European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0100OB00038.24X.1217.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur allfälligen Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Die Kläger sind jeweils Hälfteeigentümer der EZ 39 KG * mit der Adresse M* 23. Der Beklagte ist Eigentümer der benachbarten Liegenschaft EZ 38 KG * mit der Adresse M* 22. Die Liegenschaften befinden sich in einer bis zum Jahr 2000 vorwiegend landwirtschaftlich geprägten Gemeinde, in der hauptsächlich Milchwirtschaft betrieben wurde.
[2] Abgesehen von einer Pferdezucht betreibt der Beklagte die letzte aktive Landwirtschaft in der Gemeinde. Auf der EZ 38 befindet sich ein Stallgebäude, in dem der Beklagte 1989 den ersten, 1991 einen zweiten und 2015 einen dritten (Entlüftungs‑)Ventilator eingebaut hat, die seit ihrem Einbau jeweils durchgehend (24 Stunden) in Betrieb sind. Teil des Stallgebäudes ist eine ursprünglich für das Einstellen landwirtschaftlicher Geräte und Maschinen gedachte Garage, die der Beklagte ohne die dafür notwendige Baubewilligung als Stall nutzt.
[3] Die Kläger betrieben auf der EZ 39 bis zum Jahr 1997 ebenfalls eine (von den Eltern des Erstklägers übernommene) Milchwirtschaft. Sie wohnten zunächst in einem mittlerweile ihrem Sohn übergebenen Einfamilienhaus, das rund 40 m vom Stall des Beklagten entfernt liegt. Seit dem Jahr 2022 leben sie wieder im Elternhaus des Erstklägers auf der EZ 39, das rund 20 m vom Stall des Beklagten entfernt ist und in dem sie seit 2021 auch Ferienwohnungen vermieten.
[4] Vor dem Umzug haben die Kläger die drei Ventilatoren am Stall des Beklagten nicht gehört. Erst seit sie wieder auf der EZ 39 wohnen, fühlen sie sich durch den von diesen ausgehenden (durch ein Sachverständigengutachten ermittelten) Lärm beeinträchtigt.
[5] Mit ihrer Klage begehren die Kläger die Unterlassung der – soweit hier noch relevant – von den drei Ventilatoren auf der Liegenschaft des Beklagten ausgehenden, das ortsübliche Ausmaß überschreitenden Geräuschen. Der von den Ventilatoren verursachte Lärm gehe weit über das nach den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Maß hinaus und beeinträchtige sie in der Nutzung ihrer Liegenschaft. Von ortsüblichen Immissionen könne schon deshalb keine Rede sein, weil der Lärm nach der einschlägigen ÖNORM S 5021 und der ÖAL‑Richtlinie Nr 3 bereits gesundheitsgefährdend sei.
[6] Der Beklagtewandte ein,der Wohnort der Kläger befinde sich in einem durch Kuhhaltung geprägten ländlichen Raum, sodass mit dem von einer Landwirtschaft üblicherweise ausgehenden Lärm zu rechnen sei. Der Betrieb der Ventilatoren sei aus Gründen des Tierschutzes notwendig und mit keinem ortsunüblichen oder unzumutbaren Lärm verbunden. Sie seien auch schon seit Jahren im Einsatz, ohne dass sich die Kläger dadurch beeinträchtigt gefühlt oder darüber beschwert hätten.
[7] Das Erstgericht wies die Klage ab, weil der Lärm der Ventilatoren die ortsübliche Nutzung der Liegenschaft der Kläger nicht wesentlich beeinträchtige. Das Haus der Kläger liege zwar im Nahbereich des Stallgebäudes, sei von diesem aber durch eine öffentliche Straße getrennt und werde von ihnen auch ohne jede Einschränkung benutzt. Die behauptete Störung des Schlafs der Kläger habe nicht festgestellt werden können.
[8] Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Nach der Rechtsprechung müssten hinzukommende Nachbarn sich mit der im Gebiet vorherrschenden Immission abfinden, was auch für gesundheitsschädliche Immissionen gelte, sofern ein durchschnittlich sorgfältiger Käufer sie erkennen hätte können. Auch wenn die Kläger keine nachträglichen Nachbarn im Sinne dieser Rechtsprechung seien, sei diese dennoch auf sie anwendbar, weil sie als unmittelbare Nachbarn die seit 2015 unverändert bestehende Situation gekannt und diese bei ihrem Umzug in Kauf genommen hätten. Da die Kläger die Lärmbelästigung über mehrere Jahre hinweg unbeanstandet hingenommen hätten und ihnen überdies deren behauptete Gesundheitsschädlichkeit bekannt gewesen sei, müssten sie diese als ortsüblich dulden. Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zur Frage, ob die ermittelten Schallpegel gesundheitsgefährdend seien, sei demgemäß nicht notwendig.
[9] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil zu den Fragen, nach welcher Zeit geduldete Immissionen als ortsüblich anzusehen und ob in der vorliegenden Situation auch gesundheitsgefährdende Immissionen zu dulden seien, keine gefestigte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.
[10] Dagegen richtet sich die Revision der Kläger, mit der sie begehren, der Klage in Bezug auf die Unterlassung der Lärmimmissionen stattzugeben. Hilfsweise stellen sie auch einen Aufhebungsantrag.
Rechtliche Beurteilung
[11] Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, eventualiter ihr nicht Folge zu geben.
I. Bevor inhaltlich auf die Revision eingegangen wird, ist vorweg klarzustellen:
[12] 1.1. Für die Beurteilung der Zulässigkeit der Revision iSd § 500 Abs 2 ZPO ist stets der gesamte Entscheidungsgegenstand des Berufungsgerichts maßgebend; dass nur ein Teil davon Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, ist nicht von Bedeutung (RS0042408).
[13] 1.2. Bilden mehrere Ansprüche den Entscheidungsgegenstand des Berufungsgerichts, können sie gemeinsam bewertet werden, wenn die Voraussetzungen des § 55 Abs 1 JN für eine Zusammenrechnung erfüllt sind (RS0042741; RS0053096).
[14] 1.2.1. Nach der ständigen Rechtsprechung ist jeder einzelne Miteigentümer zur Erhebung von Ansprüchen nach (unter anderem) § 364 ABGB legitimiert und kann gegen den störenden Nachbarn mit einer Unterlassungsklage nach § 364 Abs 2 ABGB vorgehen (RS0130733; 6 Ob 14/22k Rz 16 ua). Da Miteigentümer den behaupteten Anspruch aus dem ihnen persönlich zukommenden Eigentum ableiten, stehen sie in Ansehung des Streitgegenstands in keiner Rechtsbeziehung zueinander und bilden daher keine materiellen Streitgenossen iSd § 11 Z 1 ZPO. Ihre selbständigen Ansprüche sind daher auch nicht nach § 55 Abs 1 Z 2 JN zusammenzurechnen (5 Ob 92/24a Rz 16 mwN).
[15] 1.2.2. Ist wie im vorliegenden Fall Anspruchs- und gleichzeitig Parteienhäufung gegeben, sind bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 55 Abs 1 Z 1 JN zwar die Ansprüche der betreffenden Partei zusammenzurechnen, nicht jedoch diese mit Ansprüchen der anderen (bloß) formellen Streitgenossen (RS0131473; RS0053096 [T21]). Soweit eine Zusammenrechnung nicht stattfindet, ist die Zulässigkeit der Revision für jeden einzelnen Entscheidungsgegenstand gesondert zu beurteilen (RS0130936; RS0042642).
[16] 1.3. Die Kläger behaupten zwei, auf verschiedene Objekte (Wohnhaus und Garage) auf unterschiedlichen Grundstücken (Nr .78 und .79) einwirkende Störungen und machen dazu jeweils Unterlassungsansprüche in Form zweier selbständiger Unterlassungsbegehren geltend. Diese können ohne Weiteres ein unterschiedliches rechtliches Schicksal haben und wurden von den Klägern demgemäß auch nach § 56 Abs 2 JN gesondert mit je 8.000 EUR bewertet. Das das Wohnhaus betreffende Begehren erfasst in Form von Gerüchen und Geräuschen seinerseits zwei Immissionen, die jedoch beide von den drei Ventilatoren ausgehen. Störungsobjekt und -handlung sind insofern also identisch, sodass diese beiden Immissionen nicht getrennt zu bewerten sind (vgl 5 Ob 166/19a ErwGr 2.2.).
[17] 1.3.1. Gegenstand des Berufungsverfahrens waren beide Unterlassungsbegehren (Wohnhaus und Garage); im Revisionsverfahren wenden sich die Kläger nur noch gegen die Abweisung des auf Unterlassung der Lärmeinwirkung (Geräusche) auf das Wohnhaus gerichteten (Teil‑)Begehrens.
[18] 1.3.2. Das bedeutet: Die gehäuften Ansprüche des Erstklägers sind getrennt von jenen der Zweitklägerin zu betrachten und nicht zusammenzurechnen. Jeder Kläger verfolgt(e) zwei selbständige Unterlassungsansprüche, wobei hinsichtlich des das Wohnhaus betreffenden Anspruchs die Voraussetzungen des § 55 Abs 1 Z 1 JN vorliegen. Auf Basis ihrer Bewertung beträgt der Streitgegenstand für jeden Kläger daher 4.000 EUR je Unterlassungsbegehren, die nicht nach § 55 Abs 1 JN zusammenzurechnen sind.
[19] 2. Das Berufungsgericht hat zwar entgegen § 500 Abs 2 Z 1 ZPO einen Bewertungsausspruch unterlassen; dieser wird auch weder durch den Ausspruch über die Zulässigkeit der Revision (RS0042429 [T17]; RS0042544 [T7]) noch durch die von den Klägern gemäß § 56 Abs 2 JN vorgenommene Angabe des Werts des Streitgegenstands (hier: 2 x 4.000 EUR pro Kläger) ersetzt (RS0042296). Ein Ergänzungsauftrag zur Nachholung des Bewertungsausspruchs erübrigt sich aber, weil mit Blick auf die behauptete Gesundheitsgefährdung der Kläger eindeutig ist, dass zumindest der das Wohnhaus betreffende zweitinstanzliche Entscheidungsgegenstand jeweils 5.000 EUR übersteigt (vgl 8 Ob 88/24k Rz 13; RS0007073 [T7, T10]).
[20] II. Die demgemäß zulässige Revision ist auch berechtigt.
[21] 1. Das Berufungsgericht hat die Grundsätze des hier geltend gemachten Untersagungsrechts nach § 364 Abs 2 ABGB zutreffend dargestellt. Dieses besteht zusammengefasst dann, wenn die auf die benachbarte Liegenschaft wirkenden Einflüsse einerseits das nach den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Maß übersteigen und zugleich die ortsübliche Benutzung der Liegenschaft wesentlich beeinträchtigen, wobei die örtlichen Verhältnisse in beiden Belangen zu beachten sind (RS0010587). Die Grenze zulässiger Einwirkung ist somit einerseits durch die Ortsüblichkeit der Störung und andererseits die ortsübliche Benützung des Grundstücks gegeben (6 Ob 247/20x Rz 22; RS0010587 [T1]). Da die beiden Kriterien kumulativ vorliegen müssen, sind selbst übermäßige Immissionen zu dulden, wenn sie die ortsübliche Nutzung des Grundstücks nicht wesentlich beeinträchtigen, aber auch dann, wenn sie das ortsübliche Maß nicht übersteigen, obwohl die ortsübliche Nutzung des Grundstücks dadurch wesentlich beeinträchtigt wird (3 Ob 20/24y Rz 7; RS0010587 [T4]; RS0010577 [T4] ua). Für die – sowohl hinsichtlich des Ausmaßes der Immissionen als auch der Beeinträchtigung des dadurch betroffenen Grundstücks – zu berücksichtigenden örtlichen Verhältnisse kommt es neben Dauer und Intensität unter anderem auch auf die Art der Einwirkung, den Grad ihrer Störungseignung und den „Charakter der Gegend“ an (1 Ob 62/20d ErwGr 2.).
2. Zur Wesentlichkeit der Beeinträchtigung
[22] Das Erstgericht ging letztlich davon aus, dass die Kläger ihr Wohnhaus widmungsgemäß nutzten und auch nutzen könnten, weil die behaupteten Störungen (zB des Schlafs bei geöffnetem Fenster) durch den Betrieb der Ventilatoren nicht feststellbar gewesen seien. Diese Ansicht hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
[23] 2.1. Die Frage, ob Lärm die ortsübliche Nutzung der Nachbarliegenschaft wesentlich beeinträchtigt, hängt nicht nur von ihrer objektiv messbaren Lautstärke (im Sinn der Erhöhung des Grundgeräuschpegels), sondern auch ihrer subjektiven Lästigkeit ab, wobei auf das Empfinden eines durchschnittlichen Bewohners des betroffenen Grundstücks abzustellen ist (RS0010557 [T3]; RS0010607; 3 Ob 70/22y Rz 9 ua). Für die Lästigkeit sind neben der Tonhöhe unter anderem auch Dauer, Häufigkeit, Eigenart und Tageszeit des Lärms maßgeblich (RS0010557; RS0037203; 3 Ob 54/22w Rz 16 ua).
[24] 2.2. Es kommt daher nicht darauf an, ob der von den Ventilatoren verursachte Lärm eine konkrete Änderung oder Störung des Nutzungsverhaltens der Nachbarn verursacht. Es reicht vielmehr aus, wenn der Lärm geeignet ist, objektiv (das heißt von normal empfindlichen Menschen) als störend empfunden zu werden (RS0037198; 6 Ob 171/21x Rz 20; 3 Ob 93/14v ErwGr 5. ua). In Wohngegenden kann das etwa der Fall sein, wenn die als lästig empfundene Lärmimmission die Nachtruhe bzw das Ruhe- und Schlafbedürfnis wesentlich stört (RS0037171; 6 Ob 247/20x Rz 25 ua).
[25] 2.3. Ob der von den Ventilatoren ausgehende Lärm im aufgezeigten Sinn objektiv störend ist, lässt sich anhand des feststehenden Sachverhalts nicht beurteilen. Dafür bedürfte es Feststellungen zur objektiv messbaren Lautstärke auf der Liegenschaft der Kläger (vgl 5 Ob 210/21z Rz 21) sowie der Besonderheiten der emittierten Geräusche (vgl etwa 10 Ob 25/11s [tieffrequente Schwingungen]), die bislang aber fehlen. Das Erstgericht hat nämlich nur die Schallgrenzwerte nach den einschlägigen Normen für ländliche Wohngebiete sowie den (ohne den Betrieb der Ventilatoren gegebenen) Umgebungsbasispegel festgestellt und im Übrigen das lärmtechnische Sachverständigengutachten „vollumfänglich“ zum „integrierenden Bestandteil“ des festgestellten Sachverhalts erklärt. Das widerspricht § 417 Abs 2 ZPO, weil damit nicht klar und zweifelsfrei ausgesprochen wird, welche Tatsachen nach Meinung des Erstgerichts vorliegen (vgl RS0041860 [T2]). Überdies werden im Sachverständigengutachten die Schallpegel jeweils in der für die Kläger und der für den Beklagten günstigsten Bandbreite, also jeweils zwei mögliche Varianten, angeführt. Zur „subjektiven Lästigkeit“ fehlen Feststellungen überhaupt.
3. Zur Ortsüblichkeit:
[26] Das Berufungsgericht verneinte den Anspruch der Kläger dagegen mit der Begründung, die Immissionen seien aufgrund der jahrelangen Duldung mittlerweile ortsüblich, woran in der vorliegenden Situation auch eine etwaige Gesundheitsgefährdung nichts ändere. Auch diese Ansicht entspricht nicht der Rechtslage.
[27] 3.1. Die vom Berufungsgericht vertretene, auf ältere Rechtsprechung gestützte Ansicht, schon das bloße Hinnehmen einer Immissionsbeeinträchtigung über drei Jahre hinweg könne die nicht rechtzeitig abgewehrten Einwirkungen ortsüblich machen (vgl 7 Ob 361/97g; 3 Ob 201/99a), hat der Oberste Gerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung nicht mehr aufrecht erhalten (RS0117865; 4 Ob 64/20w ErwGr 2.2. ua; zum Stand der Lehre ausführlich: Kerschner/Wagner in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 § 364 ABGB Rz 217). Dies wird damit begründet, dass sich die Umgebung, die der in § 364 Abs 2 ABGB verwendete Begriff „Ort“ umschreibt, im Regelfall nicht auf das emittierende und das oder die davon wesentlich beeinträchtigte(n) Grundstück(e) reduzieren lässt, sondern die „örtlichen Verhältnisse“ weiträumiger im Sinn von Gebiets- bzw Stadtteilen („Vierteln“) mit annähernd gleichen Lebens- und Umweltbedingungen zu verstehen sind (3 Ob 54/22w Rz 16; 9 Ob 80/19h ErwGr 7. ua). Nur weil von einem Nachbargrundstück ausgehender Lärm längere Zeit hindurch unbeanstandet bleibt, bedeutet das nämlich nicht, dass sich gleich die ortsüblichen Verhältnisse geändert haben. Kurz: Was auf einem einzigen Grundstück in der Gemeinde herkömmlich ist, muss noch nicht ortsüblich sein (RS0010672).
[28] 3.1.1. Anderes gilt nur, wenn die Immission von einer Anlage ausgeht, die den Charakter eines Raumes prägt (RS0117865 [T2]; 9 Ob 80/19h ErwGr 7.; 5 Ob 65/03z ua), was etwa bei Großbetrieben, Bahnanlagen, Gondelseilbahnen oder großen Sportanlagen der Fall sein kann (8 Ob 61/19g ErwGr 2.2. mwN). (Nur) In dieser Situation können über drei Jahre unbeanstandet hingenommene Immissionen ausreichen, damit sie ortsüblich werden.
[29] 3.1.2. Dass der landwirtschaftliche Betrieb des Beklagten und der davon ausgehende Lärm den Charakter der Gegend prägt bzw die Landschaft formt, lässt sich aus den bislang getroffenen Feststellungen nicht ableiten. Diesen lässt sich nur entnehmen, dass die beiden Liegenschaften Teil eines „ursprünglich“ landwirtschaftlich geprägten Dorfes sind. Das reicht für die Annahme einer solchen Prägung nicht aus, weil der Betrieb des Beklagten die einzige (verbliebene) Milchwirtschaft in M* ist. Tatsächliche Annahmen, aus denen sich ein bestimmender Charakter ergeben könnte (zB Größe des Betriebs; Umfang und Lage der bewirtschafteten Flächen [vgl 4 Ob 99/12f ErwGr 2.3.] etc), wurden nicht getroffen.
[30] 3.2. Die Abweisung des Unterlassungsbegehrens kann auch nicht auf die vom Berufungsgericht herangezogene Rechtsprechung zu nachträglichen Nachbarn gestützt werden.
[31] 3.2.1. Nach dieser müssen sich neu zuziehende Nachbarn mit den beim Erwerb einer Liegenschaft vorgefundenen Immissionen grundsätzlich abfinden, zumal in immissionsbelasteten Gebieten auch die Grundstückspreise entsprechend niedriger sind. Bei gesundheitsschädlichen Immissionen besteht eine Duldungspflicht aber nur, wenn die Duldung, also der Erwerb der Liegenschaft, in Kenntnis der Gesundheitsschädlichkeit erfolgt (RS0112502; 9 Ob 84/17v ErwGr 2.3; 2 Ob 7/00v ua). Das folgt aus der Überlegung, dass solche Immissionen zwar nicht ortsüblich sind, der Erwerber aber auf eigene Gefahr handelt und deshalb die Nachteile, die aus der Immission folgen, hinnehmen muss (RS0112502 [T2]; 2 Ob 57/09k ErwGr 4.1. ua).
[32] 3.2.2. Das Berufungsgericht hat zwar zutreffend erkannt, dass die Kläger in diesem Sinn keine neuen Nachbarn sind. Entgegen seiner Ansicht besteht aber kein Grund, die so eben dargestellten Grundsätze auf die Kläger anzuwenden, die die beeinträchtigte EZ 38 weder neu erworben haben noch neu in die Umgebung des Betriebs des Beklagten gezogen sind. Es ist auch nicht zu erkennen, welche relevanten Ähnlichkeiten den Schluss des Berufungsgerichts rechtfertigen könnten, die Wertungen, die der Rechtsprechung zu neuen Nachbarn zugrunde liegen, seien auf die Kläger zu übertragen. Denn im Licht der für die unterschiedliche Behandlung der beiden Gruppen maßgebenden Gründe ist es schlicht nicht dasselbe, ob Eigentum ungeachtet einer bestehenden (und zumindest erkennbaren) Immissionsbelastung „bewusst“ erworben oder ob eine schon im Eigentum stehende Liegenschaft lediglich vorübergehend nicht genutzt wird bzw (unter Umständen sogar unfreiwillig) nicht genutzt werden kann. Das ergibt sich schon daraus, dass § 364 Abs 2 ABGB nicht die konkrete (aktuelle) Nutzung sondern die ortsübliche Nutzung schützt (vgl Kerschner/Wagner aaO§ 364 ABGB Rz 228). Die Kläger gehen dieses Schutzes daher nicht verlustig, nur weil sie ihre Liegenschaft längere Zeit nicht bewohnt haben – solange die wiederaufgenommene Nutzung ortsüblich ist –, was der Beklagte gar nicht bestreitet.
[33] 3.2.3. Ist die vom Berufungsgericht angewandte Judikatur auf die Kläger nicht anwendbar, ist auch sehr wohl relevant, ob die von der Liegenschaft des Beklagten bzw den Ventilatoren ausgehende Lärmbelastung generell, also nicht bloß für übersensible Menschen (vgl RS0010557 [T8]; RS0010607 [T9]), gesundheitsgefährdend ist, weil solche Immissionen nie als ortsüblich beurteilt werden können und immer untersagbar sein müssen (1 Ob 62/20d ErwGr 3.; 2 Ob 12/19g ErwGr I.5.7.; 4 Ob 43/16a ErwGr 5. ua). In diesem Fall läge zudem allein deshalb eine wesentliche Nutzungsbeeinträchtigung vor (6 Ob 247/20x Rz 32 ua). Insofern ist auch der von den Klägern (erkennbar) geltend gemachte Mangel des Berufungsverfahrens verwirklicht, weil das Berufungsgericht den in der Berufung gerügten Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens (unterlassene Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen) aufgrund einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung nicht wahrgenommen hat (RS0043051).
[34] 4. Im fortzusetzenden Verfahren werden daher die Ortsüblichkeit der durch die Ventilatoren verursachten Lärmbelastung sowie die damit verbundene Beeinträchtigung der Nutzung der Liegenschaft der Kläger im aufgezeigten Sinn zu klären und die dazu erforderlichen Feststellungen zu treffen sein. Sofern (noch) notwendig, wird auch das von den (insofern beweispflichtigen) Klägern beantragte medizinische Sachverständigengutachten einzuholen sein.
[35] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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