BVwG W129 1428994-1

BVwGW129 1428994-112.2.2015

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §75 Abs20
AsylG 2005 §8
B-VG Art.133 Abs4
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §75 Abs20
AsylG 2005 §8
B-VG Art.133 Abs4

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2015:W129.1428994.1.00

 

Spruch:

W129 1428994-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter DDr. Markus GERHOLD als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 14.08.2012, Zl. 11 15.072-BAS, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird gemäß § 3 AsylG 2005 idgF hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde wird gemäß § 8 AsylG 2005 idgF hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

III. Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird aufgehoben. Gemäß § 75 Abs. 20 Asylgesetz 2005 idgF wird das Verfahren hinsichtlich der Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die Beschwerdeführerin (in weiterer Folge BF 3 genannt) - eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, welche der Volksgruppe der Tschetschenen und dem muslimischen Glauben angehört - reiste gemäß eigenen Angaben zusammen mit ihren Eltern (in weiterer Folge BF 1 und BF 2 genannt) und ihren drei Brüdern (in weiterer Folge BF 4, BF 5 und BF 6 genannt) am 14.12. 2011 illegal in das österreichische Bundesgebiet und stellte am selben Tag Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Bei der am selben Tag stattgefundenen Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab BF 1 hinsichtlich seiner Fluchtgründe an, er habe 14 Jahre lang als Therapeut in einem Krankenhaus gearbeitet. Während des ersten Tschetschenienkrieges im Jahr 1996 sei er unter Waffenandrohung dazu gezwungen worden, außerhalb des Krankenhauses für einen Verletzten medizinische Hilfe zu leisten. Es hab sich um eine Schussverletzung an einem Fuß gehandelt. Er habe die Kugel entfernt und einen Verband angelegt. Im ("heurigen") Sommer 2011 sei er erneut gezwungen worden ärztliche Hilfe zu leisten. Man habe ihm einen Sack über den Kopf gestülpt, damit er nicht sehe, wohin man ihn gebracht habe. Er habe fünf Personen Hilfe leisten müssen, zwei von ihnen hätten Schussverletzungen gehabt. Als er zurückgekommen sei, habe er dies unvorsichtigerweise seinen Kollegen erzählt und in der Folge hätten offensichtlich die Kadirov-Leute erfahren, dass BF 1 Rebellen unterstütze. Im Oktober 2011 sei er zusammengeschlagen worden als er mit seinem Auto vom Krankenhaus nach Hause gefahren sei. Später sei dann sein Sohn verschwunden, dies bringe er mit seiner Hilfeleistung in Zusammenhang. Man habe von ihm verlangt zu erzählen, wo sich die Rebellen verstecken würden. Dies habe er ihnen aber nicht erzählen können.

Bei der ebenfalls am selben Tag stattgefundenen Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der BF 2 gab diese hinsichtlich ihrer Fluchtgründe im Wesentlichen an, der gemeinsame XXXX-jährige Sohn sei am XXXX in die Schule gegangen und nicht mehr nach Hause zurückgekommen. Ihr Mann habe ihr gesagt, er hätte Probleme wegen Patienten, deshalb hätten sie sofort die Heimat verlassen müssen, damit den anderen Kindern nicht auch etwas passiere. Auch die bereits volljährige Tochter (BF 3) des BF 1 und der BF 2 wurde an diesem Tag einer solchen Erstbefragung unterzogen, bei der diese hinsichtlich der Fluchtgründe im Wesentlichen angab, das Land verlassen haben zu müssen, weil ihr Vater im Heimatland Probleme gehabt habe.

I.3. Am 05.06.2012 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesasylamt statt, bei der BF 1 angab nach dem bereits genannten Vorfall während des ersten tschetschenischen Krieges nach Russland geflüchtet zu sein und als Binnenflüchtling gegolten habe. Im August 2009 sei er im Zuge eines Urlaubes nach Tschetschenien zurückgekehrt und sei entführt und für zwei Tage festgehalten worden. Ihm seien die Finger gebrochen worden und man habe ihn mit Strom gefoltert. Dies sei als Strafe dafür gedacht gewesen, dass er vor Jahren Widerstandskämpfer medizinisch versorgt habe und ein Schreiben den zu Unrecht verurteilten Bruder betreffend an das Gericht in Straßburg geschickt habe. Zwei Jahre Später sei BF 1 im August 2011 auf Bitten seiner Eltern, welche gewollt hätten, dass er sich wieder in Tschetschenien niederlasse, erneut nach Tschetschenien gereist. Er sei ein weiteres Mal gezwungen worden, verletzten Widerstandskämpfern Hilfe zu leisten. Im Oktober 2011 sei er wieder nach Tschetschenien zurückgekehrt und am 06.10.2011 von bewaffneten Militärangehörigen angehalten und zusammengeschlagen worden. Dabei hätten sie gesagt, sie würden ihm schon zweigen, wie es sei, die Widerstandkämpfer zu behandeln. Nachdem seine Wunden abgeheilt gewesen seien, habe er Tschetschenien wieder verlassen, sein Vorhaben gänzlich zurück zu übersiedeln jedoch nicht aufgegeben. Am 22.11. habe BF 1 seine Frau und die vier Kinder nach Tschetschenien geschickt. Nachdem jedoch der älteste Sohn am 25.11. entführt worden sei, sei die Familie am 11.12. aus dem Heimatland ausgereist. Die Entführer hätten hin und wieder telefonischen Kontakt mit dem entführten Sohn gestattet, der letzte sei im Mai 2012 erfolgt. Man wolle, dass BF 1 nach Tschetschenien zurückkehre und das anhängige Verfahren in Straßburg zurückziehe. BF 1 legte einen Bürgerpass, Aussiedlerausweis sowie mehrere Zertifikate zur Erlangung medizinischer Qualifikationen und mehrere Schriftstücke des EGMR vor.

Am selben Tag wurde auch BF 2 einer niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesasylamt unterzogen, in der sie ihren Bürgerpass sowie Aussiedlerausweis vorlegte und angab, wegen der Probleme ihres Mannes das Heimatland verlassen zu haben. Am 22.11.2011 sei sie mit den Kindern nach Tschetschenien rückübersiedelt. BF 1 habe noch einen Lehrgang besucht, weshalb er später nachkommen habe sollen. Auch BF 3, die ebenfalls an diesem Tag niederschriftlich einvernommen wurde, gab im Wesentlichen an wegen der Probleme ihres Vaters das Heimatland verlassen zu haben und legte einen Bürgerpass vor.

I.4. Im nunmehr angefochtenen und im Spruch genannten Bescheid mit welchem der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen, ihr der Schutz des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 nicht zuerkannt und er gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen wurde, hat das Bundesasylamt zunächst Feststellungen zur Russischen Föderation sowie zur Rückkehrsituation und der Familiensituation der Beschwerdeführerin getroffen und sodann beweiswürdigend ausgeführt, das Vorbringen des BF 1 sei widersprüchlich und enthalte nicht nachvollziehbare bzw. unrealistische Passagen. Die geltend gemachte Bedrohungssituation entspreche offensichtlich nicht den Tatsachen. Es habe auch nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr ins Herkunftsland in eine Notsituation geraten würden. Trotz der in Österreich vorhandenen familiären Anknüpfungspunkte stelle eine Ausweisung keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar. Schließlich wurde dargelegt, eine Zuerkennung des Status des Asylberechtigten bzw. subsidiär Schutzberechtigten der Beschwerdeführer im Rahmen des Familienverfahrens käme nicht in Betracht, da keinem der Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten bzw. subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei.

I. 5. Mit Schreiben vom 24.08.2012 brachten die Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde ein, in der das Vorbringen der Beschwerdeführer im Wesentlichen wiederholt wurde.

I.6. Am 14.10.2014 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die russische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher die Beschwerdeführer teilnahmen. Das (nunmehrige) Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte auf die Teilnahme an der Verhandlung verzichtet. Diese öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gestaltete sich in den wesentlichen, hier wiedergegebenen Teilen wie folgt (Anmerkung zu den verwendeten Abkürzungen: R = Richter, BF = Beschwerdeführer):

R befragt die BF, ob diese psychisch und physisch in der Lage sind, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen bzw. ob irgendwelche Hindernisgründe vorliegen. Diese Frage wird von den BF dahingehend beantwortet, dass keine Hindernisgründe bei ihnen vorliegen.

R: Wie sieht es mit Ihrer Gesundheit heute aus, physisch und psychisch?

BF1: Ich bin gesund.

BF2: Ich bin herzkrank.

R: Haben Sie dazu einen Befund?

BF2: Ich leider unter einen angeborenen Herzfehler, diesbezüglich habe ich einen Befund sowie einen Befund vom Psychiater.

BF1 und BF2 übereichen ein Konvolut an Befunden in Kopie (wird als Anlagekonvolut ./1 zu Protokoll genommen).

[...]

R beginnt mit der Befragung des BF1. BF2 verlässt nach Aufforderung den Verhandlungssaal.

R: Möchten Sie zu den im erstinstanzlichen Verfahren bzw. der Beschwerdeschrift vorgebrachten Fluchtgründen bzw. Umständen Ihrer Flucht von sich aus eine Erklärung abgeben bzw. Richtigstellung oder Ergänzungen vornehmen?

BF1: Ja, ich möchte etwas sagen. Ich bin nach Österreich gekommen und wurde mehrmals gefragt, ich war damals in einem Schockzustand, ich habe lange Behandlung bei einem Psychologen hinter mir. Meine Frau und meine erwachsenen Kinder waren nicht nur beim Psychologen sondern auch beim Psychiater. Ich konnte mein Problem nicht konkret darlegen bzw. systematisieren. In 2 Jahren und 10 Monaten habe ich mich mehr oder weniger in die österreichische Gesellschaft integriert.

R wiederholt die Frage.

BF1: Ich habe heute Dokumente in der Hand die mein Vorbringen bestätigen.

R: Was haben Sie konkret mit?

BF1: Eine Veröffentlichung in einer Zeitung (BF nimmt eine Zeitung zur Hand). Hier steht geschrieben, dass ich bei der munizipalen Wahl teilgenommen habe, dies war am XXXX. Die Zeitung stammt auch vom XXXX. Ich habe noch eine andere Zeitung, eine Gebietszeitung, hier ist ein Artikel, welchen ich angestrichen habe. Dort steht geschrieben, dass man mich unter Druck gesetzt hat. Ich habe heute auch einen Apell der gesamten Bevölkerung an den Gouverneur. Dieser Apell stammt vom XXXX.

R: Wann sind Sie an diese Unterlagen gekommen?

BF1: Ich habe 2012 begonnen diese Unterlagen zu sammeln.

R: Warum wurde das von Ihnen nicht schon längstens vorgelegt?

BF1: Ich habe vor 2 Jahren und 3 Monaten meinen negativen Bescheid berufen und in der der Zeit wurde ich von niemandem vorgeladen.

R: Sie haben von sich aus während des Beschwerdeverfahrens den (damaligen) Asylgerichtshof kontaktiert, da wäre es doch ein Leichtes gewesen, alle Unterlagen vorzulegen.

BF1: Ich wusste nicht, dass ich damals diese Möglichkeit hatte.

BF1 legt die Unterlagen vor (werden als Unterlagenkonvolut ./2 zu Protokoll genommen, D bestätigt nach kurzer Durchsicht die Angaben des BF, eine umfassende Übersetzung wird extra in Auftrag gegeben).

BF1: Ich möchte noch etwas sagen: Als ich im Gebiet XXXX gearbeitet habe, habe ich Dankschreiben bekommen. Ich habe sogar eine Dankesurkunde vom Ministerium aus Moskau bekommen. Das ist aus folgendem Grund für mein Asylvorbringen notwendig: Ich wurde später gekündigt und mir keine Gründe dafür genannt. Normalerweise erfolgt eine Kündigung doch nur mit einem guten Grund, der auch ausdrücklich genannt wird. Mir wurde aber kein Grund genannt.

R: Fehlt noch etwas?

BF1: Ich habe einen Ausweis der Partei "Einiges Russland" mit. Ich bin dort seit... (BF denkt nach)... 2005 Mitglied. Ich war eines der ersten Mitglieder. (Ausweis wird in Kopie als Anhang ./3 zu Protokoll genommen).

R: Fehlt noch etwas?

BF: Nachdem sich die Bevölkerung an den Governeur gewandt hat, wurde ich bedroht. Ich wurde bedroht, dass ich inhaftiert werde. Dass ich dann aus dem Gefängnis nicht mehr lebend hinauskomme. Ich habe nachgefragt, warum ich inhaftiert werden soll. Man hat mir gesagt, man würde schon einen Grund für ein Verfahren finden.

R: Fehlt noch etwas?

BF: Ich habe im Internet die Aussagen des Governeurs - er heißt übrigens XXXX - verfolgt. Er sagte zur Migration nach XXXX, man bräuchte keine Migranten aus Mittelasien. Man bräuchte gebildete und orthodoxe Christen.

R: Fehlt noch etwas?

BF: So ein hochgestellter Politiker tätig solche rassistischen und nationalistischen Aussagen! Dieser Mann beschäftigte sich mit meinen Anliegen. Daher bin ich verfolgt. Meine Leidensgeschichte begann bereits 2008. Ich wollte nicht wegfahren, ich wollte nicht alles zurücklassen, ich habe um die Rechte meiner Person und meiner Familie gekämpft.

R: Fehlt noch etwas?

BF: Ich habe noch weitere Dokumente. Als meine Tochter XXXX unterwegs war, wurde sie unbegründet von Polizisten unterwegs angehalten. Man hat sie verhöhnt und verspottet. Das haben die anderen Fußgänger gesehen. Ich habe Anzeige bei der Staatsanwaltschaft und bei der Polizei erstattet. Ich habe die Antworten dieser Behörden erhalten, diese schreiben mir, dass sie mir mitteilen, dass sie meine Anzeige geprüft hätten und dass sie den Inspektor des Streifendienstes verwarnt hätten. Es handle sich um eine Verwaltungsübertretung, daher wurde das Verfahren eingestellt. Der Inspektor sei zur Verantwortung gezogen worden.

R: Fehlt noch etwas?

BF: Kurz darauf wurde unsere Sauna in Brand gesetzt.

R: Fehlt noch irgendetwas Wichtiges, das Sie vor dem Bundesasylamt nicht gesagt haben?

BF: Ich habe meinen Charakter noch nicht näher beschrieben.

R wiederholt die Frage.

BF: Ich habe eine religiöse Einrichtung aufgemacht. Es war eine Kapelle für Christen im Krankenhaus. Ich habe mein eigenes Geld investiert.

R wiederholt die Frage.

BF: Möglicherweise bin ich zu spät mit meinen Unterlagen.

R: Entsprechen sämtliche von Ihnen im erstinstanzlichen Verfahren bzw. der Beschwerdeschrift vorgebrachten Ausführungen der Wahrheit?

BF1: Ja.

R befragt den BF hinsichtlich dessen Namen, Geburtsdatum und Ihren Geburtsort, Familienstand. Im Falle einer Eheschließung wird der BF aufgefordert bekannt zu geben, ob es eine zivilrechtliche und/oder rituelle Eheschließung bzw. die wievielte Eheschließung es war.

BF1: Ich heiße XXXX, geb. XXXX im Dorf XXXX. Ich bin in erster Ehe mit BF2 verheiratet und zwar auch standesamtlich.

R: Führten Sie jemals einen anderen Namen?

BF1: Nein.

R: Warum haben Sie Ihren Asylantrag unter falschen Namen gestellt?

BF1 (denkt nach): Ich habe es schon erklärt, als wir hierher kamen hatten wir Angst um unser Leben.

R: Gerade hier in Österreich haben Sie ja Kraft Ihres Antrages um Schutz angesucht!

BF1: Mir war damals egal wie ich heiße.

R: Aber nicht der Republik Österreich!

BF1: Ich war damals in einem Schockzustand.

R: Haben Sie Kinder (evtl. auch aus früheren Beziehungen)?

BF1: Ja, ich habe 4 Kinder.

R: Haben Sie im Herkunftsstaat noch nahe Verwandte wie Eltern, Schwiegereltern Geschwister, etc?

BF1: Ja, ich habe auch alte Eltern dort sowie einen Bruder, eine Schwester und ein Bruder sitzt schuldlos im Gefängnis. Wegen dieses Bruder habe ich mich an das Gericht in Straßburg gewandt, das hat bereits 2008 begonnen.

R: Wie ist das Verfahren ausgegangen?

BF1: Bis jetzt gibt es kein Ergebnis.

R: Sind Sie einverstanden, dass wir diesbezüglich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßbrug recherchieren?

BF1: Ich habe die Anfragen dort nicht in meinem Namen gestellt sondern im Namen von XXXX. Das ist der Mann meiner Schwester, Die Anfragen bezogen sich auf das Verfahren von XXXX, das ist mein Bruder der schuldlos im Gefängnis sitzt. Ich habe nichts dagegen wenn Sie recherchieren. Ich habe bis jetzt noch keine Informationen erhalten. Am 5.Juli 2012 habe ich beim BAA in Salzburg ein Kuvert mit der diesbezüglichen Korrespondenz vorgelegt.

R: Haben Sie in Österreich oder in der EU noch nahe Verwandte wie Eltern, Schwiegereltern Geschwister, etc?

BF: In Braunau leben zwei Schwestern, sie leben seit 2004 dort, ich lebe auch dort, wir sehen uns jedes Wochenende.

R: Welche Staatsbürgerschaft besitzen Sie?

BF: Russische Föderation.

R: Welcher Volksgruppe erachten Sie sich als zugehörig?

BF: Tschetschene.

R: Gehören Sie einer derzeit einer Religionsgemeinschaft an? Wenn ja, welcher ?

BF: Islam.

R: Welche schulische oder sonstige Ausbildung haben Sie erhalten?

BF: Ich habe 11 Klassen Grundschule absolviert, dann habe ich studiert. Dann habe ich in St. Petersburg Medizin studiert.

R: Haben Sie eine wissenschaftliche Arbeit schreiben müssen?

BF1: Es gab bei uns 4 Abschlussprüfungen.

R: Welche?

BF1 (muss nach seinen Unterlagen suchen und liest von Unterlagen ab).

R: Für lediglich 4 Prüfungen müssen Sie in Ihren Unterlagen nachschauen?

BF1: Das ist schon 20 Jahre her.

R: Welche 4 Prüfungen haben Sie gemacht?

BF1: Strahlenhygiene, Hygiene der Kinder und Jugendlichen, Epidemiologie und Ernährungshygiene.

R: Das waren Ihre einzigen 4 Prüfungen?

BF1: Das waren nur meine Abschlussprüfungen.

R: Welche Prüfungen haben Sie noch gemacht?

BF1: 50 Prüfungen.

R: Beispielsweise?

BF1: Innere Medizin, Chirurgie, Augenheilkunde, Neurologie, HNO.

R: Welche berufliche Tätigkeit haben Sie im Herkunftsstaat ausgeübt, evt. auch Hilfsarbeiten?

BF: Ich war Arzt, ab August 1993.

R: Bis wann?

BF1: Bis zu meiner Kündigung am 26.10.2011. Ich habe mich mit Heiltätigkeit beschäftigt, ich war Arzt. Ich habe sehr viele Zusatzausbildungen gemacht.

R: Übten Sie irgendwann eine andere berufliche Tätigkeit aus?

BF1: Ich war in verschiedenen Bereichen tätig, etwa auch in der Gerontologie.

R: Haben Sie Ihren Wehrdienst absolviert? Wenn ja, so geben Sie bitte den Zeitraum und den Ort der Stationierung an.

BF1: Ja, von 1985 bis 1987.

R: Vorhalt AS 11: Hier haben Sie den Militärdienst verneint, warum?

BF1: Ich weiß es nicht, ich war in einem schlechten Zustand.

R: Wo lebten Sie im Laufe Ihres Lebens in Ihrem Herkunftsstaat?

BF1: Ich bin in XXXX geboren, dort lebte ich bis 1985, dann habe ich in St. Petersburg bis 1993 studiert. Dann lebte ich wieder in Tschetschenien und zwar bis 1999, als der zweite Krieg begonnen hat. Dann sind ich, meine Frau und meine zwei Kinder in das Gebiet XXXX gezogen, wo ich bis zur Ausreise lebte. 2011 gab es für mich einen persönlich politischen Umsturz.

R: Was verstehen Sie darunter?

BF1: Ich wollte wieder nach Tschetschenien fahren, ich habe, meine Familie nach Tschetschenien geschickt, das war am 22.11.2011.

R: Besitzen Sie im Herkunftsstaat noch eine Wohnung, ein Haus oder sonstige Unterkunft bzw. nennenswertes Vermögen?

BF1 (denkt nach).

R: Das kann doch nicht so schwer sein!

BF1: In Tschetschenien gibt es ein Haus, dort wohnen meine Eltern, es gehört zum Teil auch mir.

R: Haben Sie bis zu Ihrer Flucht jemals außerhalb Ihres Herkunftsstaates gelebt?

BF1: Nein.

R: Haben Sie jemals in einem anderen Staat um Asyl angesucht?

BF1: Nein.

R: Waren Sie im Herkunftsstaat jemals in Haft oder sind Sie angehalten worden (diese Frage bezieht sich auch auf kurzfristige illegale Anhaltungen)? Wenn ja, wo, wie lange und warum?

BF1: 2009, damals bin ich mit meiner Familie zum ersten Mal nach Tschetschenien gefahren. Am 30.08.2009 war es so, dass ich zu meinen Kollegen nach XXXX gefahren bin, wo ich früher gearbeitet habe. Ich wurde angehalten, die Leute hatten Tarnanzüge und ich wusste nicht wer diese Leute sind. Man hat mich 2 Tage lang festgehalten, ich habe auch Narben an den Fingern und am rechten Knöchel. Ich durfte nicht einmal aufs Klo gehen. Es war erniedrigend.

R: Sind Sie einverstanden, dass wir die Verletzungen unter Umständen durch XXXX untersuchen lassen?

BF1: Ja, selbstverständlich! Ich wurde zusammen geschlagen und man hat von mir gefordert, dass ich beim Gericht für Menschenrechte in Straßburg mein Anliegen zurückziehe.

R. Gab es sonst noch Anhaltungen oder Inhaftierungen?

BF1 (denkt nach): Nein. Ich wurde am 06.10.2011 allerdings noch einmal zusammen geschlagen, nachdem man es nicht schaffte, mich mitzunehmen. Ich war Boxer, daher konnte man mich mitnehmen.

R: Das ist der einzige Grund, warum man Sie nicht mitgenommen hat?

BF1: Ja, weil ich mich heftig gewehrt habe. Sonst gab es keinen Grund

R: Ich habe im Akt, dass es Passanten als Augenzeugen gab.

BF1 (denkt nach): Ich habe mich jedenfalls gewehrt.

R: Haben Sie sich politisch im Herkunftsstaat betätigt und/oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung?

BF1: Ja, wie eingangs schon erwähnt.

R. Gab es deswegen ein Problem?

Bf1: Meine Probleme begannen wegen meiner politischen Tätigkeit, weil ich mich zu den Wahlen aufstellen habe lassen.

R: Wurden Sie aufgrund Ihrer Rasse, Nationalität bzw. Zugehörigkeit zu einer best. sozialen Gruppe verfolgt?

BF1: Ich habe mich wegen meines Bruders an das Gericht in Straßburg gewandt. Er wurde etwa 2008 eingesperrt, er sitzt immer noch im Gefängnis. Er hat 3 kleine Kinder die ohne Vater aufwachsen.

R: Wurden Sie aus religiösen Gründen verfolgt?

BF1: Ja.

R: Welche?

BF1: Nicht mich persönlich sondern meinen Sohn.

R. Warum?

BF1: Ich möchte diesbezüglich einen Artikel vorlegen (Anlage ./4). Ich habe eine Kapelle aufgemacht, mein Sohn wurde deswegen in Tschetschenien zusammengeschlagen. Man hat ihm den Artikel, in welchem über die Kapelle berichtet wurde, in den Mund gestopft und ihn essen lassen.

D bestätigt, dass laut Artikel eine Kapelle eingeweiht wurde. Bei der Einweihung hätten Patienten und das Personal und der Hauptarzt des Krankenhauses und der Leiter der Dorfverwaltung teilgenommen. D bestätigt, dass der BF1 als Hauptarzt (entspricht einem Primarius) ausdrücklich mit Namen genannt ist.

R: Was waren in chronologischer Reihenfolge die Beweggründe für Ihre Flucht?

(Der BF wird aufgefordert, zunächst im Überblick, jedoch lückenlos alle individuellen Verfolgungsgründe anzuführen.)

BF1: Es gab eine reale Gefahr was meine Freiheit und mein Leben anbelangt, nicht nur mein Leben sondern auch das Leben der Mitglieder meiner Familie. Ich habe mich politisch betätigt, ich habe eine Kapelle eröffnet, ich wurde einmal mitgenommen, ich wurde einmal zusammengeschlagen. Alle meine Probleme stehen mit meiner politischen Tätigkeit in Verbindung. Wenn man ein Mann mit gutem Gewissen sein will, dann kommen leider auch Neider in Erscheinung. Wenn man sich mit der Politik beschäftigt gibt es auch viele Intrigen die gefährlich für das Leben sind. Dann sind auch die Sicherheitsdienste und das Personal der Sicherheitsdienst involviert. Bei uns gibt es ein Sprichwort, wenn eine Bärin ihren Jungen fressen will, dann beschmutzt sie ihren Jungen so sehr, dass sie ihren Jungen nicht mehr erkennt und daher fressen kann, dieser Vergleich passt auch für mich. Es gibt noch etwas wichtiges was ich erwähnen möchte, 2011 haben meine Eltern mich gebeten nach Tschetschenien zurückzukommen, sie haben gesagt, dass sie beide alt sind. Sie haben auch einen Gehirnschlag gehabt. Sie sagten mir, dass in Tschetschenien Ordnung herrscht. Sie haben mir gesagt, dass sie mich erzogen haben auch was meine medizinische Ausbildung anbelangt, ich hatte deswegen vor damals nach Tschetschenien zu ziehen. Anfang August 2011 war ich auf Urlaub und bin nach Tschetschenien gefahren. Ich habe mir für mich eine temporäre Tätigkeit im Krankenhaus in XXXX entschieden. Am Nachmittag wollte ich mit einem Auto zu meinen Eltern fahren, es sind Leute auf mich zugekommen, sie haben mir gesagt, dass jemand krank ist und dieser Kranke Hilfe braucht. Es gibt einen Eid des Hippokrates, man darf niemanden im Stich lassen als Arzt. Also bin ich freiwillig mitgefahren, man hat mir gesagt, dass ich mit dem Auto dieser Leute fahren muss. Mir wurde ein Sack über den Kopf gestülpt damit ich nicht sehe wo ich hinfahre. Dort waren zwei verwundete Kämpfer, man hat mich dorthin gebracht damit ich diesen 2 Kämpfern medizinisch helfe. Einer der beiden hatte eine Wunde am Bauch, eine Schusswunde, der Zweite hat eine kleinere Verletzung am Bein gehabt. Am 17.04.2011, in der Nacht nach 11 Uhr, den genauen Zeitpunkt weiß ich nicht, als wir geschlafen haben wurde unser Haus in Brand gesetzt, das war wie gesagt am 17.04.2011.

R: Sie haben also ein einziges Mal Widerstandskämpfern geholfen?

BF1: Ja. Der Hauptgrund warum ich nach Österreich kam, war aber die Entführung meines Sohnes XXXX.

R: Bitte erzählen Sie etwas im Detail darüber!

BF1: 2011, als es zu den politischen Umsturz gekommen ist und meine Eltern haben mich damals auch gebeten nach Tschetschenien zu fahren. Ich habe damals nicht gearbeitet habe aber eine Zusatzausbildung gemacht für Innere Medizin. Im medizinischen Institut für XXXX. Ich habe Ihnen das Zertifikat über die Erhöhung meine Qualifikation vorgelegt.

R: Was ist jetzt mit ihrem Sohn geschehen?

BF1: Am 22.Juni 2011 habe ich meine Familie nach Tschetschenien geschickt. Ich wollte mein Haus im Gebiet XXXX verkaufen, ich wollte meine Zusatzausbildung abschließen. Ich wollte nach der Lösung dieser Angelegenheiten nach Tschetschenien endgültig zurückkehren. Ich wurde am 06.10. überfallen, ich hatte Angst (Ende der freien Erzählung).

R: Sie erzählen schon wieder nichts über die Entführung Ihres Sohnes!

BF1: Am XXXX ging mein Sohn das erste Mal in die Schule in Tschetschenien, ich war damals noch nicht in Tschetschenien, ich befand mich im Gebiet XXXX. Er ging in die Schule und er ist nicht zurückgekommen. Ich stand unter Schock, ich war völlig fertig als man mir das mitgeteilt hat. Meine Frau ging gleich zur Polizei und hat eine Anzeige erstattet. Ich hatte keinen anderen Ausweg als meine Familie von dort zu holen und nach Österreich zu bringen.

R: Das war also Ihre Reaktion auf die Entführung Ihres Sohnes? Der Sohn wird entführt und Sie verlassen die Heimat ohne sich um sein weiteres Schicksal zu kümmern?

BF1: Ich hatte zuerst die Hoffnung, dass ich ihn freikaufen kann.

R: Wie ging es weiter?

BF1: Wenn man mich verschleppt hätte dann hätten sich die Leute für die Hilfe für die Verwundeten im Jahr 2011 interessiert und auch das Verfahren in Straßburg.

R: Wie ging es mit Ihrem Sohn weiter?

BF1: Ich wollte von XXXX nach Tschetschenien fahren, auch wenn man mich umgebracht hätte.

R: Warum sind Sie aber nicht gefahren?

BF1: Ich hatte eine junge Frau, ich hatte Angst, dass sie auch verschleppt wird.

R: In welche Schule ist Ihr Sohn gegangen?

BF1: Er war nur einen Tag da.

R: Das war nicht meine Frage! (Frage wiederholt)

BF1: Das weiß ich nicht genau.

R: Das ist doch eine der wichtigsten Entscheidungen die ein Elternteil für sein Kind treffen kann.

BF1: Dort gibt es nur eine Schule.

R: In welche Schule ging Ihre ältere Tochter in den letzten Jahren vor der Ausreise?

BF1: Dort wo wir gelebt haben im Gebiet XXXX. In Tschetschenien nicht.

R: Was hat sie dann gemacht den ganzen Tag?

BF1: Sie hat gelesen, sich mit dem Computer beschäftigt, sich um ihre Geschwister gekümmert.

R: Was hat der XXXX in Tschetschenien gemacht?

BF1: Er hat nichts geschafft, nichts Besonderes.

R: Er war damals erst 6 Jahre alt.

BF1: Er ging damals noch nicht in die Schule.

R: Wie ging es mit Ihrem Sohn weiter?

BF1 (denkt nach): Es waren 9 Monate und zwei Tage.

R: Was passierte dann?

BF1: Ich habe mein Auto verkauft, das noch in der Russischen Föderation stand.

R: Aber wie ging es mit Ihrem Sohn weiter?

BF1: Es gab lange Verhandlungen, er wurde mit großem Glück mit 2 Millionen Rubel freigekauft.

R: Wann?

BF1 (denkt sehr lange nach).

R: So schwer kann es doch nicht sein, vorher wussten Sie noch alles auf den Tag genau.

BF1: Vom 27.08. auf den 28.08.2012.

R: Wie kamen Sie zu den 2 Millionen Rubel?

BF1 (denkt nach): Da ich eine Vollmacht dort gelassen habe, hat man meinen Mercedes verkauft und das Haus.

R: Vor einer halben Stunde sagten Sie, dass das Haus Ihnen gehört!

BF1: Ich meinte soeben, dass ich mein Haus in XXXX verkauft habe. Man hätte noch mehr Geld haben wollen, aber ich hatte nicht mehr.

R: Woher wussten Sie überhaupt unmittelbar vor der Lösegeldübergabe, dass Ihr Sohn nach Knapp einem Jahr am Leben ist.

BF1: Er durfte einmal im Monat meinen Bruder in Tschetschenien anrufen. Man hat auch meine Rückkehr gefordert, mein Bruder hat immer wieder gesagt ob man es nicht anders Lösen kann, mit Geld z.B. Die Sicherheitsleute haben nichts unternommen. Ich glaube, dass die Entführer und die Sicherheitsleute unter einer Decke stecken.

R: Sie haben im Sommer 2011 nur 2 Personen Hilfe geleistet, einer mit einer Schussverletzung, einen mit einer Beinverletzung.

BF1: Ja so war es.

R Vorhalt AS 21: Hier habe ich 5 Personen, davon 2 mit Schussverletzungen.

BF1: Nein!

R: Wie kommt es ins Protokoll?

BF1: Dort waren vielleicht 5 Personen, aber ich habe nur 2 Personen Hilfe geleistet.

R: Beim Rückübersetzen haben Sie sogar die Zahl 15 auf 5 korrigiert, außerdem haben Sie erwähnt, dass 2 von diesen Personen Schussverletzungen hatten.

BF1: Der mit dem Bein hatte auch eine Schusswunde.

R: Haben Sie jemandem erzählt, dass Sie geholfen haben?

BF1: Als ich Anfang Oktober nach Tschetschenien kam, saß ich mit den Kollegen und trank Tee und habe ihnen das erzählt.

R: Erzählen Sie von Ihrer Kündigung, wie war denn das? Wann haben Sie davon erfahren?

BF1: Man hat mir keinen Grund erklärt, man hat angefangen mich zu bedrohen, als ich als Kandidat bei den Wahlen aufgestellt wurde.

R: Wann wurden Sie gekündigt?

BF1: Am 26.10.2011, ich musste sofort meine Arbeit aufgeben.

R: Vorhalt AS 111: Hier haben Sie behauptet, dass Sie bis Dezember 2011 gearbeitet hätten, von einer ungewollten Kündigung - heute von Ihnen als Verfolgungsakt dargestellt - haben Sie kein einziges Wort gesagt.

BF1: Ich habe bis Dezember 2011 Zusatzausbildungen gemacht. Ich habe das selber bezahlt und niemand wusste davon.

R: Wie bitte? Ihr Arbeitgeber weiß nicht, dass Sie eine Zusatzausbildung machen?

BF1: Er hat mich vorher schon gekündigt.

R Vorhalt: Sie haben heute gesagt, dass Sie freiwillig den Kämpfer 2011 geholfen hätten, ist das richtig?

BF1: Ja, aber nicht gegen Geld.

R Vorhalt AS 113: Dort finde ich leider eine gewalttätige "Verschleppung" vor.

BF1: Das habe ich noch nicht schildern können.

R Vorhalt AS 119: Von einer Kapelle für Christen finde ich in Ihrer Darstellung vor dem BAA auch nichts. Heute - haben Sie das auch alös Grund für die Übergriffe gegen Ihre Person genannt. Vor dem BAA haben Sie erwähnt, dass Sie eine Kantine für Obdachlose eröffnet haben, warum haben Sie die Kapelle damals nicht erwähnt?

BF1: Ich kann das nicht 100% sagen. Ich weiß, dass ich am 05. Juni 2011 eine Kapelle aufgemacht.

R: Aber warum haben Sie das vor dem BAA nicht erwähnt?

BF1: Meine Geschichte ist sehr ungewöhnlich. Ich versuche auch heute die Geschichte systematisch zu erzählen.

R. Sind Sie gewählt worden, als Sie sich als Kandidat aufgestellt haben?

BF1: Man hat mich gezwungen die Kandidatur zurückzuziehen.

R: Was geschah mit den anderen Kandidaten Ihrer Partei?

BF1: Einer floh zurück nach Moskau, einer war nur ein Strohmann.

R: Bei so etwas haben Sie mitgemacht?

BF1: Ja.

R: Was hätte dagegen gesprochen, dass auch Sie nach Moskau fliehen?

BF1: Man hätte mich trotzdem gefunden.

R: Was geschah mit dem Parteikollegen?

BF1: Das ist ein Pensionist und ein Russe. Er hat sehr viele Verbindungen in Moskau, das ist ein Oberst des Innenministers.

R: Vor dem BAA erzählten Sie, dass Sie die Kandidatur nur wegen der Übersiedlung nach Tschetschenien zurückgezogen hätten, wie kommt es zur heutigen Steigerung?

BF1: Das weiß ich nicht.

R: Als Mitglied der Partei "Einiges Russland" sind Sie doch Parteiengenosse von Putin und Medwedew, trotzdem haben Sie Angst?

BF1 (blickt betreten und schweigt).

R: Wollen Sie dazu nichts sagen?

BF (neigt den Kopf hin und her): Ich war früher bei keiner anderen Partei.

R: Ich kann nicht wirklich nachvollziehen, dass Sie politisch verfolgt werden, wenn Sie sogar in derselben Partei wie Putin und Medwedew sind?

BF1 (seufzt).

R: Wollen Sie dazu nichts sagen?

BF1: Ich bin Mitglied der Partei "Einiges Russland". Die Mitgliedsausweise werden mit Chip in Moskau hergestellt. Als es die politische Verfolgung meiner Person gegeben hat konnte mich meine eigene Partei nicht retten (BF1 beginnt zu grinsen).

R: Da müssen Sie aber selbst lachen?

BF1: Das ist möglich. Ich bedauere es eben sehr, dass ich mich mit Politik beschäftigt habe.

R: Sie haben ja selbst erwähnt, dass Sie zahlreiches Zusatzausbildungen gemacht haben, unter anderem habe ich in Ihren Unterlagen gefunden, dass Sie erfolgreich vor der "Prüfungskommission der staatlichen Bildungseinrichtung für die höhere Berufsausbildung" ein Zusatzdiplom erworben haben. Der Ausstellungszeitpunkt ist der 19.11.2011. Viele Asylwerber bringen hier asylrelevant vor, dass man sie staatlich an Ausbildungen gehindert hätte, an Prüfungen gehindert hätte und auch sonst das berufliche Fortkommen behindert hätte. Das alles kann ich nicht erkennen, wenn eine staatliche Bildungseinrichtung Ihnen im wahrsten Sinne des Wortes mit Brief und Siegel ein Diplom überreicht.

BF1: Meine Probleme verliefen wie ein Entzündungsprozess, es gibt eine akute Phase, es gibt eine Infizierung, dass eine akute Phase und dann gibt es die Milderungsphase. Mein Sohn und meine Familie befanden sich damals noch im Gebiet XXXX. Ich habe zu diesem Zeitpunkt versucht meine Existenz bestreiten. Ich habe meine Familie nach Tschetschenien geschickt und dann wollte ich mit dem Geld und Zertifikat nach Tschetschenien fahren.

R: Sie waren im April 2010 und Jänner 2011 zweimal illegal nach Österreich gereist, warum sind Sie nicht legal eingereist und warum haben Sie damals nicht gleich um Asyl angesucht?

BF2: Ich musste damals Dokumente nach Straßburg schicken.

R: Dafür müssen Sie aber nicht extra nach Österreich fahren?

BF2: Es wäre zu gefährlich gewesen das mit der Post zu schicken.

R: Warum reisen Sie illegal ein und reisten nicht z.B. nach Polen oder Weißrussland um sich dort mit Ihren in Österreich lebenden Angehörigen zu treffen und die Dokumente zu übergeben?

BF2: Man hat mir eben gesagt, dass es zulässig ist.

R: Wie bitte? Es soll zulässig sein illegal nach Österreich zu kommen?

BF1: Ich habe eben Geld bezahlt und habe gehört, dass es möglich ist. Meine Frau und meine Kinder waren nicht bei mir.

R: Warum sind Sie nicht legal eingereist?

BF1 (zuckt mit den Achseln).

R: Können Sie auch etwas Ausdrückliches zu Protokoll geben?

BF1: Wenn man sich an Straßburg wendet, dann ist es so als wäre man gerichtlich gegen ein Land vorgegangen. Ich bin heute vielleicht psychisch vernichtet. Aber damals konnte ich noch gewisse Maßnahmen erfüllen.

R: Wie hat man Sie 2009 gefoltert? Was ist da alles passiert?

BF1: Man hat mich gewaltsam in ein Auto verfrachtet, man hat mich gefragt ob ich etwas nach Straßburg geschickt habe. Man hat mir die Finger ausgerenkt. Man hat mir dann mit einem Messer Stichverletzungen am rechten Knöchel zugefügt.

R: Mit Strom hat man Sie also nicht gefoltert?

BF1: Nein.

R: Das haben Sie aber vor dem BAA behauptet (AS 111).

BF1: Mit Strom? (BF1 wirkt sehr verwundert.) Nein, das war nicht der Fall.

R: Außerdem steht hier, dass man Ihnen die Finger gebrochen hätte.

BF1: Ja, man hat sie mir auch gebrochen.

R: Gerade Sie als Arzt erzählen mir zuerst nur etwas von einer Ausrenkung und erst auf Vorhalt von einem Bruch?

BF1: Man hat sie mir ausgedreht und auch gebrochen.

R: Warum hat man Sie 2009 eigentlich freigelassen?

BF1: Man hat mir gesagt, dass man mich frei lässt, man werde mich aber beschatten und überall finden.

R: Warum sind Sie nicht schon damals ins Ausland geflüchtet?

BF1: Weil mein schwächster Punkt meine zwei erwachsenen Kinder waren.

R: Trotzdem hätten Sie flüchten können?

BF1: Ich wollte damals meine Heimat nicht verlassen.

R: Wer hat jetzt die Anzeige erstattet hinsichtlich Ihres Sohnes?

BF1: Meine Frau.

R: Es folgen zwei Fragen, die bei mir jeder BF gestellt erhält somit auch wenn in weiterer Folge Asyl zuerkannt wird. 1. Frage: Haben Sie versucht, in Ihrem Herkunftsstaat Schutz vor den von Ihnen genannten Verfolgungshandlungen zu suchen (z.B. Kontaktaufnahme Ihrer Partei, Anzeige bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft, Inanspruchnahme von NGOs, etc.)

BF1: Das hätte nichts gebracht.

R: Sie sind doch bei der Partei "einiges Russland". Warum haben Sie da nichts versucht?

BF1: Doch, das habe ich versucht.

R: Warum sagten Sie dann bei der vorletzten Frage etwas anderes?

BF1: Ich schäme mich, dass ich der Partei überhaupt beigetreten bin.

R: Die 2. (rein hypothetische) Frage lautet: Was befürchten Sie für den Fall Ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat?

BF1 (denkt nach): Ich habe Angst vor der Lebensgefahr. Vor Verhöhnungen in Bezug auf die Familienmitglieder.

R: Haben Sie in Österreich bislang eine Berufstätigkeit oder ehrenamtliche Tätigkeiten ausgeübt?

BF1: Ich habe eine Famulatur im Krankenhaus St. Josef/Braunau absolviert und lege diesbezüglich eine Bestätigung vor. Ich habe auch noch weiter Fortbildungsveranstaltungen besucht. Ich habe auch ein Befürwortungsschreiben mit, ich gebe Ihnen hier alle Integrationsunterlagen (in Kopie als Anlagekonvolut ./5 zu Protokoll genommen)

R: Fühlen Sie sich in der Lage, auch körperliche anstrengende Arbeiten zu übernehmen?

BF1: Ja.

R: Wovon bestreiten Sie derzeit Ihren Lebensunterhalt?

BF1: Grundversorgung.

R: Wie verbringen Sie den Alltag?

BF1: Ich lerne Deutsch. Ich habe Kontakt zu XXXX, er ist ein sehr interessanter Mann, er ist 83 Jahre alt, malt und ist ein sehr aktiver Mensch,

R: Haben Sie in Österreich Deutschkurse besucht?

BF1: Einen A1-Kurs, den habe ich 3x besucht. Einen A2-Kurs besuche ich jetzt mit meiner Frau. Den haben wir uns privat bezahlt.

R: Sprechen Sie Deutsch? (Die/Der BF wird ohne Unterstützung durch D aufgefordert, Fragen zum Namen, der Herkunft, etwaigen Hobbys oder der Familie zu beantworten)

BF1 (auf Deutsch): Ich habe heute.... (BF bricht ab)... Interview... heute ist gutes Wetter..... ich liebe gemacht gesundes Essen (BF setzt auf Russisch fort).

R stellt fest, dass der BF marginale Grundkenntnisse der deutschen Sprache aufweist.

R: Besuchen Ihre Kinder einen Kindergarten oder eine Schule?

BF1: XXXX gehen in die Schule Die beiden älteren machen mit uns einen Deutschkurs. Die Tochter haben wir kurzem verheiratet. Der Mann lebt seit 12 Jahren in Österreich, hat meines Wissens Asyl und reicht gerade um die Staatsbürgerschaft ein.

BF wird aufgefordert, diesbezüglich alle Bestätigungen (insbesondere Eheschließung und pos. Bescheid des Ehemannes) binnen 14 Tagen vorzulegen.

BF1: Ja, ich werde das alles umgehend vorlegen.

R: Lebt Ihre Tochter jetzt bei ihrem Mann?

BF1: Ja.

R: Wie oft sehen Sie jetzt ihre Tochter?

BF1: Wir stehen im telefonischen Kontakt.

R: Warum ist Ihr Schwiegersohn nach Österreich geflohen?

BF1: Keine Ahnung.

R: Warum nicht? Sie geben Ihre Tochter ja nach tschetschenischer Tradition in eine andere Familie, da sollte man doch Bescheid wissen?

BF1: Wir sind eine sehr ungewöhnliche Familie. Wir kümmern uns nicht um die Probleme anderer.

R: Was wissen Sie über die österreichische Geschichte, Kultur oder Politik?

BF1 (denkt länger nach)

R: Fangen wir mit der Geschichte an!

BF1: Ich habe meinen Schluss aus der Geschichte gezogen, dass Österreich ein ehrliches Land ist.

R wiederholt die Frage.

BF1: Es gab einmal Österreich-Ungarn. Als Ostpreußen noch nicht so bedeutend war, war Österreich wesentlich bedeutender. Ich habe mich auch für Bismarck interessiert.

R: Bleiben wir eher bei Österreich. Wissen Sie noch etwas?

BF1: Ich weiß, dass es in der Geschichte Österreichs viele Kriege gegeben hat so wie bei uns. In St.Michael/Lungau habe ich viele Leute kennengelernt, diese sind so gutmütig wie auch wir Tschetschenen.

R: Österreichische Kultur?

BF1: Die Leute kümmern sich um ihre Dinge, um ihre Arbeit, um ihre Kinder. Sie sind sehr leise. Wenn wir Tschetschenen etwas in Österreich anstellen, dann reden alle darüber. Von der Kultur kenne ich Mozart, ein großer Komponist. Seine Musik gefällt mir sehr.

R: Welche Musik von Mozart gefällt ihnen am besten.

BF1: Die kleine Nachtmusik.

R: Gibt es noch etwas über die österr. Kultur zu sagen?

BF1: Mir gefällt der Großteil der österr. Feiertage sehr, auch die christlichen Feiertage. Auch die Österreichische Tracht ist beachtlich.

R: Österreichische Politik? Parteien, die Sie kennen? Politiker?

BF1: Der Präsident heißt Fischer, es gibt eine christliche Partei. Ich weiß aber nicht, ob Fischer dorthin gehört.

R: Weitere Parteien oder Politiker?

BF1: Tut mir leid, ich kenne hier nichts. Die Österreicher wollen die Krise in der Ukraine lösen.

R: Mit welchen in Österreich dauerhaft aufenthaltsberechtigten Personen oder Familien sind Sie befreundet, bitte nennen Sie Vor- und Familiennamen bzw. deren Adressen.

BF1: Mein Lehrer ist der Herr XXXX.

(R trägt die Vorlage entsprechender Befürwortungsschreiben binnen Frist von 14 Tagen auf.)

R: Sind Sie in Österreich Mitglied in Organisationen, Vereinen, etc.?

BF1 (nickt heftig)

R: Ja, wo?

BF1: Wenn man mich um Hilfe bittet, dann könnte ich helfen.

R: Wurden Sie in Österreich oder einem anderen europäischen Land jemals strafrechtlich verurteilt?

BF1: Nein.

BF1 verlässt den VH-Saal, BF2 betritt diesen

R: Möchten Sie zu den im erstinstanzlichen Verfahren bzw. der Beschwerdeschrift vorgebrachten Fluchtgründen bzw. Umständen Ihrer Flucht von sich aus eine Erklärung abgeben bzw. Richtigstellung oder Ergänzungen vornehmen?

BF2: Ich habe alles gesagt.

R: Entsprechen sämtliche von Ihnen im erstinstanzlichen Verfahren bzw. der Beschwerdeschrift vorgebrachten Ausführungen der Wahrheit?

BF2: Ja.

R befragt den BF hinsichtlich dessen Namen, Geburtsdatum und Ihren Geburtsort, Familienstand. Im Falle einer Eheschließung wird der BF aufgefordert bekannt zu geben, ob es eine zivilrechtliche und/oder rituelle Eheschließung bzw. die wievielte Eheschließung es war.

BF2:Ich heiße XXXX, geb. XXXX in der Stadt XXXX. Ich bin in erster Ehe mit BF1 verheiratet und zwar auch standesamtlich.

R: Führten Sie jemals einen anderen Namen?

BF2: Mein Mädchenname lautet XXXX.

R: Warum haben Sie Ihren Asylantrag unter falschen Namen gestellt?

BF2 (denkt nach und schweigt)

R wiederholt die Frage:

BF2: Wir hatten Angst

R: Gerade hier in Österreich haben Sie ja Kraft Ihres Antrages um Schutz angesucht!

BF2: Wir waren in einem sehr schlechten Zustand.

R: Haben Sie Kinder (evtl. auch aus früheren Beziehungen)?

BF1: Ja, ich habe 4 Kinder.

R: Haben Sie im Herkunftsstaat noch nahe Verwandte wie Eltern, Schwiegereltern Geschwister, etc?

BF2: Ja, ich habe Eltern dort, einen Bruder und zwei Schwestern.

R: Haben Sie in Österreich oder in der EU noch nahe Verwandte wie Eltern, Schwiegereltern Geschwister, etc?

BF2: Ich nicht. Meine Tochter hat jetzt geheiratet, am 20.09.

R: Wie hat Ihre Tochter ihren Ehemann gefunden?

BF2: Übers Internet.

R: Welche Staatsbürgerschaft besitzen Sie?

BF2: Russische Föderation.

R: Welcher Volksgruppe erachten Sie sich als zugehörig?

BF2: Tschetschenin.

R: Gehören Sie einer derzeit einer Religionsgemeinschaft an? Wenn ja, welcher ?

BF2: Islam.

R: Welche schulische oder sonstige Ausbildung haben Sie erhalten?

BF2: Ich habe 10 Klassen Grundschule absolviert, dann habe ich keine Ausbildung mehr gemacht.

R: Welche berufliche Tätigkeit haben Sie im Herkunftsstaat ausgeübt, evt. auch Hilfsarbeiten?

BF2: Nichts.

R: Wirklich nichts?

BF2: Doch, am Ambulatorium in XXXX. Dort habe ich in der Registratur gearbeitet.

R: Bis wann?

BF2 (denkt nach): Von 2001 bis 2005, weil 2005 bin ich in Karenz gegangen.

R: Übten Sie irgendwann eine andere berufliche Tätigkeit aus?

BF2: Nein.

R: Wo lebten Sie im Laufe Ihres Lebens in Ihrem Herkunftsstaat?

BF2: Ich bin in XXXX geboren, nach der Eheschließung zog ich in das Dorf XXXX und dann mit meinem Mann nach St. Petersburg (Ende der freien Erzählung).

R: Dort lebten Sie bis zu Ihrer Ausreise?

BF2: Nein. Nur während seines Studiums. Dann lebten wir ab 1999 in XXXX bis zur Ausreise lebten wir dort.

R: Wirklich? Bis zur Ausreise lebten Sie in XXXX?

BF2: Nein, nein. Wir lebten dann auch in Tschetschenien.

R: Von wann an lebten Sie Tschetschenien?

BF2: Ab 2011 sind wir nach Tschetschenien gegangen.

R: Warum sind Sie nach Tschetschenien gegangen?

BF2 (denkt nach): Es gab ein unruhiges Leben in Russland.

R: Das war alles? Das ist sehr vage, können Sie das konkretisieren?

BF2: Es war sehr unruhig.

R (Anmerkung&Frage wiederholt)

BF2: Wir hofften einfach, dass das Leben in Tschetschenien besser wird.

R: Das war alles? Können Sie nicht detailliert sagen, warum es ein "unruhiges Leben" gab?

BF2: Mein Mann hatte Probleme.

R. Haben Sie auch selbst irgendetwas mitbekommen?

BF2: Mein Mann wurde gekündigt. Genaueres weiß ich nicht.

R: Das müssen Sie doch mitbekommen haben?

BF2 (äußerst unsicher wirkend): Wir fuhren im November nach Tschetschenien, ich weiß nicht, ob mein Mann damals noch Probleme hatte. Wir hatten in XXXX ein Haus.... (BF2 bricht ab)

R: Ja, und?

BF2 (schweigt).

R: Sie wollten doch gerade irgendetwas über das Haus sagen. Sie müssen bitte zumindest in Grundzügen mitwirken! Ich merke jedenfalls nicht, dass Sie daran interessiert sind, konkrete und substantiierte Angaben zu tätigen!

BF2: Ich wollte sagen, dass wir nicht gleich weggefahren sind nachdem er gekündigt wurde.

R: Hat Ihr Mann nach seiner Kündigung noch gearbeitet?

BF2: Nein.

R: Was hat er dann gemacht?

BF2 (schweigt).

R: Irgendwas muss er doch gemacht haben.

BF2: Er sagte mir nur, dass er geschäftlich unterwegs sei.

R: Was verstehen Sie darunter?

BF2: Ich weiß es nicht.

R: Besitzen Sie im Herkunftsstaat noch eine Wohnung, ein Haus oder sonstige Unterkunft bzw. nennenswertes Vermögen?

BF2: Es gibt noch das Elternhaus meines Mannes.

R: Haben Sie bis zu Ihrer Flucht jemals außerhalb Ihres Herkunftsstaates gelebt?

BF2: Nein.

R: Haben Sie jemals in einem anderen Staat um Asyl angesucht?

BF2: Nein.

R: Waren Sie im Herkunftsstaat jemals in Haft oder sind Sie angehalten worden (diese Frage bezieht sich auch auf kurzfristige illegale Anhaltungen)? Wenn ja, wo, wie lange und warum?

BF2: Nein.

R: Haben Sie sich politisch im Herkunftsstaat betätigt und/oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung?

BF2: Nein.

R. Hat sich Ihr Mann politisch betätigt?

BF2: Er hat sich zu Wahlen aufstellen lassen. Danach begannen die Probleme. Er wurde nicht gewählt.

R: Warum nicht?

BF2: Er wurde noch vor den Wahlen als Arzt gekündigt.

R: Das hindert einen doch nicht sich politisch zu betätigen, oder?

BF2: Er hat eine Karte gehabt, dass er Kandidat war, aber es fand gar keine Wahlen statt.

R: Wie? Es fand keine Wahl statt? Das hat mir Ihr Mann nicht gesagt.

BF2: Doch, es gab eine Wahl, aber mein Mann hat nicht kandidiert.

R: Wieso nicht?

BF2: Das hat er mir nicht gesagt.

R: Wurden Sie aufgrund Ihrer Rasse, Nationalität bzw. Zugehörigkeit zu einer best. sozialen Gruppe verfolgt?

BF2: Ich habe Probleme aufgrund meines Mannes.

R: Wurden Sie aus religiösen Gründen verfolgt?

BF2: Nein.

R: Was waren in chronologischer Reihenfolge die Beweggründe für Ihre Flucht?

(Der BF wird aufgefordert, zunächst im Überblick, jedoch lückenlos alle individuellen Verfolgungsgründe anzuführen.)

BF2 (schweigt).

R: Irgendetwas müssen Sie mir schon zu Protokoll geben!

BF2: Als wir nach Tschetschenien fuhren wurde mein Sohn entführt. (Ende der freien Erzählung)

R: Das ist also Ihr Fluchtgrund?

BF2: Ja.

R: Ihr einziger Fluchtgrund?

BF2 (schweigt).

R: Wenn Sie schweigen muss ich davon ausgehen, dass das Ihr einziger Fluchtgrund ist.

BF2 (denkt nach): Wir konnten einfach nicht in der russischen Teilrepublik leben, wir sind daher schnell nach Tschetschenien weggefahren.

R: Haben Sie außer der Kündigung Ihres Mannes und der Entführung Ihres Sohnes irgendetwas in den letzten Jahren vor der Flucht mitbekommen, was zum Verlassen der Heimat geführt hat?

BF2 (denkt lange nach): Sonst fallen mir keine Gründe ein.

R: Ihr Mann hat erzählt, dass das Haus einmal gebrannt hat, wann und wo war das oder war das gar kein Fluchtgrund?

BF2: Ja, ja! Deswegen sind wir doch geflohen!

R: Warum haben Sie mir vor 1,2 Minuten nichts erzählt?

BF2: Ich habe Ihre Frage nicht verstanden.

R: Ich habe Sie mehrfach nach Fluchtgründen gefragt, außerdem habe ich Ihnen ausdrücklich die Frage gestellt: "Haben Sie außer der Kündigung Ihres Mannes und der Entführung Ihres Sohnes irgendetwas in den letzten Jahren vor der Flucht mitbekommen, was zum Verlassen der Heimat geführt hat?" Daraufhin haben Sie mir gesagt, dass Ihnen keine weiteren Fluchtgründe einfallen.

BF2 (schweigt).

R: Wann hat Ihr Haus gebrannt?

BF2: Ca. Mitte April 2011.

R: Was ist denn damals passiert?

BF2 (denkt lange nach): Wir haben Benzin gerochen und Rauch gerochen. Wir haben nicht geschlafen und daher haben wir den Brand wahrnehmen können.

R: Wie spät war es denn?

BF2: Es war in der Nacht, wir haben noch nicht geschlafen, meine Kinder aber schon. Es muss nach 11 Uhr gewesen sein.

R: Ist das Haus niedergebrannt oder wie war das damals?

BF2: Es befand sich dort ein Geschäft. Wenn wir nicht geschlafen hätten, wären wir erstickt.

R wiederholt die Frage.

BF2: Es wäre alles verbrannt, hätten wir das Feuer nicht gesehen. Mein Mann hat die Feuerwehr gerufen.

R: Gab es Vorfälle rund um Ihre Tochter?

BF2 denkt nach und schweigt.

R: Ihr Mann sagte etwas über einen bestimmten Vorfall!

BF2: Mir erzählte er nichts darüber.

R: Erzählen Sie mir etwas über die Entführung Ihres Kindes, wie war das damals?

BF2: Das war als er von der Schule nach Hause ging.

R: In welcher Schule war er denn überhaupt?

BF2: In der Stadt XXXX, meine Eltern leben dort.

R: Welche Schule war es genau?

BF2: Das ist die Schule Nummer XXXX

R: Haben Sie ihren Sohn dort angemeldet?

BF2 (denkt nach): Er war nur einen Tag dort.

R: Das war nicht meine Frage, R wiederholt.

BF2 (schweigt).

R: So schwer kann das doch nicht sein (Frage wird wiederholt).

BF2 (denkt nach). Ja an dem Tag habe ich ihn angemeldet.

R: Gab es bei der Anmeldung irgendein Problem?

BF2: Nein.

R: Überhaupt keines?

BF2: Nein.

R: Hätten Sie noch irgendetwas nachbringen müssen?

BF2: Nein.

R: Waren Sie und Ihr Sohn überhaupt schon in Tschetschenien angemeldet?

BF2: Ja, ich und die Kinder waren dort angemeldet.

R: Was geschah mit ihrem Sohn?

BF2: Mit welchen Sohn.

R: Von dem wir jetzt doch schon die gesamte Zeiut reden.

BF2: Wir sind nach Tschetschenien gefahren, er ging dort in die Schule. Als er von der Schule zurück ging wurde er entführt (Ende der freien Erzählung).

R: Wie ging es weiter?

BF2 (denkt nach und schweigt).

R: Sie müssen mir schon etwas sagen damit ich das Ganze als Glaubwürdig erachten kann.

BF2: Man hat von seinem Handy aus angerufen.

R: Wann war denn das überhaupt?

BF2: Am gleichen Tag.

R: Was hat man gesagt und wie ging es weiter?

BF2: Man sagte, dass mein Sohn bei den Leuten ist und dass sie den Vater des Kindes wollen.

R: Was haben Sie daraufhin gemacht?

BF2: Ich habe meinen Mann angerufen und ich habe eine Anzeige erstattet.

R: Wie ging es weiter?

BF2 (denkt nach und schweigt).

R: Irgendetwas wird Ihnen doch noch einfallen.

BF2 (schweigt).

R wiederholt die Anmerkung.

BF2: Wir kamen dann hierher.

R: Jetzt haben Sie aber den wesentlichen Punkt unter den Tisch fallen lassen: Wann und wie kam Ihr Sohn überhaupt frei?

BF2: Wir waren das schon hier in Österreich. Mein Mann hat viel Geld bezahlt für ihn, für uns war das auf jeden Fall sehr viel Geld, wir haben 500.000 Rubel bezahlt.

R. Wieso sagt Ihr Mann, dass es 2 Millionen Rubel waren?

BF2: Eigentlich weiß ich gar nicht wieviel bezahlt wurde.

R: Wieso sagen Sie dann zuerst "sehr viel Geld" und später "500.000 Rubel, wenn Sie es eigentlich gar nicht wissen?

BF2: Ich habe die Summe in Euro gemeint.

R: 500.000 Euro sind aber meines Wissens 25 Millionen Rubel!

BF2: Ich wusste einfach keine Details. Ich glaube, dass es sich um 50.000 Euro gehandelt hat.

R: Gibt es sonst noch irgendetwas was Sie unter Umständen zur Verfolgung Ihrer eigenen Person bzw. Ihrer Familie erzählen wollen?

BF2: Außer dem was ich gesagt habe gibt es nichts.

R: Es folgen zwei Fragen, die bei mir jeder BF gestellt erhält somit auch wenn in weiterer Folge Asyl zuerkannt wird. 1. Frage: Haben Sie versucht, in Ihrem Herkunftsstaat Schutz vor den von Ihnen genannten Verfolgungshandlungen zu suchen (z.B. Kontaktaufnahme Ihrer Partei, Anzeige bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft, Inanspruchnahme von NGOs, etc.)

BF2: Das hätte nichts gebracht.

R: Sie haben doch zumindest eine Anzeige erstattet hinsichtlich Ihres Sohnes!

BF2: Ja, das ist richtig.

R: Dann gab es keinen Kontakt mehr zu Polizei?

BF2: nein, es gab keinen Kontakt.

R: Woher wussten Sie überhaupt, dass Ihr Sohn lebt und nicht tot ist als das Lösegeld gezahlt wurde?

BF2: Die Leute haben dien Bruder meines Mannes kontaktiert.

R: Was ist wenn die nur behauptet hätten, dass Ihr Sohn noch lebt?

BF2: Wir wussten nicht, dass er am Leben ist.

R: Ihr Mann behauptet, dass Ihr Sohn regelmäßig selbst telefonieren konnte, sodass man wusste, dass der Sohn noch lebt.

BF2: Mein Mann hat mir das nicht gesagt.

R: Das ist doch absurd. Umgekehrt hätte ich es ja noch verstanden, dass man Ihnen einredet, dass er persönlich mit dem Onkel telefonieren darf obwohl es nicht der Fall war. Dass man aber umgekehrt Ihnen nicht sagt, dass Ihr Sohn persönlich mit dem Onkel reden durfte, kann ich einfach nicht nachvollziehen.

BF2: Mein Mann hat mir gesagt es sei alles in Ordnung.

R: Die 2. (rein hypothetische) Frage lautet: Was befürchten Sie für den Fall Ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat?

BF2 (denkt nach und schweigt).

R: Fällt Ihnen dazu nichts ein?

BF2: Ich habe Angst um meine Kinder.

R: Haben Sie in Österreich bislang eine Berufstätigkeit oder ehrenamtliche Tätigkeiten ausgeübt?

BF2: Nein, ich kümmere mich um meine Kinder.

R: Fühlen Sie sich in der Lage, auch körperliche anstrengende Arbeiten zu übernehmen?

BF2: Ja.

R: Wovon bestreiten Sie derzeit Ihren Lebensunterhalt?

BF2: Grundversorgung.

R: Wie verbringen Sie den Alltag?

BF2: Ich lerne Deutsch. In der Früh bringe ich die Kinder in die Schule dann kümmere mich um den Haushalt und koche, dann helfe ich den Kindern bei den Hausaufgaben.

R: Haben Sie in Österreich Deutschkurse besucht?

BF2: Einen A1-Kurs und jetzt einen A2-Kurs mit meinem Mann.

R: Sprechen Sie Deutsch? (Die/Der BF wird ohne Unterstützung durch D aufgefordert, Fragen zum Namen, der Herkunft, etwaigen Hobbys oder der Familie zu beantworten)

BF2 (auf Russisch): Ich verstehe viel, aber es ist schwer für mich Sätze zu bilden.

R stellt fest, dass die BF2 faktisch keine Grundkenntnisse der deutschen Sprache aufweist.

R: Besuchen Ihre Kinder einen Kindergarten oder eine Schule?

BF2: XXXX gehen in die Schule. Der Ältere macht mit uns einen Deutschkurs. Die Tochter haben wir kurzem verheiratet. Der Mann lebt seit 12 Jahren in Österreich, hat meines Wissens Asyl und reicht gerade um die Staatsbürgerschaft ein.

BF2 wird aufgefordert, diesbezüglich alle Bestätigungen (Eheschließung und pos. Bescheid des Ehemannes) binnen 14 Tagen vorzulegen.

BF2: Ja, ich werde das alles umgehend vorlegen.

R: Lebt Ihre Tochter jetzt bei ihrem Mann?

BF2: Ja.

R: Wie oft sehen Sie jetzt ihre Tochter?

BF2: Wir stehen im telefonischen Kontakt.

R: Warum ist Ihr Schwiegersohn nach Österreich geflohen?

BF2: Keine Ahnung, ich weiß es nicht.

R: Warum nicht? Sie geben Ihre Tochter ja nach tschetschenischer Tradition in eine andere Familie, da sollte man doch Bescheid wissen?

BF2: Wir haben kaum Kontakt zur Familie des Schwiegersohnes.

R: Was wissen Sie über die österreichische Geschichte, Kultur oder Politik?

BF2 (denkt länger nach)

R: Fangen wir mit der Geschichte an!

BF2: Ich habe etwas im Internet nachgelesen.

R: Ja was denn? R wiederholt die Frage.

BF2: Ich kann mich nicht an die Daten erinnern.

R: Österreichische Kultur?

BF2 (denkt nach) und schweigt.

R: Österreichische Politik? Parteien, die Sie kennen? Politiker?

BF2 (schweigt).

R: Irgendetwas werden Sie doch wissen?

BF2: Ich schaue dauernd fern.

R wiederholt die Anmerkung?

BF2: Ich stehe unter Stress.

R: Wenn Sie dauernd fernsehen, stehen Sie unter Stress?

BF2: Jetzt meine ich, es ist jetzt schwer mich an etwas zu erinnern. Es fällt mir ein es gibt Feiertage die typisch für Österreich sind, etwa Halloween.

R: Das ist aber jetzt nicht ganz typisch für Österreich?

BF2 (schweigt).

R: Mit welchen in Österreich dauerhaft aufenthaltsberechtigten Personen oder Familien sind Sie befreundet, bitte nennen Sie Vor- und Familiennamen bzw. deren Adressen.

BF2: Ja, ich habe eine Bekannte sie heißt XXXX, wir stehen in Kontakt und sie lädt uns auch ein, meines Wissens hat mein Mann etwas von ihr vorgelegt.

R: Sind Sie in Österreich Mitglied in Organisationen, Vereinen, etc.?

BF2: Nein.

R: Wurden Sie in Österreich oder einem anderen europäischen Land jemals strafrechtlich verurteilt?

BF2: Nein

Der R befragt BF1 und BF2, ob sie noch etwas Ergänzendes vorbringen wollen. Dies wird verneint.

R befragt die BF, ob sie den Dolmetscher gut verstanden haben, dies wird bejaht.

R befragt die BF, ob sie weitere Beweisanträge einbringen möchte. Dies wird verneint.

I.6. Bis dato sind beim Bundesverwaltungsgericht mehrere Bestätigungen und Unterstützungserklärungen eingelangt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Zur beschwerdeführenden Partei:

Die Beschwerdeführerin, deren Identität feststeht, ist Staatsbürgerin der Russischen Föderation und Angehörige der Volksgruppe der Tschetschenen. Sie gelangte am 14.12.2011 in das österreichische Bundesgebiet und stellte am selben Tag Antrag auf internationalen Schutz.

Die Beschwerdeführerin ist die Tochter ihrer traditionell als auch standesamtlich verheirateten Eltern (BF 1 und BF 2) und lebt in Österreich mit diesen und ihren drei Brüdern (BF 4, 5 und 6), deren Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. und II. des jeweils angefochtenen Bescheides des Bundesasylamtes mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom heutigen Tag abgewiesen wurden (Spruchpunkt III. der angefochtenen Bescheide wurde aufgehoben; gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 wurde das jeweilige Verfahren hinsichtlich der Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen).

In Österreich leben zwei Tanten der Beschwerdeführerin; im Herkunftsstaat leben die Großeltern sowie Tanten und Onkeln der Beschwerdeführerin.

Es kann weder festgestellt werden, dass die beschwerdeführende Partei in der Russischen Föderation einer Verfolgung ausgesetzt war, noch droht eine solche aktuell. Es kann nicht festgestellt werden, dass die beschwerdeführende Partei im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die beschwerdeführende Partei im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation droht ihr weder eine unmenschliche Behandlung, Todesstrafe oder unverhältnismäßige Strafe noch eine sonstige individuelle Gefahr. Die beschwerdeführende Partei leidet an keiner akut lebensbedrohlichen Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes, die einer Rückführung in den Herkunftsstaat entgegenstehen würde.

Die beschwerdeführende Partei ist unbescholten.

Die beschwerdeführende Partei ist in Österreich derzeit nicht selbsterhaltungsfähig und lebt von der Grundversorgung. Sie ist von keiner in Österreich lebenden Person abhängig. Die beschwerdeführende Partei versteht und spricht die deutsche Sprache nicht. Sie ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer Organisation; sie hatte niemals ein nicht auf das Asylverfahren gegründetes Aufenthaltsrecht in Österreich.

II.1.2. Zur maßgeblichen Situation in der russischen Teilrepublik Tschetschenien:

Die Tschetschenische Republik ist eines der 83 Subjekte der Russischen Föderation. Die sieben mehrheitlich moslemischen Republiken im Nordkaukasus wurden jüngst zu einem neuen Föderationsbezirk mit der Hauptstadt Pjatigorsk zusammengefasst. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Tschetschenien selbst ist (kriegsbedingt) eine monoethnische Einheit (93% der Bevölkerung sind Tschetschenen), fast alle sind islamischen Glaubens (sunnitische Richtung). Die Tschetschenen sind das älteste im Kaukasus ansässige Volk und nur mit den benachbarten Inguschen verwandt. Freiheit, Ehre und das Streben nach (staatlicher) Unabhängigkeit sind die höchsten Werte in der tschetschenischen Gesellschaft, Furcht zu zeigen gilt als äußerst unehrenhaft. Sehr wichtig ist auch der Respekt gegenüber älteren Personen und der Zusammenhalt in der (Groß‑)Familie, den Taips (Clans) und Tukkums (Tribes). Eine große Bedeutung hat auch das Gewohnheitsrecht Adat. Es gibt sprachliche und mentalitätsmäßige Unterschiede zwischen den Flachland- und den Bergtschetschenen.

In Tschetschenien hatte es nach dem Ende der Sowjetunion zwei Kriege gegeben. 1994 erteilte der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Befehl zur militärischen Intervention. Fünf Jahre später begann der zweite Tschetschenienkrieg, russische Bodentruppen besetzten Grenze und Territorium der Republik Tschetschenien. Die Hauptstadt Grosny wurde unter Beschuss genommen und bis Januar 2000 fast völlig zerstört. Beide Kriege haben bisher 160.000 Todesopfer gefordert. Zwar liefern sich tschetschenische Rebellen immer wieder kleinere Gefechte mit tschetschenischen und russischen Regierungstruppen, doch seit der Ermordung des früheren Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow, durch den russischen Geheimdienst FSB im März 2005 hat der bewaffnete Widerstand an Bedeutung verloren.

Laut Ministerpräsident Putin ist mit der tschetschenischen Parlamentswahl am 27.11.2005 die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen worden. Dabei errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland" die Mehrheit der Sitze. Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Hauptkritik an der Wahl war u.a. die anhaltende Gewaltausübung und der Druck der Miliz (sog. "Kadyrowzy") gegen Wahlleiter und Wahlvolk. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers Alu Alchanow im Februar 2007 hat der bisherige Ministerpräsident Ramzan Kadyrow am 05.04.2007 das Amt des tschetschenischen Präsidenten angetreten. Er hat seine Macht in der Zwischenzeit gefestigt und zu einem Polizeistaat ausgebaut "(Kadyrow'scher Privatstaat" Uwe Halbach). Seit 2. September 2010 trägt Kadyrow den Titel "Oberhaupt" Tschetscheniens.

Sowohl bei den gesamtrussischen Duma-Wahlen im Dezember 2011, als auch bei den Wahlen zum russischen Präsidenten im März 2012 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien bei über 99%. Die Zustimmung für die Regierungspartei "Einiges Russland" und für Präsidentschaftskandidat Wladimir Putin lag in der Republik ebenfalls bei jeweils über 99%. Bei beiden Wahlen war es zu Wahlfälschungsvorwürfen gekommen.

Bis Februar 2011 wurde Russland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg bereits in 162 Fällen für schwerste Menschenrechtsverletzungen während des zweiten Tschetschenien-Kriegs verurteilt. Im Februar 2011 wurde Ramzan Kadyrow von Präsident Medwedew zu einer zweiten fünfjährigen Amtszeit als Republiksoberhaupt ernannt. Der von Russland unterstützte Präsident Ramzan Kadyrow verfolgt offiziell das Ziel Ruhe, Frieden und Stabilität in Tschetschenien zu garantieren und den Einwohnern seines Landes Zugang zu Wohnungen, Arbeit, Bildung, medizinischer Versorgung und Kultur zu bieten. Der russische Präsident Medwedew versucht Tschetschenien auch durch Wirtschaftshilfe zu "befrieden".

Neben der endgültigen Niederschlagung der Separatisten und der Wiederherstellung bewohnbarer Städte ist eine wichtige Komponente dieses Ziels die Wiederbelebung der tschetschenischen Traditionen und des tschetschenischen Nationalbewusstseins. Kadyrow fördert das Bekenntnis zum Islam, warnt allerdings vor extremistischen Strömungen wie dem Wahhabismus. Viele Moscheen wurden wiederaufgebaut, die Zentralmoschee von Grosny ist die größte in Russland. Jeder, der in Verdacht steht, ihn und seine Regierung zu kritisieren, wird verfolgt. Eine organisierte politische Opposition gibt es daher nicht. Die 16.000 Mann starken Einheiten Kadyrows sind für viele Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien bis heute verantwortlich.

(Tschetschenien, http://de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien , Zugriff 11.01.2011, Ramzan Kadyrow, http://de.wikipedia.org/wiki/Ramsan_Achmatowitsch_Kadyrow , Zugriff 11.01.2011, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus:

Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009, Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat-Blutrache vom 5.11.2009, Martin Malek, Understanding Chechen Culture, Der Standard vom 19.01.2010, Eurasisches Magazin vom 03.05.2010, Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 20, The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 8, Issue 42, 02.03.2011, Ria Novosti (5.12.2012):

United Russia gets over 99 percent of votes in Chechnya, http://en.rian.ru/society/20111205/169358392.html , Zugriff 24.10.2013, Die Welt (5.3.2012): In Tschetschenien stimmen 99,76 Prozent für Putin,

http://www.welt.de/politik/ausland/article13903750/In-Tschetschenien-stimmen-99-76-Prozent-fuer-Putin.html , Zugriff 24.10.2013)

1. Allgemeine Situation

In Tschetschenien hat Oberhaupt Ramsan Kadyrow ein auf seine Person zugeschnittenes repressives Regime etabliert. Trotz deutlicher Wiederaufbauerfolge ist die ökonomische Lage in Tschetschenien desolat, es gibt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des staatlichen Sektors. Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle ging nach einem relativen Höchststand 2009 wieder zurück. Dennoch kam es 2010 und 2011 zu einigen ernsthaften Vorfällen. Im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 15, Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Report by Thomas Hammarberg Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Following his visit to the Russian Federation from 12 to 21 May 2011, 6.9.2011)

Den Machthabern in Russland ist es gelungen, den Konflikt zu "tschetschenisieren", das heißt, es kommt nicht mehr zu offenen Kämpfen zwischen russischen Truppen und Rebellen, sondern zu Auseinandersetzungen zwischen der Miliz von Ramzan Kadyrow und anderen "pro-russischen" Kräften/Milizen - die sich zu einem erheblichen Teil aus früheren Rebellen zusammensetzen - einerseits sowie den verbliebenen, eher in der Defensive befindlichen Rebellen andererseits. Die bewaffnete Opposition wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert, welche allerdings kaum Sympathien in der Bevölkerung genießen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf entlegene Bergregionen.

Seit Jahresbeginn 2010 ist es in Tschetschenien jedoch zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt, was teilweise ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien bewirkt. Die Macht von Ramzan Kadyrow, ist in Tschetschenien unumstritten. Politische Beobachter meinen, Ersatz für Kadyrow zu finden wäre sehr schwierig, da er alle potentiellen Rivalen ausgeschalten habe, über privilegierte Beziehungen zum Kreml und zu Ministerpräsident Putin verfüge und sich großer Beliebtheit unter der Bevölkerung erfreue.

(Asylländerbericht Russland der Österreichischen Botschaft in Moskau, Stand 21.10.2010, Seite 15)

Der stetige Rückgang der föderalen Streitkräfte nach Ende der "heißen" Phase des zweiten Krieges ab 2002 kann als Zeichen für die verbesserte Sicherheitslage verstanden werden. Der Rückzug der russischen Truppen war nicht nur durch die Stabilisierung der Sicherheitslage, sondern auch durch die sukzessive Übergabe der Verantwortung auf lokale tschetschenische Streitkräfte, die erst in den letzten Jahren anwuchsen, möglich. Die andauernde Stationierung föderaler Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der trotz der Beendigung der von 1999 bis 2009 dauernden Anti-Terror-Organisation (ATO) nicht erfolgte Abzug zeigen, dass die tschetschenischen Sicherheitskräfte weiterhin föderale Unterstützung im Kampf gegen die Rebellen benötigen. Andererseits kann auch davon ausgegangen werden, dass Moskau seine Truppen vermutlich aus mangelndem Vertrauen in Kadyrow weiterhin dort stationiert lässt. Die in den letzten Monaten ergriffenen Maßnahmen und die Wortwahl der Präsidenten Medwedew und Kadyrow sowie des Ministerpräsidenten Putin zeigen jedenfalls, dass man zur Bekämpfung des "Terrorismus" im Nordkaukasus insgesamt weiterhin eher auf militärische Gewalt setzt, und soziale und wirtschaftliche Maßnahmen eine untergeordnete Rolle spielen.

Medwedew fordert weiterhin "brutale Maßnahmen" gegen Terroristen und spricht von einem "schonungslosen Kampf" gegen die Rebellengruppen. Auch in Zusammenhang mit den Anschlägen auf die Moskauer U-Bahn im März 2010 oder den Anschlag auf ein Kaffeehaus in Pjatigorsk im August 2010 sprach sich Medwedew für die "Zerstörung" der Kämpfer aus. In Anbetracht der 2014 in Sotschi stattfindenden olympischen Winterspiele wird gemutmaßt, dass Medwedew meinen könnte, allein die Anwendung roher Gewalt könne die Region genügend stabilisieren um die Abhaltung der Spiele nicht zu gefährden.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14)

Zusammenfassend ist auszuführen, dass nach Beendigung der Anti-Terror-Organisation 2009 temporär wieder vermehrt Anschläge in Tschetschenien zu verzeichnen waren. Die 2009 sprunghaft angestiegene Anzahl an Selbstmordanschlägen ist 2010 wieder stark eingebrochen. Der jüngste Angriff auf die Heimatstadt Kadyrows Zenteroi am 29. August 2010 lässt keine Zweifel, dass die tschetschenischen Rebellen auch zu taktisch herausfordernden Aktionen fähig sind. Von einer Stärkung der Widerstandsbewegung, die in der nächsten Zeit zu einem Ausbruch größerer Kamphandlungen führen könnte, ist jedoch nicht auszugehen.

Anders als im übrigen Nordkaukasus gingen die Angriffe bewaffneter Gruppen in Tschetschenien zurück.

(Amnesty International: Jahresbericht 2012 ,24.5.2012)

2011 gab es in Tschetschenien mindestens 201 Opfer des bewaffneten Konflikts, darunter 95 Tote und 106 Verwundete. 2010 waren es noch 250 Opfer gewesen (127 Tote, 123 Verletzte). Damit liegt Tschetschenien betreffend Opferzahlen hinter Dagestan an zweiter Stelle der nordkaukasischen Republiken. Gemäß Polizeiberichten wurden 2011 in Tschetschenien 62 Mitglieder des bewaffneten Untergrunds getötet (2010: 80), weitere 159 vermeintliche Kämpfer wurden festgenommen (2010: 166). 21 Sicherheitskräfte kamen bei Schießereien und Explosionen 2011 ums leben (2010: 44), 97 wurden verletzt (2010: 93). Des Weiteren wurden 2011 bei Terrorakten, Bombardierungen und Schießereien 12 Zivilisten getötet (2010: 3) und 9 verwundet (2010: 30).

2011 kam es in Tschetschenien zu mindestens 26 Explosionen und Terrorakten, 2010 waren es noch 37 gewesen. Unter den Explosionen und Terrorakten waren sieben Selbstmordanschläge.

(Caucasian Knot: In 2011, armed conflict in Northern Caucasus killed and wounded 1378 people, 12.1.2012, http://abhazia.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/19641/ , Zugriff 3.12.2012)

Laut NRO "Kawkaski-Usel" waren 2011 in Tschetschenien 174 Opfer gewaltsamer Auseinandersetzungen zu beklagen, darunter 82 Tote.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 15)

2012 wurden zwischen Jänner und Mitte Oktober nach Angaben des Innenministeriums der Republik Tschetschenien 35 Kämpfer des bewaffneten Untergrunds in Tschetschenien getötet und weitere 80 verhaftet. Im selben Zeitraum seien 9 gemeinsame große Sonderoperationen gegen die Kämpfer durchgeführt worden.

(Caucasian Knot: The Ministry of Interior Affairs: 35 gunmen killed in Chechnya since the beginning of the year, 17.10.2012, http://www.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/22579/ , Zugriff 3.12.2012)

Die Gewalt im Nordkaukasus, angefacht von Separatismus, interethnischen Konflikten, dschihadistischen Bewegungen, Blutfehden, Kriminalität und Exzessen durch Sicherheitskräfte geht weiter, jedoch fiel das Gewaltlevel im Nordkaukasus allgemein 2012 um 10% verglichen mit dem Vorjahr. Die Gewalt in Tschetschenien ging 2012 stark zurück.

(U.S. Department of State (19.4.2013): Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/245202/368649_de.html ; Zugriff 24.10.2013)

Andere kaukasische Teilrepubliken haben Tschetschenien bei der Zahl der registrierten Gewaltvorfälle überholt. 2012 gab es im Nordkaukasus insgesamt 700 kampfbedingte Todesopfer, davon mehr als die Hälfte in Dagestan, der größten kaukasischen Teilrepublik Russlands. Dort wurden knapp 300 Verbrechen verzeichnet, die mit Terrorismus im Zusammenhang standen, im restlichen Nordkaukasus 180.

(Tagesspiegel. Uwe Halbach (26.4.2013): Tschetschenien im Fokus, http://www.tagesspiegel.de/meinung/andere-meinung/nach-den-anschlaegen-von-boston-tschetschenien-im-fokus/8130872.html ; Zugriff 24.10.2013)

Für die ersten neun Monate des Jahres 2013 berichtet Caucasian Knot 87 getötete Soldaten, 68 getöteten Zivilisten und 220 getöteten Rebellen im Nordkaukasus [Anm. nicht Tschetschenien allein]. Von staatlicher Seite wurde verlautbart, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 2013 Straftaten, die mit Extremismus in Zusammenhang stehen im Nordkaukasus um 40% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stiegen, jedoch terroristische Angriffe im selben Zeitraum um 10% sanken.

(Jamestown Foundation (4.12.2013): Eurasia Daily Monitor Volume 10 Issue 217. North Caucasus Prosecutor's Office Reports Rise in Extremism-Related Crimes)

Wenngleich sich die Sicherheitslage im Sinne dessen, dass keine großflächigen Kampfhandlungen stattfinden und es zu keiner Vertreibung der Zivilbevölkerung kommt, stabilisiert hat, so zeigt sich also, dass dies nicht zuletzt auf die repressive Machtausübung Ramzan Kadyrows und seiner Sicherheitskräfte zurückzuführen ist. Allgemein ist nach wie vor ein hohes Maß an Gewalt feststellbar, vor allem außerjudizielle Tötungen und Kollektivstrafen. Das teilweise brutale und in einigen Fällen als menschenrechtswidrig zu bezeichnende Vorgehen der Sicherheitskräfte (für das diese kaum belangt werden) bringt zwar auch Resultate mit sich, da immer wieder auch führende Kämpfer "neutralisiert", also getötet oder verhaftet, werden und die Sicherheitslage in Tschetschenien dadurch weitgehend stabilisiert werden konnte, andererseits trägt dieses Vorgehen dazu bei, dass sich auch junge Menschen, die sich zunächst nicht mit radikal-islamischem Gedankengut identifizieren, der Widerstandsbewegung anschließen. Deshalb wird die Rebellenbewegung auch in nächster Zeit nicht an Schlagkraft verlieren. Eine nachhaltige Befriedung ist also weiterhin nicht absehbar, die in Zusammenhang mit Tschetschenien so oft zitierte Gewaltspirale dreht sich weiter.

In Tschetschenien kam es im Sommer 2010 zu einer Spaltung innerhalb des bewaffneten Widerstands, als sich ein Teil der bewaffneten Kämpfer vom bis dahin einflussreichsten Anführer Doku Umarow und seiner Doktrin der Schaffung eines islamischen "Emirat Kaukasus" lossagte. Dieser Zwist führte, zusammen mit dem harten Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen "Terroristen" und deren Angehörige, zu einer Abnahme der direkten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Widerstandskämpfern und Sicherheitskräften, ohne dass die Gewalt insgesamt weniger wurde. Die rund 20.000 "Kadyrowzy" sind nach wie vor aktiv. Die Jamestown Foundation schätzt, dass beinahe 90 Prozent der tschetschenischen islamistischen Gruppierungen nun dem Kommando von Emir Hussein unterstehen, während ein Großteil der dagestanischen, inguschetischen und kabardino-balkarischen "Jamaats" nach wie vor Umarow treu sind. Dieser wurde schon mehrmals totgesagt, was sich bis heute als falsch erwiesen hat.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation:

Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 4-5, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 6, 8 und 9; Russia, Freedom in the World 2012)

In Tschetschenien existiert noch immer eine islamistische Untergrundbewegung. Deren Mitglieder werden als "Wäldler" bezeichnet, da sie in den ausgedehnten und dichten Wäldern des Landes ihre Verstecke haben. Ihre Anzahl ist unbekannt. Sie sind jedoch zu effektiven Anschlägen, die meist als Selbstmordattentate erfolgen, fähig. Ziel der Islamisten ist die Errichtung eines "Kaukasischen Emirats" im Nordkaukasus. Ihr Anführer ist Doku Umarov, der selbsternannte "Oberste Emir" des Nordkaukasus. Die Städte gelten gegenwärtig als sicher vor Anschlägen durch die islamistischen Rebellen. Am gefährlichsten sind die Waldgebiete, insbesondere die Gebiete in den hohen Bergen an der Grenze zu Georgien sowie die Grenzgebiete zu Dagestan.

(BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg)

Im Sicherheitsbereich ist gegenwärtig ein Trend zu beobachten, der auf eine Stabilisierung Tschetscheniens bei gleichzeitiger Verschlechterung der Lage in Dagestan hinausläuft. In manchen Regionen konstatieren Beobachter auch ein Übergreifen der Gewalt auf bisher ruhige Gebiete.

Einschätzungen zur zahlenmäßigen Stärke der Rebellen divergieren stark. In Tschetschenien ist es seit Jahresbeginn 2010 zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt (teilweise bewirkte dies ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien).

(ÖB Moskau (9.2013): Asylländerbericht Russische Föderation)

Im Ergebnis kann gesagt werden, dass Teile der Russischen Föderation, vor allem im Nordkaukasus, von hohem Gewaltniveau betroffen sind. Der relative Erfolg des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, bedeutende Rebellenaktivität in seinem Herrschaftsbereich einzuschränken, ging einher mit zahlreichen Berichten über außergerichtliche Tötungen und Kollektivbestrafung. Zudem breitete sich die Rebellenbewegung in den umliegenden russischen Republiken, wie Inguschetien, Dagestan und Kabardino-Balkarien aus. Hunderte Beamte, Aufständische und Zivilisten sterben jedes Jahr durch Bombenanschläge, Schießereien und Morde. Wenn auch die Gewalt im Nordkaukasus, angefacht von Separatismus, interethnischen Konflikten, dschihadistischen Bewegungen, Blutfehden, Kriminalität und Exzessen durch Sicherheitskräfte weiter geht, ging die Gewalt in Tschetschenien jedoch 2011 im Vergleich zu 2010 zurück.

(Freedom House: Freedom in the World 2013 - Russia, Jänner 2013, U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia)

2.1. Sicherheitslage

Vertreter russischer und internationaler NROs zeichnen ein insgesamt düsteres Lagebild. Gewalt und Menschenrechtsverletzungen bleiben dort an der Tagesordnung, es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 15)

Bei Sondereinsätzen der Anti-Terror-Organisation geraten gelegentlich auch Zivilisten ins Schussfeld, wie etwa ein Vorfall im inguschetisch-tschetschenischen Grenzgebiet im Februar 2010 zeigt:

Bei diesem Sondereinsatz kamen je nach Angaben zwischen vier und 14 Zivilisten ums Leben. Zudem steht der Vorwurf im Raum, dass Sicherheitskräfte getötete Zivilisten manchmal als Kämpfer bezeichnen würden, um die Statistik zu schönen. Die derzeit stattfindenden Kämpfe führen jedoch nicht zu einer Vertreibung der Zivilbevölkerung.

Bis Mai 2011 hatte der EGMR in rund 180 Fällen Verletzungen der Artikel 2 und 3 der EMRK bei Einsätzen der Sicherheitskräfte in Tschetschenien festgestellt. 60% der Beschwerden betrafen das Verschwinden von Personen. [...] Die andauernden Muster der Straffreiheit für solch ernsthafte Verletzungen zählen zu den hartnäckigsten Menschenrechtsproblemen im Nordkaukasus. Es gab sicherlich mehrere positive Schritte wie die Einrichtung von Untersuchungskomitees, die Unterstützung der Teilnahme von Opfern bei der strafrechtlichen Verfolgung und die Verkündung mehrerer Direktiven hierzu. Viele Untersuchungen ergeben jedoch keinerlei Ergebnisse; in Fällen, in denen Behörden selbst in Verbrechen involviert waren bestehen Zweifel, inwieweit diese mit den Untersuchungsbehörden die notwendige Kooperation ermöglichen können.

(Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Report by Thomas Hammarberg Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Following his visit to the Russian Federation from 12 to 21 May 2011, 6.9.2011)

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) will sicherstellen, dass die Polizei und Truppen des Innenministeriums, welche Sicherheitsoperationen durchführen, die Gesetze kennen. Daher führte das Komitee zwischen Juni 2010 und Jänner 2011 Informationsveranstaltungen für Sicherheitskräfte durch. Zudem führt das IKRK regelmäßigen Dialog mit föderalen und lokalen Exekutivbehörden über Festnahmen, Inhaftierungen und Gewaltanwendung.

(ReliefWeb: Russian Federation/Northern Caucasus: ICRC maintains aid effort, 1.3.2011,

http://www.reliefweb.int/rw/rwb.nsf/db900SID/JARR-8EJHNK?OpenDocument&rc=4&emid=ACOS-635PN7 )

In den letzten Jahren kehrten nicht nur tausende Binnenflüchtlinge in ihre Häuser zurück, sondern auch Tschetschenen, die nach Europa flüchteten. Das subjektive Unsicherheitsgefühl verhindert eine solche Rückkehr scheinbar nicht. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in Tschetschenien weiterhin Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Verhaftungen oder unmenschliche Behandlung durch Sicherheitskräfte stattfinden und fragwürdige Maßnahmen wie die Kollektivbestrafung von Kadyrow und anderen tschetschenischen Amtsträgern gutgeheißen werden.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 5)

Nach wie vor finden im Nord-Kaukasus zahlreiche außergesetzliche Tötungen durch Behördenorgane und Angehörige bewaffneter Gruppierungen statt.

Obwohl es 2012 weniger Vorfälle gegeben hat als die Jahre zuvor, bleiben Landminen nach wie vor ein Problem.

(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia).

Im gesamten Nordkaukasus gab es 2012 weiterhin regelmäßig Sicherheitseinsätze der Polizeikräfte. Dabei kam es Berichten zufolge häufig zu Menschenrechtsverletzungen wie Verschwindenlassen, rechtswidriger Inhaftierung, Folter und anderen Misshandlungen sowie außergerichtlichen Hinrichtungen.

(Amnesty International (23.5.2013): Amnesty International Report 2013 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte - Russian Federation, http://www.ecoi.net/local_link/248036/374230_de.html ; Zugriff 11.12.2013)

2.2. Die Rebellen

Die tschetschenische Rebellenbewegung entwickelte sich bereits vor Ausbruch des zweiten Krieges immer mehr von einer separatistischen hin zu einem islamistischen Netzwerk und radikalisierte sich im Verlauf der Kriegsjahre erheblich. Damit einher ging die Ausbreitung der Gewalt auf die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, wo die Sicherheitslage mittlerweile als prekärer als in Tschetschenien gilt, sowie in geringerem Ausmaß auch auf Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien und Nordossetien. Durch die Ausrufung des "Kaukasus Emirats" durch Doku Umarow (Emir Abu Usman) Ende Oktober 2007 wurde offensichtlich, dass sich der tschetschenische Widerstand nunmehr als Teil einer pankaukasischen islamischen Bewegung betrachtet, deren Ziel nicht die Unabhängigkeit der Republik, sondern vielmehr die "Befreiung" der derzeit "von den Russen besetzten" "islamischen Lande" von "Ungläubigen" ist. Grundsätzlich kann die tschetschenische Rebellenbewegung daher heute nicht mehr losgelöst von den im gesamten Nordkaukasus agierenden Rebellengruppen betrachtet werden. Die einzelnen Gruppen des die Republiksgrenzen überschreitenden Netzwerks stehen zwar miteinander in Verbindung, handeln jedoch weitgehend autonom und dürften einzelne Angriffe auch nicht miteinander koordinieren.

Die tatsächliche Anzahl der Kämpfer ist unklar, Schätzungen reichen von 50 bis 60 (Aussagen Kadyrows) über rund 500 (FSB) bis zu 1.500 Mann (einzelne unabhängige Beobachter in Tschetschenien). Doku Umarow gab im März 2010 an, die Anzahl der Mudschaheddin im gesamten Nordkaukasus läge zwischen 10.000 und 30.000 Mann, bei entsprechenden Ressourcen könnte er fünf- bis zehnmal so viele anführen. Während die Angaben Kadyrows zu niedrig angesetzt sind (allein 2009 sollen offiziellen Angaben zufolge 190 Kämpfer in Tschetschenien ums Leben gekommen sein, in den ersten sieben Monaten 2010 51), sind jene Umarows sicherlich stark übertrieben.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-15)

Der russische Inlandsgeheimdienst FSB hat den Tod des tschetschenischen Rebellenführers Doku Umarow bestätigt. Der "russische Bin Laden" sei bei einem Einsatz "neutralisiert" worden, sagte FSB-Chef Alexander Bortnikow am Dienstag in Moskau der Agentur Interfax zufolge. Zudem seien mehr als 200 Extremisten festgenommen worden. Dabei wurden große Mengen Waffen und Sprengsätze sichergestellt. Bortnikow sagte zudem, der FSB habe gemeinsam mit Polizei und Ermittlern die Hintermänner der tödlichen Terroranschläge in Wolgograd vom Dezember 2013 geschnappt. Die Attentate, denen 30 Menschen zum Opfer fielen, seien aufgeklärt, sagte Bortnikow. Mitte März hatte eine Internetseite der Islamisten im Konfliktgebiet Nordkaukasus den "Märtyrertod" Umarows mitgeteilt. Er galt als Chef des selbst-proklamierten sogenannten Emirats des Kaukasus. Die gleichnamige Extremistengruppe kämpft für eine islamistische Herrschaft im gesamten Kaukasusgebiet. Der Rebellenführer bekannte sich zu zahlreichen Gewalttaten im ganzen Land, darunter die Anschläge auf den Moskauer Flughafen Domodedowo im Jänner 2011 und die Moskauer U-Bahn im März 2010 mit insgesamt 77 Toten. In den vergangenen Jahren hatte es mehrmals Meldungen über den Tod Umarows gegeben, die nie bestätigt wurden. Der Terroristenführer selbst hatte gedroht, die ersten russischen Olympischen Winterspiele zu verhindern. Bei den Spielen in Sotschi war es im Februar allerdings ruhig geblieben.

(Die Presse, Geheimdienst bestätigt Tod von Islamistenführer Umarov, 8.4.2014, http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/1587995/ , Zugriff am 2.5.2014)

Ali Abu-Muhammad, geborener Aliaskhab Kebekov, bestätigte in einer Internetaussendung vom 18. März 2014 den Tod von Doku Umarow. Kebekov stellte fest, dass er zum neuen Führer des Kaukasus-Emirats gewährt wurde. Er war seit 2010 Sharia-Richter im Kaukasus-Emirat. Er kündigte die Fortführung des Jihad an und rief die Muslime des Nordkaukasus auf, sich dem Kampf anzuschließen. Er kündigte aber keine neuen Terroranschläge an. Der neue Rebellenführer stammt aus Dagestan und ist ethnischer Avare. Er spricht arabisch und kaum russisch. Er studierte in Syrien und war im Alkoholschmuggel in den 1990er Jahren involviert, bevor er konvertierte. Kebekov ist der erste nicht tschetschenische Führer der Kaukasischen Rebellen. Das bestätigt den Trend der letzten Jahre, dass sich das Schwergewicht der Kämpfe im Kaukasus von Tschetschenien nach Dagestan verlagert. Dies ist einerseits der auf die Stabilisierung der Situation in Tschetschenien gerichteten Politik und anderseits der Massenmigration tschetschenischer Rebellen nach Syrien geschuldet. Ebenso ist das der Effekt der schnellen Entwicklung radikalen Islams in Dagestan. Es ist zu erwarten, dass Dagestan das Zentrum des Jihad im Nordkaukasus bleiben wird, während die militärische Untergrundbewegung in den übrigen Republiken eine kleinere Rolle spielen wird. Während die Unterstützung für Kebekov in Dagestan unbestritten ist, ist dies in den übrigen Republiken nicht klar. Das zeigt sich auch in der langen führerlosen Zeit nach dem Tod Doku Umarows, was ggf. Meinungsverschiedenheiten in der Frage des künftigen Führers geschuldet war. Es wurde lange vermutet, dass Aslambek Vadalov, der letzte einflussreiche Veteran des Tschetschenienkrieges, ein ethnischer Tschetschene, Nachfolger Umarows wird. Kebekovs Machtergreifung könnte daher zu einer Fragmentierung des Kaukausus-Emirats und einer stärkeren Homogenisierung der Untergrundbewegung in Dagestan führen.

(Osrodek Studiow Wschodnich im. Marka Karpia, Militants oft he North Caucasus have a new leader, 26.3.2014)

Einige Experten glauben, dass sich das Projekt Kaukasus-Emirat nach dem Tod von Doku Umarow signifikant ändern oder einschlafen wird. Der neue Führer des Kaukasus-Emirats, Alaiskhab Kebekov, wird aller Voraussicht nach eine mildere Form des Jihad verfolgen: Berichten zufolge ist er gegen Selbstmordanschläge. Die Wahl des neuen Emirs reflektiert die Verlagerung des Aufstandes von Tschetschenien nach Dagestan und von Nationalismus zur überstaatlichen islamistischen Ideologie.

(Jamestown Foundation, Russian Authorities Step up Efforts to Disrupt North Caucasus Insurgency's Financing; Euarsia Daily Monitor, Vol. 11 Iss. 55, 24.3.2014)

Die tschetschenischen Rebellen leisteten ihren Treueeid auf den neuen Führer des Kaukasus-Emirats, Emir Abu Muhammad, obwohl der Emir von Tschetschenien, Emir Khamzat, der Umarows erster Stellvertreter war, nicht unter denen war, die den Eid geschworen haben. Es ist nicht klar, ob er an der Seite von Umarow gestorben ist.Einige Beobachter äußerten Zweifel, ob das tschetschenische Jamaat noch existiert oder nicht. Das Jamaat scheint aber weiterzubestehen und verfügt nun über größere Freiheiten, weil bisher ein Gutteil seiner Aktivitäten auf den Schutz von Doku Umarow konzentriert war. Dessen Bruder, Ahmad Umarow, bestätigte in einer Audiobotschaft, dass Khamzat der Emir von Tschetschenien bleibt. Ein Bombenanschlag am 3. April 2014 auf ein Militärfahrzeug bezeugt, dass die Rebellen in Tschetschenien nicht "neutralisiert" wurden.

(Jamestown Foundation, Rebels Continue to Operate in Chechnya Despite Doku Umarov's Death; Eurasia Daily Monitor, Vol. 11, 68, 10.4.2014)

2.2.1. Das Vorgehen der Rebellen

In den ersten Jahren des zweiten Krieges kämpften ganze Armeedivisionen und Brigaden russischer Truppen gegen die Rebellen. Nachdem es den föderalen Truppen gelungen war, große Kampfverbände zu besiegen, gingen die Auseinandersetzungen in einen Guerillakrieg über. In den ersten Monaten des zweiten Tschetschenienkrieges waren die russischen Truppen, die sich vor allem auf die als Hochburgen der Rebellen geltenden südlichen Regionen der Republik konzentrierten, beinahe täglich Bombenanschlägen und Angriffen durch Heckenschützen ausgesetzt. Die Stärke und Kräfte der Kämpfer nahmen ab 2002 und deutlich mit 2004 ab, die Häufigkeit militärischer Aktionen ging zurück. Nachdem viele hochrangige Kommandeure der ersten Generation liquidiert worden waren, - nämlich im März 2002 Ibn al-Chattab, im Jänner 2003 Ruslan Gelajew, im März 2005 Aslan Maschadow, im Juni 2006 Abdul-Chalim Sadulajew und im Juli 2006 Schamil Bassajew - verlor die Rebellenbewegung in Tschetschenien insgesamt an Schlagkraft. Die jüngsten Anschläge im russischen Kernland - jener auf den Zug Newski-Express im November 2009 und die Moskauer U-Bahn im März 2010 - gingen Bekennerschreiben zufolge zwar ebenfalls auf das Konto nordkaukasischer Rebellen, allerdings vermutlich nicht tschetschenischer.

Heutzutage teilt sich die Rebellenbewegung in Tschetschenien in kleine, extrem mobile und unabhängige Gruppen von Kämpfern, die sich im gesamten Nordkaukasus praktisch mehr oder weniger frei bewegen können.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16)

2.2.2. Neuerliche Gewalt durch Rebellengruppen

Als Gründe für den neuerlichen Gewaltausbruch werden nicht nur religiöser Extremismus und ethnischer Separatismus genannt. Auch die autoritäre Politik Kadyrows und die durch russische und tschetschenische Sicherheitskräfte begangenen Menschenrechtsverletzungen werden als Auslöser genannt. Wie bereits erwähnt werden Armut und die schlechte wirtschaftliche Lage sowie die weit verbreitete Korruption und Clanwirtschaft ebenso dafür verantwortlich gemacht, den Zulauf aus der tschetschenischen Bevölkerung zur Widerstandsbewegung nicht abreißen zu lassen.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-18)

Am 19.10.2010 drangen Terroristen sogar bis zum schwer bewachten Parlament in Grosny vor. Aus bisher ungeklärten Gründen gelang es drei Terroristen die Sperre vor dem Parlamentsgebäude zu passieren. Einer der Angreifer sprengte sich davor in die Luft, zwei Untergrundkämpfer drangen in das Gebäude ein, lieferten sich im Erdgeschoss ein Feuergefecht mit den tschetschenischen Sicherheitskräften und sprengten sich dann selbst in die Luft. Außer den Terroristen wurden bei dem Überfall drei Personen getötet, darunter zwei Polizisten und ein tschetschenischer Zivilist. 17 Personen, darunter sechs Polizisten und elf Zivilisten, wurden verletzt. Mit dem Überfall zeigten die Separatisten, dass sie auch in Tschetschenien, wo es in den letzten Jahren weit weniger Anschläge gegeben hatte, als in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, noch handlungsfähig sind.

(Eurasisches Magazin: Der Terror in Tschetschenien ist zurück vom 06.12.2010)

Am 6. Juli 2010 forderte Putin im südrussischen Kislowodsk eine Amnestie für die Untergrundkämpfer im Nordkaukasus. Damit bewies er, dass man mit allen Mitteln Frieden erreichen will.

(Informationszentrum Asyl & Migration: Russische Föderation, Länderinformation und Pressespiegel zur Menschenrechtslage und politischen Entwicklung, Lage im Nordkaukasus vom September 2010, Seite 5)

Am 3.7.2013 hat Doku Umarov - der selbsternannte Emir des Kaukasus Emirats - die von ihm ausgerufene "Waffenruhe" zurückgenommen und damit gedroht, die Olympischen Winterspiele im Februar 2014 in Sotschi zu attackieren.

Bei zwei Selbstmordanschlägen auf einen Linienbus und im Bahnhof von Wolgograd (ehemals Stalingrad) waren am Sonntag (29.12.2013) und am Montag (30.12.2013) insgesamt mindestens 34 Menschen getötet und 72 Menschen verletzt worden. Moskau verdächtigt tschetschenische Islamisten, die damit gedroht haben, die Olympischen Winterspiele (7. bis 23. Februar) im knapp 700 Kilometer südwestlich gelegenen Sotschi attackieren zu wollen.

Nach den tödlichen Anschlägen in Wolgograd hat der russische Präsident Wladimir Putin verschärfte Anstrengungen für die Sicherheit der Olympischen Winterspiele in Sotschi angekündigt. Russland werde "entschieden und unnachgiebig den Kampf gegen Terroristen bis zu deren vollständiger Ausradierung fortsetzen", sagte Putin am Dienstag in seiner Neujahrsansprache laut Interfax.

(Quelle(n): Geopolitical Monitor (22.12.2013): Assessing the Terrorist Threat to the Sochi Olympics, http://www.geopoliticalmonitor.com/assessing-the-terrorist-threat-against-the-sochi-olympics-4897/ ;

Zugriff 2.1.2014, Der Standard (1.1.2014): Putin in Wolgograd:

"Widerliche Verbrechen",

http://derstandard.at/1388514289560/Putin-besucht-nach-Anschlaegen-Wolgograd ;

Zugriff 2.1.2014, ORF.at (31.12.2013): Sorge um Sicherheit in Sotschi, http://orf.at/stories/2212300/2212298/ ; Zugriff 2.1.2014)

Ein föderales Gesetz vom 2.11.2013 (Nr. 302-FZ) ermöglicht eine "Wertabschöpfung" bei Verwandten und Angehörigen hinsichtlich Vermögenszuwächse durch terroristische Tätigkeit.

2.3.1. Menschenrechte allgemein

Russland befindet sich seit dem Ende der Sowjetunion in einem umfassenden und schwierigen Transformationsprozess. Formal garantiert Russland in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten. Menschenrechtler kritisieren jedoch Mängel bei der praktischen Umsetzung der verbrieften Rechte. Repressive Traditionen und ein Mangel an Erfahrungen mit Rechtsstaatlichkeit verbinden sich mit einem teilweise immer noch fehlenden Bewusstsein für individuelle Rechte und Freiheiten. Hinzu kommen Mängel bei der Unabhängigkeit der Judikative und die verbreitete Korruption. Seit Mai 2012 werden ein wachsender staatlicher Druck auf die kritische Zivilgesellschaft und einzelne Akteure beobachtet. Bei der Terrorismusbekämpfung, insbesondere im Nordkaukasus, sind auch autoritäre Einschränkungen der Grundrechte zu beobachten. Trotz einiger Reformbemühungen unter dem damaligen Präsidenten Medwedew, namentlich im Strafvollzugsbereich, bestehen bei der Menschenrechtslage im Land in einigen Bereichen erhebliche Defizite fort.

(Deutsches Auswärtiges Amt: Länder, Reise, Sicherheit - Russische Föderation - Innenpolitik, Stand Oktober 2012, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html , 6.2.2013)

Die wichtigsten Menschenrechtsverletzungen 2011 betrafen Verstöße gegen demokratische Prozesse, die Justizverwaltung und den Rechtsstaat, sowie die Meinungsäußerungsfreiheit. Weitere beobachtete Probleme umfassten physische Misshandlung von Wehrdienern durch Militärs; Einschränkungen der Versammlungsfreiheit; weit verbreitete Korruption auf allen Ebenen der Staatsführung und im Gesetzesvollzug; Gewalt gegen Frauen und Kinder; xenophobische Angriffe und Hassverbrechen; gesellschaftliche Diskriminierung, Schikane und Angriffe auf religiöse und ethnische Minderheiten und Immigranten; gesellschaftliche und behördliche Einschüchterung der Zivilgesellschaft und von Gewerkschaftern; Diskriminierung von Homosexuellen; und Einschränkungen der Arbeiterrechte.

(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia)

2.3.2. Die Menschenrechtslage in Tschetschenien

Die Regierung von Ramsan Kadyrow in Tschetschenien verletzt weiterhin Grundfreiheiten, ist in Kollektivbestrafungen von Familien vermeintlicher Rebellen involviert und fördert insgesamt eine Atmosphäre der Angst und Einschüchterung. Der tschetschenische Ombudsmann Nurdi Nukhazhiyev zeigte sich der wichtigsten NRO in der Region, Memorial, gegenüber unkooperativ. Die Behörden weigerten sich gelegentlich mit NRO, die ihre Aktivitäten kritisierten, zusammenzuarbeiten. Menschenrechtsgruppen beschwerten sich, dass Sicherheitskräfte unter dem Kommando Kadyrows eine bedeutende Rolle bei Entführungen spielten, entweder auf eigene Initiative oder in gemeinsamen Operationen mit föderalen Kräften. Darunter waren Entführungen von Familienmitgliedern von Rebellenkommandanten und -kämpfern.

Wie berichtet wird, wird Folter sowohl von lokalen Behördenorganen als auch von föderalen Kräften angewendet.

(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia)

Es werden weiterhin Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang mit den "anti-terroristischen" Operationen der Regierung berichtet. Anwälte, Journalisten und Menschenrechtsorganisationen berichten über Entführungen, willkürliche Verhaftungen, Folter, "Verschwindenlassen" und widerrechtliche Tötungen. Der russische Ombudsmann hat mehrfach über Verstöße im Nordkaukasus berichtet, ebenso wie der Menschenrechtskommissar des Europarates. Solche Berichte scheinen vor Ort aber wenige Auswirkungen zu haben.

(Council of Europe - Parliamentary Assembly: The situation of IDPs and returnees in the North Caucasus region, 5.3.2012)

Im Übrigen bezweifelt der Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ernsthaft, ob der tschetschenische Ombudsmann seine Rolle als unabhängige Institution zum Schutz der Menschenrechte in der Republik versteht.

(Council of Europe-Parliamentary Assembly (5.3.2012): The situation of IDPs and returnees in the North Caucasus region, http://www.ecoi.net/file_upload/1788_1331036948_edoc12882.pdf ; Zugriff 9.12.2013)

Berichten zufolge verübten Beamte mit Polizeibefugnissen nach wie vor schwere Menschenrechtsverletzungen. Menschenrechtsverletzungen durch föderale oder tschetschenische Sicherheitskräfte werden in den seltensten Fällen strafrechtlich verfolgt. In einigen Fällen wurden Opponenten und Kritiker Kadyrows in Tschetschenien und anderen Gebieten der Russischen Föderation, aber auch im Ausland durch Auftragsmörder getötet (darunter Mord an Umar Israilow in Wien im Jänner 2009). Keiner dieser Mordfälle konnte bislang vollständig aufgeklärt werden.

(Amnesty International: Jahresbericht 2012 [Beobachtungszeitraum 2011], 24.5.2012, ÖB Moskau: Asylländerbericht Russische Föderation, Stand September 2012)

In Teilen des Nordkaukasus kommt es weiterhin zu Entführungen, illegalen Festnahmen und Folter von Verdächtigen.

Menschenrechtsverletzungen werden in den seltensten Fällen strafrechtlich verfolgt. Mehrere Opponenten und Kritiker des Oberhauptes Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, wurden in Tschetschenien und anderen Gebieten der Russischen Föderation, aber auch im Ausland, durch Auftragsmörder getötet (darunter Umar Israilow in Wien im Jänner 2009). Keiner dieser Mordfälle konnte bislang vollständig aufgeklärt werden.

Seit 2002 sind in Tschetschenien über 2.000 Personen entführt worden, von denen über die Hälfte bis zum heutigen Tage verschwunden bleibt. Auch heute noch wird von Fällen illegaler Festnahmen und Folter von Verdächtigen berichtet. Menschenrechtsverletzungen durch föderale oder tschetschenische Sicherheitskräfte werden in den seltensten Fällen strafrechtlich verfolgt.

(ÖB Moskau (9.2013): Asylländerbericht Russische Föderation)

Die Rechtsstaatlichkeit ist besonders im Nordkaukasus mangelhaft, wo der Konflikt zwischen Regierungskräften, Aufständischen, islamistischen Militanten und kriminellen Kräften zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, wie außergerichtlichen Tötungen, Folter, körperlichem Missbrauch und politisch motivierten Entführungen führte.

(U.S. Department of State (19.4.2013): Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/245202/368649_de.html ; Zugriff 24.10.2013)

Der relative Erfolg des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow bei der Unterdrückung größerer Rebellenaktivitäten in seinem Einflussbereich wird begleitet von zahlreichen Berichten über außergerichtliche Hinrichtungen und Kollektivbestrafungen.

(Freedom House: Freedom in the World 2012 - Russia, März 2012)

Im Nordkaukasus finden die schwersten Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation statt. Hierzu sind seit 2005 auch zahlreiche Urteile des EGMR gegen Russland ergangen, der insbesondere Verstöße gegen das Recht auf Leben festgestellt hat. Wiederholte Äußerungen von Präsident Medwedew und anderen Funktionsträgern deuten darauf hin, dass Recht und Gesetz hinreichend eingehalten und die Menschenrechte respektiert werden sollen. Die Urteile des EGMR werden von Russland nicht vollständig umgesetzt. 2011 wurden in Tschetschenien 20 Fälle registriert, in denen Personen entführt wurden, verschwanden oder gesetzwidrig verhaftet wurden (2010: 6). Memorial dokumentierte zwischen Jänner und September 2011 elf Fälle von Entführungen lokaler Einwohner durch Sicherheitskräfte. Opfer weigern sich aus Angst vor behördlicher Vergeltung zusehends über Verstöße zu sprechen. In einem Brief an eine russische NRO im März 2011 sagten die föderalen Behörden, dass die tschetschenische Polizei Untersuchungen von Entführungen sabotierten und manchmal die Täter deckten. In einem Schreiben an die NGO "Interregionales Komitee gegen Folter" bestätigte ein hochrangiger tschetschenischer Staatsanwalt, dass die Ermittlungen zu den Fällen von Verschwindenlassen in Tschetschenien ineffektiv seien. Vertreter russischer und internationaler NRO zeichnen ein insgesamt düsteres Lagebild. Gewalt und Menschenrechtsverletzungen bleiben dort an der Tagesordnung, es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist völlig unzureichend. Tendenzen zur Einführung von Schariah-Recht sowie die Diskriminierung von Frauen haben in den letzten Jahren zugenommen.

(Caucasian Knot: In 2011, armed conflict in Northern Caucasus killed and wounded 1378 people, 12.1.2012, http://abhazia.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/19641/ , Zugriff 3.12.2012, Human Rights Watch: World Report 2012, 22.1.2012, Amnesty International: Jahresbericht 2012 24.5.2012; Auswärtiges Amt:

Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 15)

2.3.3. Religionsfreiheit

Die Bevölkerung gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an, wobei traditionell eine mystische Form des Islam, der Sufismus, vorherrschend ist. Gegenwärtig ist eine Zunahme der Anhänger des Salafismus/Wahabismus, eine strenge, radikale Form des Islam, zu verzeichnen.

(BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg)

Kadyrow billigt oder leitet Massenverstöße gegen die Menschenrechte, darunter gegen die Religionsfreiheit. Er verfälschte tschetschenische Sufi-Traditionen um seine Herrschaft zu rechtfertigen, errichtete auf Grundlage seiner religiösen Ansichten einen repressiven Staat und wies das Tragen einer Hidschab in öffentlichen Gebäuden an.

(U.S. Commission on International Religious Freedom (30.4.2013):

Annual Report of the United States Commission on International Religious Freedom,

http://www.uscirf.gov/images/2013 USCIRF Annual Report (2).pdf ; Zugriff 9.12.2013, Department of State (20.5.2013): 2012 International Religious Freedom Report - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/247446/371031_de.html ; Zugriff 9.12.2013)

Kadyrow nutzt den traditionellen Sufismus politisch und als Instrument seines Antiterrorkampfes, um mit dem "guten" sufistischen Islam dem von weiten Teilen der heute in der Republik aktiven Rebellen propagierten "schlechten" fundamentalistischen Islam, dem oft auch Wahhabismus genannten Salafismus, entgegenzuwirken. Diese Strategie hatte bereits sein Vater unter Maschadow - relativ erfolglos - anzuwenden versucht.

Diese politische Nutzung der Religion führt aus mehreren Gründen zu heftiger Kritik: Durch die kadyrowsche Islamisierung werden zunehmend Menschenrechte, insbesondere Frauenrechte, beschnitten. Innerhalb der tschetschenischen Bevölkerung empfinden viele die von Kadyrow angeordneten Verhaltensnormen als nicht gerechtfertigten, und schon gar nicht durch tschetschenische Tradition rechtzufertigenden Eingriff in ihr Privatleben. Einige der aufgrund der (Re‑)Islamisierung erfolgten Erlässe und Aussagen des Republikoberhauptes, wie etwa die Kopftuchpflicht für Frauen in öffentlichen Gebäuden oder seine Aussprache für Polygamie, widersprechen zudem russischem Recht.

(BAA Staatendokumentation (19.5.2011): Analyse zu Russland: Religion in der Republik Tschetschenien: Sufismus)

2.3.4. Menschenrechtsaktivisten und Gegner Kadyrows:

Seit 2009 wurde eine zunehmende Zahl von Menschenrechtsverteidigern aus dem Nordkaukasus drangsaliert, geschlagen, entführt und getötet. Auch der tschetschenische Präsident Ramzan Kadyrow beschuldigte am 3. Juli 2010 in einem Fernsehinterview Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, vom Ausland bezahlt zu sein, und bezeichnete sie als "Verräter, welche "die Idee des Mutterlands verkauft" hätten, zudem als "Feinde des Volkes, Feinde des Gesetzes, Feinde des Staates".

(Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 14-15)

Einer der zuletzt bekannt gewordenen Fälle betrifft den kritischen politischen Journalisten der Tageszeitung "Kommersant" Oleg Kaschin, der am 06.11.2010 vor seinem Haus von Unbekannten zusammengeschlagen und schwer verletzt wurde.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 9)

Die Verfolgung von Familienmitgliedern und Unterstützern von Widerstandskämpfern ist in der Russischen Föderation eine der Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus im Nordkaukasus. Grundsätzlich können Personen, die den Widerstand in Tschetschenien unterstützen - sei es dadurch Rebellen Lebensmittel, Kleidung oder Schlafstätten zur Verfügung zu stellen oder sei es durch Waffen - in der Russischen Föderation strafrechtlich verfolgt werden. Es kommt regelmäßig zu Verhaftungen aufgrund von Hilfeleistung an die Rebellen. Ob Personen, die unter diesem Vorwurf vor Gericht gestellt werden mit einem fairen Verfahren rechnen können ist aufgrund der im Justizbereich verbreiteten Korruption und der bekannten Einflussnahme der Exekutive auf richterliche Entscheidungen fraglich. Das Strafmaß beträgt 8 bis 20 Jahre Freiheitsentzug.

In deutsch- und englischsprachigen Medien und Berichten von russischen und anderen Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen finden sich keine Hinweise, dass in den letzten Jahren oder derzeitig, Personen, die den Widerstand in den Jahren vor der letzten offiziellen Amnestie 2006 unterstützt oder selbst gekämpft und eine Amnestie in Anspruch genommen haben, oder die mit einer solchen Person verwandt sind, nunmehr allein deshalb verfolgt würden. Betroffen sind hauptsächlich Unterstützer und Familienmitglieder gegenwärtig aktiver Widerstandskämpfer. Um unbehelligt leben zu können müssen sich amnestierte Kämpfer und Unterstützer und deren Familien Ramsan Kadyrow gegenüber sicherlich weiterhin loyal zeigen. Ein Austritt aus den lokalen Sicherheitskräften, in denen viele der Amnestierten nunmehr arbeiten (müssen) wird nur bedingt möglich sein.

Obwohl eine strafrechtliche Verfolgung von Unterstützern des Widerstandskampfes möglich ist, greifen die tschetschenischen Sicherheitskräfte in ihrem Kampf gegen den Terrorismus weiterhin auf Mittel ohne rechtliche Grundlage zurück. Einerseits gibt es vereinzelte Berichte, dass Unterstützer ohne jegliches Verfahren für ihre vermeintliche Hilfeleistung "bestraft" werden. Andererseits finden sich zahlreiche Berichte über Formen der Kollektivbestrafung von Familienmitgliedern (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer. Betroffen ist vorwiegend der engere Familienkreis, also Eltern, Onkeln, Cousins und Ehefrauen. Die tschetschenischen Behörden gehen aufgrund der traditionell sehr engen Familienbande davon aus, dass Familien ihre im Wald lebenden Angehörigen unterstützen, vor allem aber davon, dass diese Familien im Stande sind, ihre Angehörigen zu einer Rückkehr aus dem Wald zu bewegen. Die Verfolgung beginnt mit dem Einsatz von Druckmitteln wie der Streichung von Sozialbeihilfen, und führt bis zur Niederbrennung der Wohnhäuser der betroffenen Familien. Offizielle Beschwerden oder Anzeigen hiergegen sind kaum möglich.

(BAA/Staatendokumentation: Analyse der Staatendokumentation - Russische Föderation - Unterstützer und Familienmitglieder (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer in Tschetschenien, 20.4.2011)

2012 wurden ab Jahresbeginn bis September rund 40 Personen festgenommen, um auf die Rebellen Druck auszuüben. Die meisten der Verhafteten sind Frauen, die beschuldigt werden, den Rebellen Nahrung gekauft oder Unterkunft gegeben zu haben. Die offiziellen Statistiken können jedoch nicht für bare Münze genommen werden. Tschetschenische Exekutiv- und Sicherheitsbehörden unter der de-facto Kontrolle von Ramsan Kadyrow wenden gegenüber Verwandten und mutmaßlichen Unterstützern vermeintlicher Rebellen Kollektivstrafen an. Das Niederbrennen von Häusern vermeintlicher Rebellen, ein Mechanismus der Kollektivbestrafung, der seit 2008 angewandt wird, ging Berichten zufolge weiter. Im Juli 2011 berichtete Caucasian Knot über mehrere Häuser, die niedergebrannt wurden, die Familien junger Leute gehörten, die sich dem Widerstand angeschlossen hatten. Im April 2012 wurde Rechtsaktivisten von Bewohnern des Dorfes Komsomolskoye/Bezirk Gudermes berichtet, dass Personen in Uniform die Häuser von den Eltern und Großeltern eines wenige Tage zuvor getöteten Rebellen niedergebrannt hatten. Kadyrow und andere tschetschenische Beamten haben bei mehreren Gelegenheiten ausgesagt, dass Angehörige von Aufständischen für ihre Rebellen-Verwandten zur Verantwortung gezogen werden müssen.

(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 176, 27.9.2012, U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia, Human Rights Watch: World Report 2012, 22.1.2012, The Jamestown Foundation: North Caucasus Weekly -- Volume 13, Issue 10, 18.5.2012 / Caucasian Knot: Chechnya: houses of relatives of Bantaev, killed in special operation, burnt down, locals say, 5.5.2012, http://www.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/20948/ , Zugriff 3.12.2012)

Familien sehen sich weiterhin Vergeltungsmaßnahmen für angebliche Vergehen von Familienmitgliedern gegenüber. Kadyrow führte seine Anti-Widerstandsstrategie der kollektiven Bestrafung gegen Familienmitglieder von verdächtigen Aufständischen weiter, einschließlich des Anzündens ihrer Häuser.

Menschenrechtsgruppen beschwerten sich, dass Sicherheitskräfte unter dem Kommando Kadyrows eine bedeutende Rolle bei Entführungen spielten, entweder auf eigene Initiative oder in gemeinsamen Operationen mit föderalen Kräften. Darunter fielen Entführungen von Familienmitgliedern von Rebellenkommandanten und -kämpfern.

(U.S. Department of State (19.4.2013): Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/245202/368649_de.html ; Zugriff 24.10.2013)

Es kann von niemandem mit Sicherheit gesagt werden, wie viele Rebellen heutzutage in Tschetschenien aktiv sind. Rekrutierung findet konstant statt. Rebellen und jene die aktive Rebellen unterstützen sind Hauptziel der tschetschenischen Behörden, während ehemalige tschetschenische Rebellen für die Behörden von weniger Interesse sein dürften. Aktive Rebellen werden für gewöhnlich während Sonderoperationen getötet, während Unterstützer festgenommen werden. Bei der Befragung von Personen, die der Zusammenarbeit mit Rebellen bezichtigt werden, soll es zu Folter kommen. In einer Reihe von Fällen wurden Personen für verschiedenartige Unterstützung der Rebellen zu Haftstrafen verurteilt.

(Landinfo: Tsjetsjenia: Tsjetsjenske myndigheters reaksjoner mot opprørere og personer som bistår opprørere, 26.10.2012, http://www.landinfo.no/asset/2200/1/2200_1.pdf , Zugriff 3.12.2012)

2.3.5. Sicherheitsbehörden

In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden oft zusammenfassend als Kadyrowzy bezeichnet, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramsan Kadyrows stehen dürften. Die tschetschenischen Sicherheitskräfte bestehen aus einem "relativ undurchsichtigen Geflecht von verschiedenen Einheiten", wie in einer Analyse der Staatendokumentation festgehalten wurde. Davon konnte man sich während des Forschungsaufenthalts überzeugen: Die zahlreichen in den Straßen der Hauptstadt Grosny zu sehenden Sicherheitskräfte tragen eine Vielzahl an verschiedenen Uniformen. Viele bewaffnete Männer in schwarzer oder Camouflage-Kleidung tragen keinerlei Abzeichen, die erkennen lassen würden, ob oder zu welcher polizeilichen oder militärischen Einheit sie gehören. Vereinzelt sieht man in den Straßen Grosnys auch Männer in Zivil, die eine Handfeuerwaffe im Gürtel tragen.

(Forschungsaufenthalt der Staatendokumentation (12.2011): Bericht zum Forschungsaufenthalt Russische Föderation - Republik Tschetschenien)

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013):

Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg).

Tschetschenische Kommandoeinheiten werden von russischen Eliteeinheiten wie z.B. ALFA (eine spezielle Eliteeinheit des FSB) für den Einsatz in bergigen Gebieten und Wäldern trainiert. Das Trainingslager für tschetschenische Spezialeinheiten befindet sich im Dorf Tsenteroi im Kurchaloi Distrikt. Aus dem Bericht der Jamestown Foundation geht hervor, dass der Major und seine Auszubildenden nicht-russische khakifarbene Uniform ohne jegliches Abzeichen einer bestimmten Behörde trugen.

(Jamestown Foundation (6.12.2013): Eurasia Daily Monitor Volume 10 Issue 219. Training of Chechen special forces causes controversy in Moscow)

Das Vorgehen der Sicherheitskräfte führt nach wie vor häufig zu Menschenrechtsverletzungen. Bewaffnete Gruppen überfielen erneut Angehörige der Sicherheitskräfte, örtliche Staatsbedienstete und Zivilpersonen. Angriffe bewaffneter Gruppen wurden aus dem gesamten Nordkaukasus gemeldet. Im gesamten Nordkaukasus gab es 2012 weiterhin regelmäßig Sicherheitseinsätze der Polizeikräfte. Dabei kam es Berichten zufolge häufig zu Menschenrechtsverletzungen wie Verschwindenlassen, rechtswidriger Inhaftierung, Folter und anderen Misshandlungen sowie außergerichtlichen Hinrichtungen.

Die Behörden verstießen systematisch gegen ihre Verpflichtung, bei Menschenrechtsverletzungen durch Polizeikräfte umgehend unparteiische und wirksame Ermittlungen einzuleiten, die Verantwortlichen zu identifizieren und sie vor Gericht zu stellen. In einigen Fällen wurden zwar Strafverfolgungsmaßnahmen ergriffen, meistens konnte im Zuge der Ermittlungen jedoch entweder kein Täter identifiziert werden oder es fanden sich keine Beweise für die Beteiligung von Staatsbediensteten oder man kam zu dem Schluss, es habe sich um keinen Verstoß seitens der Polizeikräfte gehandelt. Nur in Ausnahmefällen wurden Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Polizeibeamte wegen Amtsmissbrauchs im Zusammenhang mit Folter- und Misshandlungsvorwürfen ergriffen. Kein einziger Fall von Verschwindenlassen oder außergerichtlicher Hinrichtung wurde aufgeklärt und kein mutmaßlicher Täter aus den Reihen der Ordnungskräfte vor Gericht gestellt.

(Amnesty International (23.5.2013): Amnesty International Report 2013 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte - Russian Federation, http://www.ecoi.net/local_link/248036/374230_de.html ; Zugriff 9.12.2013).

2.3.6. Haftbedingungen

Die Situation im Strafvollzug ist unbefriedigend. Übergriffe von Wärtern auf Gefangene kamen weiterhin vor, ebenso wie Übergriffe von Gefangenen untereinander.

Die meisten Strafanstalten und Untersuchungsgefängnisse sind veraltet und überbelegt. Bausubstanz und sanitäre Bedingungen in den russischen Haftanstalten entsprechen nicht westeuropäischen Standards. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgt oft in Schlafsälen von über 40 Personen und ist häufig sehr schlecht. Duschen ist vielfach nur gelegentlich möglich. Das Essen ist einseitig und vitaminarm. Die medizinische Versorgung ist ebenfalls unbefriedigend. Ein Großteil der Häftlinge bedarf medizinischer Versorgung. Sowohl von TBC- als auch HIV-Infektionen in bemerkenswertem Umfang wird berichtet. Problematisch ist ebenso die Zahl der drogenabhängigen oder psychisch kranken Inhaftierten. Den Ärzten mangelt es im Allgemeinen an geeigneter Qualifizierung, Medikamente sind begrenzt verfügbar und Geräte sind alt. Spezialisten sind in den Haftanstalten nicht verfügbar, oftmals war nur eine Krankenschwester eingestellt.

(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand Juni 2012, 6.7.2012, U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia, )

Die Bedingungen in den Haftanstalten haben sich in den letzten zehn Jahren langsam, aber kontinuierlich verbessert. Allerdings entsprechen die Haftbedingungen im Hinblick auf Verpflegung und medizinische Versorgung der Häftlinge sowie hygienische Einrichtungen nicht immer allgemein anerkannten Mindeststandards. Gerade in Jugendhaftanstalten und in Untersuchungsgefängnissen sind die Haftbedingungen besonders harsch.

(Österreichische Botschaft Moskau: Asylländerbericht Russische Föderation, September 2012)

Ein Vertreter einer NRO gab 2011 an, dass die Anwendung von Folter in Tschetschenien in den letzten Jahren anstieg. Gewöhnlich umfasst diese Folter starke Schläge und im Falle längerer Haftzeiten auch Elektroschocks, so dass bei einer Entlassung keine physischen Zeichen sichtbar sind. Memorial gab an, dass die Mehrheit der Personen, die in Haft sind oder von den tschetschenischen Behörden befragt werden, physischen Misshandlungen wie starken Schlägen, Verbrennungen, Ausreißen von Nägeln und Elektroschocks ausgesetzt ist.

(Danish Immigration Service: Chechens in the Russian Federation, Report from Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow and St. Petersburg, the Russian Federation, 12 to 29 June 2011, 11.10.2011)

Physische Misshandlung von verdächtigen Personen durch die Polizei würde systematisch und üblicherweise in den ersten Tagen nach einer Festnahme erfolgen. Im Kaukasus würde Folter Berichten zufolge von lokalen, aber auch von föderalen Strafverfolgungsbehörden angewandt. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass unter anderem Elektroschocks sehr häufig angewendet werden, da sie am ehesten keine Spuren hinterlassen würden. Im Nordkaukasus existierten weiterhin inoffizielle Gefängnisse.

(U.S. Department of State (19.4.2013): Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/245202/368649_de.html ; Zugriff 24.10.2013

3. Versorgungslage

Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich dank großer Zuschüsse aus dem russischen Föderalen Budget nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen seit 2007 deutlich verbessert - ausgehend von sehr niedrigem Niveau. Die Durchschnittslöhne in Tschetschenien liegen spürbar über denen in den Nachbarrepubliken. Die Staatsausgaben in Tschetschenien sind pro Einwohner doppelt so hoch wie im Durchschnitt des südlichen Föderalen Bezirks. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens Grosny ist inzwischen dank föderaler Gelder fast vollständig wieder aufgebaut. Gleichwohl bleibt Arbeitslosigkeit und daraus resultierende Armut der Bevölkerung das größte soziale Problem. Kadyrow möchte eine Art "Dubai des Kaukasus"(Uwe Halbach) aus Tschetschenien machen. Sowohl in die soziale, als auch in die technische Infrastruktur wurde investiert: In den Bau und die Renovierung von Wohnungen, medizinischen Einrichtungen, Schulen, Kaufhäusern, Straßen, Kanalisation, Stromversorgung u. ä. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens Grosny ist inzwischen fast vollständig wieder aufgebaut - dort gibt es mittlerweile auch wieder einen Flughafen. Nach Angaben der EU-Kommission findet der Wiederaufbau überall in der Republik, insbesondere in Gudermes, Argun und Schali, statt. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen melden, dass selbst in kleinen Dörfern Schulen und Krankenhäuser aufgebaut werden. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser, etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die Kompensationszahlungen Erfolge. Der Wiederaufbau geht unter hohem Einsatz staatlicher Mittel rasch voran, die Arbeitslosigkeit bleibt aber nach wie vor ein schweres Problem. Missmanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern in vielen Fällen, dass die Gelder für den Wiederaufbau sachgerecht verwendet werden. Die humanitären Organisationen reduzieren langsam ihre Hilfstätigkeiten; sie konstatieren keine humanitäre Notlage, immer noch aber erhebliche Entwicklungsprobleme. Der Schulbesuch ist grundsätzlich möglich und findet unter zunehmend günstigen Bedingungen statt.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 16, Bericht der Staatendokumentation zum Forschungsaufenthalt, Russische Föderation - Republik Tschetschenien, Dezember 2011, Seite 5; Amnesty International, Annual Report 2012)

Trotz der Bemühungen die notwendige Infrastruktur zu verbessern, haben die meisten gewöhnlichen Bürger keinen Nutzen aus den Wiederaufbaubemühungen in Tschetschenien gezogen. Für den Wiederaufbau wurden ausländische Arbeiter und Firmen herangezogen; Fabriken und andere Initiativen, die Arbeitsplätze in größerem Umfang schaffen könnten, wurden nicht wiederhergestellt. Deshalb sind viele gewöhnliche Bürger weiterhin von Sozialbeihilfen als Haupteinkommensquelle abhängig. Die Lebensqualität ist weiterhin schlecht, es besteht ein Mangel an leistbarem Wohnraum und medizinischen Einrichtungen, sowie eingeschränkter Zugang zu Wasser, Sanitäranlagen und anderen Betriebsmitteln und eine ungeeignete Transportinfrastruktur. Wo Bildung verfügbar ist, sind die Standards niedrig.

Dennoch gibt es Grund für Optimismus. Laut Aleksandr Khloponin [Bevollmächtigter Vertreter des Präsidenten im Föderationskreis Nordkaukasus] dauerte es mehr als zehn Jahre, um die Sicherheitslage in Tschetschenien zu verbessern, die Infrastruktur und Wohnraum wieder aufzubauen, vermisste Personen zu suchen, ethnische Gruppen zusammenzubringen und vieles anderes. Um diese Bemühungen weiterführen zu können, wurde 2010 eine "Strategie für die sozioökonomische Entwicklung des Föderationskreises Nordkaukasus bis 2025" beschlossen. Diese sieht für die kommenden Jahre größere Investitionen in den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung, Baumaterialien, Tourismus, Industrieanlagen und Logistik vor. Jedoch wird es noch mehr Zeit brauchen, um die Situation für jedermann zu verbessern. Die Arbeitslosigkeit anzupacken ist sowohl für die föderale als auch die regionale Regierung die erste Priorität. In Tschetschenien ist die Arbeitslosigkeit von 45% 2010 auf 30% im August 2011 gesunken.

(Council of Europe - Parliamentary Assembly: The situation of IDPs and returnees in the North Caucasus region, 5.3.2012)

Im Zusammenhang mit der Versorgungslage muss einmal mehr auf die hohe Korruption in der tschetschenischen Gesellschaft hingewiesen werden.

(Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg)

3.1. Wohnsituation

Laut Beurteilung des tschetschenischen Eigentumsministeriums sowie des Wohnungsministeriums ist das Privateigentum anderer für Tschetschenen unantastbar. Aus diesem Grunde werden Häuser von Tschetschenen, die ausgereist sind, nicht von anderen Personen oder vom Staat in Besitz genommen. Es wurde in den diesbezüglichen Stellungnahmen sogar soweit ausgeholt, dass Häuser so lange leer stehen würden, bis der Besitzer zurückkäme.

(Bericht der Staatendokumentation zum Forschungsaufenthalt, Russische Föderation - Republik Tschetschenien, Dezember 2011, Seite 23-24)

Wohnraum bleibt ein großes Problem. Nach Schätzungen der VN wurden in den Tschetschenienkriegen seit Anfang der neunziger Jahre über 150.000 private Häuser sowie ca. 73.000 Wohnungen zerstört. Die Auszahlung von Kompensationsleistungen für kriegszerstörtes Eigentum ist noch nicht abgeschlossen. Problematisch ist auch in diesem Zusammenhang die Korruption (man geht davon aus, dass 30-50% gewährter Kompensationssummen gleich wieder als Schmiergelder gezahlt werden müssen).

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 16)

Die auf dem Land lebenden Tschetschenen leben nicht schlecht. Sie nutzen das fruchtbare Land zum Gartenanbau und halten sich ein bis zwei Nutztiere. Die Großfamilien wohnen in "Mehrgenerationenhäusern", d.h. auf einem Areal hinter hohen Mauern mit mehreren Häusern und Anbauten. Innerhalb der Großfamilie stehen alle füreinander ein. Der enge Zusammenhalt gewährleistet die Versorgung mit Nahrungsmittel.

Nächstgrößere Familienstrukturen sind die "Tejps" (Clans). Einer der bekanntesten ist der Benoi-Tejp, dem auch Ramsam Kadyrow angehört.

(Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg)

3.2. Nahrungsversorgung

Hinsichtlich der Verfügbarkeit und der Kosten von Grundnahrungsmitteln ist auf die Mentalität des tschetschenischen Volkes zu verweisen, diese hat es laut Einschätzung des tschetschenischen Landwirtschaftsministeriums ermöglicht, dass die Menschen selbst während der beiden Kriege genug zu essen hatten. Laut Beurteilung des Landwirtschaftsministeriums gibt es aufgrund der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung der tschetschenischen Bevölkerung auch heutzutage keine Familie in Tschetschenien, die sich nicht die Lebensmittel kaufen kann, welche sie benötigt.

(Bericht zum Forschungsaufenthalt der Staatendokumentation, Russische Föderation - Republik Tschetschenien, Dezember 2011, Seite

23)

Das Notfall- und Rehabilitationsprogramm im Nordkaukasus soll für die Ernährungssicherheit und Ernährung durch "Empowerment" gefährdeter Bevölkerungsgruppen sorgen. Diese Ziele sollen dadurch erreicht werden, indem man die landwirtschaftliche und die auf Viehzucht basierende Produktion wieder aufnimmt und gleichzeitig verstärkt neue Kenntnisse über Ernährung und Klein-Farmbetriebe anwendet.

Die FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation) nahm am Inter-Agency-Transitional-Arbeitsplan für den Nordkaukasus 2007 teil, der die Durchführung von Aktivitäten zur Verbesserung der Ernährungssicherheit und Stärkung ländlicher Existenzmöglichkeiten in der Region beabsichtigt. Insbesondere gehören zu den wichtigsten Zielen der FAO im Bereich der Wiederaufnahme der landwirtschaftlichen Produktion die Wiedereingliederung von sozial benachteiligten Gruppen, die Bereitstellung von landwirtschaftlichen Betriebsmitteln für Einkommen schaffende Maßnahmen, der Wiederaufbau der wichtigen landwirtschaftlichen Infrastruktur, die Gewährung von Dienstleistungen sowie die Stärkung der institutionellen Kapazitäten in der Landwirtschaft.

(Homepage der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation), Zugriff am 11. Jänner 2011,

http://www.fao.org/countries/55528/en/rus/ )

3.3. Arbeitslosigkeit und soziale Lage

Wichtigstes soziales Problem ist die Arbeitslosigkeit und große Armut weiter Teile der Bevölkerung. Nach Schätzungen der UN waren 2008 ca. 80% der tschetschenischen Bevölkerung arbeitslos und verfügen über Einkünfte unterhalb der Armutsgrenze (in Höhe von 2,25 USD/Tag). Der Durchschnittsgehalt lag in Tschetschenien laut Bundesstatistikdienst Ende 2011 bei RUB 13.919 RUB und somit über jenem der nordkaukasischen Nachbarrepubliken. Die durchschnittlichen monatlichen Lebenshaltungskosten in Grosny betragen laut statistischen Angaben der Russischen Föderation vom Dezember 2011 pro Person ca. 6.559 RUB (ca. 158 EUR).

Haupteinkommensquelle ist der Handel. Andere legale Einkommensmöglichkeiten gibt es kaum, weil die Industrie überwiegend zerstört ist. Minen verhindern die Entwicklung landwirtschaftlicher Aktivitäten. Geld wird mit illegalem Verkauf von Erdöl und Benzin verdient; zahlreiche Familien leben von Geldern, die ein Ernährer aus dem Ausland schickt.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 16, IOM: Länderinformationsblatt Russische Föderation, Juni 2012, BAMF: IOM Individualanfrage ZC7, 18.01.2012)

Die offizielle Arbeitslosenrate ist in den letzten Jahren gesunken, ist aber nach wie vor ein großes Problem. Die inoffizielle Arbeitslosenrate wird weit höher geschätzt, ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung dürfte aber im informellen Sektor Einkommen schöpfen, bzw. aus landwirtschaftlichem Eigenanbau konsumieren. Unterstützung aus der Familie hat in der Republik große Tradition. Wenngleich Korruption auch im Bereich der Sozialbeihilfen bestehen dürfte, so sind in der Tschetschenischen Republik grundsätzlich dieselben föderalen sozialen Unterstützungen wie in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. Zudem gibt es Sozialbeihilfen auf Ebene der Republik, wie beispielsweise finanzielle Unterstützung zur Gründung eines Kleinunternehmens oder Finanzhilfen für Behinderte.

Putin rief dazu auf, die Wirtschaft der Nordkaukasus-Region anzukurbeln. Um den Rückstand gegenüber anderen Regionen aufzuholen, brauche der Nordkaukasus laut Aussagen Putins rund zehn Prozent Wirtschaftswachstum jährlich und sei die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit äußerst wichtig. Innerhalb von zehn Jahren sollen laut Putin mindestens 400.000 neue Arbeitsplätze im Nordkaukasus entstehen. Beim Wiederaufbau gibt es bereits Erfolge zu verzeichnen. In den vergangenen zwei Jahren sind in Tschetschenien beispielsweise 53 Schulen und 35 medizinische Einrichtungen in Betrieb genommen worden, deren Bau der Staat finanziert hat.

Im Rahmen eines seit 2008 laufenden Programms werden Personen unterstützt, die sich selbst einen Arbeitsplatz schaffen:

Arbeitslose, die einen kleinen Betrieb eröffnen, werden mit einer einmaligen Zahlung von 58.000 Rubel gefördert. Stellt man Arbeiter ein, erhält man für jeden Angestellten wiederum 58.000 Rubel. Insgesamt wurde das Programm bislang von 5.481 Personen in Anspruch genommen, 3.498 davon kamen aus dem ländlichen Raum. Zudem gibt es ein Programm zur Weiterbildung oder Umschulung - das "Programm für zusätzliche Maßnahmen für die Entwicklung von Arbeitsstellen". Hier werden für Personen, die sich weiterbilden wollen, Stipendien in der Höhe von 850 Rubel pro Monat vergeben. Diese Maßnahmen sollen zusätzlich die Arbeitslosenrate senken, um die soziale und wirtschaftliche Stabilität der Bevölkerung zu fördern. Zur Unterstützung von Arbeitslosen wurde in Stawropol ein Ressourcen-Zentrum errichtet, wo verfügbare Arbeitsstellen bestimmt und die Daten der Arbeitslosen im Nordkaukasus gesammelt werden. Die Bewohner des Nordkaukasus können sich dort melden und um Arbeitsplätze in anderen Regionen der Russischen Föderation ansuchen.

Für Alte und Invalide gibt es auch Unterstützung in Form von Lebensmittelhilfe. In jeder Region der Republik gibt es mittlerweile lokale Zentren, die sich mit diesen Fragen vor Ort beschäftigen. Diese Stellen suchen auch selbst bedürftige Personen, die sich nicht von selbst bei ihnen melden. Hierbei handelt es sich vor allem um alte und invalide Menschen. Diese Zentren machen auch ein Monitoring, wer was in welchem Umfang benötigt. Gemäß der Notwenigkeit werden dann finanzielle Hilfe, ärztliche Versorgung und materielle Unterstützung zur Verfügung gestellt. Zudem gibt es stationäre Einrichtungen für Personen, die in vollem Umfang versorgt und gepflegt werden müssen (z. B. Altenheime).

(Informationszentrum Asyl & Migration: Russische Föderation, Länderinformation und Pressespiegel zur Menschenrechtslage und politischen Entwicklung, Lage im Nordkaukasus vom September 2010, Seite 4, Bericht der Staatendokumentation zum Forschungsaufenthalt, Russische Föderation - Republik Tschetschenien, Dezember 2011, Seite 5, 6, 37, 38)

3.4. Medizinische Versorgungssituation

Medizinische Grundversorgung ist in Tschetschenien flächendeckend gewährleistet. Spezialisierte Kliniken sind nur in der Hauptstadt Grosny verfügbar, was aber in Anbetracht der Größe der Republik (ungefähr der Steiermark) zu verstehen ist. Grundsätzlich ist medizinische Versorgung kostenlos, auf die allseits verbreitete Korruption muss aber auch hier hingewiesen werden. Für Behandlungen, die in Tschetschenien nicht verfügbar sind, besteht die Möglichkeit, zur Behandlung nach Stawropol (Distanz zu Grosny ca. 450 km), nach Moskau oder in andere russische Städte zu reisen.

(BAA Staatendokumentation: Bericht zum Forschungsaufenthalt Russland 2011, Dezember 2011)

Zur aktuellen Lage der medizinischen Versorgung liegen unterschiedliche Einschätzungen vor. Nach Angaben des IKRK soll die Situation der Krankenhäuser für die medizinische Grundversorgung inzwischen das durchschnittliche Niveau in der Russischen Föderation erreicht haben. Problematisch bleibt jedoch auch laut IKRK die Personallage im Gesundheitswesen, da viele Ärzte und medizinische Fachkräfte Tschetschenien während der beiden Kriege verlassen haben.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 16)

Es gibt derzeit nach Auskunft des Gesundheitsministers insgesamt rund 368 medizinische Einrichtungen, wie (Rajon- und Republiks‑)Krankenhäuser und Polykliniken. Die Polykliniken sind Ambulanzen, in denen (Vorsorge‑)Untersuchungen und ambulante Behandlungen durchgeführt werden. Der Auskunft des Gesundheitsministeriums zufolge gibt es in jeder Siedlung der Republik medizinische Einrichtungen. Es gibt drei Krankenhäuser für psychisch Kranke sowie weitere Krankenhäuser, die sich mit Personen, welche an der Schwelle zu psychischen Krankheiten stehen, beschäftigen. Es gibt unter anderem 22 Rajons- und 32 Republikseinrichtungen für medizinische Behandlung und Prophylaxe in der Republik sowie in Grosny allein weitere 26 medizinische Einrichtungen

(Bericht zum Forschungsaufenthalt der Staatendokumentation, Russische Föderation - Republik Tschetschenien, Dezember 2011, Seite

48)

Diverse Erkrankungen wie Hepatitis C, Coronare Herzkrankheiten, Posttraumatische Belastungsstörungen und sogar DES-Stent-Implantationen etc. können laut Anfragebeantwortung der Staatendokumentation in der Russischen Föderation (und in der Tschetschenischen Republik) behandelt und nachversorgt werden. In Tschetschenien ist die Versorgung mit medizinischen Spezialisten noch immer unzureichend und komplizierte Fälle werden für die Behandlung und Nachsorge von ihren örtlichen Kliniken in die nächsten Städte (Krasnodar, Rostov-on-Don, Machatschkala) überwiesen.

(Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Russische Föderation vom 10.08.2010, Seite 2)

Es gibt außerdem eine Vereinbarung mit China zur Behandlung von Kindern mit Geburtsfehlern und wurden in diesem Rahmen bereits einige Behandlungen durchgeführt.

(Bericht zum Forschungsaufenthalt der Staatendokumentation, Russische Föderation - Republik Tschetschenien, Dezember 2011, Seite

46)

Das Föderale Gesetz Nr. 326 über die medizinische Pflichtversicherung in der RF legt fest, dass jeder russische Staatsbürger eine kostenlose medizinische Grundversorgung in Anspruch nehmen kann. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung auf dem Gebiet der RF, unabhängig von der Meldeadresse, gewährleistet ist.

Allerdings gibt es Einschränkungen bei der freien Wahl der Klinik und des Arztes. Ein Wechsel der Klinik, bei der man sich als Patient angemeldet hat, ist nur einmal im Jahr möglich, ebenso ein Wechsel des Arztes. Außerdem kann ein Arzt einen Patienten wegen Überlastung ablehnen.

(IOM Länderinformationsblatt Russische Föderation Juni 2011; Antwort der ÖB in Moskau vom 13.04.2012)

3.4.1. Psychologische Bertreuung in Tschetschenien

Der Nichtregierungsorganisation Vesta zufolge können psychische Erkrankungen beispielsweise in dem Republiksambulatorium für Neuropsychologie (Grosny), in dem Republikskrankenhaus "Samaschkin" (Zakan-Jurt im Bezirk Atschchoi-Martan) und im Darbachin-Republikskrankenhaus (Braguny im Bezirk Gudermes) behandelt werden. Auch Internationale und Nichtregierungsorganisationen sind im Bereich der psychiatrischen Versorgung tätig.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, medizinische Versorgung vom 30.11.2009, Seite 9)

UNICEF entwickelte in Tschetschenien ein neues Programm, um Posttraumatische Belastungsstörung bei Kindern und ihren Familien zu behandeln. In einer ersten Phase wurden 14 psychosoziale Rehabilitierungszentren in sieben tschetschenischen Bezirken eröffnet. UNICEF arbeitete mit lokalen Behörden und NRO zusammen, um passende Räumlichkeiten zu finden, Psychologen und andere Mitarbeiter auszubilden, und Studien über die Auswirkungen des Konfliktes auf Kinder durchzuführen. 50 lokale Kinderfachkräfte wurden mit Hilfe von Psychotherapeuten aus Israel und St. Petersburg ausgebildet. Zur Koordinierung des Programms wurde ein psychosoziales Führungskomitee mit den tschetschenischen Behörden eingerichtet. Der Psychosoziale Aktionsplan 2008-2012 soll ein Schlüsselinstrument zur Linderung der Konfliktauswirkungen auf Kinder werden.

(UNICEF: Russian Federation - Projects in the North Caucasus - Psycho-social recovery, ohne Datum, http://eng.unicef.ru/program_unicef/north_caucasus/recovery/ , Zugriff 1.6.2011)

Mit Stand März 2008 wurden 19 solcher von UNICEF unterstützten psychosozialen Zentren in Tschetschenien betrieben, im Jänner 2009 waren es bereits 29. Für 2009 war die Errichtung 17 weiterer Zentren geplant. In den Zentren wurden neben Psychologen auch jugendliche Freiwillige sowie Praktikanten von den tschetschenischen Universitäten beschäftigt.

(UNICEF: Russian Federation - Newsline - Help for children psychologically affected by war in Chechnya, 04.03.2008, http://www.unicef.org/infobycountry/russia_43075.html , Zugriff 1.6.2011 / UNICEF New Zealand: UNICEF will open 17 new psychosocial recovery centres in Chechnya, 11.02.2009 http://www.unicef.org.nz/article/680/UNICEFwillopen

17newpsychosocialrecoverycentresinChechnya.html, Zugriff 1.6.2011)

Eine Posttraumatische Belastungsstörung ist in Tschetschenien ambulant und stationär durch Psychiater behandelbar.

(SOS International (via MedCOI): BMA 4433, 31.10.2012)

3.5. Rückkehrer

3.5.1. Derzeitige Situation von Rückkehrern

Eine Rückkehr von Tschetschenen in die Russische Föderation ist möglich, die meisten tschetschenischen Rückkehrer aus dem Ausland kehren in die Tschetschenische Republik zurück. Da in der Russischen Föderation Bewegungsfreiheit gilt, können sich aber ethnische Tschetschenen auch in jedem anderen Teil Russlands niederlassen.

Laut einem Vertreter der Internetzeitschrift "Kaukasischer Knoten" können Rückkehrer nach Tschetschenien mit verschiedenen Problemen konfrontiert sein. Einerseits stehen Rückkehrer, ebenso wie die restliche Bevölkerung vor den alltäglichen Problemen der Region. Dies betrifft in erster Linie die hohe Arbeitslosigkeit, die Wohnungsfrage und die Beschaffung von Dokumenten sowie die Registrierung. Viele Häuser wurden für den Neubau von Grosny abgerissen und der Kauf einer Wohnung ist für viele (auch im Fall von Kompensationszahlungen) unerschwinglich, die Arbeitslosigkeit ist um einiges höher als in den offiziellen Statistiken angegeben und bei der Beschaffung von Dokumenten werden oft Schmiergeldzahlungen erwartet. Darüber hinaus stellen Rückkehrer eine besonders verwundbare Gruppe dar, da sie ein leichtes Opfer im Antiterrorkampf darstellen. Um die Statistiken zur Verbrechensbekämpfung aufzubessern, werden zum Teil Strafverfahren fabriziert und ehemaligen Flüchtlingen angelastet. Andererseits können Rückkehrer auch ins Visier staatlicher Behörden kommen, weil vermutet wird, dass sie tatsächlich einen Grund zur Flucht aus Tschetschenien hatten, d.h. Widerstandskämpfer waren oder welche kennen. Manchmal werden Rückkehrer gezwungen, für staatliche Behörden zu spionieren. Eine allgemein gültige Aussage über die Gefährdung von Personen nach ihrer Rückkehr nach Tschetschenien kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall und von der individuellen Situation des Rückkehrers abhängt.

(ÖB Moskau: Asylländerbericht Russische Föderation, Stand September 2012)

Dem Auswärtigen Amt sind keine Fälle bekannt, in denen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten. Ebenso liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor, ob Russen mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt sind. Solange die Konflikte im Nordkaukasus, einschließlich der Lage in Tschetschenien, nicht endgültig gelöst sind, ist davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren. Dies gilt insbesondere für solche Personen, die sich gegen die gegenwärtigen Machthaber engagiert haben bzw. denen ein solches Engagement unterstellt wird, oder die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren.

Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Jedoch wird der legale Zuzug an vielen Orten durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert.

Kaukasier haben jedoch größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 24)

Von einer NGO in Tschetschenien, die freiwillige Rückkehrer betreut, wurde mitgeteilt, dass freiwillige Rückkehrer bei Behördenkontakten in der Regel nicht mit besonderen Problemen konfrontiert seien. Es sei weder ein besonders Prozedere für Rückkehrer noch Befragungen vorgesehen. Rückkehrer müssten auch bei der Neuausstellung von Dokumenten keine besonderen Fragen beantworten, viele seien ohnehin noch im Besitz ihres russischen Inlandspasses. Sogar wenn ein Heimreisezertifikat vorgelegt werde, würde dies nicht zu Problemen führen, da den Behörden die Situation in diesem Fall ohnehin klar wäre. Nichtsdestotrotz wurde mitgeteilt, dass es Einzelfälle gab, wo freiwillige Rückkehrer mit Heimreisezertifikaten bei Ankunft am Flughafen Moskau für einige Stunden angehalten wurden. Es sei ein Fall bekannt, wo ein freiwilliger Rückkehrer angeblich als ehemaliger Widerstandskämpfer "mitgenommen worden sei".

Zur Wohnungssituation wurde mitgeteilt, dass Rückkehrer in der Regel bei Verwandten unterkommen.

(ÖB Moskau (9.2013): Asylländerbericht Russische Föderation).

Seit 01.07.2010 implementiert IOM das Projekt "Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration von Rückkehrenden in die Russische Föderation / Republik Tschetschenien", das vom Österreichischen Bundesministerium für Inneres und dem Europäischen Rückkehrfonds kofinanziert wird. Im Rahmen des Projekts werden Russische Staatsangehörige aus der Republik Tschetschenien, die freiwillig in ihre Heimat zurückkehren möchten, nicht nur bei der Rückkehr, sondern auch bei ihrer Reintegration im Herkunftsland unterstützt.

Die Projektteilnehmer/innen erhalten nach ihrer Rückkehr Unterstützung von der lokalen Partnerorganisation (NGO Vesta), die soziale, rechtliche und wirtschaftliche Beratung zur Verfügung stellt und sie bei der Auswahl ihrer individuellen Reintegrationsmaßnahmen (z.B. Weiterbildungskurse, Geschäftsgründung, Erwerb von Werkzeug oder Materialien, etc.) unterstützt. Die Reintegrationsmaßnahmen erfolgen in Form von Sachleistungen im Wert von bis zu max. EUR 2.000 (pro Haushalt kann nur eine Person teilnehmen); im Fall von Kleingeschäftsgründungen, die eine Registrierung erfordern, ist eine zusätzliche Unterstützung von bis zu EUR 1.000 in Form von Sachleistungen möglich. Zusätzlich werden die Rückkehrer/innen bei der Deckung der Lebenserhaltungskosten während der ersten sechs Monate nach der Rückkehr mit EUR 500,- pro Fall unterstützt.

Die Reintegrationsunterstützung kann z.B. für die folgenden Maßnahmen genutzt werden:

• Berufsausbildung: z.B. Computer- oder Sprachkurse, Buchhaltung, Reparatur von Haushaltsgeräten, Reparatur von Mobiltelefonen, Mechaniker/in, Holzarbeiter/in, Friseurbetrieb, Nagelpflege, Näharbeit, etc.

• Ankauf von für die Ausübung eines Berufes benötigtem Werkzeug und geeigneter Ausrüstung

• Unterstützung bei der Gründung eines Kleinunternehmens (z.B. in der Landwirtschaft, Milchwirtschaft, Ackerbau, Viehhaltung, Schweißer/in, Schneider/in, Zimmerer/in, kleine Geschäfte, Schönheitssalons, Werkstätten, Internet-Cafes, etc.). Die Unterstützung in Form von Sachleistungen wird unter anderem für den Ankauf von Ausrüstungsgegenständen, die für die Aufnahme des Betriebs nötig sind, sowie bei Bedarf für Geschäftsplanungs- und -managementstrainings verwendet.

• Organisation von Kinderbetreuung und medizinischer Versorgung für RückkehrerInnen mit besonderen Bedürfnissen.

(IOM - International Organisation of Migration (o.D.): Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration von Rückkehrenden in die Russische Föderation / Republik Tschetschenien. Laufzeit: 01.07.2010 bis 30.06.2014,

http://www.iomvienna.at/de/?option=com_content&view=article&id=545:unterstuetzung-der-freiwilligen-rueckkehr-und-reintegration-von-rueckkehrenden-in-die-russische-foederation-republik-tschetschenien&catid=92:unterstuetzte-freiwillige-rueckkehr-aus-oesterreich&Itemid=143&lang=de ; Zugriff 12.12.2013)

Mit Unterstützung von IOM sind in den letzten Jahren zahlreiche Personen (2010 waren es 606, 2011 waren es 528 und 2012 waren es insgesamt 525) von Österreich in die Russische Föderation zurückgekehrt. 2012 sind 381 Personen nach Grosny mit Hilfe von IOM zurückgekehrt. Der endgültige Rückkehrort ist IOM allerdings nicht immer bekannt.

(Beantwortung einer Anfrage des AsylGH an IOM Wien vom 20.03.2013)

Dem BMI-Verbindungsbeamten der ÖB Moskau liegt eine - nicht offizielle - Information vor, wonach Rücküberstellte von Charterflügen und in Einzelfällen solche von Linienmaschinen von Beamten des Föderalen Migrationsdienstes einen Fragebogen erhalten. Das Ausfüllen des Fragebogens beruht auf Freiwilligkeit. U.a. wird darin die Frage gestellt, wo man in der RF wohnhaft ist, aber auch, warum man in das Land, aus welchem man ausgewiesen wurde, überhaupt eingereist ist, warum man nicht mehr im Besitz seiner eigentlichen Reisedokumente ist, bzw. auch, ob man im Land, aus dem man ausgewiesen wurde, "ordentlich" behandelt worden ist.

Nach Auskunft des Vertrauensanwalts kann, wenn ein Haftbefehlt aufrecht ist, eine Person in Untersuchungshaft genommen werden. U-Haft kann vor allem dann verhängt werden, wenn Fluchtgefahr besteht. U-Haft wird zunächst für zwei Monate verhängt und kann dann um jeweils zwei Monate verlängert werden. Während der Untersuchungshaft gibt es auch Haftprüfungstermine, wo u.a. auch geprüft wird, ob noch Fluchtgefahr besteht.

(ÖB Moskau, Anfragebeantwortung zu Rückkehr nach Russland, Tschetschenien vom 15.01.2013

3.5.2. Frauen als Rückkehrer

Frauen, die nach Tschetschenien zurückkehren, können mit sozialen Beihilfen im Rahmen der Gesetzgebung der Russischen Föderation rechnen. Sozialhilfe und staatliche Zuwendungen stellen neben offiziellen Arbeitslöhnen und Einkommen aus semi-formellen, privaten oder unregelmäßigen Beschäftigungsformen eine wichtige Einkommensquelle für tschetschenische Haushalte dar. Dies gilt insbesondere für die sozial schwächsten sozialen Gruppen, zu denen unter anderem Familien ohne Männer gehören. Neben der auf föderaler Ebene geregelten Sozialversicherung (Renten, Krankenversicherung, Mutterschutz, Arbeitslosigkeit) bestehen auch regional implementierte, beitragsfreie Sozialhilfeprogramme, beispielsweise Kinderbeihilfe, Wohnbeihilfe oder Beihilfen für Invalide. Im Rahmen dieser beitragsfreien regionalen Programme besteht auch eines für Familienmitglieder von Kriegsveteranen und verstorbenen Soldaten.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 19)

3.5.3. Unbegleitete Minderjährige als Rückkehrer

Zurückkehrende unbegleitete Minderjährige können in einem Kinderheim unter-gebracht werden, wenn sich keine Verwandten zur Aufnahme bereit erklären. Die Zuständigkeit liegt bei den Behörden des registrierten Wohnortes des Minderjährigen. Wie der damalige Präsident Medwedew im Herbst 2010 selbst einräumte, sind die Zustände in solchen Heimen nicht selten schlecht.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 24)

3.5.4 Flüchtlinge/Binnenvertriebene innerhalb und außerhalb Tschetscheniens

Schwierig bleibt die humanitäre Lage der tschetschenischen Flüchtlinge/ Binnenvertriebenen innerhalb und außerhalb Tschetscheniens, wiewohl ihre Zahl rückläufig ist. Laut Dänischem Flüchtlingsrat (DRC) leben allein in Tschetschenien und Inguschetien derzeit noch bis zu 5.000 Flüchtlinge in akuter Not. Die Binnenvertriebenen leben in Übergangsunterkünften, aber auch in Privatwohnungen oder bei Verwandten. Auf Drängen der russischen Seite hat UNHCR seine Mission zur Unterstützung von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen im Nordkaukasus 2011 beendet, sieht jedoch weiterhin erheblichen Handlungsbedarf auch in Tschetschenien. Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten ist in den letzten Jahren stark angewachsen (200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben).

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 16)

4. Frauen und Kinder

4.1. Allgemeine Stellung der Frauen

Gemäß Art. 19 Abs. 3 der Verfassung haben "Mann und Frau die gleichen Rechte und Freiheiten und die gleichen Möglichkeiten zu deren Realisierung". Die Anzahl von Frauen in Führungspositionen entspricht ungefähr dem europäischen Durchschnitt.

Ein großes Problem ist häusliche Gewalt.

Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass jährlich etwa 14.000 Frauen von ihren Partnern oder einem Angehörigen getötet werden. Als Hauptursachen hierfür gelten Alkoholismus, ein traditionell geprägtes Rollenverständnis und beengte Wohnverhältnisse. Die Polizei bleibt oft passiv und geht z.B. Anzeigen nicht mit genügendem Nachdruck oder zuw eilen offenbar auch gar nicht nach.

Schutzmöglichkeiten für Frauen gibt es in Russland kaum: Nach Angaben des Ministeriums für Gesundheit und Soziales gibt es landesweit nur 23 staatliche Frauenhäuser.

Beim Menschenhandel gehören russische Frauen zu den Hauptopfergruppen. Durch internationale Zusammenarbeit wird versucht, die Rotlicht-Kriminalität wirksam zu bekämpfen. Trotz der Verankerung des Straftatbestandes Menschenhandel im russischen Strafgesetzbuch bleiben die Strafverfolgungszahlen niedrig. Russland gilt zugleich als Ursprungs-, Transit- und Empfangsland im Menschenhandel.

(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand Juni 2012, 6.7.2012)

Frauen haben Schwierigkeiten, an politische Macht zu gelangen. Frauen haben 13% der Sitze in der Duma inne und weniger als 5% im Föderationsrat. Nur drei von 26 Kabinettsmitgliedern sind Frauen. Häusliche Gewalt ist weiterhin ein ernsthaftes Problem, die Polizei ist bei der Intervention in innerfamiliäre Angelegenheiten oft nachlässig.

(Freedom House: Freedom in the World 2013 - Russia, Jänner 2013)

Kriegsbedingt kam es in den letzten beiden Jahrzehnten zu Änderungen der Rolle der Frau in Tschetschenien. Viele Frauen fanden sich, nachdem sich ihre Männer in den Krieg begeben hatten, plötzlich in der Rolle der alleinigen Familienernährer(innen) wieder. Die Übernahme ehemals typisch männlicher Aufgaben stärkte die Rolle der Frauen in der tschetschenischen Gesellschaft, in diesem Zusammenhang wirkte auch das sowjetische Frauenbild, das von großer Gleichheit von Mann und Frau ausgeht, weiter. Dieses Phänomen wollen einige Teile der Gesellschaft, etwa Politiker und religiöse Autoritäten, nunmehr wieder rückgängig machen.

Im Zuge der letzten beiden Kriege kam es zum Verfall einiger Traditionen, andere gingen gänzlich verloren, oder werden nun in geänderter Form ausgeübt. Zu beobachten ist jedenfalls, dass es derzeit zu einem Wiederaufleben von Traditionen kommt, was unter anderem auf den Influx der ländlichen und eher traditionsbewussten Bevölkerung in der Hauptstadt Grosny zurückzuführen ist. Haupttriebkraft dieses Wiederauflebens ist jedoch die von Ramzan Kadyrow aktiv geförderte Rückbesinnung auf islamische und tschetschenische Traditionen, die zu einer moralischen Stärkung der Gesellschaft führen und einem Sittenverfall entgegenwirken soll. Inhaltlich nähert sich Kadyrow in seinem Frauenbild aber immer mehr den sog. Wahabiten als dem traditionellen tschetschenischen Islam("Macho-Islam"Uwe Halbach) Für Frauen äußert sich die Rückbesinnung auf tschetschenische/islamische Traditionen darin, dass die meisten von ihnen in der Öffentlichkeit nunmehr eine Kopfbedeckung tragen, obgleich hierzu keine (gesetzliche) Verpflichtung besteht. Zum Teil werden heute Kleidungsvorschriften propagiert, die es seit Jahrzehnten in Tschetschenien nicht mehr gegeben hat. Es wird auch von Paintball-Überfällen auf "westlich" gekleidete Frauen berichtet. Von einem gesellschaftlichen Druck sich an solche Kleiderordnungen zu halten kann ausgegangen werden. Des Weiteren wird Polygamie in den letzten Jahren verstärkt ausgeübt, diese wird in der Gesellschaft als "normal" betrachtet. Auch Ehrenmorde kommen verstärkt vor, wobei es sich hier eher um Einzelfälle handelt. Wie Beispiele zeigen ist vielfach unklar, wann es sich bei einem Mord an einer Frau tatsächlich um einen Ehrenmord handelt. Problematisch ist, dass aus Traditionsgründen oder durch Sicherheitskräfte begangene Verbrechen oft nicht angezeigt oder verfolgt werden.

Dies trifft auch auf die Tradition des (ehemals eher als Rollenspiel zu betrachtenden) Brautraubes zu, der heutzutage, durch Mitglieder der Kadyrowzy ausgeübt, gelegentlich zu tatsächlichen Entführungen und Zwangsheiraten führen kann. Aber auch Vergewaltigungen und Tötungen junger Frauen durch Kadyrowzy kommen vor. Häusliche und sexuelle Gewalt sind weiterhin Tabuthemen in der tschetschenischen Gesellschaft und werden gemeinhin gemäß den Traditionen gelöst, können jedoch bei den Behörden angezeigt werden. Ob Behören dabei Hilfe gewähren, ist jedoch mehr als fraglich. Bei Scheidungen bzw. im Falle des Todes eines Mannes "gehören" seine Kinder den Bräuchen folgend ihm bzw. seiner Familie. Auch hier besteht in der Praxis die Möglichkeit für Frauen, sich an Gerichte zu wenden, die im Normalfall zu Gunsten der Frau entscheiden dürften.

Die in Tschetschenien derzeit bewusst betriebene Wiederbelebung der Traditionen führt jedenfalls zu gewissen Ambivalenzen. So stellt etwa die stattfindende Einmischung politischer, behördlicher oder religiöser Autoritäten in Bereiche wie Kleiderordnung eine Verlagerung von Angelegenheiten vom privaten in den öffentlichen Bereich dar, was einen Widerspruch zur tschetschenischen Gewohnheit bedeutet: Das Aufzwingen von Verhaltensnormen durch Außenstehende ist nach Auffassung vieler TschetschenInnen gegen ihre Kultur, da dies eine nicht übliche Einmischung in Familien- bzw. Klanangelegenheiten darstellt. Die lokalen tschetschenischen Traditionen und der "korrekte" islamische Lebensstil scheinen in der von Kadyrow geforderten Form einem freien und liberalen Lebensstil für Frauen entgegenzustehen. Es kann zwar nicht davon ausgegangen werden, dass jede Tschetschenin gezwungen ist, sich zu verschleiern, dass Tschetscheninnen im Scheidungsfall prinzipiell die Kinder entzogen werden oder dass säkulare Frauen gemeinhin aus Gründen der "Ehre" ermordet werden. Ebenso wenig kann jedoch davon ausgegangen werden, dass alle Frauen im heutigen Tschetschenien frei und selbstbestimmt leben können. Die Rechte und Freiheiten der Tschetscheninnen werden derzeit immer mehr eingeschränkt. Der auf Frauen ausgeübte Druck, sich "angemessen" zu verhalten, wird größer und stärker. Ob und inwieweit eine tschetschenische Frau Rechtsschutzmöglichkeiten in Anspruch nimmt, hängt, ebenso wie etwa Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, Kleidung, oder Vorgehen bei "unehrenhaftem Verhalten", stark von ihrer individuellen Situation ab: von ihrer Erziehung, ihren sozialen Netzwerken, vor allem also von ihrer Familie bzw. jener ihres Ehemannes, von deren Modernität, Traditionalität und Religiosität. Swetlana Gannuschkina (MEMORIAL) betont, dass Frauen ohne Mann derzeit in Tschetschenien nicht leben könnten. Die Revitalisierung der Traditionen wird nur von Teilen der Bevölkerung gutgeheißen, viele Tschetschenen - nicht nur Frauen, sondern auch Männer - stehen ihr durchaus kritisch gegenüber. Andererseits ist es für Frauen, die im westlichen Ausland gelebt haben und die dortigen Sitten übernommen haben, sehr schwer sich wieder in Tschetschenien zu Recht zu finden.

Jedenfalls werden durch die Rückbesinnung auf "Tschetschenische Traditionen" die Unterschiede zwischen den Geschlechtern vergrößert und die Vulnerabilität von Frauen und Mädchen gegenüber häuslicher und sexueller Gewalt erhöht.

(COI Workshop "Frauen in Tschetschenien" am 17.02.2012; Amnesty International, Annual Report 2012)

Es gab 2011 keine weiteren Berichte über Angriffe auf Mädchen und Frauen, die keine Kopftücher tragen wollten. Jedoch können jene, die dies verweigern, nicht im öffentlichen Dienst arbeiten oder Schulen und Universitäten besuchen.

(Human Rights Watch: World Report 2012, 22.01.2012)

In Tschetschenien hat der Druck auf Frauen erheblich zugenommen, sich gemäß den vom dortigen Regime als islamisch propagierten Sitten zu verhalten und zu kleiden. Russische Menschenrechtsorganisationen sprechen von systematischen Diskriminierungen, die nicht zuletzt im Widerspruch zur russischen Verfassung und anderen geltenden Gesetzen stehen.

(Auswärtiges Amt (10.6.2013): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Seite 13)

Auf Frauen wird Druck ausgeübt, Kopftücher im öffentlichen Raum zu tragen. In den meisten öffentlichen Gebäuden müssen Frauen Kopftücher tragen.

Ramsan Kadyrow hat sich öffentlich für Ehrenmorde ausgesprochen. In einigen Teilen des Nordkaukasus sind Frauen mit Brautentführung, Polygamie und erzwungenem Beachten islamischer Kleidungsvorschriften konfrontiert.

(Human Rights Watch (31.1.2013): Human Rights Watch: World Report 2013 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/237036/359908_de.html ; Zugriff 24.10.2013, U.S. Department of State (19.4.2013): Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/245202/368649_de.html ; Zugriff 24.10.2013)

Das Gesetz verbietet Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, jedoch setzte die Regierung dieses Verbot nicht durchgängig um. Während medizinische Angestellte Opfer von Übergriffen unterstützten und gelegentlich halfen, Fälle von Körperverletzung oder Vergewaltigung zu identifizieren, waren Ärzte oft nachlässig, als Zeugen vor Gericht aufzutreten. Gemäß dem Föderalen Statistikdienst wurden 2011 bis November den Behörden 4.462 Vergewaltigungsfälle gemeldet (2010: 4.907). Jedoch meldeten Frauen Vergewaltigungen durch Personen, die ihnen bekannt waren, eher nicht. Zudem berichteten NRO zufolge viele Frauen Vergewaltigungen und andere Gewaltvorfälle aufgrund der sozialen Stigmata und der mangelhaften staatlichen Unterstützung nicht melden.

Häusliche Gewalt ist weiterhin ein großes Problem. Das Innenministerium hat Aufzeichnungen von mehr als 4 Millionen Tätern häuslicher Gewalt. Das Duma-Komitee zu Sozialer Verteidigung berichtete, dass es 2010 21.400 Morde gab, zwei Drittel davon waren Frauen, die in häuslichen Auseinandersetzungen starben, das sind um 50% mehr als noch 2002. Das Innenministerium berichtete, dass mindestens 34.000 Frauen jedes Jahr Opfer häuslicher Gewalt würden. Jedoch ist es aufgrund der Zurückhaltung der Opfer, über Fälle häuslicher Gewalt zu berichten, unmöglich verlässliche statistische Informationen zu erhalten. Offizielle Telefonverzeichnisse enthielten keine Informationen über Krisenzentren oder Frauenhäuser. Gemäß dem Moskauer "Anna National Center for the Prevention of Violence" gibt es lediglich rund 25 Frauenhäuser in ganz Russland, mit Betten für insgesamt etwa 200 Frauen.

Es gibt keine rechtliche Definition von häuslicher Gewalt. Föderale Gesetze verbieten tätliche Angriffe, Körperverletzung, Drohungen und Morde, aber die meisten Fälle häuslicher Gewalt fallen nicht unter die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft. Gemäß NRO ist die Polizei oft nicht willens, Beschwerden über häusliche Gewalt aufzunehmen und entmutigte Opfer oftmals, diese einzubringen. Laut dem "Zentrum zur Unterstützung von Frauen" waren selbst unter Exekutivbeamten viele Täter häuslicher Gewalt.

Physische und sexuelle Gewalt gegenüber Frauen verbreitet sich immer stärker in der Region.

(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia )

Grundsätzlich garantiert die Verfassung der Russischen Föderation Männern und Frauen dieselben Rechte. Dennoch sind Frauen von Diskriminierung v. a. am Arbeitsmarkt betroffen. Von einer gesellschaftlichen Diskriminierung alleinstehender Frauen und Mütter kann zumindest in Kernrussland nicht ausgegangen werden. Ein ernstes Problem in Russland stellt jedoch häusliche Gewalt dar. Dieses wird von Polizei und Sozialbehörden oft als interne Familienangelegenheit abgetan. Es gibt in der Russischen Föderation keine föderale Gesetzgebung zu häuslicher Gewalt. Die Handlungsmöglichkeiten der Polizei sind begrenzt. Eine Bestrafung der Aggressoren ist bei Körperverletzung, Rowdytum oder sonstigen gewalttätigen Übergriffen möglich. Obgleich die Zahl der Frauenhäuser in der Russischen Föderation zunimmt, ist deren Zahl noch gering (derzeit ca. 25 mit insgesamt 200 Betten). In Tschetschenien gibt es keine Frauenhäuser. Nachdem die gesetzlichen Regelungen den Opfern von häuslicher Gewalt nur teilweise Schutz bieten, fliehen Opfer von häuslicher Gewalt meist zu Freunden oder Bekannten, oder finden sich mit der Situation ab. Ein weit verbreitetes Problem, für das es ebenfalls keine gesetzliche Regelung gibt, ist sexuelle Belästigung. Die Situation im Nordkaukasus unterscheidet sich maßgeblich von der in anderen Teilen Russland.

(Österreichische Botschaft Moskau: Asylländerbericht Russische Föderation, September 2012)

Von der Vertreterin einer tschetschenischen NGO wurde angegeben, dass sich eine Frau zum Beispiel bei einer gewalttätigen Brautentführung, durchaus an die staatlichen Organe wenden könnte und auch Hilfe bekommen könnte, es sei aber bisher kein solcher Fall bekannt.

(ÖB Moskau, Anfragebeantwortung zu Frauen, Obsorge, Schutz durch Staatliche Behörden, Arbeitsmöglichkeiten vom 10.05.2013)

4.2. Wirtschaftliche Lage der Frauen

Die wirtschaftliche Lage von Frauen ist in Tschetschenien sicherlich schwierig. In Tschetschenien herrschen zwar insgesamt eine hohe offizielle Arbeitslosenrate und eine schlechte wirtschaftliche Lage, es ist jedoch unter Frauen vergleichsmäßig eine nicht unbeträchtliche wirtschaftliche Aktivität zu beobachten. Eine gewisse wirtschaftliche Selbstständigkeit von Frauen scheint schon in der Vorkriegszeit bestanden zu haben. Obgleich in Tschetschenien zahlreiche alleinstehende und alleinerziehende Frauen leben und diese in der Gesellschaft auch als "normal" betrachtet werden, hängen alleinstehende Frauen bei einer Rückkehr nach Tschetschenien sicherlich stark von der Unterstützung ihrer (Groß‑)Familie ab. Soziale Unterstützungsleistungen bestehen, außer Acht gelassen werden darf aber nicht, dass Korruption in der gesamten Russischen Föderation, und noch viel mehr in der Republik Tschetschenien weit verbreitet ist. Dieses Otkat genannte Bestechungsgeld ist vermutlich auch für die Auszahlung staatlicher Unterstützungsleistungen zu entrichten. Die Entwicklungen der letzten Jahre weisen einerseits darauf hin, dass Tschetscheninnen - vor allem wirtschaftlich betrachtet - ihre Rolle in der Gesellschaft stärken konnten. Einige Quellen verweisen auf die Modernität und Selbstständigkeit der heutigen tschetschenischen Frau. Es muss jedoch wiederholt darauf hingewiesen werden, dass die Möglichkeiten einer Frau nach wie vor stark von ihrem sozialen Umfeld abhängen. Auf politischer und gesellschaftlicher Ebene werden Tschetscheninnen insgesamt zunehmend in die traditionelle Rolle der Hausfrau und Mutter zurückgedrängt. Die kadyrowsche (Re‑) Islamisierungspolitik bedeutet eine Diskriminierung von Frauen in der ohnehin männlich dominierten Kultur. Hinzugefügt werden muss, dass diese Politik Kadyrows nicht ausschließlich auf Frauen, sondern auf die gesamte tschetschenische Bevölkerung Auswirkungen hat. Die Entwicklung der Lage und Rolle der Frau in der heutigen tschetschenischen Gesellschaft stellt sich somit durchaus widersprüchlich dar. Weitere diesbezügliche Entwicklungen - etwa ob die Anzahl an berufstätigen Frauen in den nächsten Jahren zurückgeht - bleiben zu beobachten.

(Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010, Seite 4 bis 6)

Das Sozialversorgungssystem der RF ist vielfältig und beinhaltet verschiede Formen von finanziellen Unterstützungsleistungen, Dienstleistungen und Vergünstigungen. Diese variieren zum Teil von Region zu Region. Es ist stark von den Umständen im Einzelfall abhängig, auf welche dieser Leistungen und Vergünstigungen eine bestimmte Person Anspruch hat.

Zum Beispiel gibt es anlässlich der Geburt eines Kindes bzw. zu dessen Pflege in der Russischen Föderation ein Geburtengeld und ein monatliches Kinderbetreuungsgeld bis zum Alter von 11/2 Jahren. Das Geburtengeld beträgt in Russland/in Tschetschenien 2013 ca. EUR 327,-, das Kinderbetreuungsgeld ca. 62,- EUR für das erste Kind und ca. EUR 122,- für jedes weitere Kind. Das Existenzminimum in der Republik Tschetschenien lag Ende 2012 bei etwa 170 EUR pro Kopf (127 EUR für Pensionisten, 164 EUR für Kinder, 185 EUR für arbeitsfähige Personen)xxi. Für bedürftige Bürger, das heißt für Familien deren pro Kopf Einkommen geringer als ca. EUR 38,- ist, gibt es eine soziale Unterstützung in Höhe von 2,50 EUR für die Dauer von 6 Monaten.

Nach Einschätzung von verschiedenen Mitarbeitern von internationalen NGOs im Nordkaukasus sind die Sozialleistungen nicht ausreichend, damit eine alleinstehenden Frau mit Kindern allein davon leben könnte, andererseits wurde bestätigt, dass sich in Tschetschenien wohl immer ein Verwandter finden würden, der bereit sei die Familie mit Wohnraum als auch finanziell zu unterstützten.

Von einer Vertreterin einer tschetschenischen NGO wurde mitgeteilt, dass das System von Alimentenzahlungen in Russland/Tschetschenien im Fall einer Scheidung noch nicht besonders ausgereift ist. Im Fall des Todes des Ehemanns würden der Ehefrau ebenso wie jedem Kind jedoch eine Rente "aufgrund des Verlusts des Versorgers" zustehen, die durchaus ein vernünftiges Einkommen darstelle.

(ÖB Moskau, Anfragebeantwortung zu Frauen, Obsorge, Schutz durch Staatliche Behörden, Arbeitsmöglichkeiten vom 10.05.2013)

4.3. Soziale Lage der Kinder

Die soziale Lage der Kinder und Jugendlichen in Russland hat sich - auch aufgrund besserer wirtschaftlicher Rahmenbedingungen - seit den 90er Jahren kontinuierlich verbessert. Das VN-Kinderhilfswerk UNICEF weist darauf hin, dass es in ganz Russland derzeit zwischen 20.000 und 100.000 "Straßenkinder" gebe. In den letzten Jahren ist ein Rückgang der Zahl der Straßenkinder zu verzeichnen. Nach aktuellen, laut Einschätzung der Botschaft glaubhaften, Schätzungen von UNICEF gibt es in Russland mehr als 730.000 Kinder ohne elterliche Fürsorge, von denen 180.000 Kinder in staatlichen Einrichtungen wohnen. Die öffentliche materielle Fürsorge für diese Kinder ist unzureichend. Über Zwangsarbeit von Kindern in Russland ist dem Auswärtigen Amt nichts bekannt.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 18)

In Tschetschenien "gehören" bei Scheidungen bzw. im Falle des Todes eines Mannes dessen Kinder den Bräuchen folgend ihm bzw. seiner Familie. Es besteht jedoch in der Praxis die Möglichkeit für Frauen, sich an Gerichte zu wenden, die im Normalfall zu Gunsten der Frau entscheiden.

(Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010, Seite 4-5)

Grundsätzlich gilt in Tschetschenien die allgemeine Schulpflicht. Bis auf wenige Ausnahmen besuchen alle Kinder die Schulen. Es fehlt jedoch an Schulmaterialien, häufig können keine warmen Mahlzeiten ausgegeben werden, die Klassen sind zu groß, weil immer noch viele Schulgebäude zerstört sind. Im Moment werden jedoch zahlreiche Schulen renoviert.

(Gesellschaft für bedrohte Völker: Die Menschenrechtslage in den Nordkaukasusrepubliken, Juni 2010, Seite 14)

Der Schulbesuch ist grundsätzlich möglich und findet unter zunehmend günstigen materiellen Bedingungen statt. Nach Angaben der VN entspricht die Anzahl der Lehrer wieder dem Niveau vor den Tschetschenienkriegen, allerdings sei die Versorgung mit Lernmitteln häufig noch unzureichend.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 16)

5. Wehrdienst in Tschetschenien bzw. von Tschetschenen:

Die Bestimmungen über die Wehrpflicht, den Wehrdienst sowie den alternativen Zivildienst gelten für das gesamte Gebiet der Russischen Föderation und somit auch für Tschetschenien. Wenn ein wehrpflichtiger Mann in Tschetschenien wohnt, wird er dort einberufen und leistet dort seinen Wehrdienst ab, sofern er tatsächlich einberufen wird. Grundsätzlich dient eine gewisse Anzahl von in Tschetschenien wohnhaften wehrpflichtigen Tschetschenen in Bataillonen, die Ramzan Kadyrow unterstehen. Konflikte zwischen tschetschenischen Wehrdienstleistenden und Offizieren ebenso wie Unterdrückung und Vorurteile der Offiziere, von denen eine Großzahl im Ersten und/oder Zweiten Tschetschenienkrieg gekämpft haben, gegenüber Wehrdienst leistende Tschetschenen sind häufig zu beobachten.

(ACCORD Anfragebeantwortung a-7349 vom 12.8.2010, ACCORD Anfragebeantwortung a-7371 vom 07.09.2010, ACCORD Anfragebeantwortung a-7387 vom 01.10.2010, Rechtsgutachten Dr. Siegfried Lammich vom 11.10.2010)

Aus Tschetschenien werden ca. seit Beginn der neunziger Jahre keine Wehrpflichtigen mehr in die russische Armee aufgenommen. Einberufungen finden zwar statt (zuletzt Kadyrow-Erlass vom April 2010), beschränken sich aber auf Registrierung der tschetschenischen Wehrpflichtigen und Tauglichkeitsuntersuchungen. Aus dem Kontingent der Wehrpflichtigen werden jedoch offenbar regelmäßig Freiwillige ausgewählt und auf Vertragsbasis in Verbände der Armee in Tschetschenien aufgenommen. Grundsätzlich gilt, dass russische Wehrpflichtige in Tschetschenien nicht eingesetzt werden sollen, sondern nur Freiwillige.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 25)

Seit 2001 haben nur wenige tschetschenische Wehrpflichtige ihren Dienst in zwei rein tschetschenischen Bataillonen abgeleistet, die gegen die Untergrundgruppen eingesetzt wurden. Diese Bataillone sind inzwischen aufgelöst.

(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 128, 6.7.2012, Russland Aktuell: Wehrpflicht gilt nicht für Tschetschenen, 22.7.2011,

http://www.aktuell.ru/russland/panorama/kapitulation_wehrpflicht_gilt_nicht_fuer_tschetschenien_3342.html , Zugriff 3.12.2012)

5.1. Dauer und Art des Wehrdienstes

Die Bedingungen des Wehrdienstes sind hart. Die allgemeine Wehrpflicht besteht für Männer zwischen 18 und 28 Jahren. Der Grundwehrdienst dauert zwölf Monate und Angaben über Wehrdienst bzw. Wehrersatzdienst werden im Wehrregister vermerkt. Die Menschenrechtslage in den russischen Streitkräften kann als zumindest problematisch bezeichnet werden, da es nach wie vor zu Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade oder ältere Wehrpflichtige kommt. Der durch die Verkürzung der Wehrdienstzeit auf zwölf Monate (2007 noch zunächst 24, dann 18 Monate, seit der Einberufung vom 01.4.2008 zwölf Monate) erhoffte positive Effekt auf die Menschenrechtslage (d.h. Abbau von Frustration durch kürzere Dienstzeit und Abbau interner Machtstrukturen unter den Wehrpflichtigen) hat sich (noch) nicht deutlich bemerkbar gemacht.

(Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, vom 07.03.2011, Seite 15, Rechtsgutachten Dr. Siegfried Lammich vom 11.10.2010)

5.2. Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung:

Wenn ein wehrpflichtiger Mann in der Russischen Föderation gemeldet ist, ist er laut geltenden gesetzlichen Bestimmungen einzuberufen und hat er im für seine Meldeadresse zuständigen Militärkommissariat zu erscheinen. Bei jeder Einberufung versuchen sich mehrere tausend Jungmänner im Einberufungsalter ihrer Wehrpflicht zu entziehen, indem sie ihren Wohnort wechseln oder sich im Ausland aufhalten. Wehrpflichtige, die aus dem Ausland in die Russische Föderation zurückkehren, sind verpflichtet, sich innerhalb von zwei Wochen nach der Einreise beim zuständigen Wehramt (Kommandantur) zwecks Aktualisierung der Eintragungen im Wehrregister zu melden (Art. 10 des Föderalen Gesetzes über Militärpflicht und Militärdienst). Wehrpflichtige, die sich der Militärpflicht entzogen haben, können aufgrund des Art. 328 des Russischen Strafgesetzbuches strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, wobei die (zusätzliche) Ableistung des Militärdienstes nach Überschreitung des Wehrpflichtalters von 27 Jahren nicht vorgesehen ist. In der Praxis ist die strafrechtliche Verfolgung der Wehrdienstentziehung nicht sehr wahrscheinlich, zumal die Gerichte in solchen Angelegenheiten nur mit großem Widerwillen ein Verfahren einleiten. Soweit es überhaupt zu einer Bestrafung kommt, so werden diese Handlungen in der Regel als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße belegt und zwar ohne Einleitung eines gerichtlichen Strafverfahrens. So wurden 2008 lediglich 91 Männer wegen Wehrdienstverweigerung mit einer - in den allgemeinen Vollzugsanstalten zu verbüßenden - Haftstrafe nach Durchführung eines gerichtlichen Strafverfahrens bestraft, während im selben Zeitraum rund 15.000 Personen mit einer Geldbuße - ohne Einleitung eines Strafverfahrens - in der Höhe bis zu 200.000 Rubel (ca. 4.700 Euro) wegen Wehrdienstverweigerung belegt worden sind. In diesem Zusammenhang wurde in den russischen Medien im September 2010 verbreitet, dass nach Feststellung der Moskauer Behörden in Moskau ca. 40.000 junge Männer, die den Wehrdienst verweigern, leben würden, nach der Frühlingsmusterung (01.10.2010 bis 31.04.2010) aber lediglich gegen zwei Personen ein Strafverfahren wegen Wehrdienstverweigerung eingeleitet worden sei.

(Rechtsgutachten Dr. Siegfried Lammich vom 11.10.2010).

5.3. Wehrersatzdienst

Zentrale Bestimmungen im föderalen Gesetz über den alternativen Zivildienst vom 28. Juni 2002 inklusive der Änderungen vom 22. August 2004, vom 31. Dezember 2005, vom 6. Juli 2006 und vom 9. März 2010 besagen, dass wehrfähige Männer ein Recht auf Ersatz des Militärdienstes durch alternativen Zivildienst haben, wenn der Militärdienst ihren Überzeugungen oder Glaubensvorstellungen widerspreche oder wenn der Wehrfähige einer kleinen Volksgruppe mit traditioneller Lebensweise zugehörig sei. In der Praxis hat der Wehrersatzdienst, der in der Russischen Föderation derzeit 21 Monate beträgt, bisher noch keine größere Bedeutung erlangt, zumal zurzeit in der gesamten Russischen Föderation lediglich 880 Zivildienstleistende registriert sind. Das Wehrkommissariat billigt etwa zwei Drittel der eingereichten Anträge, jedoch haben seit der Einführung des Gesetzes erst 4.328 Männer einen Antrag auf alternativen Zivildienst gestellt. Jeder zehnte wurde auf einer Baustelle eingesetzt. Über die Hälfte leistete den alternativen Zivildienst in einem sozialen Beruf ab. Bei erwarteten eineinhalb Jahren mühseliger Tätigkeit auf dem Bau, in Krankenhäusern, Altenheimen und Hospizen entscheiden sich viele junge Russen ohne langes Überlegen für den einjährigen Wehrdienst. Als Ursache für das weitgehend fehlende Interesse der Wehrpflichtigen an der Leistung des Ersatzdienstes wird vor allem die Länge des Ersatzdienstes genannt, die fast doppelt so lang ist wie die Dauer des Militärdienstes, sowie die schlechten Arbeitsbedingungen und der um ein mehrfaches niedrigere Sold im Vergleich zu der materiellen Vergütung der Militärdienstleistenden. Außerdem widerspricht die Leistung eines Wehrersatzdienstes der tschetschenischen Tradition.

(Accord Anfragebeantwortung a-7371 vom 07.09.2010, Rechtsgutachten Dr. Siegfried Lammich vom 11.10.2010)

6. Innerstaatliche Relokationsmöglichkeit

Es ist grundsätzlich möglich, von und nach Tschetschenien ein- und auszureisen und sich innerhalb der Republik zu bewegen. An den Grenzen zu den russischen Nachbarrepubliken befinden sich jedoch nach wie vor Kontrollposten, die gewöhnlich eine nicht staatlich festgelegte "Ein- bzw. Ausreisegebühr" erheben.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.6.2013, Seite 24)

Die Kontrollposten der russischen Armee in Grosny gibt es nicht mehr.

(Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg)

Im Mai/Juni 2012 schätzte eine westliche Botschaft die Anzahl der Tschetschenen in Moskau auf Hunderttausende. Außerhalb Tschetscheniens leben die meisten Tschetschenen in Moskau und der Region Stawropol, eine größere Anzahl an Tschetschenen kann in St. Petersburg, Jaroslawl, Wolgograd und Astrachan gefunden werden. SK-Strategy schätzt die Zahl der in Moskau lebenden Tschetschenen auf 100.000 bis 200.000, rund 70.000 Tschetschenen seien in Moskau registriert, rund 50.000 in Jaroslawl. Die NRO Vainakh Congress schätzt die Zahl der Tschetschenen in der Region St. Petersburg auf 20.000 bis 30.000.

(Danish Immigration Service (8.2012): Chechens in the Russian Federation - residence registration, racially motivated violence and fabricated criminal cases,

http://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/01750EB0-C5B1-425C-90A7-3CE3B580EEAA/0/chechens_in_the_russian_federation.pdf ; Zugriff 25.10.2013)

Einem Vertreter einer NGO zufolge könnte es für einen Tschetschenen schwer sein, in einen anderen Teil der Russischen Föderation zu ziehen, wenn man dort keinerlei Verwandte hat. Jedoch gibt es Tschetschenen in fast allen Regionen Russlands. Das Bestehen einer tschetschenischen Gemeinschaft in einer Region kann Neuankömmlingen zur Unterstützung oder zum Schutz gereichen.

(Danish Immigration Service (11.10.2011): Chechens in the Russian Federation, Report from Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow and St. Petersburg, the Russian Federation, 12 to 29 June 2011,

http://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/6EC0730B-9F8E-436F-B44F-A21BE67BDF2B/0/ChechensintheRussianFederationFINAL.pdf ; Zugriff 25.10.2013)

Ethnische Tschetschenen und Angehörige anderer nordkaukasischer Nationalitäten können in der Russischen Föderation (Kernrussland) von Diskriminierung am Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche sowie vor Gericht betroffen sein.

(ÖB Moskau (9.2013): Asylländerbericht Russische Föderation)

Grundsätzlich ist die Bewegungsfreiheit innerhalb Russlands gesetzlich gewährleistet, Bürger können ihren Wohn- und Aufenthaltsort frei wählen. Jedoch sind Bürger der Russischen Föderation gesetzlich verpflichtet, sowohl ihren vorübergehenden gegenwärtigen Aufenthaltsort, als auch ihren dauerhaften Wohnsitz den zuständigen Stellen des Innenministeriums zu melden. Der Registrierungsprozess stellt sich in der ganzen Russischen Föderation gleich dar. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses und ein nachweisbarer Wohnraum, eine Arbeitsstelle oder der Bezug von Einkommen müssen nicht nachgewiesen werden. Die Registrierung und damit einhergehende Aufgaben fallen in den Zuständigkeitsbereich des Föderalen Migrationsdienstes (FMS), seiner territorialen Behörden (UFMS) und weiterer Behörden für innere Angelegenheiten. 2010 kam es zu einer Vereinfachung des Registrierungsprozesses, insbesondere hinsichtlich temporärer Registrierungen. Um sich temporär zu registrieren, muss man nunmehr lediglich einen Brief an die lokale Stelle des FMS, also den jeweiligen UFMS, schicken, in dem die vorübergehende Adresse angegeben wird, das persönliche Erscheinen beim UFMS ist keine Voraussetzung mehr. Obwohl das Gesetz festschreibt, dass eine temporäre Registrierung ein Jahr Gültigkeit besitzt, stellen manche lokale Behörden vorübergehende Registrierungen lediglich für einen Zeitraum von drei Monaten aus.

Eine dauerhafte Registrierung wird durch einen Stempel im Inlandspass vermerkt, eine temporäre Registrierung durch einen in den Inlandspass eingelegten Zettel. Für einen Aufenthalt bis zu 90 Tage ist keine Registrierung verpflichtend, jedoch kann es notwendig werden, bei einer Dokumentenkontrolle nachzuweisen, dass man sich noch nicht länger als 90 Tage in dem Gebiet aufhält, beispielsweise durch die Vorlage einer Zug- oder Busfahrkarte. Die Behörden haben laut FMS sogar ein eigenes Verfahren, um die Identität von Personen, die nicht im Besitz von Identitätsdokumenten sind, festzustellen. Der Name der zu registrierenden Person wird in derartigen Fällen in Datenbanken gesucht und es erfolgen Einvernahmen der jeweiligen Person sowie von ihren in der Russischen Föderation aufhältigen Verwandten. Sobald die Identität der Person festgestellt wurde, werden die erforderlichen Unterlagen ausgestellt.

(Danish Immigration Service: Chechens in the Russian Federation, Report from Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow and St. Petersburg, the Russian Federation, 12 to 29 June 2011, 11.10.2011)

Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen hat etwas abgenommen, wenngleich russische Menschenrechtsorganisationen nach wie vor von einem willkürlichen Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit berichten.

Vor allem Kaukasier und Einwanderer aus Zentralasien sind in Russland mit ethnischen Diskriminierungen und einem grassierenden Rassismus konfrontiert. Kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen (Ausweis, Fingerabdrücke) auf der Straße, in der U-Bahn und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden statt, haben aber an Intensität abgenommen.

Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes sind keine Anweisungen der russischen Innenbehörden zur spezifischen erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen bekannt. Kontrollen von kaukasisch aussehenden oder aus Zentralasien stammenden Personen erfolgen seit Jahresbeginn 2007 zumeist im Rahmen des verstärkten Kampfes der Behörden gegen illegale Migration und Schwarzarbeit. Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Diese Rechte sind in der Verfassung verankert. Jedoch wird an vielen Orten (u.a. in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg) der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Föderation durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen wirken sich im Zusammenhang mit anti-kaukasischer Stimmung besonders stark auf die Möglichkeit von aus anderen Staaten zurückgeführten Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen. Die Rücksiedlung nach Tschetschenien wird von Regierungsseite nahegelegt.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 35 und 36; Fragenbeantwortung der ÖB in Moskau vom 13.04.2012)

Laut einer westlichen Botschaft ist eine Registrierung für alle Personen in Moskau und St. Petersburg im Vergleich zu anderen russischen Städten am schwierigsten zu erlangen. Auch die Korruptionszahlungen sind in Moskau höher. Ebenso ist es in Moskau schwieriger, eine Wohnung zu mieten, die Mieten sind zudem hoch. Auch UNHCR geht davon aus, dass die Registrierung in Moskau für jeden schwierig ist, nicht nur für Tschetschenen.

(Danish Immigration Service (8.2012): Chechens in the Russian Federation - residence registration, racially motivated violence and fabricated criminal cases,

http://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/01750EB0-C5B1-425C-90A7-3CE3B580EEAA/0/chechens_in_the_russian_federation.pdf ; Zugriff 25.10.2013)

Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") und ihren Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") melden müssen. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Kaukasier haben jedoch größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden. Viele Vermieter weigern sich zudem, entsprechende Vordrucke auszufüllen, u.a. weil sie ihre Mieteinnahmen nicht versteuern wollen.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 35 und 36; Fragenbeantwortung der ÖB in Moskau vom 13.04.2012)

Tschetschenen verheimlichen oft ihre Volksgruppenzugehörigkeit, da Annoncen Zimmer oft nur für Russen und Slawen anbieten.

(Danish Immigration Service (8.2012): Chechens in the Russian Federation - residence registration, racially motivated violence and fabricated criminal cases,

http://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/01750EB0-C5B1-425C-90A7-3CE3B580EEAA/0/chechens_in_the_russian_federation.pdf ; Zugriff 25.10.2013)

Der Föderale Migrationsdienst (FMS) bestätigte in diesem Zusammenhang, dass alle Staatsbürger der Russischen Föderation, auch Rückkehrer, am Aufenthaltsort registriert werden. Gesetzlich ist vorgesehen, dass die Registrierung ab Einlangen der Unterlagen bei der zuständigen Behörde drei Tage dauert. Eine Registrierung ist für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar. 2010 kam es zu einer Vereinfachung des Registrierungsprozesses, insbesondere für temporäre Registrierungen (Registrierungen für einen nicht länger als 90 Tage dauernden Zeitraum). Für eine solche muss man nunmehr lediglich einen Brief an die lokale Stelle des Föderalen Migrationsdienstes (FMS) bzw. an die jeweiligen territorialen Behörden (UFMS) schicken, in dem die vorübergehende Adresse angegeben wird, und muss nicht mehr persönlich beim UFMS erscheinen.

(Bericht zum Forschungsaufenthalt der Staatendokumentation, Russische Föderation - Republik Tschetschenien, Dezember 2011, Seite 6, 14-15, 58)

Viele regionale Regierungen schränken das Recht durch Regelungen für die Registrierung des Wohnsitzes, die an Sowjetzeiten erinnerten, ein.

(U.S. Department of State (19.4.2013): Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/245202/368649_de.html ; Zugriff 25.10.2013)

Laut Auskunft des Föderalen Migrationsdienstes (FMS) bestehen für Tschetschenen keine Einschränkungen der Bewegungsfreiheit oder hinsichtlich der Ausstellung von innerstaatlichen Reisepässen oder anderen offiziellen Dokumenten. Auch laut Einschätzung eines Anwalts der Memorial Migration & Rights Programme and Civic Assistance Committee (CAC) haben Tschetschenen bei einer Registrierung in St. Petersburg nicht mehr Probleme als andere russische Bürger. Nichtregistrierte Tschetschenen können innerhalb Russlands allenfalls in der tschetschenischen Diaspora untertauchen und dort überleben. Ihr Lebensstandard hängt stark davon ab, ob sie über Geld, Familienanschluss, Ausbildung und russische Sprachkenntnisse verfügen. Eine Vertreterin von House of Peace and Non-Violence, verwies darauf, dass viele Tschetschenen in St. Petersburg keinerlei dauerhafte oder vorübergehende Registrierung besitzen. Diese Personen besorgen sich immer wieder neue Zug- oder Bus-Tickets, um damit darzulegen, dass sie sich nicht länger als 90 Tage in St. Petersburg befinden.

Ein Vertreter des föderalen Ombudsmannes hält fest, dass Tschetschenen im Allgemeinen die gleichen Rechte besitzen wie alle anderen Gruppen in der Russischen Föderation, dies gilt hinsichtlich Beschäftigung, Wohnungsbeschaffung, Gesundheitsvorsorge sowie Pensionsansprüche. Die tschetschenische Bevölkerung außerhalb von Tschetschenien pflegt sehr enge Beziehungen zueinander, versucht nahe beisammen zu leben und sich gegenseitig zu unterstützen. Laut seiner Einschätzung sind Tschetschenen sowie einige andere Gruppen außerhalb des Nordkaukasus gelegentlich mit Anfeindungen lokaler Gemeinschaften konfrontiert.

Eine Registrierung ist für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar, da sie den Zugang zu Sozialhilfe und staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt ermöglicht. Grundsätzlich hat man in der Russischen Föderation am Ort der Registrierung Zugang zur medizinischen Versorgung, medizinische Notfallhilfe wird jedoch in der russischen Verfassung garantiert und völlig unabhängig von Registrierung und Aufenthaltsort jedem Menschen, unabhängig von dessen Staatsbürgerschaft, gewährt. Die ethnische Zugehörigkeit würde auch nach Auskunft von IOM an Dänemark beim Zugang zur medizinischen Versorgung keine Rolle spielen.

(Danish Immigration Service: Chechens in the Russian Federation, Report from Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow and St. Petersburg, the Russian Federation, 12 to 29 June 2011, 11.10.2011)

Diesbezüglich ist auch auf die Änderungen im Gesundheitswesen der Russischen Föderation zu verweisen und hervorzuheben, dass das Föderale Gesetz Nr. 326 über die medizinische Pflichtversicherung in der Russischen Föderation festschreibt, dass jeder russische Staatsbürger eine kostenlose medizinische Grundversorgung in Anspruch nehmen kann. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte (oder die Polizze) vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung auf dem Gebiet der Russischen Föderation, unabhängig von der Meldeadresse, gewährt wird. (Schreiben der österreichischen Botschaft in Moskau an den Asylgerichtshof vom 13.04.2012, IOM Länderinformationsblatt Russische Föderation, Juni 2012)

Laut SOVA gibt es keine Hinweise, dass Tschetschenen mehr als andere ethnische Gruppen aus dem Kaukasus Hassverbrechen zum Opfer fallen.

Im Verlauf der letzten 10 Jahre konzentrierten sich ultranationalistische Banden bei rassistisch motivierter Gewalt immer mehr auf Zentralasiaten, nicht zuletzt weil sich Kaukasier dieser Gewalt zunehmend widersetzten.

(Danish Immigration Service (11.10.2011): Chechens in the Russian Federation, Report from Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow and St. Petersburg, the Russian Federation, 12 to 29 June 2011,

http://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/6EC0730B-9F8E-436F-B44F-A21BE67BDF2B/0/ChechensintheRussianFederationFINAL.pdf ; Zugriff 25.10.2013)

IOM Russland erklärte, dass die Russische Föderation eine föderale Struktur hat und falls eine verdächtige Person von einer Verwaltungseinheit ausgeforscht wird, könnte nach dieser Person in der gesamten Russischen Föderation behördlich gesucht werden. Ob eine bundesweite Suche nach einer Person durch die Behörden eingeleitet wird, hängt davon ab, aufgrund welchen Verdachts die jeweilige Person ausfindig gemacht werden soll. Falls der Fall irgendwie im Zusammenhang mit internationalem Terrorismus steht, ist es sehr wahrscheinlich, dass die tschetschenischen Behörden eine bundesweite Suche nach dem Verdächtigten einleiten.

Khamzat Gerikhanov (Chechen Social and Cultural Association) erklärte, es sei üblich, dass tschetschenische Rebellen aus benachbarten Republiken im Nordkaukasus zurückgeschickt werden, um (strafrechtlicher) Verfolgung in Tschetschenien ausgesetzt zu sein. Ein Vertreter des föderalen Ombudsmannes erklärte demgegenüber, dass ihm keine Fälle bekannt wären, in denen russische Behörden auf Anfrage der tschetschenischen Behörden Tschetschenen verhaftet und zwecks Strafverfolgung zurück nach Tschetschenien überstellt hätten. Zumindest würden tschetschenische Behörden das russische föderale Justizwesen jedoch bei der Suche nach einer Person, die unter Verdacht steht, Mitglieder illegaler bewaffneter Gruppierungen zu unterstützen, in Anspruch nehmen. Die Entscheidung, ob eine Anfrage von tschetschenischen Behörden zu Recht besteht, trifft dabei die Bundesbehörde. Khamzat Gerikhanov gab weiters an, dass Unterstützer oder Verwandte von Anhängern der illegalen bewaffneten Gruppen, die in eine andere Region der Russischen Föderation gezogen sind, aufgefunden werden, falls nach diesen Personen offiziell auf Bundesebene gesucht wird. Wenn jemand illegale bewaffnete Gruppen zum ersten Mal oder schon vor vielen Jahren mit Nahrung, Unterkunft oder Transport unterstützt hat und sich in der Folge außerhalb von Tschetschenien niederlässt, würden die tschetschenischen Behörden keine bundesweite Suche nach diesen Personen einleiten oder große Anstrengungen unternehmen, um derartige Personen wieder zurück nach Tschetschenien zu überstellen.

Der föderale Ombudsmann hat nach eigenen Angaben noch keine Beschwerden über Belästigungen bzw. Bedrohungen von Tschetschenen durch andere Tschetschenen erhalten, die in der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus wohnhaft sind. In dieser Hinsicht ist die Unterscheidung zwischen "high profile persons" und "low profile persons" wichtig. Personen, die von Kadyrow als Außenseiter oder Gegner seiner Regierung bzw. als Rivale seines Clans betrachtet werden, könnten Bedrohungen durch andere Tschetschenen ausgesetzt sein. Sogenannte "high profile persons" sind der Gefahr von Racheakten durch Mitglieder von Kadyrows Geheimdienst in der Russischen Föderation als auch im Ausland ausgesetzt. Demgegenüber werden "low profile persons", die nicht offiziell gegen Kadyrow eingestellt sind, in der Regel nicht belangt.

Ein Vertreter der Chechen Social and Cultural Association betrachtet es als unmöglich für die tschetschenischen Behörden, einen low-profile-Unterstützer der Rebellen in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zu finden.

Bereits das Bekanntwerden kleinster kritischer Äußerungen betreffend die Regierung Kadyrows würde jedoch zu einer Rüge durch die tschetschenischen Behörden führen. Ekaterina Sokiryanskaya von Memorial in St. Petersburg gab in diesem Zusammenhang an, dass in den meisten Fällen tschetschenische Behörden nach einer Person nicht offiziell suchen, sondern in der Lage sind, (inoffiziell) Personen in der Russischen Föderation und in vielen europäischen Ländern ausfindig zu machen und gegebenenfalls auch zu töten.

(Danish Immigration Service: Chechens in the Russian Federation, Report from Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow and St. Petersburg, the Russian Federation, 12 to 29 June 2011, 11.10.2011)

Wird eine Person aber tatsächlich von Kadyrow gesucht, so könnte jener die Person überall in der Welt, auch in Kopenhagen, Wien, Dubai oder Moskau finden.

(Danish Immigration Service (8.2012): Chechens in the Russian Federation - residence registration, racially motivated violence and fabricated criminal cases,

http://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/01750EB0-C5B1-425C-90A7-3CE3B580EEAA/0/chechens_in_the_russian_federation.pdf ; Zugriff 25.10.2013)

Was die Sicherheit von Tschetschenen in anderen Teilen der Russischen Föderation betrifft, so kann eine Beurteilung der Gefährdung nur im Einzelfall erfolgen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Tschetschenen, die in Tschetschenien keine Probleme hatten und etwa nur zur Arbeitssuche in einen anderen Teil der Russischen Föderation kommen (diese haben möglicherweise mit Diskriminierung und Anfeindungen aufgrund der weit verbreiteten Fremdenfeindlichkeit in Russland zu kämpfen) und Tschetschenen, die in Tschetschenien tatsächlich verfolgt werden (diese sind gegebenenfalls auch in anderen Teilen der Russischen Föderation nicht sicher).

(ÖB Moskau (9.2013): Asylländerbericht Russische Föderation)

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die tschetschenischen Behörden Unterstützer und Familienmitglieder einzelner Kämpfer auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation suchen und/oder finden würden, was aber bei einzelnen bekannten oder hochrangigen Kämpfern sehr wohl der Fall sein kann.

(Analyse der Staatendokumentation vom 20.4.2011 - Russische Föderation - Unterstützer und Familienmitglieder (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer in Tschetschenien)

Einer internationalen Organisation zufolge ist es für jemanden, der einen Machtmissbrauch von lokalen Behörden in einem Föderationssubjekt fürchtet schwierig, einen sicheren Ort in einer anderen Region in Russland zu finden. Ist die Person registriert, ist es für die Behörden leichter, sie zu finden.

(Danish Immigration Service (8.2012): Chechens in the Russian Federation - residence registration, racially motivated violence and fabricated criminal cases,

http://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/01750EB0-C5B1-425C-90A7-3CE3B580EEAA/0/chechens_in_the_russian_federation.pdf ; Zugriff 25.10.2013)

Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass im Einzelfall zu prüfen ist, ob eine Ansiedlung von Tschetschenen in anderen Teilen der Russischen Föderation möglich ist. Den wesentlichsten Punkt stellt die Frage dar, ob diese Personen von Kadyrow als Außenseiter oder Gegner seiner Regierung bzw. als Rivale seines Clans betrachtet werden und kann man diesbezüglich eine Unterscheidung in "high profile persons" und "low profile persons" treffen. Angesichts von möglichen Schwierigkeiten bei der Registrierung, die jedoch in den letzten Jahren wesentlich vereinfacht wurde, spielen überdies ein Netzwerk von Verwandten und Bekannten sowie die Möglichkeit der Kontaktierung von NGOs eine Rolle.

7. Situation gemischt ethnischer bzw. gemischt religiöser Ehen

Wenn auch die Trennung der Volksgruppen relativ strikt ist, kommen gemischte Ehen auch in Tschetschenien vor. Gemischt-ethnische Ehen werden in der Regel von den (tschetschenischen) Eltern nicht gutgeheißen, wobei es viel schlimmer ist, wenn ein tschetschenisches Mädchen einen Angehörigen einer anderen Volksgruppe heiratet, weil dadurch der "Stammbaum unterbrochen werde", was eine "schwere Sünde" darstellt. Bis zur russischen Besetzung sind Mischehen zwischen Volkszugehörigen verschiedener Völker des Kaukasus durchaus üblich gewesen und es gibt keine Berichte darüber, dass die Angehörigen gemischt-ethnischer bzw. gemischt-religiöser Ehen in Tschetschenien und in angrenzenden Kaukasusrepubliken von staatlicher Seite oder von Privaten gezielt verfolgt werden.

(ACCORD Anfragebeantwortung a-7409-1 vom 21. Oktober 2010)

8. Lage in den Nachbarrepubliken im Nordkaukasus:

Der Tschetschenienkonflikt hatte in den zurückliegenden Jahren auch auf die Nachbarrepubliken im Nordkaukasus übergegriffen und die gesamte Region destabilisiert. Die Häufigkeit bewaffneter Auseinandersetzungen nimmt insbesondere in Inguschetien und Dagestan weiterhin zu. Die gesamte Region ist wirtschaftlich und sozial eine der am stärksten benachteiligten in der Russischen Föderation. Sie leidet in ganz besonderem Maße unter Korruption, ethnischen Spannungen und der Machtausübung durch einzelne Clans.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 25)

Bei den Gewaltakteuren ist ein Ideologiewandel vom Ethno-Nationalismus zum islamischen Fundamentalismus zu beobachten.

Ist zwar grundsätzlich der gesamte Nordkaukasus davon betroffen, konzentriert sich die Gewalt hauptsächlich auf Dagestan. Im Jahr 2012 und bis August 2013 kamen bei Anschlägen und Gewaltakten in der gesamten Region knapp 1.000 Menschen ums Leben, etwa 800 wurden verletzt. Mehr als die Hälfte aller Opfer wurde in Dagestan registriert.

In der Region operieren militante salafistische Muslim-Bruderschaften (Jamaate), wobei die Gruppen lokal organisiert sind und weitgehend autonom handeln.

Zurückzuführen ist die wachsende Sympathie innerhalb der Bevölkerung des Nordkaukasus für gewaltsame Formen des Widerstandes auf die Rücksichtslosigkeit der russischen Sicherheitsorgane im "Kampf gegen den Terrorismus.

Die Gewalt im Nordkaukasus ist auch vor allem Ausdruck der anhaltenden sozio-ökonomischen und politischen Krise im Nordkaukasus. Die Region leidet seit langem unter Armut, Korruption und Vetternwirtschaft und liegen die Einkommen deutlich unter dem russlandweiten Durchschnitt. Die Arbeitslosenquote liegt bei 20 bis 30 %, in Inguschetien sogar bei 50 %.

(http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54672/nordkaukasus vom 06.01.2014)

8.1. Blutrache in Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan:

Im Kaukasus gab es lange keine Staaten im traditionellen Sinn des Wortes. Von den einheimischen Völkern gingen keine Staatsbildungen aus, die enge lokale und ethnische Grenzen überschritten haben. Die Macht staatlicher Stellen beschränkte sich gewöhnlich auf den Sitz des Herrschers. Die bergigen Regionen blieben davon weitgehend unberührt. Das nicht Vorhandensein eines Staates impliziert die Abwesenheit von staatlicher Macht und Gesetzen, das einzige Gesetz, das die gegenseitigen Beziehungen regelte, war für lange Zeit das Adat, das sogenannte Gewohnheitsrecht.

Die Tradition der Blutrache stellt einen Teil des Gewohnheitsrechts dar. Wenn der eigentliche Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann, so wird sein engster Verwandter zum Ziel der Rache. Das Adat erlaubt nicht, dass die Rache durch irgendeine Regierungseinrichtung ausgeübt wird. Nur das Opfer oder seine Familie dürfen am Täter oder wenn dieser nicht direkt bestraft werden kann, an seiner Familie Rache nehmen. Frauen, Kinder und Alte sind von der Blutrache ausgenommen. Obwohl die Blutrache oft als brutal und grausam betrachtet wird, gilt sie in de facto in Anarchie lebenden Gesellschaften als notwendiger Mechanismus um das Chaos zu verhindern. Während der Sowjetherrschaft wurde versucht die Blutrache sowie das gesamte Adat auszumerzen. In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts kommt es jedoch zu einem Wiederaufleben des Gewohnheitsrechts und zwar vor allem wegen der Korruption und der Machtlosigkeit der Regierung zusammen mit dem Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Staatssicherheit und die Justiz. Auch der kriegsbedingte Zusammenbruch staatlicher Strukturen und die "Fremdherrschaft" des russischen Staates führten zu einem Anstieg der Blutrache.

Jedoch ist man heute, wie die Einrichtung der Versöhnungskommission zeigt, daran interessiert, diese alten Bräuche wieder zurückzudrängen, um die entstehende Gewaltspirale, die bei einem relativ kleinen Volk wie den Tschetschenen auf lange Sicht durchaus für das Überleben der Gruppe bedrohliche Ausmaße annehmen kann, zu unterbrechen.

(Analyse der Staatendokumentation, Blutrache in Tschetschenien vom 05.11.2009)

8.2. Inguschetien:

Inguschetien ist mit seinen etwa 3.600 km2 die kleinste der Nordkaukasusrepubliken. Die Mehrheit der rund 410.000 Bewohner sind Inguschen. Sie gehören überwiegend dem sunnitischen Islam an. Außerdem leben Russen und Tschetschenen in Inguschetien. Etwa 20% der Einwohner sind ethnische Tschetschenen. Die ehemalige Hauptstadt Nasran ist die wichtigste Stadt, seit 2003 ist jedoch Magas die offizielle Hauptstadt. Inguschetien ist seit 1992 eine autonome Republik innerhalb der Russischen Föderation. Amtssprachen sind Inguschetisch und Russisch. Zwischen Inguschetien und Nordossetien kam es zwischen 1992 und 1993 zu einem Konflikt um ein Grenzgebiet, welches seit 1944 Ossetien gehört, auf das die Inguschen jedoch seit ihrer Rückkehr aus Zentralasien Anspruch erheben.

Im Dezember 2001 trat Präsident Ruslan Auschew von seinem Amt zurück. Als Nachfolger wurde im April 2002 der Geheimdienstgeneral Murat Zjazikow gewählt. Dies führte zu einer grundlegend anderen Haltung gegenüber dem Tschetschenienkrieg. Insbesondere kam es zu einem härteren Vorgehen gegenüber tschetschenischen Kämpfern. Dies führte letztlich zu einer gewissen Eskalation in Inguschetien.

(http://de.wikipedia.org/wiki/Inguschetien , Zugriff 09.01.2012, Junus-Bek Jewkurow,

http://de.wikipedia.org/wiki/Junus-bek_Bamatgirejewitsch_Jewkurow , Zugriff 11.01.2011)

Mit der Bestimmung von Junus-Bek Jewkurow im Oktober 2008 zum Nachfolger des entlassenen Präsidenten Zjazikow kam es aber zu einer innergesellschaftlichen Entspannung. Präsident Jewkurow, der auch Generalmajor der Russischen Armee ist, hat Oppositionsvertreter in die Regierung integriert und die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Konfliktlösungsansätze betont. Präsident Medwedew hat ihn dabei demonstrativ unterstützt. Von internationalen Organisationen (u.a. den Vereinten Nationen) wird die Sicherheitslage in Inguschetien als schlechter als in Tschetschenien eingestuft. Der Konflikt dauert unvermindert seit 2004 an und hat sich seit Sommer 2007 nochmals deutlich verschärft. Es kommt immer wieder zu Angriffen gegen die Sicherheitskräfte und staatliche Funktionsträger mit Toten und Verletzten sowie zu einer Häufung von Terroranschlägen. Die Sicherheitssituation scheint sich jedoch im ersten Halbjahr 2012 signifikant gebessert zu haben. Lokale Behörden können die Lage in der Region (Korruption, Überfälle von Rebellen, Willkür föderaler Sicherheitskräfte) augenscheinlich nicht kontrollieren. Das unverhältnismäßige und unterschiedslose Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die in Inguschetien operierenden Rebellen, das häufig die Zivilbevölkerung trifft, war einer der Hauptgründe für das Entstehen der inguschetischen Opposition.

Präsident Jewkurow hat wiederholt betont, dass die Probleme der Republik nur im Dialog zwischen Gesellschaft und Staatsorganen gelöst werden könnten. Für die schlechte sozioökonomische Lage in der Republik seien die Schwäche und der Vertrauensverlust der Staatsorgane und die Korruption ursächlich. Gleichwohl ist es seit Amtsantritt Jewkurows nicht zu einem Rückgang der Rebellenaktivität gekommen, auch wenden die Sicherheitskräfte weiterhin mitunter brutale Methoden an, bis hin zu extralegalen Tötungen im Vorgehen gegen vermeintliche Rebellen. Der Haltung Jewkurows ist es möglicherweise geschuldet, dass die Anzahl der Entführungen in Inguschetien im Jahr 2009 stark zurückging - laut Memorial auf 13 gegenüber 31 im Vorjahr 2008. 2010 wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen jedoch erneut mindestens zwölf Entführungen registriert, wobei davon sieben Personen ohne erneutes Lebenszeichen verschwunden sein sollen. Für die zweite Hälfte 2010 ist die Zahl der Terroranschläge in Inguschetien etwas zurückgegangen. Jewkurow selbst stellte Ende 2010 jedoch fest, dass es bezüglich der Rebellenaktivitäten keine Entwarnung geben könnte. Am 10.06.2009 wurde die Vizechefin des inguschetischen Obersten Gerichtshofs, Asa Gasgirejewa, bei einem Anschlag erschossen - 18 Monate, nachdem ihr Amtsvorgänger erschossen worden war.

Der inguschetische Präsident Jewkurow nannte in einer Stellungnahme das "rechtswidrige Verhalten der Sicherheitskräfte" und "Korruption" als Hauptgründe für die schwierige Lage in Inguschetien. Am 13.06.09 wurde der ehemalige inguschetische Innenminister Baschir Auschew in Nasran ermordet. Am 22.06.09 wurde Präsident Jewkurow bei einem Anschlag auf seinen Konvoi schwer verletzt. Am 25.10.2009 wurde der führende Oppositionspolitiker Makscharip Auschew in Kabardino-Balkarien bei der Rückfahrt nach Inguschetien erschossen. Seit 2006 kam es in Inguschetien wiederholt auch zu gezielten Übergriffen gegen russischstämmige Bewohner (Tötung russischer Familien in ihrem häuslichen Umfeld; Übergriffe an der Arbeitsstelle), deren Zahl durch ein gezieltes Regierungsprogramm wieder erhöht werden sollte.

Ausgehend von hohem Niveau, verzeichnet Inguschetien seit 2009 einen Rückgang bei der Zahl von Gewaltakten mit extremistischem Hintergrund. Die Lage bleibt jedoch volatil und gilt weiterhin als sehr schwierig. Lt. NRO "Kawkaski Usel" waren 2012 163 Konfliktopfer zu beklagen (2011: 108), darunter 79 Tote (2011: 70). Der Anstieg der Opferzahlen 2011/2012 fiel jedoch gegenüber dem Rückgang 2010/2011 (2010: 326 Opfer, darunter 134 Tote) gering aus.

Die gewisse Beruhigung, die in Inguschetien eingetreten ist, wird auch auf das vergleichsweise dialogorientierte Wirken des Republikoberhaupts, Junus-Bek Jewkurow, zurückgeführt.

Sorge bereitet nach wie vor die prekäre Wirtschaftslage. Die Arbeitslosigkeit beträgt nach Schätzungen der VN ähnlich wie in Tschetschenien bis zu 80%. Es wird befürchtet, dass Inguschetien erneut stärker in Gewalt abrutschen könnte, wenn sich auf mittlere Sicht keine Fortschritte bei der Wirtschaftsentwicklung einstellen. Diese bleiben aus, da neben der weiterhin schwierigen Sicherheitssituation auch in Inguschetien die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht hinreichend gut sind und Korruption ein großes Problem darstellt.

Nach einem Bericht der Gesundheitsministerin Inguschetiens vom Februar 2009 befinden sich in Inguschetien immer noch 24.000 offiziell registrierte Flüchtlinge (überwiegend aus Tschetschenien und Nord-Ossetien). Dies belaste den Gesundheitssektor, der selbst für die einheimische Bevölkerung nicht ausreichend sei, zusätzlich. Im Vergleich zu der gesamten Russischen Föderation sei die Krankheitsrate sowie die Infektionsrate in Inguschetien doppelt so hoch. Im Bericht der Gesundheitsministerin wurden in diesem Zusammenhang insbesondere Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Krebs sowie verschiedene Traumata und Verletzungen, die auf Explosionen und Feuerwaffen zurückzuführen sind, genannt.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 26 und 27 sowie vom 10.06.2013, Seite 17; Amnesty International, Annual Report 2012)

8.3. Dagestan:

Dagestan ist mit rund 50.300 km² und 3 Millionen Einwohnern die größte der Nordkaukasusrepubliken der Russischen Föderation. Die Hauptstadt ist Machatschkala. Die Sprachen mehrerer Völker sind in der Verfassung verankert. Die meisten Einwohner Dagestans sind Muslime.

Präsident Magomedali Magomedov, der Dagestan seit dem Ende der Sowjetunion geführt hatte, wurde im Februar 2006 von Mukhu Aliyev abgelöst. 2010 wurde Aliyev wiederum durch Magomedows Sohn Magomedsalam Magomedow als Präsident Dagestans abgelöst.

(BBC News, Regions and Territories: Dagestan, Stand Dezember 2007, Dagestan, http://de.wikipedia.org/wiki/Dagestan , Zugriff 09.01.2012, Magomedsalam Magomedow,

http://de.wikipedia.org/wiki/Magomedsalam_Magomedalijewitsch_Magomedow , Zugriff 09.01.2012

Angesteckt durch die Konflikte in Tschetschenien, hat sich die Sicherheitslage im multiethnischen Dagestan in den letzten Jahren deutlich verschlechtert und bleibt sehr angespannt. Islamistischer Extremismus, Auseinandersetzungen zwischen Ethnien und Clans, Korruption und organisierte Kriminalität führen zu anhaltender Gewalt und Gegengewalt. Die beinahe täglichen Anschläge von Rebellen richten sich gezielt gegen Sicherheits- und Verwaltungsstrukturen, politische Führungskader, Polizeipatrouillen, Bahnlinien, Gas- und Stromleitungen und öffentliche Gebäude. Die Behörden reagieren darauf mit harter Repression.

Laut NRO "Kawkaski Usel" waren 2012 in Dagestan mindestens 683 Opfer der Konflikte zu beklagen, darunter 410 Tote.

Im Januar 2013 wurde der seit 2010 als Republikoberhaupt amtierende Magomedsalam Magomedow von Ramasan Abdulatipow abgelöst. Unter Magomedow hatte es vorsichtige Anzeichen gegeben, dass seine Administration stärker auf Dialog zur Bewältigung der Konflikte setzen will. Es wurden erste Mechanismen und Programme entwickelt, die zu einer Wiedereingliederung von Rebellen in die Gesellschaft führen sollen. Stärker propagiert wird ein gemäßigter Islam als Gegenstück zum Fundamentalismus der Extremisten. Als Grund für die Abberufung Magomedows gilt sein Unvermögen, die unruhige Republik zu befrieden und damit auch die Gefährdung für die vom 7.-23.2.2014 in der Region stattfindenden olympischen Winterspiele zu verringern. Es ist fraglich, ob sein Nachfolger imstande ist, eine grundlegende Verbesserung der Lage in Dagestan herbeizuführen.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, Seite 16 und 17)

In Dagestan verschwinden regelmäßig Personen; die NRO "Mütter Dagestans für die Menschenrechte" hat für die ersten acht Monate 2009 25 Entführungsfälle dokumentiert. Von öffentlicher Seite gibt es glaubhafte Schilderungen, dass kaum Hilfe bei der Suche nach diesen Personen geleistet wurde. Diese Übergriffe sind willkürlich, nicht gegen spezielle Bevölkerungsgruppen gerichtet. Problematisch ist die Tätigkeit tschetschenischer Sicherheitsorgane in Dagestan, die dort ohne Abstimmung mit den örtlichen Behörden Festnahmen durchführen. Dies hat wiederholt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit dagestanischen Sicherheitsorganen geführt. Seit Beginn dieses Jahrhunderts hat ein früher in der Region nicht vertretenes fundamentalistisches Verständnis des Islams zahlreiche Anhänger gefunden. Die staatlichen Behörden setzen die Mitglieder derartiger Gemeinden mit Extremisten oder potentiellen Terroristen gleich und erfassen sie in Listen. Mitunter müssen sich diese Personen regelmäßig bei der Miliz melden und sind erheblichem Druck ausgesetzt.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 25 und 26)

Anfang Mai 2011 ernannte Umarow persönlich Ibragimkhalil Daudow (Amir Salikh), einen 50-jährigen Afghanistan-Veteranen, zum neuen Anführer des dagestanischen Untergrundes. In Dagestan sind gemäß Schätzungen des Central Asia-Caucasus Analyst ungefähr 2500 Männer aktiv. Das ist mindestens die Hälfte aller bewaffneten Widerstandskämpfer im Nordkaukasus. Nach dem Tod Daudows Anfang Februar 2012 kämpfen mehrere Rivalen um seine Nachfolge.

(Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 9; Dt. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderinformation Russische Föderation Mai 2012)

Im Mai 2013 wurde die rechte Hand Umarows, Dschamaleil Mutalijew, getötet.

(http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54672/nordkaukasus vom 06.01.2014)

9. Weitere Erkenntnisse über asyl- und abschiebungsrelevante Vorgänge

9.1. Echtheit von Dokumenten

Die von den staatlichen Behörden ausgestellten Dokumente, welche die betreffenden Staatsangehörigen mit sich führen (insbesondere Reisedokumente), sind nicht selten mit unrichtigem Inhalt ausgestellt. Rund 20% der bei der Botschaft zur Echtheitsüberprüfung vorgelegten Dokumente sind Fälschungen. In Russland ist es möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie z.B. Staatsangehörigkeitsausweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehle oder Gerichtsurteile. Asylsuchende aus der Russischen Föderation, insbesondere aus den russischen Kaukasusrepubliken, führen mitunter gefälschte Dokumente (z.B. unzutreffende Haftbefehle) oder unwahre Zeitungsmeldungen mit sich, mit denen staatliche Repressionsmaßnahmen dokumentiert werden sollen. Die Verwaltungsstrukturen in Tschetschenien sind größtenteils wieder aufgebaut, sodass die Echtheit von Dokumenten aus Tschetschenien grundsätzlich überprüft werden kann. Probleme ergeben sich allerdings dadurch, dass bei den kriegerischen Auseinandersetzungen viele Archive zerstört wurden.

9.2. Ausreisekontrollen und Ausreisewege

Die Grenz- und Zollkontrollen eigener Staatsangehöriger durch russische Behörden an den Außengrenzen entsprechen in der Regel internationalem Standard. Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen mit besonderer Aufmerksamkeit u. a. bei Ein- und Ausreisen überwachen und dunkelhäutige Personen aus dem Kaukasus häufig zu Dokumentenüberprüfungen herausgeholt werden.

Reisende müssen ihren Inlandspass vorweisen, wenn sie Fahrkarten oder Flugtickets kaufen.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10.06.2013, S25, Seite 38-39; U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2012 - Russia)

II.2. Beweiswürdigung:

II.2.1. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und Volksgruppenzugehörigkeit der Beschwerdeführerin gründen sich auf deren diesbezüglich glaubwürdigen Angaben. Die Feststellung ihre Identität betreffend gründet sich auf das vorgelegte Identitätsdokument. Auch das Bundesasylamt ging von diesem Sachverhalt aus. Im Beschwerdeverfahren vor dem Asylgerichtshof bzw. nunmehr Bundesverwaltungsgericht ist auch kein Grund hervorgekommen, wonach an diesen Angaben zu zweifeln wäre.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der beschwerdeführenden Partei ergeben sich aus den Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, wonach sie gesund sei. Das Bundesverwaltungsgericht zog daraus den Schluss, dass die beschwerdeführende Partei jedenfalls nicht an einer akut lebensbedrohlichen Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes leidet, die einer Rückführung in den Herkunftsstaat entgegenstehen würde.

Die Feststellungen zum Privat- und Familienleben und zu den im Herkunftsstaat lebenden Angehörigen der beschwerdeführenden Partei ergeben sich aus den Angaben im Laufe des Verfahrens, insbesondere im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung.

Die Behauptung ihrer Eltern, dass BF3 "seit kurzem" verheiratet sei, konnte nicht den Feststellungen zu Grunde gelegt werden, da BF1 und BF2 entgegen der ausdrücklichen Aufforderung des Richters diesbezüglich keine Bestätigungen vorlegten.

Die strafrechtliche Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin ergibt sich aus dem im Akt einliegenden aktuellen Strafregisterauszug.

II.2.2. Die Länderfeststellungen gründen auf den jeweils angeführten Länderberichten staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen, denen weder in der Verhandlung noch in einer Stellungnahme inhaltlich konkret und dezidiert entgegen getreten wurde, besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation bzw. der russischen Teilrepublik Tschetschenien zugrunde gelegt werden konnten.

Aus den Länderfeststellungen ergibt sich, dass sich die allgemeine Lage in Tschetschenien in einem gewissen Ausmaß stabilisiert hat, wenngleich nicht verkannt wird, dass die Menschrechtslage im Nordkaukasus dennoch zumindest teilwiese weiterhin problematisch ist und dass mannigfaltige Bedrohungsszenarien bestehen und in Einzelfällen auch schwere Menschenrechtsverletzungen geschehen können. Diese Szenarien sind jedoch individuell glaubhaft zu machen und führen im Falle ihrer individuellen Glaubhaftmachung auch konsequenterweise zur Gewährung von Asyl.

II.2.3. Die behaupteten Fluchtgründe konnten aus folgenden Gründen den Feststellungen nicht zu Grunde gelegt werden:

Gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es Aufgabe des Asylwerbers durch ein in sich stimmiges und widerspruchsfreies Vorbringen, allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel, einen asylrelevanten Sachverhalt glaubhaft zu machen (VwGH 25.03.1999, 98/20/0559).

Der Verwaltungsgerichtshof hat in mehreren Erkenntnissen betont, dass die Aussage des Asylwerbers die zentrale Erkenntnisquelle darstellt und daher der persönliche Eindruck des Asylwerbers für die Bewertung der Glaubwürdigkeit seiner Angaben von Wichtigkeit ist (VwGH 24.06.1999, 98/20/0453; 25.11.1999, 98/20/0357, uva.).

Dabei steht die Vernehmung des Beschwerdeführers als wichtigstes Beweismittel zur Verfügung. Die erkennende Behörde kann einen Sachverhalt grundsätzlich nur dann als glaubwürdig anerkennen, wenn der Beschwerdeführer gleichbleibende, substantiierte Angaben macht, wenn diese Angaben wahrscheinlich und damit einleuchtend erscheinen und mit den Tatsachen oder allgemeinen Erfahrungen übereinstimmen.

Es entspricht der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, wenn Gründe, die zum Verlassen des Heimatlandes bzw. Herkunftsstaates geführt haben, im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens - niederschriftlichen Einvernahmen - unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den er Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, 95/20/0650).

Das Bundesverwaltungsgericht kam nach gesamtheitlicher Würdigung und im Besonderen auf Grund der mündlichen Beschwerdeverhandlung zu dem Schluss, dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin im Hinblick auf die von ihm behauptete Verfolgung und die Fluchtgründe unglaubwürdig ist und nicht den Tatsachen entspricht.

Zu Beginn der Verhandlung ergänzte BF 1 sein Vorbringen unter anderem damit, dass er ohne Angaben von Gründen vom Krankenhaus im Gebiet XXXX, wo er zuletzt vor dem geplanten Umzug nach Tschetschenien gewohnt habe, gekündigt worden sei und behauptete, dies sei mit seinen Verfolgungshandlungen in Verbindung zu bringen. Bis zum Zeitpunkt der Verhandlung hat er dies jedoch nicht vorgebracht, vielmehr hat er immer betont, man sei ihm dankbar für seine Arbeit dort, er habe sogar diverse Dankesschreiben bekommen. Zudem hat BF 1 vor dem Bundesasylamt angegeben, bis zu seiner Ausreise gearbeitet zu haben. Da BF 1 dies erst im weit fortgeschrittenen Stadium seines Asylverfahrens vorgebracht hat, muss das Bundesverwaltungsgericht von der Unglaubwürdigkeit dieses Vorbringens ausgehen. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass ein glaubwürdiger Beschwerdeführer sein Vorbringen nicht kontinuierlich steigert: BF 1 brachte hingegen in jeder seiner Befragungen bzw. Einvernahmen neue Fluchtgründe bzw. neue Eckpunkte seiner behaupteten Verfolgung vor; während er bei der Erstbefragung lediglich seine zweimalige medizinische Hilfeleistung für Widerstandkämpfer zu Protokoll gab, steigerte sich sein Vorbringen bei der Einvernahme dahingehend, dass er auch deshalb verfolgt worden sei, weil er ein Verfahren seinen Bruder betreffend beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg angestrebt habe und vor dem Bundesverwaltungsgericht dahingehend, dass er wie bereits erwähnt gekündigt worden sei und auch wegen seiner politischen Tätigkeit in seinem Wohngebiet verfolgt worden sei. Auch gab BF 1 erstmals in der Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Protokoll, er sei auch deswegen verfolgt, weil er sich als Primarius für die Errichtung einer (christlichen) Kapelle in seinem Spital eingesetzt habe, während er vor dem Bundesasylamt "lediglich" eine Unterkunft für Obdachlose erwähnte. Beim Bundesverwaltungsgericht entstand jedenfalls der Eindruck, dass BF 1 im Laufe des gesamten Verfahrens immer neue Verfolgungselemente konstruierte, um den Status eines Asylberechtigten erlangen zu können. Dass dieses gesteigerte Vorbringen überdies widersprüchlich und nicht nachvollziehbar ist, wird in der Folge aufgezeigt.

In der Verhandlung ergänzte BF 1 ebenso, dass seine älteste Tochter (BF 3) durch die Polizei angehalten und von diesen verhöhnt und verspottet worden sei, welches er offenbar ebenso mit seiner Verfolgung in Verbindung bringe. Bei ihrer Befragung vor dem Bundesasylamt brachte BF 3 jedoch keinerlei solche Vorfälle vor, vielmehr sagte sie aus, sie habe in der Heimat keine Probleme gehabt ("Mein Leben war dort nicht besonders in Gefahr.").

Bei seiner Erstbefragung gab BF 1 an, er sei 2011 dazu gezwungen worden Widerstandkämpfer medizinisch zu versorgen. Bei der Rückübersetzung korrigierte er ausdrücklich die zu Protokoll genommene Anzahl von 15 auf fünf versorgte Widerstandskämpfer, von denen zwei eine Schussverletzung gehabt hätten. In der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde gab BF 1 an, lediglich einen Kämpfer, der eine Schusswunde im Bauch gehabt habe, verarztet zu haben. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab BF 1 schließlich die dritte Version zu Protokoll: er habe bei diesem Vorfall zwei Widerstandskämpfer behandeln müssen, von denen einer an einer Schusswunde im Bauch und der andere eine kleinere Verletzung am Bein gehabt habe. Auf Nachfrage des Richters bestätigte BF 1 dies. Auf Vorhalt seiner zuvor getätigten Aussagen, insbesondere seine Angabe bei der Erstbefragung bei der Rückübersetzung selbst die Anzahl auf fünf zu behandelnde Verletzte ausgebessert zu haben, beharrte BF 1 darauf lediglich zwei Personen verarztet zu haben, änderte seine Aussage dann aber dahingehend ab, dass auch der zweite Verletzte eine Schussverletzung erlitten habe. Gerade von einem Arzt, der in stressigen Situation Ruhe bewahren muss, darf angenommen werden, dass er diesen besonderen Vorfall einheitlich und gleichbleibend widergeben kann und sich in seinen Angaben nicht widerspricht.

Bezüglich der behaupteten Entführung des Sohnes erscheint es dem Gericht als völlig lebensfremd und nicht nachvollziehbar, dass ein Vater, dessen Sohn als Druckmittel gegen ihn entführt wurde, diesen postwendend und grundlos - insbesondere ohne zB durch die Entführer dazu aufgefordert worden zu sein - im Heimatland zurücklässt, ja sogar im Stich lässt, und mit dem Rest der Familie flieht. Dies ist jedoch nicht das ausschlaggebende Element, welches diese Geschichte als unglaubwürdig darstellen lässt, vielmehr ist es die Tatsache, dass BF 1 und BF 2 sich in ihren Aussagen, was die Zeit von der Entführung bis zur Freilassung ihres Sohnes, massiv widersprechen. BF 1 gab in der mündlichen Verhandlung an, der Sohn habe während seiner neunmonatigen Anhaltung einmal im Monat bei seinem Onkel in Tschetschenien anrufen dürfen. Schließlich habe man ihn um ein Lösegeld in Höhe von 2 Mio. Rubel freikaufen können. BF 2 hingegen gab zuerst an, man habe den Sohn für 500.000 Rubel freigekauft. Auf Vorhalt der Aussage ihres Mannes, gab sie an eigentlich nicht zu wissen wie viel bezahlt worden sei. Auf Vorhalt, warum sie dann zuerst eine Summe angab, sagte sie aus, sie habe die Summe in Euro gemeint. Auf weiteren Vorhalt, dass 500.000 Euro nicht 2 Mio. Rubel ausmachen würden, gab sie schließlich an, zu glauben, es habe sich um 50.000 Euro gehandelt. Überdies habe BF 2 angegeben, sie hätten nicht gewusst, dass der Sohn noch am Leben ist. Auf Vorhalt BF 1 habe ausgesagt, der Sohn habe selbst anrufen dürfen, gab BF 2 an, ihr Mann habe ihr nichts davon erzählt. Dies erscheint dem Bundesverwaltungsgericht als unglaubwürdig, da die um das Leben ihres Sohnes besorgten Eltern, einander doch mitteilen würden, wenn einer erfährt, dass der Sohn noch am Leben sei. Glaubwürdige Beschwerdeführer hätten diesen Vorfall überdies einheitlich wiedergeben können. Ein massiver Widerspruch findet sich auch in einem wesentlichen Detail des Vorbringens des BF1, der BF2 und des BF6: Während BF1 und BF2 ausdrücklich in der mündlichen Beschwerdeverhandlung zuerst sowohl angaben, dass BF2 eine Vermisstenanzeige erstattet habe, als auch im Widerspruch dazu am Ende ihrer jeweiligen Befragung verneinten, sich jemals an die Polizei gewandt zu haben - beide gaben dazu übereinstimmend an, dies hätte aus ihrer Sicht nichts gebracht (wobei BF2 auf Vorhalt des Richters, sie habe doch eine Vermisstenanzeige eingebracht, ergänzte, dass es danach keinen Kontakt mit der Polizei mehr gegeben habe) - , legten BF1 und BF6 eine Polizeibestätigung vor, in welcher der BF2 "bezüglich Ihrer Anzeige vom XXXX wegen des spurlosen Veschwindens (...)" mitgeteilt wird, dass "operative Fahndungsmaßnahmen" im Laufen seien. Das Bundesverwaltungsgericht geht daher von einer Totalfälschung dieser - in unüblicher Weise nicht abgestempelten - Bestätigung aus. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass in den Befragungen des BF6 vor der belangten Behörde sowie des BF1 vor dem Bundesverwaltungsgericht übereinstimmend dargestellt wurde, dass die Entführung des BF6 dem Zweck gedient habe, BF1 solle seine Klage beim EGMR zurückziehen. BF1 brachte jedoch bei seiner Erstbefragung lediglich mutmaßend vor, sein Sohn sei verschwunden, dies deswegen, weil er (BF1) nicht erzählen konnte, wo sich die Rebellen versteckt hätten (ein wie auch immer geartetes Rechtsmittel beim EGMR wurde hingegen von BF1 nicht erwähnt). Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht den kursorischen Charakter einer Erstbefragung, hält aber fest, dass BF1 von sich aus ein wesentliches Detail völlig unzutreffend bzw. abweichend von seiner späteren Darstellung zu Protokoll gab. Gerade in dieser engen zeitlichen Nähe zu den behaupteten Ereignissen wäre zu erwarten gewesen, dass BF1 übereinstimmende Angaben tätigt. Abschließend sei erwähnt, dass BF1 und insbesondere BF2 kaum bereit waren, in der mündlichen Beschwerdeverhandlung von sich aus auf die Entführung bzw. auf Fragen des Richters zu dieser Entführung einzugehen

Weitere Widersprüche im Vorbringen des BF 1 betreffen einerseits seine Kandidatur in der Politik, welche er laut seiner Aussage vor dem Bundesasylamt lediglich auf Grund seines Umzuges nach Tschetschenien zurückgezogen habe, während er in der mündlichen Beschwerdeverhandlung plötzlich behauptete, er sei auf Grund seiner Verfolgung zur Zurückziehung gezwungen worden, und andererseits seine Anhaltung, bei der er laut Aussage vor dem Bundesasylamt mit Strom gefoltert worden sei ,während er vor dem Bundesverwaltungsgericht dies verneinte.

Als völlig lebensfremd und kaum nachvollziehbar erscheint dem Bundesverwaltungsgericht auch die Behauptung, dass nicht einmal seine Partei ("Einiges Russland") ihn vor der politischen Verfolgung habe schützen können. Dass ausgerechnet Präsident Putin und Ministerpräsident Medwedew ihren Parteigenossen nicht hätten schützen können - wie dies dem BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vorgehalten wurde - entlockte sogar BF1 ein Grinsen, wie im Protokoll der Beschwerdeverhandlung vermerkt wurde.

BF 2 antwortete häufig trotz anfänglicher Aufforderung konkret auf jede Frage zu antworten entweder zunächst gar nicht oder derartig vage, dass man nicht annehmen kann, dass sie das Erzählte selbst erlebt hätte. Häufig beantwortete sie Fragen mit der - aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes - Schutzbehauptung nichts zu wissen. Erst auf mehrere Nachfragen beantwortete BF 2 die gestellten Fragen knapp und wie bereits aufgezeigt teils widersprüchlich zu denen ihres Mannes.

In einer Gesamtbetrachtung kommt das Bundesverwaltungsgericht angesichts der aufgezeigten Widersprüche, Unstimmigkeiten und Unplausibilitäten zu dem Schluss, das gesamte Vorbringen ist als erfundenes Konstrukt zwecks Asylerlangung zu werten; es besteht keine aktuelle individuelle Verfolgungsgefahr aus asylrelevanten Gründen.

Darüber hinaus ist erneut in diesem Zusammenhang auf die zugrunde liegenden Länderfeststellungen zu verweisen, aus denen sich ergibt, dass sich die allgemeine Lage in Tschetschenien in einem gewissen Ausmaß stabilisiert hat, wenngleich nicht verkannt wird, dass die Menschenrechtslage im Nordkaukasus dennoch zumindest teilweise weiterhin problematisch ist und dass mannigfaltige Bedrohungsszenarien bestehen und in Einzelfällen auch schwere Menschenrechtsverletzungen geschehen können. Wie schon weiter oben erwähnt: Diese Szenarien sind jedoch individuell glaubhaft zu machen und führen im Fall ihrer individuellen Glaubhaftmachung auch konsequenterweise zur Gewährung von Asyl.

II.3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

II.3.1. Bis zum Ablauf des 31.12.2013 bestand die Zuständigkeit des Asylgerichtshofes gemäß Art. 129c des Bundes-Verfassungsgesetzes, BGBl. Nr. 1/1930 i.d.F. BGBl. I Nr. 49/2012, nach Erschöpfung des Instanzenzuges über Bescheide der Verwaltungsbehörden in Asylsachen - das war bis zum Ablauf des 31.12.2013 das Bundesasylamt - zu erkennen. Gemäß Art. 151 Abs. 51 Z 7 B-VG wurde der Asylgerichtshof mit 01.01.2014 zum Bundesverwaltungsgericht. Dieses hat gemäß § 75 Abs. 19 AsylG 2005 alle mit Ablauf des 31.12.2013 beim Asylgerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahren (nach Maßgabe des § 75 Abs. 20 AsylG 2005) zu Ende zu führen. Das gegenständliche Verfahren war mit Ablauf des 31.12.2013 beim Asylgerichtshof anhängig, somit ist das Bundesverwaltungsgericht nunmehr für die Erledigung der gegenständlichen Beschwerde zuständig.

II.3.2. Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz, BGBl. I Nr. 10/2013 (BVwGG), entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Mangels einfachgesetzlicher materienspezifischer Sonderregelung liegt gegenständlich Einzelrichterzuständigkeit vor.

II.3.3. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

II.3.3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (in der Fassung des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. z.B. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12. 2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/011). Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; vgl. auch VwGH 16.02.2000, 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose.

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99720/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorherigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183; 18.02.1999, 98/20/0468). Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn die Asylentscheidung erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 09.03. 1999, 98/01/0318; 19.10.2000, 98/20/0233).

Der von den Eltern der Beschwerdeführerin vorgebrachte Sachverhalt erweist sich, wie beweiswürdigend dargelegt, als nicht geeignet, um eine Furcht vor Verfolgung aus den Gründen, die in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannt sind, glaubhaft zu machen. Aus den Gesamtangaben der beschwerdeführenden Partei ist somit nicht ableitbar, dass sie in der Russischen Föderation konkrete Verfolgungsmaßnahmen von gewisser Intensität zu befürchten hätte, da sich aus dem Vorbringen keine glaubwürdige individuelle Verfolgung der Beschwerdeführerin ergeben hat. Die beschwerdeführende Partei konnte somit nicht glaubhaft darlegen, dass sie in ihrem Herkunftsstaat konkrete Verfolgungsmaßnahmen von gewisser Intensität zu befürchten hätte und sind die in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK geforderten Voraussetzungen somit nicht erfüllt.

Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher zum Ergebnis, dass der beschwerdeführenden Partei im Herkunftsstaat weder individuelle Verfolgung - weder unmittelbar von staatlichen Organen noch von "Privatpersonen" - drohte noch aktuelle und konkrete Verfolgungsgefahr aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung iSd Art. 1 Abschnitt 1 Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht und konnte eine solche auch nicht von Amts wegen festgestellt werden.

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. war daher abzuweisen.

II.3.4. Zu Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides

Wird ein Antrag auf internationalen Schutz "in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten" abgewiesen, so ist einem Fremden gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, "wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde". Nach § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung dieses Status mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 AsylG 2005 zu verbinden. Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.

§ 8 Abs. 1 AsylG 2005 beschränkt den Prüfungsrahmen auf den Herkunftsstaat des Antragstellers. Gemäß § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG 2005 ist ein Herkunftsstaat der Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Fremde besitzt oder - im Falle der Staatenlosigkeit - der Staat seines früheren gewöhnlichen Aufenthaltes.

Nach der (zur Auslegung der Bestimmungen zum subsidiären Schutz anwendbaren) Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 8 AsylG 1997 iVm § 57 FremdenG 1997 ist Voraussetzung einer positiven Entscheidung nach dieser Bestimmung, dass eine konkrete, den Asylwerber betreffende, aktuelle, durch staatliche Stellen zumindest gebilligte oder (infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt) von diesen nicht abwendbare Gefährdung bzw. Bedrohung vorliege. Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 8.6.2000, 2000/20/0141). Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher nicht geeignet, eine positive Entscheidung nach dieser Gesetzesstelle zu tragen, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, die ihnen einen aktuellen Stellenwert geben (vgl. VwGH 14.10.1998, 98/01/0122; 25.1.2001, 2001/20/0011).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 26.6.1997, 95/18/1293, 17.7.1997, 97/18/0336). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind, und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.9.1993, 93/18/0214). Gesichtspunkte der Zurechnung der Bedrohung im Zielstaat zu einem bestimmten "Verfolgersubjekt" sind nicht von Bedeutung; auf die Quelle der Gefahr im Zielstaat kommt es nicht an (VwGH 21.8.2001, 2000/01/0443; 26.2.2002, 99/20/0509; 22.8.2006, 2005/01/0718). Diese aktuelle Bedrohungssituation ist mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender Angaben darzutun, die durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert werden (VwGH 2.8.2000, 98/21/0461). Dies ist auch im Rahmen des § 8 AsylG 1997 (nunmehr: § 8 Abs. 1 AsylG 2005) zu beachten (VwGH 25.1.2001, 2001/20/0011).

Allgemeine Verhältnisse in einem Heimatstaat reichen nicht aus, wohlbegründete Furcht im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 zu begründen (VwGH 29.10.1993, 93/01/0859 betreffend Situation der ungarischen Minderheit). Allgemeine Informationen über die Situation im Heimatland der Beschwerdeführerin vermögen nichts zu ändern, weil es auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse immer auf die konkrete Situation des einzelnen Asylwerbers ankommt (vgl. VwGH 11.09.1996, 95/20/0197).

Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird - auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören -, der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten (oder anderer in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erwähnter) Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwSlg. 15.437 A/2000;

VwGH 25.11.1999, 99/20/0465; 8.6.2000, 99/20/0203; 8.6.2000, 99/20/0586; 21.9.2000, 99/20/0373; 25.1.2001, 2000/20/0367;

25.1.2001, 2000/20/0438; 25.1.2001, 2000/20/0480; 21.6.2001, 99/20/0460; 16.4.2002, 2000/20/0131; vgl. dazu überdies EUGH 17.2.2009, Meki Elgafaj/Noor Elgafaj vs. Staatssecretaris van Justitie, C-465/07 , a, Slg. 2009, I-0000, Randnr. 45, wonach eine Bedrohung iSd Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 [StatusRL] auch dann vorliegt, wenn der einen bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein). Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat (unter dem Gesichtspunkt des § 57 FrG, dies ist nun auf § 8 Abs. 1 AsylG zu übertragen) als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 27.2.2001, 98/21/0427; 20.6.2002, 2002/18/0028).

Erachtet die Behörde - wie im gegenständlichen Fall - im Rahmen der Beweiswürdigung die fluchtkausalen Angaben des Asylwerbers grundsätzlich als nicht glaubhaft, dann können die von ihm behaupteten Fluchtgründe gar nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden und es ist auch deren Eignung zur Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung gar nicht näher zu beurteilen (VwGH 9.5.1996, 95/20/0380).

Wie bereits oben ausgeführt wurde, hat die beschwerdeführende Partei keine sie konkret bedrohende aktuelle, an asylrelevante Merkmale im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anknüpfende Verfolgung maßgeblicher Intensität bzw. für eine aktuelle drohende unmenschliche Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe glaubhaft zu machen vermocht, weshalb auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass der beschwerdeführenden Partei in der Russischen Föderation eine konkret gegen sie gerichtete Verfolgung maßgeblicher Intensität droht.

Eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 bzw. Art. 3 EMRK kann im Falle der beschwerdeführenden Partei nicht erkannt werden. Es gibt weder einen Hinweis darauf, dass die beschwerdeführende Partei bei einer Rückkehr in die Russische Föderation den in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 umschriebenen Gefahren ausgesetzt wäre, noch hat die beschwerdeführende Partei vorgebracht oder ist von Amts wegen hervorgekommen, dass sie an einer akut lebensbedrohenden Krankheit leiden würde oder liegen Hinweise auf "außergewöhnliche Umstände", die eine Abschiebung der beschwerdeführenden Partei unzulässig machen könnten, vor. In der Russischen Föderation besteht auch nicht eine solch extreme Gefährdungslage, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, einer Gefährdung im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre. Die beschwerdeführende Partei hat auch keine auf ihre Person bezogenen "außergewöhnlichen Umstände" glaubhaft machen können, die ein Abschiebungshindernis bilden könnten. Dabei übersieht das Bundesverwaltungsgericht keineswegs, dass die medizinische Versorgung in der Russischen Föderation nicht österreichischen Standards entspricht und aufwändigere Behandlungen allenfalls erst nach privater Bezahlung erfolgen. Nach der Judikatur des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und jener es Verfassungsgerichtshofes hat jedoch - aus dem Blickwinkel des Art. 3 EMRK - im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden; dies selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich und kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gäbe (siehe VfGH 6.3.2008, B 2004/07 und die darin wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte; vom 29.9.2007, B328/07 und B 1150/07; VfSlg. 13.837/1994, 14.119/1995 und 14.998/1997).

Vom Vorhandensein entsprechender Behandlungsmöglichkeiten in der Russischen Föderation ist im vorliegenden Fall auszugehen:

Allfällige Schwierigkeiten bei der Gewährleistung einer entsprechenden medizinischen Behandlung in Russland erreichen im vorliegenden Fall die unbestreitbar "hohe Schwelle" des Art. 3 EMRK, wie sie von der erwähnten Judikatur festgesetzt wird, nicht (vgl. etwa EGMR 2.5.1997, 30.240/96, Fall D. v. Vereinigtes Königreich, wo die Abschiebung eines an AIDS im Endstadium erkrankten Staatsangehörigen von St. Kitts nicht bloß wegen dessen Krankheit, sondern aufgrund des Risikos eines Todes unter äußerst schlimmen Umständen als Verletzung von Art. 3 EMRK qualifiziert wurde; in anderen Fällen hatte der EGMR keine derart außergewöhnliche Situation angenommen: vgl. EGMR 29.6.2004, 7702/04, Fall Salkic ua

v. Schweden [psychische Beeinträchtigungen bzw. Erkrankungen]; 31.5.2005, 1383/04, Fall Ovdienko v. Finnland [Erkrankung an schwerer Depression mit Suizidgefahr]; 27.9.2005, 17416/05, Fall Hukic v. Schweden [Erkrankung an Down-Syndrom]; 22.6.2004, 17.868/03, Fall Ndangoya v. Schweden [HIV-Infektion]; zuletzt auch zurückhaltend EGMR 27.5.2008, 26.565/05, Fall N. v. Vereinigtes Königreich [AIDS-Erkrankung]).

Für die Russische Föderation kann nicht festgestellt werden, dass in diesem Herkunftsstaat eine dermaßen schlechte wirtschaftliche Lage bzw. eine allgemeine Situation herrschen würde, die für sich genommen bereits die Zulässigkeit der Rückbringung in den Herkunftsstaat iSd § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unrechtmäßig erscheinen ließe. Auch ist kein kennzeichnender Grad willkürlicher Gewalt aufgrund eines bewaffneten Konflikts gegeben, der ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die beschwerdeführende Partei bei Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer individuellen Bedrohung des Lebens ausgesetzt zu sein. Im konkreten Fall ist nicht ersichtlich, dass eine gemäß der Judikatur des EGMR geforderte Exzeptionalität der Umstände vorliegen würde, die die Außerlandesschaffung der beschwerdeführenden Partei im Widerspruch zu Art. 3 EMRK erscheinen ließe. Die Abschiebung der beschwerdeführenden Partei würde sie jedenfalls nicht in eine "unmenschliche Lage", wie etwa Hungertod, unzureichende oder gar keine medizinische Versorgung, eine massive Beeinträchtigung der Gesundheit oder gar den Verlust des Lebens, versetzen.

Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die beschwerdeführende Partei nach ihrer Rückkehr in die Russische Föderation in eine ausweglose Lebenssituation geraten könnte. Die Beschwerdeführerin ist eine junge und in jeglicher Hinsicht erwerbsfähige Frau wie auch BF 1, welcher in der mündlichen Beschwerdeverhandlung zu Protokoll gaben, er fühle sich in der Lage, auch körperlich anstrengende Tätigkeiten zu übernehmen. Er gab vor dem Bundesverwaltungsgericht darüber hinaus in keiner Hinsicht an, dass die Familie in der Heimat je an einer finanziellen Notlage gelitten hätte; BF 1 hätte als Arzt immer gearbeitet. Die Beschwerdeführerin hat in Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation den überwiegenden und prägenden Teil seines Lebens verbracht, beherrscht die russische sowie die tschetschenische Sprache und ist mit den dort herrschenden Gepflogenheiten vertraut. Es kann ihr zugemutet werden, auch nach ihrer Rückkehr das für ihr Überleben Notwendige durch eigene und notfalls auch wenig attraktive Arbeit aus Eigenem zu bestreiten. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keine besonderen Fähigkeiten erfordern und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer Schatten- oder Nischenwirtschaft stattfinden. Im Falle einer Rückkehr wird es der beschwerdeführenden Partei deshalb möglich und zumutbar sein, durch eigene Arbeit jedenfalls das für den Lebensunterhalt Notwendige zu erlangen. Auch der Umstand einer mangelnden Berufsausbildung oder Berufserfahrung und der damit einhergehenden Benachteiligung am Arbeitsmarkt führt zu keinem anderen Ergebnis, zumal die beschwerdeführenden Partei angesichts des bestehenden familiären und sozialen Netzwerkes nicht völlig auf sich alleine gestellt ist und entsprechende Unterstützung erhalten kann bzw. wird. Eine völlige Perspektivenlosigkeit für die beschwerdeführende Partei kann somit schlichtweg nicht erkannt werden. Ziel des Refoulementschutzes ist es nicht, Menschen vor unangenehmen Lebenssituationen, wie es die Rückkehr nach Tschetschenien sein wird, zu beschützen, sondern einzig und allein Schutz vor exzeptionellen Lebenssituationen zu geben.

Wie erwähnt verfügt die beschwerdeführende Partei in Tschetschenien nach wie vor über familiäre und soziale Anknüpfungspunkte. In Tschetschenien leben zahlreiche Verwandte der Beschwerdeführerin, es ist daher davon auszugehen, dass die Verwandten bzw. Familienangehörigen der beschwerdeführenden Partei im Falle der Rückkehr zumindest anfänglich unterstützend zur Seite stehen werden und dass das vorhandene familiäre und soziale Umfeld der beschwerdeführenden Partei die Wiedereingliederung in die russische Gesellschaft - welche nach einer nicht überlangen Ortsabwesenheit keine Probleme bereiten sollte - erleichtern wird.

Außergewöhnliche Umstände, angesichts derer die Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien in die Russische Föderation die Garantien des Art. 3 EMRK verletzen würde, können unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes somit nicht erblickt werden.

Der beschwerdeführenden Partei ist es daher nicht gelungen, darzulegen, dass sie im Falle ihrer Abschiebung in die Russische Föderation in eine "unmenschliche Lage" versetzt würden. Daher verstößt eine allfällige Abschiebung der beschwerdeführenden Partei nicht gegen Art. 2, Art. 3 EMRK oder gegen die Zusatzprotokolle zur EMRK Nr. 6 und Nr. 13 und auch nicht gegen Art. 15 lit.c StatusRL.

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides war daher ebenfalls abzuweisen.

II.3.5. Zu Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides:

II.3.5.1.

§ 75 Abs. 19 AsylG 2005 lautet:

"Alle mit Ablauf des 31.12.2013 beim Asylgerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahren sind ab 01.01.2014 vom Bundesverwaltungsgericht nach Maßgabe des Abs. 20 zu Ende zu führen."

§ 75 Abs. 20 Z. 1 AsylG 2005 lautet:

"Bestätigt das Bundesverwaltungsgericht in den Fällen des Abs. 18 und 19 in Bezug auf Anträge auf internationalen Schutz den abweisenden Bescheid des Bundesasylamtes, so hat das Bundesverwaltungsgericht in jedem Verfahren zu entscheiden, ob in diesem Verfahren die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist oder das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt zurückverwiesen wird. Wird das Verfahren zurückverwiesen, so sind die Abwägungen des Bundesverwaltungsgerichtes hinsichtlich des Nichtvorliegens der dauerhaften Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung für das Bundesamt nicht bindend. In den Fällen der Z 5 und 6 darf kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegen."

II.3.5.2. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 sind Ausweisungen nach Abs. 1 unzulässig, wenn dem Fremden im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt (Z 1) oder diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden (Z 2). Dabei sind insbesondere zu berücksichtigen: die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (lit. a); das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (lit. b); die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (lit. c); der Grad der Integration (lit. d); die Bindungen zum Herkunftsstaat des Fremden (lit. e); die strafgerichtliche Unbescholtenheit (lit. f); Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (lit. g); die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (lit. h); die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (lit. i).

Über die Zulässigkeit der Ausweisung ist gemäß § 10 Abs. 5 AsylG 2005 jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß § 10 Abs. 2 Z 2 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind, dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Ausweisung schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff NAG) unzulässig wäre.

II.3.5.3. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Eine Ausweisung hat zu unterbleiben, wenn dadurch in die grundrechtliche Position des Asylwerbers eingegriffen wird. Dabei ist auf das Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK Bedacht zu nehmen. In diesem Zusammenhang erfordert Art. 8 Abs. 2 EMRK eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs und verlangt somit eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen (vgl. VwGH 26. 6. 2007, 2007/01/0479).

Der Vater der Beschwerdeführerin brachte vor, in Österreich - abgesehen von seiner Frau und den vier Kindern - zwei Schwestern zu haben, die er jedes Wochenende sehen würde. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes besteht kein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK in Österreich, sodass eine Ausweisung keinen Eingriff in das Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK darstellen würde. Die Eltern der Beschwerdeführerin behaupteten weiters, dass BF 3 "seit kurzem" verheiratet sei, konnten dies jedoch trotz ausdrücklicher Aufforderung des Richters bis dato nicht belegen.

Darüber hinaus ist zu prüfen, ob mit der Ausweisung auch in das Privatleben der beschwerdeführenden Partei eingriffen wird und bejahendenfalls, ob auch dieser Eingriff eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig und in diesem Sinne auch verhältnismäßig ist (Art. 8 Abs. 2 EMRK).

Die Beschwerdeführerin reiste unter Umgehung der Grenzkontrolle illegal nach Österreich und stellte am 14.12.2011 einen letztlich unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz. Sie verfügt über keine intensiven Bindungen, worauf schon ihre kurze Aufenthaltsdauer in Österreich hindeutet (vgl. VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479, "...der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren [bis zur Erlassung des angefochtenen Bescheides] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte..." und zu diesem Erkenntnis: Gruber, "Bleiberecht" und Art. 8 EMRK, in Festgabe zum

80. Geburtstag von Rudolf Machacek und Franz Matscher (2008) 166, "...Es wird im Ergebnis bei einer solchen (zu kurzen) Aufenthaltsdauer eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Bindung zum Aufenthaltsstaat' als nicht erforderlich gesehen...".).

Darüber hinaus entspricht es der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass die durch eine soziale Integration erworbenen Interessen an einem Verbleib in Österreich in ihrem Gewicht gemindert sind, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung gehabt hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen. Auch nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bewirkt in Fällen, in denen das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die betroffenen Personen der Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten, eine Ausweisung nur unter ganz speziellen bzw. außergewöhnlichen Umständen ("in exceptional circumstances") eine Verletzung von Art. 8 EMRK (vgl. VwGH 29.4.2010, 2009/21/0055 mwN). Die Beschwerdeführerin musste gemäß der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nach der erstinstanzlichen Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz (Zustellung mit 16.08.2012) ihren zukünftigen Aufenthalt als nicht gesichert betrachten; sie konnte somit bereits acht Monate nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet nicht (mehr) darauf vertrauen, in Zukunft in Österreich verbleiben zu können (vgl. VwGH 29.4.2010, 2010/21/0085).

Dem öffentlichen Interesse, eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragstellung im Inland aufhalten durften, zu verhindern, kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216; siehe die weitere Judikatur des VwGH zum hohen Stellenwert der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften: VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; 16.1.2007, 2006/18/0453; jeweils vom 8.11.2006, 2006/18/0336 bzw. 2006/18/0316; 22.6.2006, 2006/21/0109; 20.9.2006, 2005/01/0699).

Im gegenständlichen Fall sind keine Umstände erkennbar, die auf eine während des dreijährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet entstandene außergewöhnliche Integration der beschwerdeführenden Partei schließen lassen: Die Beschwerdeführerin ist am Arbeitsmarkt nicht integriert, hat während ihres Aufenthaltes in Österreich laufend Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch genommen und ist auf fremde Unterstützungsleistungen angewiesen. Weiters besucht die Beschwerdeführerin - abgesehen von Deutschkursen und einem Semester als außerordentliche Schülerin eine HTL - in Österreich keine Bildungseinrichtungen und ist auch nicht Mitglied in Vereinen bzw. sonstigen Organisationen oder leistet sonstige gemeinnützige Arbeit.

BF 1 und BF 2 weisen faktisch keine bzw. nur marginale Kenntnisse der deutschen Sprache auf - doch selbst wenn das Sprachniveau deutlich höher wäre, wäre anzumerken, dass aus dem Umstand allein, die deutsche Sprache bis zu einem gewissen Grad zu beherrschen, nicht auf ein überwiegendes Interesse an einem weiteren Aufenthalt in Österreich geschlossen werden kann, und wäre ein solcher Umstand zudem schon deshalb zu relativieren, weil der beschwerdeführenden Partei die Unsicherheit der Aufenthaltsberechtigung bewusst sein musste (vgl. VwGH 25.02.2010, 2009/21/0187).

Die Beschwerdeführerin ist zwar unbescholten, doch vermag nach der verwaltungsgerichtlichen Judikatur die strafgerichtliche Unbescholtenheit allein weder die persönlichen Interessen eines Fremden am Verbleib in Österreich entscheidend zu verstärken (vgl. VwGH 25.2.2010, 2010/0018/0029) noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen (vgl. etwa VwGH 27.3.2007, 2006/21/0277 mwN).

Das Bundesverwaltungsgericht kann aber auch sonst keine unzumutbaren Härten in einer Rückkehr der Beschwerdeführerin nach Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation erkennen. Insbesondere führt ein Vergleich der Verhältnisse in Österreich zu jenen in Tschetschenien zu dem Schluss, dass die beschwerdeführende Partei ihrem Herkunftsstaat, in welchem sie den weit überwiegenden und prägenden Teil ihres Lebens verbracht hat, noch über familiäre und soziale Anknüpfungspunkte verfügt, da sich dort nach wie vor Verwandte befinden. Die Beschwerdeführerin spricht die tschetschenische als auch die russische Sprache, sodass auch seine Resozialisierung und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit an keiner Sprachbarriere scheitern und vor diesem Gesichtspunkt unmöglich erscheinen. Weiters ist die Beschwerdeführerin mit den Gepflogenheiten der russischen bzw. der tschetschenischen Gesellschaft vertraut. Nach alledem kann nicht gesagt werden, dass die Beschwerdeführerin seinem Kulturkreis völlig entrückt wäre und sich in seiner Heimat überhaupt nicht mehr zu Recht finden würde.

Angesichts der - in ihrem Gewicht erheblich geminderten - Interessen der Beschwerdeführerin am Verbleib in Österreich überwiegen nach Ansicht des erkennenden Einzelrichters die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung, die sich insbesondere im Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie darin manifestieren, dass das Asylrecht (und die mit der Einbringung eines Asylantrags verbundene vorläufige Aufenthaltsberechtigung) nicht zur Umgehung der allgemeinen Regelungen eines geordneten Zuwanderungswesens dienen darf (vgl. dazu im Allgemeinen und zur Gewichtung der maßgeblichen Kriterien VfGH 29.9.2007, B 1150/07).

Im Übrigen sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz in der Russischen Föderation - letztlich auch als Folge des Verlassens des Heimatlandes ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiären Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich - im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (vgl. VwGH 29.4.2010, 2009/21/0055).

Unter den angeführten Aspekten erweist sich ein Eingriff in das Privatleben der beschwerdeführenden Partei als gerechtfertigt.

Weiters ergaben sich auch keine begründeten Hinweise darauf, dass die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in seiner Person liegen und die nicht von Dauer sind, Art. 3 EMRK verletzen könnte. Die vorliegende Ausweisungsentscheidung steht zudem einem legalen Aufenthalt unter Beachtung der allgemeinen aufenthalts- und niederlassungsrechtlichen Bestimmungen bzw. einem humanitären Aufenthalt nicht entgegen (siehe idS VfGH 12.6.2010, U 614/10).

Im vorliegenden Verfahren wurde hinsichtlich der beschwerdeführenden Partei nicht festgestellt, dass diese an einer akut lebensbedrohlichen Krankheit leidet. Für das Bundesverwaltungsgericht besteht kein Anlass daran zu zweifeln, dass sie an keiner Art. 3 EMRK relevanten Erkrankung leidet bzw. dass keine iSd Art. 3 EMRK "außergewöhnlichen Umstände" vorliegen, welche einer Abschiebung entgegenstünden, weshalb nicht davon ausgegangen wird, dass auf Grund seiner Rückkehr in die Russische Föderation ihr Gesundheitszustand existenzbedrohend beeinträchtigt wird; auch die Abschiebung selbst bedeutet keine Verletzung von Art. 3 EMRK. Weiters ergaben sich auch keine begründeten Hinweise darauf, dass die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in ihrer Person liegen und die nicht von Dauer sind, Art. 3 EMRK verletzen könnte.

Unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände und unter Zugrundelegung der oben angeführten Judikatur der Höchstgerichte kann zum derzeitigen Zeitpunkt die dauerhafte Unzulässigkeit der Ausweisung nicht erkannt werden.

Somit war gem. § 75 Abs. 20 Z. 1 AsylG das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz (VwGG) hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

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