen oder dort massenhaftes Elend und Hunger herrschen würden, lässt sich der Quellenlage und der aktuellen Medienberichterstattung jedoch nicht entnehmen.

Im Hinblick auf den Bezug von Wasser kommt es den eingesehenen Dokumenten zufolge im Irak, vor allen in den Sommermonaten, immer wieder zu Unterbrechungen. Auch die mitunter schlechte Wasserqualität bedingt die Notwendigkeit, Wasser in Flaschen und Medikamente gegen Auswirkungen von verunreinigtem Wasser zu beziehen. Zudem leidet die Nahrungsmittelproduktion im Irak unter der Trockenheit und versalztem Wasser, was eine hohe Importrate bei bestimmten Nahrungsmitteln, wie etwa Zucker, Öl, Reis, Milchprodukte und Weizenmehl, bedingt und vor allem bei ausgeprägten Trockenperioden die Preise für gewisse Lebensmittel in die Höhe treiben kann.

Für Bagdad liegen diesbezüglich keine genauen bzw. zuverlässigen Daten vor. Den eingesehenen Berichten lässt sich insgesamt aber entnehmen, dass die sozioökonomische Situation angespannt bleibt. Dass die Situation in Bagdad aktuell von Massenarbeitslosigkeit, Nahrungsmittelknappheit und sonstigen für die Durchschnittsbevölkerung bedrohlichen Umständen gekennzeichnet wäre, wird aber weder medial berichtet noch erstattete der BF diesbezügliches ein konkretes Vorbringen.

Dass die Lage von Rückkehrern angesichts der aus den verwendeten Berichten herauszulesenden sozioökonomischen Indikatoren aussichtslos wäre, wurde weder in der Beschwerde, den nachfolgenden schriftlichen Stellungnahmen noch im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (substantiiert) vorgebracht.

In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass noch die gesamte Kernfamilie, bestehend aus den Eltern, vier Brüdern und einer Schwester in Bagdad wohnt. Der BF gibt an, mit der Mutter regelmäßigen Kontakt zu haben. Zudem sind auch noch Onkeln und Tanten sowie Cousins/Cousinen in Bagdad aufhältig.

Es ist zudem auch anzunehmen, dass der BF im Irak auch über einen gewissen Bekanntenkreis verfügt. Der BF wird deshalb auch wieder sozialen Anschluss im Irak finden.

In gegenständlichem Fall ist zudem zu beachten, dass der BF nach der Bombenexplosion im Jahr 2012 bis zur Ausreise aus dem Irak im Jahr 2015 von seinen Eltern finanziell unterstützt wurde und ist daher auch davon auszugehen, dass er – zumindest in einer Phase der ersten Orientierung am Arbeitsmarkt – neuerlich von seinen Eltern oder auch dem verwandtschaftlichen Netzwerk Unterstützung, etwa in Form der Zurverfügungstellung von Wohnraum, Nahrung und Gütern des täglichen Bedarfs, finden wird.

Dessen ungeachtet vertritt das Bundesverwaltungsgericht auch ob des vom BF in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks die Auffassung, dass dieser anpassungsfähig und zumindest eingeschränkt arbeitsfähig ist. Es ist daher davon auszugehen, dass der BF zumindest teilweise selbst in der Lage sein wird, für sein Auskommen im Fall der Rückkehr nach Bagdad zu sorgen.

Dem BF steht es auch frei, am ERIN-Programm teilzunehmen. ERIN ist ein Rückkehr- und Reintegrationsprogramm auf europäischer Ebene mit dem Hauptziel, Reintegrationsunterstützung im Herkunftsland anzubieten. ERIN ist eine Spezifische Maßnahme (Specific Action) im Rahmen des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der EU, wird von den Niederlanden (Repatriation and Departure Service (R&DS) – Ministry of Security and Justice of the Netherland) geleitet und zu 90% aus Europäischen Mitteln finanziert.

Im Rahmen des ERIN Programms erhält jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin eine Reintegrationsleistung in der Höhe von 3.500 Euro, wobei 500 Euro als Bargeld und 3.000 Euro als Sachleistung vom Service Provider im Herkunftsland ausgegeben werden. Während die Geldleistung grundsätzlich dazu gedacht ist die unmittelbaren Bedürfnisse nach der Rückkehr zu decken, dient die Sachleistung insbesondere als Investition zur Schaffung einer Existenzgrundlage und trägt somit zu einer nachhaltigen Rückkehr bei. Von Juni 2016 bis Jänner 2018 erhielten 843 Personen im Rahmen ihrer Rückkehr von Österreich in ihr Heimatland Reintegrationsunterstützung über das ERIN-Programm. Unter Berücksichtigung von Familienangehörigen kehrten im selben Zeitraum sogar 1.254 Personen freiwillig in ihr Heimatland zurück. Aktuell wird ERIN-Reintegrationsunterstützung im Zentralirak und in der autonomen Region Kurdistan zur Verfügung gestellt (http://www.bmi.gv.at/107/EU_Foerderungen/Finanzrahmen_2014_2020/AMIF/ERIN.aspx ). Die Teilnahme an diesem Programm vermittelt etwa hinreichende Starthilfe für eine selbständige Tätigkeit und den neuerlichen Aufbau eines eigenen Geschäftes.

Der BF ist als irakischer Staatsbürger außerdem berechtigt, am Public Distribution System (PDS) teilzunehmen, einem sachleistungsorientierten Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft und an die Bevölkerung verteilt. Auch wenn das Programm von schlechter Organisation gekennzeichnet ist und Verzögerungen bei der Ausgabe der Rationen dokumentiert sind, ist zumindest von einer grundlegenden Absicherung im Hinblick auf den existenziellen Bedarf an Grundnahrungsmitteln auszugehen.

Schließlich gehört der BF keiner ethnischen und im Fall einer Rückkehr in ein sunnitisches Viertel in Bagdad auch keine religiösen Minderheit an, sodass auch diesbezüglich keine Vulnerabilität in Ansehung des BF im Fall einer Rückkehr erkannt werden kann.

Dass Rückkehrer aus dem westlichen Ausland generell besonders vulnerabel wären, kann den zur Rückkehr getroffenen Feststellungen zur Lage im Irak nicht entnommen werden. Seitens des BF wurde letztlich auch nicht vorgebracht, im Rückkehrfall in eine ausweglose Lage zu geraten oder in seinen Grundbedürfnissen nicht abgesichert zu sein, sodass insgesamt eine gesicherte Existenzgrundlage im Irak als erwiesen anzusehen ist.

Aufgrund der oben dargelegten Erwägungen zur sozioökonomischen Lage kann schließlich nicht die reale Gefahr erkannt werden, dass der BF im Rückkehrfall von einer unzureichenden Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern oder von Unterernährung betroffen wäre.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

3.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter, Anzuwendendes Verfahrensrecht

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idgF, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl I 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gegenständlich liegt somit mangels anderslautender gesetzlicher Anordnung in den anzuwendenden Gesetzen Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idgF geregelt (§ 1 leg.cit .).

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 1 BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.

Gem. §§ 16 Abs. 6, 18 Abs. 7 BFA-VG sind für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden.

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, es den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

3.2. Zu Spruchpunkt I. (Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung):

3.2.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:

Die hier maßgeblichen Bestimmungen des § 3 AsylG lauten:

„§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) […]

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn

1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder

2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

[...]“

Gegenständlicher Antrag war nicht wegen Drittstaatsicherheit (§ 4 AsylG), des Schutzes in einem EWR-Staat oder der Schweiz (§ 4a AsylG) oder Zuständigkeit eines anderen Staates (§ 5 AsylG) zurückzuweisen. Ebenso liegen bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Asylausschlussgründe vor, weshalb der Antrag des BF inhaltlich zu prüfen war.

Flüchtling im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380).

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Konvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes befindet.

Wie im gegenständlichen Fall bereits in der Beweiswürdigung ausführlich erörtert wurde, war dem Vorbringen des BF zum behaupteten Ausreisegrund insgesamt die Kausalität und die Aktualität und hinsichtlich seines in der mündlichen Verhandlung geltend gemachten Nachfluchtgrundes die Glaubwürdigkeit abzusprechen, weshalb das Vorliegen bzw. die Glaubhaftmachung eines Asylgrundes von vornherein ausgeschlossen werden kann. Es sei an dieser Stelle betont, dass die Glaubwürdigkeit des Vorbringens die zentrale Rolle für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Asylgewährung [nunmehr „Status eines Asylberechtigten“] einnimmt (vgl. VwGH v. 20.6.1990, Zl. 90/01/0041).

Im gegenständlichen Fall erachtet das erkennende Gericht in dem im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegten Umfang die Angaben des BF als einerseits nicht asylrelevant bzw. in Teilen als unwahr, sodass die vom BF behaupteten Fluchtgründe nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden können, und es ist auch deren Eignung zur Glaubhaftmachung wohl begründeter Furcht vor Verfolgung nicht näher zu beurteilen (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380).

Im gegenständlichen Fall gelangt das Bundesverwaltungsgericht aus oben im Rahmen der Beweiswürdigung ausführlich erörterten Gründen insgesamt zum Ergebnis, dass der BF keiner individuellen Verfolgung im Herkunftsstaat ausgesetzt war oder im Fall der Rückkehr ausgesetzt wäre, sodass internationaler Schutz nicht zu gewähren ist. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100). Ferner liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass dem BF eine über die allgemeinen Gefahren der im Irak gebietsweise herrschenden bürgerkriegsähnlichen Situation hinausgehende Gruppenverfolgung droht.

Da sich auch im Rahmen des sonstigen Ermittlungsergebnisses bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise auf das Vorliegen der Gefahr einer Verfolgung aus einem in Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK genannten Grund ergaben, scheidet die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten somit aus.

Bezüglich der Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder unruhebedingten Lebensbedingungen zurückzuführen sind, bleibt festzuhalten, dass diese keine Verfolgungshandlungen im Sinne des Asylgesetzes darstellen, da alle Bewohner gleichermaßen davon betroffen sind.

Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass bestehende schwierige Lebensumstände allgemeiner Natur hinzunehmen sind, weil das Asylrecht nicht die Aufgabe hat, vor allgemeinen Unglücksfolgen zu bewahren, die etwa in Folge des Krieges, Bürgerkrieges, Revolution oder sonstiger Unruhen entstehen, ein Standpunkt den beispielsweise auch das UNHCR-Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft in Punkt 164 einnimmt (VwGH 14.03.1995, Zl. 94/20/0798).

Eine Verfolgung des BF im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Z 2 GFK liegt somit nicht vor und es braucht daher auf die Frage der Schutzwilligkeit und -fähigkeit der staatlichen Organe vor derartigen Bedrohungen sowie des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht mehr eingegangen werden.

Spruchpunkt I. des erstangefochtenen Bescheides ist demgemäß nicht zu beanstanden und kommt der Beschwerde insoweit keine Berechtigung zu.

3.2.2. Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat

Die hier maßgeblichen Bestimmungen des § 8 AsylG lauten:

„§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,

1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2. […]

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 … zu verbinden.

(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.

[…]“

Bereits § 8 AsylG 1997 beschränkte den Prüfungsrahmen auf den „Herkunftsstaat“ des Asylwerbers. Dies war dahin gehend zu verstehen, dass damit derjenige Staat zu bezeichnen war, hinsichtlich dessen auch die Flüchtlingseigenschaft des Asylwerbers auf Grund seines Antrages zu prüfen ist (VwGH 22.4.1999, 98/20/0561; 20.5.1999, 98/20/0300). Diese Grundsätze sind auf die hier anzuwendende Rechtsmaterie insoweit zu übertragen, als dass auch hier der Prüfungsmaßstab hinsichtlich des Bestehend der Voraussetzungen, welche allenfalls zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führen, sich auf den Herkunftsstaat beschränken.

Art. 2 EMRK lautet:

„(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden.

(2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt:

a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen;

b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern;

c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.“

Während das 6. ZPEMRK die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft wurde, erklärt das 13. ZPEMRK die Todesstrafe als vollständig abgeschafft.

Art. 3 EMRK lautet:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

Folter bezeichnet jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind (Art. 1 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984).

Unter unmenschlicher Behandlung ist die vorsätzliche Verursachung intensiven Leides unterhalb der Stufe der Folter zu verstehen (Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht 10. Aufl. (2007), RZ 1394).

Unter einer erniedrigenden Behandlung ist die Zufügung einer Demütigung oder Entwürdigung von besonderem Grad zu verstehen (Näher Tomasovsky, FS Funk (2003) 579; Grabenwarter, Menschenrechtskonvention 134f).

Art. 3 EMRK enthält keinen Gesetzesvorbehalt und umfasst jede physische Person (auch Fremde), welche sich im Bundesgebiet aufhält.

Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Ausweisung (nunmehr Rückkehrentscheidung) eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Falle ihrer Ausweisung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).

Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (für viele: VfSlg 13.314; EGMR 7.7.1989, Soering, EuGRZ 1989, 314). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat der beschwerdeführenden Partei zu berücksichtigen, auch wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein „ausreichend reales Risiko“ für eine Verletzung des Art. 3 EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes („high threshold“) dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragsstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (vgl. Karl Premissl in Migralex „Schutz vor Abschiebung von Traumatisierten in „Dublin-Verfahren““, derselbe in Migralex: „Abschiebeschutz von Traumatisieren“; EGMR: Ovidenko vs. Finnland; Hukic vs. Schweden, Karim, vs. Schweden, 4.7.2006, Appilic 24171/05, Goncharova & Alekseytev vs. Schweden, 3.5.2007, Appilic 31246/06).

Der EGMR geht weiters allgemein davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische od. sonst. unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen (vgl. für mehrere. z. B. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“], oder auch Application no. 7702/04 by SALKIC and Others against Sweden oder S.C.C. against Sweden v. 15.2.2000, 46553 / 99).

Gemäß der Judikatur des EGMR muss ein BF die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darstellen (vgl. EKMR, Entsch. vom 7.7.1987, Nr. 12877/87 – Kalema gg. Frankreich, DR 53, S. 254, 264). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus (vgl. EKMR, Entsch. vom 12.3.1980, Nr. 8897/80: X u. Y gg. Vereinigtes Königreich), wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (vgl. EKMR, Entsch. vom 17.10.1986, Nr. 12364/86: Kilic gg. Schweiz, DR 50, S. 280, 289). So führt der EGMR in ständiger Rechtsprechung aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller „Beweise“ zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt - so weit als möglich - Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (z.B. EGMR Said gg. die Niederlande, 05.07.2005).

Auch nach Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 26.6.1997, Zl. 95/18/1293, VwGH 17.7.1997, Zl. 97/18/0336). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre (VwGH 14.2.2002, 99/18/0199 ua), gesundheitliche (VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601) oder finanzielle (vgl. VwGH 15.11.1994, 94/07/0099) Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann (vgl. auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279).

Voraussetzung für das Vorliegen einer relevanten Bedrohung ist auch in diesem Fall, dass eine von staatlichen Stellen zumindest gebilligte oder nicht effektiv verhinderbare Bedrohung der relevanten Rechtsgüter vorliegt oder dass im Heimatstaat des Asylwerbers keine ausreichend funktionierende Ordnungsmacht (mehr) vorhanden ist und damit zu rechnen wäre, dass jeder dorthin abgeschobene Fremde mit erheblicher Wahrscheinlichkeit der in [nunmehr] § 8 Abs. 1 AsylG umschriebenen Gefahr unmittelbar ausgesetzt wäre (vgl. VwGH 26.6.1997, 95/21/0294).

Der VwGH geht davon aus, dass der Beschwerdeführer vernünftiger Weise (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380) damit rechnen muss, in dessen Herkunftsstaat (Abschiebestaat) mit einer über die bloße Möglichkeit (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262) hinausgehenden maßgeblichen Wahrscheinlichkeit von einer aktuellen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194) Gefahr betroffen zu sein. Wird dieses Wahrscheinlichkeitskalkül nicht erreicht, scheidet die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten somit aus.

Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (VG München 13.05.2016, M 4 K 16.30558).

Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des Beschwerdeführers so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH U. 17.02.2009, C-465/07). Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen: ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind; ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind; ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden; schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07).

Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwGH 17.09.2008, Zl. 2008/23/0588). Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt jedoch nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09). Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137, zur Lage in Bagdad). Die bloße Möglichkeit einer den betreffenden Bestimmungen der EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht (VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427).

Im Hinblick der Gefahrendichte ist auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die der Beschwerdeführer typischerweise zurückkehren wird. Zur Feststellung der Gefahrendichte kann auf eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung zurückgegriffen werden. Zu dieser wertenden Betrachtung gehört jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann (dt BVerwG 17.11.2011, 10 C 13/10).

Dessen ungeachtet sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auch dann abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative offen steht (§ 8 Abs. 3 AsylG 2005).

Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen im Übrigen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141).

Umgelegt auf den gegenständlichen Fall werden im Lichte der dargestellten nationalen und internationalen Rechtsprechung folgende Überlegungen angestellt:

Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage (allgemeine Hungersnot, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse) liegen nicht vor, weshalb hieraus aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Vorliegen eines Sachverhaltes gem. Art. 2 bzw. 3 EMRK abgeleitet werden kann.

Im Hinblick auf die zur Zeit vorherrschende Pandemie wegen des Corona-Virus und der daraus resultierenden Krankheit COVID-19 hat der VwGH in seiner Entscheidung etwa vom 20.11.2020, Ra 2020/20/0241, zusammengefasst festgehalten, dass hinsichtlich der COVID-19 Pandemie ins Treffen geführte Ermittlungs- und Feststellungsmängel einer konkreten Darlegung der Relevanz für das Verfahren erfordern. Sofern in der Zulässigkeitsbegründung zur Revision auf einen beeinträchtigten Gesundheitszustand des Revisionswerbers verwiesen und dessen Zugehörigkeit zu einer „Risikogruppe“ behauptet, im Übrigen aber lediglich pauschal auf näher genannte, allgemeine Berichte zur Situation in dessen Herkunftsstaat verwiesen werde, werde damit nicht nachvollziehbar aufgezeigt, dass infolge der COVID-19 Pandemie bezogen auf die konkrete Situation des Revisionswerbers im Fall der Rückführung in sein Heimatland die Verletzung einer nach Art. 2 und Art. 3 EMRK geschützten Rechte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen wäre (dazu wurde zudem zur nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK vorzunehmenden Einzelfallprüfung sowie zur Frage, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr [„real risk“] einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht, konkret hinsichtlich der COVID-19 Pandemie etwa auf VwGH vom 03.07.2020, Ra 2020/14/0255; vom 07.10.2020, Ra 2020/20/0337; vom 05.10.2020, Ra 2020/19/0330, und vom 07.09.2020, Ra 2020/18/0273, verwiesen).

In Bezug auf die Situation im Irak kann aufgrund des typischen Krankheitsverlaufes und der persönlichen Situation der BF (aus den Altersangaben und den Angaben des BF zu seinem Gesundheitszustand kann nicht geschlossen werden, dass der BF zur Gruppe der von COVID-19 besonders Gefährdeten gehört) und des Umstandes, dass der irakische Staat, wie sich aus allgemein zugänglichen Quellen ergibt, auf die Situation bisher angemessen reagierte, nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefahr iSd Art. 2 bzw. 3 EMRK ausgesetzt wäre und wurde dies zu keiner Zeit substantiiert, entsprechend der dargelegten Rechtsprechung des VwGH behauptet.

Auch kann aus dem tragischen Vorfall Ende April dieses Jahres, bei welchem durch einen Brand in einer Corona-Intensivstation, vermutlich ausgelöst durch falsch gelagerte Sauerstoffflaschen, etwa achtzig Menschen getötet wurden, kein besonderes Gefährdungsmoment für den BF abgeleitet werden. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird auf die beweiswürdigenden Ausführungen unter 2.2. verwiesen.

Ebenfalls kann eine EMRK-relevante Gefahr nicht aus der Verpflichtung, sich anlässlich der Einreise einer Untersuchung zu unterziehen, bzw. sich in Quarantäne zu begeben, abgeleitet werden.

Aufgrund der Ausgestaltung des Strafrechts des Herkunftsstaates des BF (die Todesstrafe wurde zwar nicht abgeschafft, es gibt aber keinerlei Hinweise, dass der BF eine mit dieser Strafe bedrohte Handlung begangen hätte) scheidet das Vorliegen einer Gefahr im Sinne des Art 2 EMRK, oder des Protokolls Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe aus.

Da sich der Herkunftsstaat des BF nicht im Zustand willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes befindet, kann bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht festgestellt werden, dass für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines solchen internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes besteht.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt im Hinblick auf die Sicherheitslage in Bagdad nicht, dass Bagdad fast täglich Schauplatz von Anschlägen und Gewaltakten ist und ausweislich der statistischen Daten zu den unsichersten Provinzen gehört. Der aktuellen Berichterstattung folgend gehen Anschläge in Bagdad in erster Linie vom Islamischen Staat aus und richten sich im Wesentlichen gegen die Zivilbevölkerung und staatliche Sicherheitskräfte. Offene Kampfhandlungen finden in Bagdad jedoch nicht statt und kann bei Betrachtung der Statistiken über sicherheitsrelevante Vorfälle von einer Stabilisierung der Sicherheitslage ausgegangen werden.

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 01.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

Den Anschlagereignissen steht die Bevölkerungsanzahl im Gouvernement Bagdad gegenüber, welche die reale Gefahr, dass gerade der BF wahrscheinlich das Opfer eines Anschlages werden würde, ausschließt. Risikoerhöhende Umstände im Hinblick auf die Person des BF wurden im Übrigen nicht vorgebracht und gehörte dieser weder staatlichen Sicherheitskräften an noch weist er sonst ein Risikoprofil auf, welches darauf schließen lassen könnte, dass er von Milizen bedrängt werden könnte. Zumal der BF bislang auch nicht angab, an Demonstrationen oder sonstigen regimekritischen Aktivitäten teilgenommen zu haben, ist auch kein Grund ersichtlich, weshalb er in eine Auseinandersetzung im Rahmen von Demonstrationen gelangen sollte.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kann in Anbetracht der zu den Feststellungen zur Sicherheitslage im Irak dargestellten Gefahrendichte nicht erkannt werden, dass schon aufgrund der bloßen Präsenz des BF in Bagdad davon ausgegangen werden muss, dass dieser wahrscheinlich das Opfer eines Anschlages werden würde (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137).

Zudem finden die Demonstrationen und Auseinandersetzungen auch lokal beschränkt um die gründe Zone statt und richten sich Handlungen der Sicherheitskräfte auch nicht gegen alle Bürgerinnen und Bürger von Bagdad, sondern gezielt auf die Teilnehmer der Demonstrationen.

Außerdem hat der BF selbst kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass er alleine schon aufgrund seiner bloßen Anwesenheit in Bagdad mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wäre.

Zum Gesundheitszustand des BF bzw. seiner gesundheitlichen Einschränkungen wird Folgendes erwogen:

Unbestritten ist, dass nach der allgemeinen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und Krankheiten, die auch im vorliegenden Fall maßgeblich ist, eine Überstellung in den Irak nicht zulässig wäre, wenn durch die Überstellung eine existenzbedrohende Situation drohte und diesfalls das Selbsteintrittsrecht der Dublin II VO zwingend auszuüben wäre.

Der VfGH fasste in seinem Erkenntnis vom 06.03.2008, Zl: B 2400/07-9 die aktuelle Rechtsprechung des EGMR zur Frage der Vereinbarkeit der Abschiebung Kranker in einen anderen Staat mit Art. 3 EMRK zusammen und verweist insbesondere auf D. v. the United Kingdom, EGMR 02.05.1997, Appl. 30.240/96, newsletter 1997,93; Bensaid, EGMR 06.02.2001, Appl. 44.599/98, newsletter 2001,26; Ndangoya, EGMR 22.06.2004, Appl. 17.868/03; Salkic and others, EGMR 29.06.2004, Appl. 7702/04; Ovdienko, EGMR 31.05.2005, Appl. 1383/04; Hukic, EGMR 29.09.2005, Appl. 17.416/05; EGMR Ayegh, 07.11.2006; Appl. 4701/05; EGMR Goncharova & Alekseytsev, 03.05.2007, Appl. 31.246/06.

Zusammenfassend führt der VfGH aus, das sich aus den erwähnten Entscheidungen des EGMR ergibt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (Fall D. v. the United Kingdom).

Wie bereits erwähnt, geht der EGMR weiters davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische od. sonst. unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet und kann nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen {EGMR 02.05.1997 -146/1996/767/964 („St. Kitts-Fall“)}. Im Zusammenhang mit einer Erkrankung des Beschwerdeführers nahm der EGMR außerordentliche, ausnahmsweise vorliegende Umstände im „St. Kitts-Fall“ an. Im Mai 1997 hatte der EGMR die Abschiebung eines HIV-infizierten Drogenhändlers, welcher laut medizinischen Erkenntnissen auch in Großbritannien bei entsprechender Behandlung nur mehr ca. 8 – 14 Monate zu leben gehabt hätte und sich somit im fortgeschrittenen Krankheitsstadium befand, aus Großbritannien auf seine Heimatinsel St. Kitts/kleine Antillen (Karibik) als "unmenschliche Behandlung" im Sinne des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention angesehen. Die im zitierten Erkenntnis beschriebene außergewöhnliche, exzeptionelle Notlage (er hätte dort keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und Betreuung, nicht einmal zu einem Pflegebett gehabt hätte und wäre so qualvollst, einsam und in extremer Armut gestorben) die ihn dort erwarte, würde seine Lebenserwartung deutlich reduzieren und ihn psychischem und physischem Leiden aussetzen. Diese Abschiebung war daher in diesem Einzelfall unzulässig (EGMR 02.05.1997 -146/1996/767/964).

Auch der Umstand, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten im Zielland schlechter wären als im Aufenthaltsland, und allfälligerweise "erhebliche Kosten" verursachen, ist nicht ausschlaggebend (HUKIC gg. Schweden, 27.09.2005, Rs 17416/05).

Der BF leidet an den Folgen einer Bombenexplosion, im Zuge derer er sich schwere Verletzungen des rechten Armes, insbesondere des Ellbogengelenks mit erheblichen Bewegungs-, Gefühls- und Funktionseinschränkungen auch seiner Finger und Hand, zugezogen hat.

Wie unter 2.2. näher dargestellt, bleibt die medizinische Versorgung im Irak zwar angespannt, der BF hat als irakische Staatsbürger jedoch Zugang zum Gesundheitssystem und brachte er von sich aus vor, in Bagdad bereits drei Mal operiert worden zu sein und anschließend über ein Jahr lang Physiotherapie in einem öffentlichen Krankenhaus mit einem Behandlungsbeitrag von EUR 0,80 pro Behandlung erhalten zu haben. Den eingesehenen Berichten zufolge ist eine flächendeckende Versorgung mit Krankenhäusern bzw. Gesundheitszentren vorhanden, wo der BF wieder Behandlungen erhalten kann. Aktuell befindet sich der BF zudem bis auf die Anwendung einer Salbe in keiner ärztlichen, medikamentösen oder physiotherapeutischen Behandlung.

Der BF brachte zudem vor, dass es in Österreich eine weitere Operation potenziell ermöglichen würde, einige Funktionen seiner rechten Hand bzw. seines rechten Armes wiederherzustellen. Im Irak wäre dies nicht möglich. Diesbezüglich ist aber darauf zu verweisen, dass für den Fall, dass im Irak eine entsprechende Operation nicht oder nur unter erheblichen Kosten zugänglich ist, dies der oben zitierten Judikatur zufolge nicht ausschlaggebend ist (HUKIC gg. Schweden, 27.09.2005, Rs 17416/05).

Im vorliegenden Fall konnten somit seitens des BF keine akut existenzbedrohenden Krankheitszustände oder Hinweise einer unzumutbaren Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Überstellung in den Irak belegt, respektive die Notwendigkeit weitere Erhebungen seitens des Bundesverwaltungsgerichts dargelegt werden. Aus der Aktenlage sind keine Hinweise auf das Vorliegen (schwerer) Erkrankungen im Sinne des Artikel 3 EMRK ersichtlich.

In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass der EGMR es für eine Art. 3 EMRK-konforme Überstellung ausreicht, dass Behandlungsmöglichkeiten [für Traumatisierte, hier aufgrund der identischen Interessenslage jedoch analog anwendbar] im Land der Überstellung verfügbar sind (vgl. Paramasothy v. Netherlands 10.11.2005; Ramadan Ahjeredine v. Netherlands, 10.11.2005, Ovidienko v. Finland 31.5.2005; Hukic v. Sweden, 27.9.2005), was im Herkunftsstaat hinsichtlich der vom BF vorgebrachten Erkrankung offensichtlich der Fall ist (vgl. etwa die bereits erörterte Berichtslage zum Gesundheitswesen im Herkunftsstaat.) und führte der EGMR in Bezug auf jene Fälle, welche in welchen außergewöhnliche, exzeptionelle Umstände im Lichte des Art 3 EMRK (vgl. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“]) im Urteil Paposhvili v. Belgium (no. 41738/10, GC) vom 13 Dezember 2016 aus, dass der tatsächliche Zugang der Partei zu medizinischer Versorgung realistischer Weise erwartbar sein muss, wobei hier festzuhalten ist, dass bloß spekulative Erwägungen in Bezug auf den fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung auszublenden sind (Urteil des EGMR (Große Kammer) vom 27. Mai 2008, N. v. The United Kingdom, Nr. 26.565/05).

Im gegenständlichen Fall besteht im Lichte der Berichtslage kein Hinweis, dass der BF vom Zugang zu medizinsicher Versorgung im Irak ausgeschlossen wäre und bestehen auch keine Hinweise, dass die Verletzungen des BF nicht behandelbar wären, zumal er eine langwierige Behandlung im Irak bereits von sich aus vorgebracht hat. Auch faktisch Hindernisse, welche das Fehlen eines Zugangs zur medizinischen Versorgung aus in der Person des BF gelegenen Umständen kamen nicht hervor.

Es kann auch nicht erkannt werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr in den Irak die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), hat doch der BF selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihm im Falle einer Rückführung in den Irak jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und er in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre.

Auch wenn sich die Lage der Menschenrechte im Herkunftsstaat des BF in einigen Bereichen als problematisch darstellt, kann nicht festgestellt werden, dass eine nicht sanktionierte, ständige Praxis grober, offenkundiger, massenhafter Menschenrechtsverletzungen (iSd VfSlg 13.897/1994, 14.119/1995, vgl. auch Art. 3 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984) herrschen würde und praktisch, jeder der sich im Hoheitsgebiet des Staates aufhält schon alleine aufgrund des Faktums des Aufenthaltes aufgrund der allgemeinen Lage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, von einem unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalt betroffen ist.

Aus der sonstigen allgemeinen Lage im Herkunftsstaat kann ebenfalls bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Bestehen eines unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalt abgeleitet werden.

Weitere, in der Person des BF begründete Rückkehrhindernisse können bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen ebenfalls nicht festgestellt werden.

Zur individuellen Versorgungssituation des BF wird weiter festgestellt, dass dieser im Herkunftsstaat über eine hinreichende Existenzgrundlage verfügt. Beim BF handelt es sich um einen mobilen, abgesehen von seiner Behinderung des rechten Armes auch gesunden und zumindest eingeschränkt bzw. teilweise arbeitsfähigen Menschen. Der BF verfügt über familiäre Anknüpfungspunkte. Aufgrund seiner Behinderung bzw. Einschränkung ist er zwar einem Personenkreis zuzurechnen, von welchem grundsätzlich anzunehmen ist, dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage schutzbedürftiger darstellt, als die übrige Durchschnittsbevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen muss. Dennoch ergibt sich im konkreten Einzelfall des BF, dass er grundsätzlich in der Lage sein wird, sich mit eigener Erwerbstätigkeit zumindest ein teilweise ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Darüber hinaus steht ihm die Unterstützung seiner Familie, die er auch mehrere Jahre vor seiner Ausreise genossen hat, zur Verfügung.

In Bezug auf die im Herkunftsstaat existierenden sozialen und familiären Anknüpfungspunkte sowie die möglichen Unterstützungsleistungen durch das familiäre und verwandtschaftliche Netzwerk in Bagdad wird im Detail auf die beweiswürdigenden Ausführungen unter 2.8. verwiesen.

Darüber hinaus ist es dem BF unbenommen, Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt demnach nicht vor.

Ferner hat der BF als Staatsbürger des Irak Anspruch auf Leistungen des Lebensmittelverteilungssystem PDS, welches den Feststellungen zufolge zwar inneffizient geführt wird und mit teilweisen Ausfällen zu kämpfen hat, jedoch dennoch für eine gewisse Absicherung mit Grundnahrungsmittel sorgt.

Aufgrund der oa. Ausführungen ist letztlich im Rahmen einer Gesamtschau davon auszugehen, dass der BF im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat seine dringendsten Bedürfnisse befriedigen kann und nicht über eine allfällige Anfangsschwierigkeiten überschreitende, dauerhaft aussichtslose Lage gerät.

Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt ausweislich der getroffenen Feststellungen nicht vor. Soweit in den Feststellungen zur Lage im Irak abschnittsweise auf eine prekäre Versorgungssituation hingewiesen wird, ergibt sich aus den diesbezüglichen Feststellungen klar, dass diese Unzulänglichkeiten die zuletzt umkämpften und vormals unter der Kontrolle des Islamischen Staates stehenden Gebiete vorwiegend betreffen und nicht die Hauptstadt Bagdad bzw. die südlichen Gouvernements des Irak. Dass die Versorgungssituation in Bagdad an sich unzureichend sei, wurde auch gar nicht vorgebracht. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird in diesem Zusammenhang auch auf die beweiswürdigenden Überlegungen unter 2.8. zur sozioökonomischen Lage in Bagdad verwiesen.

Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in seinen Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden.

Weder droht ihm im Herkunftsstaat das reale Risiko einer Verletzung der oben genannten gewährleisteten Rechte, noch kam im Verfahren hervor, dass der BF Gefahr liefe, der Todesstrafe unterzogen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen, sodass der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Spruchpunkt II. des erstangefochtenen Bescheides zu Recht abgewiesen wurde.

3.2.3. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels und Erlassung einer Rückkehrentscheidung:

Die Einreise des BF in das Gebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich ist nicht rechtmäßig erfolgt. Bisher stützte sich der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet bis zum 13.02.2019 (ab diesem Zeitpunkt kam ihm wegen Erhebung einer Anklage iSd § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 ex lege das Aufenthaltsrecht nicht mehr zu; siehe dazu Punkt 3.3.) alleine auf die Bestimmungen des AsylG. Ein sonstiger Aufenthaltstitel ist nicht ersichtlich und wurde auch kein auf andere Bundesgesetze gestütztes Aufenthaltsrecht behauptet. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt des BF im Bundesgebiet mehr vor und unterliegt dieser damit nicht dem Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG betreffend Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung.

Gemäß § 10 Absatz 1 Z 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung nach dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.

Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16928/2003).

Der Begriff des Familienlebens ist nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein. Maßgebend sind etwa das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR U 13.06.1979, Marckx gegen Belgien, Nr. 6833/74; GK 22.04.1997, X, Y u. Z gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/93).

Der BF brachte nicht vor, dass in Österreich Angehörige oder Verwandte leben, welche vom Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK erfasst wären. Auch in Bezug zu einer hier lebenden Tante wurde keine besondere Nahebeziehung vorgebracht, die auf ein Familienleben im obgenannten Sinne schließen lassen würde. Angesichts dessen war im gegenständlichen Fall eine mögliche Verletzung des Rechts des BF auf ein Familienleben in Österreich mangels familiärer Bindungen zu verneinen. Sohin ist zu prüfen, ob eine Rückkehrentscheidung einen unzulässigen Eingriff in das Recht des BF auf ein Privatleben in Österreich darstellt.

Der Abwägung der öffentlichen Interessen gegenüber den Interessen eines Fremden an einem Verbleib in Österreich in dem Sinne, ob dieser Eingriff im Sinn des Art 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig ist, ist voranzustellen, dass die Rückkehrentscheidung jedenfalls der innerstaatlichen Rechtslage nach einen gesetzlich zulässigen Eingriff darstellt.

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Moustaquim ist eine Maßnahme dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig ist. Das bedeutet, dass die Interessen des Staates, insbesondere unter Berücksichtigung der Souveränität hinsichtlich der Einwanderungs- und Niederlassungspolitik, gegen jene des Berufungswerbers abzuwägen sind (EGMR U 18.02.1991, Moustaquim gegen Belgien, Nr. 12313/86).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Die Konventionsstaaten sind nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt, Einreise, Ausweisung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (EGRM U 30.10.1991, Vilvarajah u.a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13163/87).

Hinsichtlich der Abwägung der öffentlichen Interessen mit jenen des Berufungswerbers ist der Verfassungsgerichtshof der Auffassung, dass Asylwerber und sonstige Fremde nicht schlechthin gleichzusetzen sind. Asylwerber hätten regelmäßig ohne Geltendmachung von Asylgründen keine rechtliche Möglichkeit, legal nach Österreich einzureisen. Soweit die Einreise nicht ohnehin unter Umgehung der Grenzkontrolle oder mit einem Touristenvisum stattgefunden hat, ist Asylwerbern der Aufenthalt bloß erlaubt, weil sie einen Asylantrag gestellt und Asylgründe geltend gemacht haben. Sie dürfen zwar bis zur Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung weder zurückgewiesen, zurückgeschoben noch abgeschoben werden, ein über diesen faktischen Abschiebeschutz hinausgehendes Aufenthaltsrecht erlangen Asylwerber jedoch lediglich bei Zulassung ihres Asylverfahrens sowie bis zum rechtskräftigen Abschluss oder bis zur Einstellung des Verfahrens. Der Gesetzgeber beabsichtigt durch die zwingend vorgesehene Ausweisung von Asylwerbern eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung im Inland von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragstellung im Inland aufhalten durften, zu verhindern. Es kann dem Gesetzgeber nicht entgegengetreten werden, wenn er auf Grund dieser Besonderheit Asylwerber und andere Fremde unterschiedlich behandelt (VfSlg. 17.516/2005).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht (zur Maßgeblichkeit dieser Kriterien vgl. VfSlg. 18.223/2007).

Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine fixen zeitlichen Vorgaben knüpft (EGMR U 31.1.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99; U 16.9.2004, M. C. G. gegen Deutschland, Nr. 11.103/03), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR GK 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9214/80, 9473/81, 9474/81; U 20.6.2002, Al-Nashif gegen Bulgarien, Nr. 50.963/99) und dessen Intensität (EGMR U 02.08.2001, Boultif gegen Schweiz, Nr. 54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR U 04.10.2001, Adam gegen Deutschland, Nr. 43.359/98; GK 09.10.2003, Slivenko gegen Lettland, Nr. 48321/99; vgl. VwGH 5.7.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR U 11.04.2006, Useinov gegen Niederlande Nr. 61292/00) für maßgeblich erachtet.

Auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren – was bei einem bloß vorläufigen Aufenthaltsrecht während des Asylverfahrens jedenfalls als gegeben angenommen werden kann – ist bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (EGMR U 24.11.1998, Mitchell gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 40.447/98; U 05.09.2000, Solomon gegen die Niederlande, Nr. 44.328/98; 31.1.2006, U 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99).

Bereits vor Inkrafttreten des nunmehrigen § 9 Abs. 2 BFA-VG entwickelten die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in den Erkenntnissen VfSlg. 18.224/2007 und VwGH 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216 unter ausdrücklichen Bezug auf die Judikatur des EGMR nachstehende Leitlinien, welche im Rahmen der Interessensabwägung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen sind. Nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 MRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (VwGH 28.04.2014, Ra 2014/18/0146-0149, mwN). Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat (VwGH 13.06.2016, Ra 2015/01/0255). Ferner sind nach der eingangs zitieren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie dies Verfassungsgerichtshofs die strafgerichtliche Unbescholtenheit aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht sowie Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und schließlich die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen.

Der Verfassungsgerichtshof hat sich bereits im Erkenntnis VfSlg. 19.203/2010 eingehend mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthalts bewusst waren. Der Verfassungsgerichtshof stellt dazu fest, dass das Gewicht der Integration nicht allein deshalb als gemindert erachtet werden darf, weil ein stets unsicherer Aufenthalt des Betroffenen zugrunde liege, so dass eine Verletzung des Art. 8 EMRK durch die Ausweisung ausgeschlossen sei. Vielmehr müsse die handelnde Behörde sich dessen bewusst sein, dass es in der Verantwortung des Staates liegt, Voraussetzungen zu schaffen, um Verfahren effizient führen zu können und damit einhergehend prüfen, ob keine schuldhafte Verzögerungen eingetreten sind, die in der Sphäre des Betroffenen liegen (vgl. auch VfSlg. 19.357/2011).

Das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration ist weiter dann gemindert, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf einen unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist (VwGH 26.6.2007, Zl. 2007/01/0479 mwN). Beruht der bisherige Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten wie insbesondere bei Vortäuschung eines Asylgrundes, relativiert dies die ableitbaren Interessen des Asylwerbers wesentlich (VwGH 2.10.1996, Zl. 95/21/0169; 28.06.2007, Zl. 2006/21/0114; VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168).

Bei der Abwägung der Interessen ist auch zu berücksichtigen, dass es dem BF bei der asylrechtlichen Ausweisung nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren. Es wird dadurch nur jener Zustand hergestellt, der bestünde, wenn sie sich rechtmäßig (hinsichtlich der Zuwanderung) verhalten hätten und wird dadurch lediglich anderen Fremden gleichgestellt, welche ebenfalls gemäß dem Grundsatz der Auslandsantragsstellung ihren Antrag nach den fremdenpolizeilichen bzw. niederlassungsrechtlichen Bestimmungen vom Ausland aus stellen müssen und die Entscheidung der zuständigen österreichischen Behörde dort abzuwarten haben.

Die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt werden, ist auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung nach Art 8 Abs. 2 EMRK daher ein hoher Stellenwert zu (VfSlg. 18.223/2007; VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251).

Die öffentliche Ordnung, hier im Besonderen das Interesse an einer geordneten Zuwanderung, erfordert es daher, dass Fremde, die nach Österreich einwandern wollen, die dabei zu beachtenden Vorschriften einhalten. Die öffentliche Ordnung wird etwa beeinträchtigt, wenn einwanderungswillige Fremde, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, sich unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Ausweisung kann in solchen Fällen trotz eines vielleicht damit verbundenen Eingriffs in das Privatleben und Familienleben erforderlich sein, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte (VwGH 21.2.1996, Zl. 95/21/1256). Dies insbesondere auch deshalb, weil als allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz gilt, dass aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen. (VwGH 11.12.2003, Zl. 2003/07/0007). Der VwGH hat weiters festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Ausweisung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, Zl. 2002/18/0190).

Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist auch für das wirtschaftliche Wohl des Landes von besonderer Bedeutung, da diese sowohl für den sensiblen Arbeitsmarkt als auch für das Sozialsystem gravierende Auswirkung hat. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass insbesondere nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältige Fremde, welche daher auch über keine arbeitsrechtliche Berechtigung verfügen, die reale Gefahr besteht, dass sie zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes auf den inoffiziellen Arbeitsmarkt drängen, was wiederum erhebliche Auswirkungen auf den offiziellen Arbeitsmarkt, das Sozialsystem und damit auf das wirtschaftliche Wohl des Landes hat.

In Abwägung der gemäß Art. 8 EMRK maßgeblichen Umstände in Ansehung des Beschwerdeführers ergibt sich für den gegenständlichen Fall Folgendes:

Der BF reiste Ende Juni 2015 rechtswidrig in das Bundesgebiet ein und stellte in der Folge den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Das Gewicht des beinahe sechsjährigen faktischen Aufenthalts des BF in Österreich ist noch dadurch abgeschwächt, dass er den Aufenthalt durch einen unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz zu legalisieren versuchte, er konnte alleine durch die Stellung seines Antrags jedoch nicht begründeter Weise von der zukünftigen dauerhaften Legalisierung seines Aufenthalts ausgehen.

Einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren kommt ohne dem Dazutreten weiterer maßgeblicher Umstände nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zu (VwGH 15.03.2016, Zl. Ra 2016/19/0031 mwN).

Der BF besuchte Deutschkurse, legte jedoch keine Sprachprüfung ab und verfügt auch über keine maßgeblichen Deutschkenntnisse. Er hat weiters einen Werte- und Orientierungskurs absolviert.

Der BF verfügt im Inland über normale soziale Kontakte. Er ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig und hat hier, abgesehen von einer Tante und deren Familie, zu der kein besonderes Nahe- oder Abhängigkeitsverhältnis besteht, keine weiteren Verwandten.

Ein vereinsmäßiges Engagement war nicht feststellbar. Dem BF ist jedoch zugute zu halten, dass er seit mehreren Jahren immer wieder befristeten ehrenamtlichen oder gemeinnützigen Tätigkeiten nachgeht. Eine sozialversicherte Erwerbstätigkeit hat er bisher nicht ausgeübt und verfügt auch über keine Einstellungszusage. Es sind auch sonst keine Schritte dokumentiert, die über Bemühungen zur Herstellung der Selbsterhaltungsfähigkeit Auskunft geben würden. Über konkrete Pläne für die Aufnahme einer Berufstätigkeit wurde nicht berichtet.

Insgesamt kann daher nicht mit der gebotenen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der BF sich nachhaltig beruflich integrieren und so ein Einkommen erwirtschaften wird können, mit dem er sich selbst erhalten kann.

Der BF verbrachte den weitaus überwiegenden Teil seines Lebens im Herkunftsstaat, wurde dort sozialisiert und spricht die Mehrheitssprache seiner Herkunftsregion auf muttersprachlichem Niveau. Ebenso war festzustellen, dass er dort über Bezugspersonen in Form von Angehörigen verfügt. Es deutete daher nichts darauf hin, dass es dem BF im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren. Aufgrund der Präsenz von nahen Angehörigen im Herkunftsstaat ist, wie beweiswürdigend dargelegt, auch gegenwärtig von starken Bindungen zu diesen auszugehen, wobei eine Existenzgrundlage des BF bereits vorstehend bejaht wurde (siehe dazu die Ausführungen unter Punkt 2.8, vgl. VwGH 31.08.2017, Ra 2016/21/0296, zur Maßgeblichkeit der Bindungen zum Herkunftsstaat vgl. auch VwGH 22.02.2011, Zl. 2010/18/0323).

Soweit der BF über private Bindungen in Österreich verfügt, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in den Irak gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass der BF hierdurch gezwungen wird, den Kontakt zu jenen Personen, die ihm in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Auch hier steht es ihm frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte etc.) aufrecht zu erhalten.

Es ist im Rahmen einer Gesamtschau zwar festzuhalten, dass eine raschere Erledigung des Asylverfahrens beim Vorhandensein entsprechender Ressourcen denkbar ist, dennoch ist im gegenständlichen Fall aufgrund des Vorbringens des BF, sowie ihrem Verhalten im Verfahren davon auszugehen, dass kein Sachverhalt vorliegt, welcher die zeitliche Komponente im Lichte der Erkenntnisse des VfGH B 950-954/10-08 bzw. B1565/10, in den Vordergrund treten ließe, dass aufgrund der Verfahrensdauer im Rahmen der Interessensabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK von einem Überwiegen der privaten Interessen des BF auszugehen wäre (in Bezug auf ein gewisses Behördenverschulden in Bezug auf die Verfahrensdauer vgl. auch bei Vorliegen weitaus engeren Bindungen im Sinne des Art. 8 EMRK und einem ca. zehnjährigen Aufenthalt im Staat der Antragstellung das Urteil des EGMR Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).

Ins Gewicht fallen jedenfalls die strafrechtlichen Verurteilungen des BF – er wurde in Österreich bereits zwei Mal rechtskräftig wegen Gewaltdelikten (Körperverletzung gem. § 83 StGB, Raufhandel gem. § 91 Abs 1 1. Fall StGB, versuchter Widerstand gegen die Staatsgewalt gem. §§ 15, 269 StGB) verurteilt. Zwar wurden die Delikte jeweils mit einer Geldstrafe geahndet, jedoch ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass die Bewertung der Taten im Rahmen der gegenständlichen Prüfungen aus fremdenrechtlicher Sicht zu erfolgen haben. Die aus diesem Blickwinkel beleuchteten Polizeiberichte und Urteile ergeben das Bild eines Menschen, der Konflikte des Alltags mit Gewalt löst. Wiewohl dem Urteil zum Raufhandel, an dem der BF teilnahm, nicht zu entnehmen ist, dass auch der BF eine Waffe verwendete oder gezielt einsetzte, so ist doch hervorzuheben, dass der BF sich offensichtlich nicht scheute, an einer Gewaltaktion teilzunehmen, bei welcher etwa mit abgeschlagenen Flaschenhälsen auf die Gegner losgegangen wurde und schreckte der BF in weitere Folge auch nicht davor zurück, Sicherheitsbeamte zu attackieren.

Ins Gewicht fällt dabei besonders, dass es sich jeweils um Konflikte bzw. Provokationen handelte, wie sie im Leben des BF jederzeit wieder auftreten können, der BF diesbezüglich jedoch jegliche Verantwortlichkeit im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung von sich wies. Aufgrund der mangelnden Einsicht kann jedoch nicht mit der notwendigen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der BF hinkünftig andere Problemlösungsstrategien finden und die Regeln eines friedlichen Miteinanders verinnerlichen wird.

Zu Lasten eines Fremden ins Gewicht fallen demnach rechtskräftige Verurteilungen durch ein inländisches Gericht (VwGH 27.02.2007, Zl. 2006/21/0164 mwN, wonach das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung den öffentlichen Interessen im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK eine besondere Gewichtung zukommen lässt).

In diesem Zusammenhang sei auch noch auf die höchstgerichtliche Judikatur verwiesen, wonach selbst die – hier nicht vorhandenen – Umstände, dass selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).

Der Rechtsposition des BF im Hinblick auf einen weiteren Verbleib in Österreich stehen die öffentlichen Interessen des Schutzes der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Form der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen, sowie des wirtschaftlichen Wohles des Landes, aber auch der öffentlichen Sicherheit gegenüber. Auch wenn der BF über soziale Kontakte und (wenige) Sprachkenntnisse verfügt und bereits mehrmals gemeinnützig bzw. ehrenamtlich tätig gewesen ist, stehen dem die unberechtigte Antragstellung, die unrechtmäßige Einreise, die beiden strafgerichtlichen Verurteilungen in Zusammenschau mit der mangelnden Problemeinsicht sowie der Umstand, dass dem BF aufgrund der am 13.02.2019 erhobenen Anklage iSd § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 ex lege das Aufenthaltsrecht nicht mehr zukam (siehe dazu Punkt 3.3.) und er sich somit – unabhängig von der Aufenthaltsdauer von beinahe sechs Jahren (jedenfalls nach Erhalt der beiden gegenständlich angefochtenen Bescheide der Ungewissheit seines weiteren Verbleibes im Bundesgebiet bewusst sein musste) sowie die Vertretbarkeit des Eingriffs in die im Bundesgebiet vorhandenen Bindungen gegenüber.

Würde sich ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation wie der Beschwerdeführer erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes würde es ferner einen Wertungswiderspruch und eine sachlich nicht gerechtfertigte Schlechterstellung von Fremden, die die fremdenrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beachten, darstellen, zumal diese letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, die ihren Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich durch ihre illegale Einreise und durch die Stellung eines unbegründeten Asylantrages erzwingen, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (zum allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen VwGH 11.12.2003, Zl. 2003/07/0007; vgl. dazu auch VfSlg. 19.086/2010, in dem der Verfassungsgerichtshof auf dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Bezug nimmt und in diesem Zusammenhang explizit erklärt, dass eine andere Auffassung sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen würde). Dem Beschwerdeführer steht es ferner – wie bereits angesprochen – frei, sich um einen weiteren rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet zu bemühen und die dafür gesetzlich vorgesehenen Aufenthaltstitel zu beantragen.

Im Rahmen einer Abwägung dieser Fakten anhand des Art. 8 Abs. 2 EMRK sowie nach Maßgabe der im Sinne des § 9 BFA-VG angeführten Kriterien gelangt das Bundesverwaltungsgericht – wie bereits das belangte Bundesamt – zum Ergebnis, dass die individuellen Interessen des BF im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht so ausgeprägt sind, dass sie das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nach Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und der Einhaltung der österreichischen aufenthalts- und fremdenrechtlichen Bestimmungen überwiegen.

3.2.4. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005:

Wird ein Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, ist gemäß § 58 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung ist gemäß § 58 Abs. 3 AsylG 2005 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen. § 10 Abs. 1 AsylG 2005 sieht ferner vor, dass eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz dann mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden ist, wenn etwa – wie hier – der Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze abgewiesen wird (Z. 3 leg. cit.) und von Amts wegen kein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 erteilt wird. Die Rückkehrentscheidung setzt daher eine vorangehende Klärung der Frage voraus, ob ein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 erteilt wird.

Im Ermittlungsverfahren sind keine Umstände zu Tage getreten, welche auf eine Verwirklichung der in § 57 Abs. 1 AsylG 2005 alternativ genannten Tatbestände hindeuten würden, insbesondere wurde vom BF selbst nichts dahingehend dargetan. Dem BF ist daher kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen.

3.2.5. Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung:

Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 iVm § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG wider den Beschwerdeführer keine gesetzlich normierten Hindernisse entgegenstehen.

Die belangte Behörde hat in ihrer Entscheidung im Übrigen richtig erkannt, dass eine Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zu unterbleiben hat. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 12.11.2015, Zl. Ra 2015/21/0101, dargelegt hat, bietet das Gesetz keine Grundlage dafür, in Fällen, in denen eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 FPG erlassen wird, darüber hinaus noch von Amts wegen negativ über eine Titelerteilung nach § 55 AsylG 2005 abzusprechen.

3.2.6. Abschiebung:

Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat die bB mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).

Gemäß § 50 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art 2 EMRK oder Art 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre (Abs. 1), wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Abs. 2) oder solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den EGMR entgegensteht (Abs. 3).

Im gegenständlichen sind im Hinblick auf die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid gemäß § 52 Abs. 9 iVm. § 50 FPG getroffenen Feststellungen keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung in den Irak unzulässig wäre. Derartiges wurde auch in gegenständlichen Beschwerden nicht schlüssig dargelegt und wurden bzw. werden hierzu bereits an entsprechend passenden Stellen des gegenständlichen Erkenntnisses Ausführungen getätigt, welche die in § 50 Abs. 1 und 2 FPG erforderlichen Subsumtionen bereits vorwegnehmen.

Es kamen keine Umstände hervor, die im Abschiebungsfall zu einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK führen würden und wird auf die Ausführungen im Rahmen des subsidiären Schutzes verwiesen. Es kamen auch keine Umstände hervor, welche insbesondere beim Ausspruch betreffend die Abschiebung zu berücksichtigen gewesen wären.

3.2.7. Frist zur freiwilligen Ausreise:

Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung entspricht § 55 Abs. 2 erster Satz FPG. Dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Es wird auf die bereits getroffenen Ausführungen zu den privaten und familiären Bindungen des BF und der Vorhersehbarkeit der Verpflichtung zum Verlassen des Bundesgebietes verwiesen. Die eingeräumte Frist erscheint angemessen und wurden diesbezüglich auch keinerlei Ausführungen in der Beschwerdeschrift getroffen.

Die Verhältnismäßigkeit der seitens der belangten Behörde getroffenen fremdenpolizeilichen Maßnahme ergibt sich aus dem Umstand, dass es sich hierbei um das gelindeste fremdenpolizeiliche Mittel handelt, welches zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet erschien.

Der erstangefochtene Bescheid erweist sich ob der vorstehenden Ausführungen als rechtsrichtig, sodass die dagegen erhobene Beschwerde als unbegründet abzuweisen ist.

3.3. Zu Spruchpunkt II: Verlust des Aufenthaltsrechtes nach § 13 AsylG 2005:

3.3.1. Gemäß § 13 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein Asylwerber, dessen Asylverfahren zugelassen ist, bis zur Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung, bis zur Einstellung oder Gegenstandslosigkeit des Verfahrens oder bis zum Verlust des Aufenthaltsrechts (Abs. 2) zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Ein Aufgrund anderer Bundesgesetze bestehendes Aufenthaltsrecht bleibt unberührt.

Ein Asylwerber verliert sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 13 Abs. 2 AsylG 2005, wenn

1. dieser straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3),

2. gegen den Asylwerber wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung, die nur vorsätzlich begangen werden kann, eine Anklage durch die Staatsanwaltschaft eingebracht worden ist,

3. gegen den Asylwerber Untersuchungshaft verhängt wurde (§§ 173 ff StPO, BGBl. Nr. 631/1975) oder

4. der Asylwerber bei der Begehung eines Verbrechens (§ 17 StGB) auf frischer Tat betreten worden ist.

Der Verlust des Aufenthaltsrechtes ist dem Asylwerber mit Verfahrensanordnung (§ 7 Abs. 1 VwGVG) mitzuteilen. Wird ein Asylwerber in den Fällen der Z 2 bis 4 freigesprochen, tritt die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung der Straftat zurück (§§ 198 ff StPO) oder wird das Strafverfahren eingestellt, lebt sein Aufenthaltsrecht rückwirkend mit dem Tag des Verlustes wieder auf.

Gemäß § 2 Abs. 3 AsylG 2005 ist ein Fremder iSd Bundesgesetzes straffällige geworden, wenn er wegen einer vorsätzlich begangenen gerichtlich strafbaren Handlung, die in die Zuständigkeit eines Landesgerichtes fällt (Z 1), oder mehr als einmal wegen einer sonstigen vorsätzlich begangenen gerichtlich strafbaren Handlung, die von Amts wegen zu verfolgen ist, rechtskräftig verurteilt worden ist (Z 2).

3.3.2. Der VwGH hat in seiner Entscheidung vom 10.09.2020, Ro 2019/20/0006, zu § 13 AsylG 2005 ausgesprochen:

„Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Verlust des Aufenthaltsrechts in den in § 13 Abs. 2 AsylG 2005 genannten Fällen ex lege eintritt (vgl. VwGH 15.3.2018, Ra 2018/21/0018). Der Verlust des Aufenthaltsrechts ist nach dem zweiten Satz des Abs. 2 dem Asylwerber mit Verfahrensanordnung mitzuteilen. Das BFA hat gemäß § 13 Abs. 4 AsylG 2005 über den Verlust des Aufenthaltsrechts dann im verfahrensabschließenden Bescheid (deklarativ) abzusprechen. Nach den Materialien soll damit ein etwaiges Rechtschutzdefizit vermieden werden (vgl. RV 1803 BlgNR 24. GP 40). Die genannte Bestimmung, wonach erst im verfahrensabschließenden Bescheid (mit eigenem Spruchpunkt) der Verlust des Aufenthaltsrechts ausdrücklich auszusprechen ist, dient erkennbar aber auch dem verfahrensökonomischen Zweck, dass kein gesonderter „Vorab-Bescheid“ darüber ergeht (vgl. in diesem Sinn zu vergleichbaren Anordnungen des § 21 Abs. 4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz: VwGH 18.2.2010, 2010/22/0009; zu § 4 Abs. 2 Asylgesetz Durchführungsverordnung 2005: VwGH 17.11.2016, Ra 2016/21/0314).

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der Gesetzgeber mit der angeordneten Vorgangsweise, den Ausspruch über den Verlust des Aufenthaltsrechts in den verfahrensabschließenden Bescheid zu integrieren, den Fall vor Augen hatte, dass der Verlust des Aufenthaltsrechts während des laufenden behördlichen Verfahrens eintritt.

Weiters ist zu beachten, dass sich schon aus dem Gesetzestext ergibt, dass der Ausspruch gemäß § 13 Abs. 4 AsylG 2005 über den Verlust des Aufenthaltsrechts von den anderen Aussprüchen im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz rechtlich trennbar ist und mit diesen auch in keinem inneren Zusammenhang steht (vgl. zum spezifischen rechtlichen Zusammenhang von Aussprüchen in Ansehung eines Antrags auf internationalen Schutz aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 28.1.2020, Ra 2019/20/0404, mwN).

Unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks, vor dem Hintergrund dessen, dass es sich bei dem Ausspruch über den Verlust des Aufenthaltsrechts gemäß § 13 Abs. 4 AsylG 2005 um einen rechtlich eigenständigen Ausspruch handelt, und letztlich auch aufgrund der gegebenen Sachnähe des BFA, kann die Regelung des § 13 Abs. 4 AsylG 2005 nur so verstanden werden, dass bei der hier vorliegenden Konstellation, in der ein verfahrensabschließender Bescheid bereits erlassen wurde und erst während des Beschwerdeverfahrens ein Tatbestand verwirklicht wird, der ex lege zum Verlust des Aufenthaltsrechts des Asylwerbers führt, das BFA mit gesondertem Bescheid über den Verlust des Aufenthaltsrechts (deklarativ) abzusprechen hat.

Ausgehend vom Gesetzeswortlaut besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber für die hier vorliegende Konstellation eine Zuständigkeit des BVwG zum originären Abspruch über den Verlust des Aufenthaltsrechts festlegen wollte (vgl. im Übrigen die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach die Gesetzgebung zu einer präzisen Regelung der sachlichen Zuständigkeit einer Behörde verpflichtet ist, etwa VfGH 12.3.2015, G 151/2014, ua).

Mit seiner unzutreffenden Rechtsansicht, dass das BFA bei Verlust des Aufenthaltsrechts während des Beschwerdeverfahrens keinen Abspruch nach § 13 Abs. 4 AsylG 2015 treffen dürfe, hat das BVwG seine Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.“

Im konkreten Fall ist festzuhalten, dass die strafgerichtliche Verurteilung des BF vom 01.08.2018 (rechtskräftig am 07.08.2018), aufgrund welcher ihm mit Verfahrensanordnung sowie mit dem gegenständlich zweitangefochtenen Bescheid der bB vom 30.08.2018 der Verlust des Aufenthaltsrechtes wegen Straffälligkeit gemäß § 13 Abs. 1 Z 1 iVm § 2 Abs. 3 AsylG 2005 ausgesprochen wurde, in die Zuständigkeit eines Bezirksgerichtes und nicht eines Landesgerichtes fiel und es sich darüber hinaus auch um die erste strafgerichtliche Verurteilung des BF gehandelt hat. Somit lagen zum Zeitpunkt der Verfahrensanordnung bzw. des gegenständlich zweitangefochtenen Bescheides vom 30.08.2018 die Voraussetzungen für den Verlust eines Aufenthaltsrechtes nicht vor, zumal auch die anderen in § 13 Abs. 2 AsylG normierten Tatbestände nicht vorlagen.

Dennoch wurde gegen den BF in weiterer Folge mit Strafantrag vom 13.02.2019 Anklage wegen des Vergehens des Raufhandels gemäß § 91 Abs. 1 erster Fall StGB, des Vergehens des Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 StGB sowie der Vergehen der schweren Körperverletzung gemäß §§ 15, 83 Abs. 1 und 84 Abs. 2 StGB erhoben, somit alles Straftaten, die nur vorsätzlich begangen werden können, erhoben und wurde der BF deswegen auch mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 28.03.2019, rechtskräftig am 02.04.2019, in weiten Teilen verurteilt.

Ab Erhebung der Anklage vom 13.02.2019 lagen somit – entsprechend der dargestellten Judikatur des VwGH – nunmehr ex lege die Voraussetzungen für den Verlust des Aufenthaltsrechtes gemäß § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 vor, ab 02.04.2019 darüber hinaus nunmehr sowohl die Voraussetzungen gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG iVm § 2 Abs. 3 Z 1 und Z 2 AsylG 2005.

Die Beschwerde gegen den an angefochtenen Bescheid war daher im Ergebnis mit der Maßgabe als unbegründet abzuweisen, dass dem BF ab 13.02.2019 das Aufenthaltsrecht gemäß § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG nicht mehr zukommt.

Zu Spruchteil B):

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen, vorstehend im Einzelnen zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Gewährung von internationalem Schutz ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das zur Entscheidung berufene Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe, zum Flüchtlingsbegriff, zum Refoulementschutz und zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben abgeht.

Ebenso wird zu diesen Themen keine Rechtssache, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, erörtert. In Bezug auf die Spruchpunkte I. und II. des erstangefochtenen Bescheides liegt das Schwergewicht zudem in Fragen der Beweiswürdigung.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte