AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1 Z2
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2025:I404.2309883.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin MMag. Alexandra JUNKER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. TÜRKEI, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des BFA, Erstaufnahmestelle West, vom 24.02.2025, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.04.2025 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte am 05.02.2025 einen Antrag auf Internationalen Schutz. Am selben Tag wurde der Beschwerdeführer von der Polizei niederschriftlich einvernommen und gab zu seinen Fluchtgründen an, dass er die Türkei aus finanziellen Gründen verlassen habe. Da er in der Türkei stark verschuldet sei, habe es aufgrund dessen unter den Geschwistern große Auseinandersetzungen gegeben. Bei einer Rückkehr habe er Angst, finanziell nicht mehr über die Runden zu kommen und er habe auch Angst vor den Auseinandersetzungen mit den Geschwistern.
2. Am 19.02.2025 wurde der Beschwerdeführer durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle West (in der Folge: BFA bzw. belangte Behörde), niederschriftlich einvernommen und bestätigte der Beschwerdeführer, dass er aus Armut wegen seinen Schulden, nur aus finanziellen und ökonomischen Gründen sein Heimatland verlassen habe. Weiters habe es vor 7 oder 8 Jahren einen Vorfall mit seinen Brüdern gegeben. Wegen Geld sei es zu einer Streitigkeit gekommen und er habe für 1 Woche im Krankenhaus bleiben müssen und seine Brüder seien ein paar Monate im Gefängnis geblieben. Bei einer Rückkehr erwarten ihn viele Schulden und Leute und auch seine Brüder würden ihm Probleme bereiten.
3. Mit Bescheid des BFA vom 24.02.2025 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 05.02.2025 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Ivm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Abs. 1 ivm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag hinsichtlich den Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.) Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gem. § 46 FPG in die Türkei zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG besteht keine Frist zur freiwilligen Ausreise (Spruchpunkt VI.) und wurde der Beschwerde gegen die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz gem. § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.).
Begründend führte das Bundesamt an, dass der Beschwerdeführer keine asylrelevanten Gründe vorgebracht habe, sondern der Beschwerdeführer glaubhaft vorgebracht habe, aufgrund finanzieller Probleme und familiären Streitigkeiten die Türkei verlassen zu haben.
4. Mit Schreiben vom 25.03.2025 wurde seitens der rechtlichen Vertretung (BBU GmbH) eine Beschwerde erhoben. Zusammengefasst wurde vorgebracht, dass die belangte Behörde verkenne, dass der Beschwerdeführer aufgrund systematischer Diskriminierung der Kurden geflohen sei. Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt würden eine gezielte Ausgrenzung darstellen und einer Verfolgung gleichkommen. Die belangte Behörde habe nur mangelhafte Länderfeststellungen getroffen und hätte sie daher zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass dem Beschwerdeführer asylrelevante Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Kurden und aufgrund der Herkunft aus einem vom Erdbeben zerstörten Ort drohe.
5. Die Beschwerde samt Akt langte am 27.03.2025 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde der zuständigen Gerichtsabteilung zugeteilt.
6. Am 09.04.2025 wurde eine mündliche Verhandlung durchgeführt. In der Verhandlung wurden der Beschwerdeführer und Frau Ivelina Yordanova BONEVA (in der Folge Frau B) als Zeugin befragt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der 51-jährige Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Kurden an und ist Moslem. Er ist geschieden und hat eine erwachsene Tochter, die verheiratet und in der Türkei aufhältig ist. Seine Identität steht nicht fest.
Er wurde in der Stadt XXXX in der Provinz Konya geboren und ist dort aufgewachsen. Er ist in Besitz eines Eigentumshauses, welches derzeit leer steht.
Der Beschwerdeführer hat in der Türkei seit seinem 9. Lebensjahr gearbeitet. Er war in der Landwirtschaft als Arbeiter tätig und als Hirte. Zuletzt war er bis zu seiner Ausreise als Hirte in seinem Heimatort tätig.
Der Beschwerdeführer beherrscht Türkisch und Kurdisch.
Seine Geschwister, seine Tochter und zumindest ein Onkel leben in der Türkei, mit seiner Tochter und einem Onkel in der Türkei steht er in Kontakt, zu seinen Brüdern hat er kein gutes Verhältnis.
Der Beschwerdeführer verließ am 29.01.2025 illegal die Türkei und reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 05.02.2025 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Er hält sich somit als Asylwerber rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Er verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Die Kosten für die Verbringung des Beschwerdeführers nach Österreich betrugen € 5.000 bis € 6.000. Er bekam das Geld von seinem Onkel.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. In Österreich leben Cousins des Beschwerdeführers.
Vor etwa vier Monaten hat der Beschwerdeführer, als er noch in der Türkei aufhältig war, Frau B über Instagram kennengelernt. Seit 13.02.2025 ist er in Österreich bei ihr in der Wohnung mit einem gemeinsamen Wohnsitz gemeldet. Frau B wusste von vornherein über den unsicheren Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers Bescheid.
Frau B ist Staatsangehörige von Bulgarien und spricht sehr gut türkisch. Sie könnte sich vorstellen, zusammen mit dem Beschwerdeführer in der Türkei zu leben. Sie ist seit ca. 5 Monaten in Österreich aufhältig und geht in Österreich einer vollversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nach. Sie ist gesund und nicht auf Hilfe angewiesen.
Der Beschwerdeführer spricht nicht Deutsch, er hat keinen Deutschkurs besucht und ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation in Österreich. Der Beschwerdeführer legte keine Unterstützungserklärungen vor.
Der Beschwerdeführer bezog nur vom 07.02.2025 bis 12.02.2025 Leistungen aus der Grundversorgung. Er lebt seitdem in einer privaten Unterkunft und wird von seiner Lebensgefährtin finanziell unterstützt.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer hat bei einer Bank und einem Freund in der Türkei Schulden in der Höhe von etwa insgesamt 11.000 €, weil er sich Kleinvieh gekauft hat. Wegen der Schulden gab es zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Brüdern Streit. Vor 7 bzw. 8 Jahren wurde der Beschwerdeführer während eines Streits mit seinen Brüdern verletzt und musste für einen Tag in medizinische Behandlung in ein Krankenhaus. Ein Bruder des Beschwerdeführers wurde deshalb verhaftet und nach 2 bis drei Tagen wieder entlassen, der andere Bruder wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Es kam in der Folge zu keinen körperlichen Übergriffen mehr, jedoch zu verbalen Auseinandersetzungen.
Der Beschwerdeführer ist in der Türkei nicht der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, ausgesetzt, insbesondere auch nicht aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden.
Der Beschwerdeführer hat die Türkei verlassen, weil er in Europa ein finanziell besseres Leben führen wollte. Ausschlaggebend für seine Ausreise war dann jedoch der Umstand, dass er Frau B über das Internet kennenlernte und mit ihr zusammenleben wollte.
1.3. Zu Länderfeststellungen zur Türkei (aktualisiert 27.09.2024)
Politische Lage
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) unzufrieden und nach deren erneutem Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 desillusioniert. Ursache sind v. a. der durch die hohe Inflation verursachte Kaufkraftverlust, welcher durch Lohnzuwächse und von der Regierung im Vorfeld der Wahlen 2023 beschlossene Wahlgeschenke nicht nachhaltig kompensiert werden konnte, die zunehmende Verarmung von Teilen der Bevölkerung, Rückschritte in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die fortschreitende Untergrabung des Laizismus. Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Laut einer aktuellen Studie möchten fast 82 % das Land verlassen und im Ausland leben. Während die vorhergehende Regierung keinerlei Schritte unternahm, die Unabhängigkeit der Justizbehörden und eine objektive Ausgabenkontrolle wiederherzustellen, versucht die neue Regierung zumindest im wirtschaftlichen Bereich Reformen durchzuführen, um den Schwierigkeiten zu begegnen. Die Gesellschaft ist – maßgeblich aufgrund der von Präsident Erdoğan verfolgten spaltenden Identitätspolitik – stark polarisiert. Insbesondere die Endphase des Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 war von gegenseitigen Anschuldigungen und Verbalangriffen und nicht von der Diskussion drängender Probleme geprägt. Selbst die wichtigste gegenwärtige Herausforderung der Türkei, die Bewältigung der Folgen der Erdbebenkatastrophe, trat in den Hintergrund (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4f.; vgl. Migrationsverket 9.4.2024, S. 8f.).
Die Opposition versucht, die Regierung durch Kritik am teilweise verspäteten Erdbeben-Krisenmanagement und in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen, und förderte die in breiten Bevölkerungsschichten zunehmend migrantenfeindliche Stimmung. Die Gesellschaft bleibt auch, was die irreguläre Migration betrifft, stark polarisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 5; vgl. EC 8.11.2023, S. 12, 54, WZ 7.5.2023).
Die türkische Gesellschaft ist nach wie vor entlang ethnischer, politischer und religiöser Bruchlinien tief gespalten. Während die Kurdenfrage eine der Spaltungslinien ist (Kurden gegen Türken), sind die Türken auch politisch (konservative Nationalisten gegen Modernisten) und religiös (sunnitische Islamisten gegen Säkularisten) gespalten. In den letzten Jahren hat der spaltende Diskurs der politischen Elite zu einer weiteren Trennung und tiefen Polarisierung zwischen dem Lager der Erdoğan-Befürworter und seinen Gegnern beigetragen. Umfragen der Kadir-Has-Universität (Januar 2022) bestätigen, dass 40,6 % der Bevölkerung der Meinung sind, dass es eine politische Polarisierung gibt - im Vergleich zu 55,9 % im Jahr zuvor (BS 19.3.2024, S. 18). Das hat auch mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagieren ein "stolzes Türkentum". Islamischen Wertvorstellungen wird zusehends mehr Gewicht verliehen. Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpfen um ihr Dasein (WZ 7.5.2023). Angesichts des Ausganges der Wahlen im Frühjahr 2023 stellte das Europäische Parlament (EP) überdies hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Verfasstheit des Landes fest, dass nicht nur "rechtsextreme islamistische Parteien als Teil der Regierungskoalition ins Parlament eingezogen sind", sondern das EP war "besorgt über das zunehmende Gewicht der islamistischen Agenda bei der Gesetzgebung und in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, unter anderem durch den wachsenden Einfluss des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) im Bildungssystem" und "über den zunehmenden Druck der Regierungsstellen sowie islamistischer und ultranationalistischer Gruppen auf den türkischen Kultursektor und die Künstler in der Türkei, der sich in letzter Zeit darin zeigt, dass immer mehr Konzerte, Festivals und andere kulturelle Veranstaltungen abgesagt werden, weil sie als kritisch oder "unmoralisch" eingestuft wurden, um eine ultrakonservative Agenda durchzusetzen, die mit den Werten der EU unvereinbar ist" (EP 13.9.2023, Pt. 17).
Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 29.2.2024). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 8.11.2023, S. 4, 12; vgl. EP 13.9.2023, Pt. 9, WZ 7.5.2023).
Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl. DE/Aydas 31.12.2022, Güney 1.10.2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl.Esen/Gumuscu 19.2.2016).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser implizit negativ auf Demokratie und Grundrechte aus, denn einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumten, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert. Einige dieser Bestimmungen wurden um weitere zwei Jahre verlängert, aber die meisten jener sind im Juli 2022 ausgelaufen (EC 8.11.2023, S. 12). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022a). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR. Der türkische Rechtsrahmen enthält beispielsweise allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 8.11.2023, S. 6).
Das Europäische Parlament kam im September 2023 in Hinblick auf die Beitrittsbemühungen der Türkei zum Schluss, "dass die türkische Regierung kein Interesse daran hat, die anhaltende und wachsende Kluft zwischen der Türkei und der EU in Bezug auf Werte und Standards zu schließen, da die Türkei in den letzten Jahren klar gezeigt hat, dass ihr der politische Wille fehlt, um die notwendigen Reformen durchzuführen, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit, die Grundrechte und den Schutz und die Inklusion aller ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten" (EP 13.9.2023, Pt. 21).
Das Präsidialsystem
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 20.5.2024, S. 5; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 14).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 1.4.2021, S. 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 19.3.2024, S. 38). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55). In einer weiteren Entschließung vom September 2023 erklärte sich das Europäische Parlament "tief besorgt über die fortwährende übermäßige Machtkonzentration beim türkischen Präsidenten ohne wirksames System von Kontrollen und Gegenkontrollen, durch die die demokratischen Institutionen des Landes erheblich geschwächt wurden; [und] betont, dass die fehlende Eigenständigkeit auf mehreren Verwaltungsebenen aufgrund der extremen Abhängigkeit vom Präsidenten bei allen Arten von Entscheidungen und der Alleinherrschaft eines einzigen Mannes ein dysfunktionales System zur Folge haben kann" (EP 13.9.2023, Pt.20).
Machtfülle des Staatspräsidenten
Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7). Die gesetzgebende Funktion des Parlaments wird durch die häufige Anwendung von Präsidialdekreten und Präsidialentscheidungen eingeschränkt. Das Fehlen einer wirksamen gegenseitigen Kontrolle und die Unfähigkeit des Parlaments, das Amt des Präsidenten wirksam zu überwachen, führen dazu, dass dessen politische Rechenschaft auf die Zeit der Wahlen beschränkt ist. Die öffentliche Verwaltung, die Gerichte und die Sicherheitskräfte stehen unter dem starken Einfluss der Exekutive. Die Präsidentschaft übt direkte Autorität über alle wichtigen Institutionen und Regulierungsbehörden aus (EC 8.11.2023, S. 13-15; vgl.EP 19.5.2021, S. 20/ Pt. 55).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art. 8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 1.4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, S. 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab der Armee, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S. 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck und es mangelt ihr an Unabhängigkeit (EC 8.11.2023, S. 10f., 65).
Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen. - Von Jänner bis Dezember 2022 nahm das Parlament 80 von 749 vorgeschlagenen Gesetzen an. Demgegenüber wurden im selben Zeitraum 273 Präsidialdekrete, die im Rahmen des Ausnahmezustands zu einer Vielzahl von politischen Themen (einschließlich sozioökonomischer Fragen) erlassen wurden, den Parlamentsausschüssen vorgelegt (EC 8.11.2023, S. 13). Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7) und zwar nur durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 1.4.2021, S. 9). Das Parlament verfügt nicht über die erforderlichen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Ordentliche Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle. Die im Rahmen des Ausnahmezustands erlassenen Dekrete des Präsidenten jedoch müssen dem Parlament zur Genehmigung vorgelegt werden (EC 8.11.2023, S. 14).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).
Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57).
Monitoring des Europarates
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (CoE-PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).
Präsidentschaftswahlen
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit (seit der Verfassungsänderung 2017) einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 7). - Am 10.3.2023 rief der Präsident im Einklang mit der Verfassung und im Einvernehmen mit allen politischen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für den 14.5.2023 aus (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 4; vgl.PRT 10.3.2023).
Da keiner der vier Präsidentschaftskandidaten am 14.5.2023 die gesetzlich vorgeschriebene absolute Mehrheit für die Wahl erreichte, wurde für den 28.5.2023 eine zweite Runde zwischen den beiden Spitzenkandidaten, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und dem von der Opposition unterstützten Kemal Kılıçdaroğlu, angesetzt (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). In der ersten Runde verfehlte Amtsinhaber Erdoğan mit 49,5 % knapp die notwendige absolute Stimmenmehrheit, gefolgt von Kılıçdaroğlu mit 44,9 % und dem Ultranationalist Sinan Oğan mit 5,2 %, der kurz vor der Stichwahl eine Wahlempfehlung für Erdoğan abgab (Zeit Online 22.5.2023).
Die am 28.5.2023 abgehaltene Stichwahl bot laut der internationalen Wahlbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Beteiligung von Wahlbeobachtern der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) den Wählern und Wählerinnen die Möglichkeit, zwischen echten politischen Alternativen zu wählen. Die Wahlbeteiligung war wie im ersten Wahlgang hoch, doch wie schon in der ersten Runde verschafften eine einseitige Medienberichterstattung und das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen dem Amtsinhaber einen ungerechtfertigten Vorteil. Die Wahlverwaltung hat die Wahl technisch effizient durchgeführt, aber es mangelte ihr weitgehend an Transparenz und Kommunikation. In dem gedämpften, aber dennoch kompetitiven Wahlkampf konnten die Kandidaten ihren Wahlkampf frei gestalten. Die härtere Rhetorik, hetzerische und diskriminierende Äußerungen beider Kandidaten sowie die anhaltende Einschüchterung und Schikanierung von Anhängern einiger Oppositionsparteien untergruben jedoch den Prozess (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Diesbezüglicher "Höhepunkt" waren Fake News von Erdoğan. - Dieser zeigte während einer Wahl-Kundgebung eine Videomontage, in der es so aussah, als würden PKK-Führungskräfte das Wahlkampflied der größten Oppositionspartei CHP singen (Duvar 7.5.2023; DW 23.5.2023) und Kılıçdaroğlu an den PKK-Kommandanten, Murat Karayilan, appellieren: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen" ARD 28.5.2023; vgl. DW 23.5.2023). In Folge wurde die Manipulation von Erdoğan zugegeben (ARD 28.5.2023; vgl. DS 24.5.2023), obgleich er in einem Fernsehinterview sagte, dass es ihm gewissermaßen egal sei, ob das Video manipuliert wurde oder nicht (DW 23.5.2023). Dies hielt Erdoğan nicht davon ab, unmittelbar vor der Präsidenten-Stichwahl abermals "offenkundige Absprachen" zwischen Kılıçdaroğlu und PKK-Terroristen in den Kandil-Bergen zu behaupten (DS 24.5.2023).
In einem Umfeld, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, haben sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Medien bei ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf keine redaktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleistet, was die Fähigkeit der Wähler, eine fundierte Wahl zu treffen, beeinträchtigt hat (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Amtsinhaber Erdoğan gewann die Stichwahl mit rund 52 %, während sein Herausforderer, Kılıçdaroğlu, knapp 48 % gewann. Während Kılıçdaroğlu in den großen Städten, wie Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Adana, im Südosten (mit seiner mehrheitlich kurdischen Bevölkerung) und den Mittelmeer-Provinzen gewann, dominierte Erdoğan den Rest des Landes, vor allem Zentralanatolien, die Schwarzmeerküste, aber auch vom Erdbeben betroffene Provinzen wie Hatay, Gaziantep, Adıyaman oder Şanlıurfa (AnA 29.5.2023; vgl. Politico 29.5.2023,taz 10.4.2023).
Das Parlament
Der Rechtsrahmen bietet nicht in vollem Umfang eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen. Die noch unter dem Kriegsrecht verabschiedete Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht in ausreichendem Maße, da sie sich auf Verbote zum Schutz des Staates konzentriert und Rechtsvorschriften zulässt, die weitere unzulässige Einschränkungen mit sich bringen. Die Mitglieder des 600 Sitze zählenden Parlaments werden für eine fünfjährige Amtszeit [zuvor vier Jahre] nach einem Verhältniswahlsystem in 87 Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Vor der Wahl sind Koalitionen erlaubt, aber die Parteien, die in einer Koalition kandidieren, müssen individuelle Listen einreichen. Im Einklang mit einer langjährigen Empfehlung der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats wurde mit den Gesetzesänderungen von 2022 die Hürde für Parteien und Koalitionen, um in das Parlament einzuziehen, von 10 % auf 7 % gesenkt (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S. 6f.).
Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattgefundenen Parlamentswahlen erhielt die "Volksalliance" unter Führung der AKP mit 49 % der Stimmen eine absolute Mehrheit der 600 Parlamentsitze. - Die AKP gewann hierbei 268 (35,6 %), die ultranationalistische MHP 50 (10,1 %) und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei - Yeniden Refah Partisi (YRP) fünf Sitze (2,8 %). Das Oppositionsbündnis "Allianz der Nation" unter der Führung der säkularen, sozialdemokratisch ausgerichteten CHP erlangte 35 %, wobei die CHP 169 (25,3 %) und die nationalistische İYİ-Partei 43 Sitze (9,7 %) errang. Aus dem Bündnis mehrerer Linksparteien unter dem Namen "Arbeit und Freiheitsallianz" schafften die Links-Grüne Partei - Yeşil Sol Parti (YSP) mit künftig 61 (8,8 %) und die "Arbeiterpartei der Türkei" -Türkiye İşçi Partisi (TİP) mit vier Abgeordneten den Sprung ins Parlament (TRT 2023; vgl. BBC 22.5.2023). Das Ergebnis wurde am 30.5.2023 mit dem Entscheid des Obersten Wahlrates amtlich (YSK 30.5.2023).
In der neu gewählten Nationalversammlung sitzen zusätzlich Vertreter und Vertreterinnen mehrer Kleinparteien, welche auf den Listen der AKP, der CHP und er YSP standen. So entfallen von den 268 Sitzen der AKP vier auf die kurdisch-islamistische Partei der Freien Sache, Hür Dava Partisi - HÜDA-PAR und ein Sitz auf die Demokratische Linkspartei, Demokratik Sol Parti - DSP. Von den 149 Mandaten der CHP gehören 14 der Partei für Demokratie und Fortschritt, Demokrasi ve Atılım Partisi - DEVA [des ehemaligen Wirtschaftsministers Ali Babacan], zehn der Zukunftspartei, Gelecek Partisi - GP [des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu] und weitere zehn der islamisch-konservativen Partei der Glückseligkeit, Saadet Partisi -SP und drei der Demokratischen Partie, Demokrat Parti - DP. Über die CHP-Liste bekam die ansonsten eigenständig kandidierende İYİ-Partei zu ihren 43 Sitzen noch einen Sitz dazu. Über die LIsten der Links-Grünen Partei erhielten die Partei der Arbeit, Emek Partisi - EMEP zwei sowie die Partei der Sozialen Freiheit, Toplumsal Özgürlük Partisi - TÖP eines der YSP-Mandate [Anm.: die Zahl der YSP von 63 in der Grafik entspricht nicht jener des amtlichen Wahlresultats von 61 Mandataren] (Duvar 18.5.2023, vgl. BIRN 19.5.2023), was mit den übrigen 58 YSP die offiziellen 61 Parlamentarier ergibt (BIRN 19.5.2023).
Einen Monat vor der Wahl zog die HDP ihre Kandidatur als Partei aufgrund des seit 2021 Verbotsverfahrens gegen sie zurück und stellte ihre Kandidaten auf die Liste der mit ihr verbündeten Kleinpartei YSP zu den Wahlen (taz 10.4.2023; vgl. AJ 11.5.2023).
Die Parlamentswahlen fanden inmitten einer erheblichen Polarisierung und eines intensiven Wettbewerbs zwischen den Regierungs- und den Oppositionsparteien statt, die unterschiedliche politische Programme zur Gestaltung der Zukunft des Landes vertraten. Während des Wahlkampfs wurden die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Allgemeinen respektiert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. Vertreter der YSP sahen sich durchgängig Druck und Einschüchterungen ausgesetzt, die sich gegen ihre Wahlkampfveranstaltungen und Unterstützer richteten und zu systematischen Festnahmen führten. So leitete der Generalstaatsanwalt von Diyarbakır am 10.4.2023 eine Untersuchung aller Reden ein, die auf einer YSP-Kampagnenveranstaltung gehalten wurden, um festzustellen, ob irgendwelche Reden "terroristische Propaganda" enthielten. Darüber hinaus wurden einige weitere Fälle von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung beobachtet, die sich gegen Oppositionsparteien, Kandidaten und Unterstützer richteten (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 1, 13).
Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt. - Der politische Pluralismus wurde weiterhin dadurch untergraben, dass die Justiz Oppositionsparteien und einzelne Parlamentsabgeordnete, insbesondere der HDP, wegen angeblicher Terrorismusdelikte ins Visier nahm. Das System der parlamentarischen Immunität bietet den Oppositionsabgeordneten keinen ausreichenden Rechtsschutz, um ihre Ansichten innerhalb der Grenzen der Meinungsfreiheit zu äußern. Bis zum Ende der 27. Legislaturperiode (2018-2023) belief sich die Gesamtzahl der Abgeordneten, gegen die ein Beschluss über die parlamentarische Immunität und ein Antrag auf Aufhebung ihrer Immunität vorlag, auf 206 (180 von ihnen gehörten der parlamentarischen Opposition an). Allerdings wurde während des Berichtszeitraums der Europäischen Kommission (Juni 2022 - Juni 2023) weder einem bzw. einer Abgeordneten die Immunität entzogen noch wurde er bzw. sie wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Zwei ehemalige HDP-Ko-Vorsitzende und mehrere ehemalige HDP-Abgeordnete befinden sich trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu ihren Gunsten immer noch im Gefängnis [Stand: Februar 2024] (EC 8.11.2023, S. 13-14); vgl.CoE-PACE 22.4.2021, S. 2f). Drei Abgeordnete der HDP hatten ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus verloren (CoE-PACE 22.4.2021, S. 2f). - Der EGMR hatte am 1.2.2022 entschieden, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der HDP, unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität aufgehoben hatte (BIRN 1.2.2022). - Das Europäische Parlament "missbilligt[e] das gezielte Vorgehen gegen politische Parteien und Mitglieder der Opposition, die zunehmend unter Druck geraten" und "erklärt[e] sich besorgt darüber, dass die Unterdrückung und die Verfolgung der politischen Opposition nach den jüngsten Wahlen aufgrund der schlechter werdenden wirtschaftlichen Lage des Landes zunehmen werden" (EP 13.9.2023, Pt. 13). Das Verfahren zum Verbot der HDP wegen Terrorismusvorwürfen, einschließlich des Ausschlusses von 451 HDP-Mitglieder von politischer Betätigung sind weiterhin vor dem Verfassungsgericht anhängig [Stand: Februar 2024] (EC 8.11.2023, S. 14).
Die Demokratische Partei der Völker - HDP, die aufgrund des laufenden Verbotsverfahrens vor dem Verfassungsgericht von der Schließung bedroht war, nahm an den Parlamentswahlen vom 14.5.2023 unter den Listen der Links-Grünen Partei - YSP teil. Am 27.8.2023 stellte die HDP auf ihrem vierten außerordentlichen Kongress ihre Aktivitäten ein und beschloss, den politischen Kampf unter dem Dach der YSP fortzusetzen. Die YSP wiederum hielt ihren vierten großen Kongress am 15.10.2023 ab und änderte ihren Namen in Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker - Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi - HEDEP (Bianet 16.10.2023; vgl. FES 7.12.2023, S. 6). Der Kassationsgerichtshof entschied, die Abkürzung HEDEP nicht zuzulassen, weil sie eine zu große Ähnlichkeit mit der verbotenen Vorgängerpartei HADEP aufwies (FES 7.12.2023; vgl. Bianet 24.11.2023). Am 11.12.2023 änderte HEDEP ihre Abkürzung in DEM-Partei, nachdem der Kassationsgerichtshof eine Änderung aufgrund der Ähnlichkeit mit der geschlossenen Partei für Volksdemokratie (HADEP) gefordert hatte. Der vollständige neue Name der Partei wurde nicht geändert. Das Wort "Demokratie" im Parteinamen wurde verwendet, um die Abkürzung zu bilden (Duvar 11.12.2023; vgl. TM 11.12.2023).
Kommunalwahlen
Am 31.3.2024 haben in der Türkei Kommunalwahlen stattgefunden. Diese waren insofern von Bedeutung, da 20 % aller Beschäftigten der Türkei allein in Istanbul leben und dort mehr als die Hälfte der landesweiten Exporte und Importe abgefertigt werden. Außerdem stehen Istanbul und die Hauptstadt Ankara gemeinsam mit den Städten Izmir, Adana, Muğla und Antalya für fast die Hälfte der Wirtschaftsleistung des Landes (DW 1.4.2024). - Erstmals seit ihrer Gründung 2001 wurde die islamisch-konservative Partei AKP von Präsident Erdoğan mit 35,5 % nur zweitstärkste Kraft. Die oppositionelle CHP kam landesweit auf 37,7 %. Sie gewann in 21 Städten und 14 Großstädten unter anderem in Istanbul, Ankara, Izmir, Bursa, Adana und Antalya. Sie übernahm auch einige ehemalige AKP-Hochburgen in Anatolien. Im Südosten der Türkei gewann die pro-kurdisch DEM-Partei, Nachfolgerin der HDP, zehn Provinzen (BPB 22.5.2024; vgl. DW 1.4.2024, Jacobin 23.4.2024). Die CHP wurde zum ersten Mal seit 1977 wieder die führende Partei im Land. Sie baute ihre Regierungskontrolle von 22 auf 35 Provinzen aus. In den kurdischen Gebieten war die Niederlage der AKP noch deutlicher. Sie verlor beispielsweise in Muş und Ağri an die DEM-Partei (Jacobin 23.4.2024). Die Kommunalwahlen haben deutlich gemacht, dass die AKP vor einigen Entscheidungen steht, die nicht mehr lange aufgeschoben werden können. Sollte es weder zu einer vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahl noch zu einer Verfassungsänderung kommen, wird dies die letzte Amtszeit von Staatspräsident Erdoğan sein. Die Wahl hat außerdem gezeigt, dass mit der Neuen Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah Partisi - YRP) von Fatih Erbakan eine islamisch-konservative Partei entstanden ist, die für die AKP-Basis eine Alternative darstellt (FES 11.7.2024, S. 4). Die YRP wurde in der Provinz Şanliurfa stärkste Partei (Jacobin 23.4.2024). Laut Experten war die angespannte wirtschaftliche Lage entscheidend für das schlechte Abschneiden der AKP. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 konnten Erdoğan die AKP noch viele Wahlgeschenke an die Pensionisten, Rentner und die Wirtschaft machen. Dieses Mal war dies angesichts der leeren Staatskassen nicht mehr möglich (DW 1.4.2024).
Eingriffe in die lokale Demokratie
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S. 15).
Bis Juni 2023 wurden auf der Basis dieses Dekrets in 65 Gemeinden, die die HDP bei den Kommunalwahlen 2019 gewonnen hatte, 48 gewählte Bürgermeister durch staatlich bestellte Treuhänder ersetzt, und weitere sechs gewählte Bürgermeister durch Bürgermeister der AK-Partei ersetzt. Seit der ersten Ernennung von Treuhändern im Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister verhaftet und 39 Bürgermeister inhaftiert [arrested]. Sechs HDP-Bürgermeister sitzen weiterhin im Gefängnis [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-Bürgermeister bzw Ko-Bürgermeisterin. - Das gilt ebenso für Führungspositionen in der Partei.] (EC 8.11.2023, S. 19). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, S. 13).
Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt, ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister/ Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Art. 45) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).
Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S. 13). Derzeit befinden sich 5.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 8.11.2023, S. 14).
Siehe auch die Kapitel: Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition sowie Sicherheitslage / Gülen- oder Hizmet-Bewegung.
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
AI - Amnesty International (29.3.2022a): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070315.html , Zugriff 16.10.2023
AJ - Al Jazeera (11.5.2023): Don’t take our votes for granted, warn Kurdish voters in Turkey, https://www.aljazeera.com/news/2023/5/11/dont-take-our-votes-for-granted-warn-kurdish-voters-in-turkey , Zugriff 17.10.2023
AnA - Anadolu Agency (29.5.2023): election 2023, https://secim.aa.com.tr/ , Zugriff 17.10.2023
ARD - Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (28.5.2023): Falsche Videos und die Macht der Medien, https://www.tagesschau.de/faktenfinder/tuerkei-wahl-desinformation-100.html , Zugriff 16.10.2023
BBC - British Broadcasting Corporation (22.5.2023): Turkish elections: Simple guide to Erdogan's fight to stay in power, https://www.bbc.com/news/world-europe-65239092 , Zugriff 17.10.2023
Bianet - Bianet (24.11.2023): HEDEP to alter acronym to avoid closure risk, https://bianet.org/haber/hedep-to-alter-acronym-to-avoid-closure-risk-288428 , Zugriff 11.12.2023
Bianet - Bianet (16.10.2023): Green and Left Future Party renames itself HEDEP, https://bianet.org/haber/green-and-left-future-party-renames-itself-hedep-286373 , Zugriff 11.12.2023
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (19.5.2023): Turkey’s New Parliament: More Parties and More Women, https://balkaninsight.com/2023/05/18/turkeys-new-parliament-more-parties-and-more-women , Zugriff 17.10.2023
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (1.2.2022): Turkey Violated Pro-Kurdish MPs’ Rights, European Court Rules, https://balkaninsight.com/2022/02/01/turkey-violated-pro-kurdish-mps-rights-european-court-rules/ , Zugriff 17.10.2023
BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (22.5.2024): Rückblick: Kommunalwahlen in der Türkei, https://www.bpb.de/kurz-knapp/taegliche-dosis-politik/547207/rueckblick-kommunalwahlen-in-der-tuerkei , Zugriff 21.8.2024
BS - Bertelsmann Stiftung (19.3.2024): BTI 2024 Country Report Türkiye, https://www.ecoi.net/en/file/local/2105839/country_report_2024_TUR.pdf , Zugriff 26.3.2024
CoE-CLRA - Congress of Local and Regional Authorities of the Council of Europe (23.3.2022): Monitoring of the application of the European Charter of Local Self-Government in Turkey, [CG(2022)42-14final], https://search.coe.int/congress/pages/result_details.aspx?ObjectId=0900001680a5b1d3 , Zugriff 17.10.2023 [Anmerkung: Das wörtliche Zitat stammte aus dem deutschen Entwurf vom 2.3.2022, Zugriff 17.10.2023
CoE-PACE - Council of Europe - Parliamentary Assembly (22.4.2021): The functioning of democratic institutions in Turkey, Resolution 2376 (2021), https://pace.coe.int/files/29189/pdf , Zugriff 16.10.2023 [Login erforderlich]
DE/Aydas - Democratic Erosion / Aydas, Irem (31.12.2022): Competitive Authoritarianism in Turkey, https://www.democratic-erosion.com/2022/12/31/competitive-authoritarianism-in-turkey/ , Zugriff 16.10.2023
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023
DS - Daily Sabah (24.5.2023): Erdoğan slams continued PKK support for Kılıçdaroğlu, https://www.dailysabah.com/politics/elections/erdogan-slams-continued-pkk-support-for-kilicdaroglu , Zugriff 16.10.2023
Duvar - Duvar (11.12.2023): Turkey’s pro-Kurdish HEDEP changes abbreviation upon top court’s demand, https://www.duvarenglish.com/turkeys-pro-kurdish-hedep-changes-abbreviation-upon-top-courts-demand-news-63473 , Zugriff 12.12.2023
Duvar - Duvar (18.5.2023): Right-wing lawmakers dominate Turkish parliament, https://www.duvarenglish.com/right-wing-lawmakers-dominate-turkish-parliament-news-62431 , Zugriff 16.10.2023
Duvar - Duvar (7.5.2023): President Erdoğan displays montage video to link CHP and PKK in Istanbul rally, https://www.duvarenglish.com/president-erdogan-displays-montage-video-to-link-chp-and-pkk-in-istanbul-rally-news-62356 , Zugriff 16.10.2023
DW - Deutsche Welle (1.4.2024): Türkei: Niederlage für Erdogan - Triumph für Opposition, https://www.dw.com/de/türkei-niederlage-für-erdogan-triumph-für-opposition/a-68713697 , Zugriff 21.8.2024
DW - Deutsche Welle (23.5.2023): Faktencheck: Erdogan zeigt Fake Video von Kilicdaroglu, https://www.dw.com/de/faktencheck-erdogan-zeigt-manipuliertes-video-von-kilicdaroglu/a-65562185 , Zugriff 16.10.2023
DW - Deutsche Welle (18.7.2021): Hükümetin OHAL yetkileri uzadı [Verlängerung des Ausnahmezustands durch die Regierung], https://www.dw.com/tr/hükümetin-ohal-yetkileri-uzad ı/a-58305421, Zugriff 16.10.2023
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023
EC - Europäische Kommission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=Türkiye Report 2022.pdf, Zugriff 31.10.2023
EC - Europäische Kommission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 17.10.2023
EC - Europäische Kommission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD (2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 16.10.2023
EP - Europäisches Parlament (13.9.2023): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2023 zu dem Bericht 2022 der Kommission über die Türkei (2022/2205(INI), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0320_DE.pdf , Zugriff 25.10.2023
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 29.9.2023
Esen/Gumuscu - Esen, Berk / Gumuscu, Sebnem (19.2.2016): Rising competitive authoritarianism in Turkey, Third World Quarterly, 37:9, 1581-16, https://www.swp-berlin.org/publications/products/fachpublikationen/Berk_Esen_Rising_competitive_authoritarianism_in_Turkey.pdf , Zugriff 16.10.2023
FES - Friedrich-Ebert-Stiftung (11.7.2024): AKP UND CHP IM DIALOG, https://turkey.fes.de/de/e/akp-und-chp-im-dialog.html , Zugriff 21.8.2024
FES - Friedrich-Ebert-Stiftung (7.12.2023): Aufhebung der Gewaltenteilung?, https://turkey.fes.de/de/e/aufhebung-der-gewaltenteilung , Zugriff 11.12.2023
FH - Freedom House (29.2.2024): Freedom in the World 2024 - Turkey, 202, https://www.ecoi.net/de/dokument/2105043.html , Zugriff 15.2.2024
Güney - Günay, Cengiz (1.10.2016): Die autoritäre Wende in der Türkei und die Schwächen des autoritären Systems, in: Institut G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West, RGOW 9-10/2016, https://g2w.eu/pdf/einzelartikel/D-Web_RGOW_2016-09-10_33_35.pdf , Zugriff 16.10.2023
HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338 , Zugriff 16.10.2023
Jacobin - Jacobin (23.4.2024): Die türkische Wirtschaftskrise schadet Erdogan, https://www.jacobin.de/artikel/tuerkei-erdogan-akp-krise , Zugriff 21.8.2024
MEI - Middle East Institute (1.10.2022): THE STRATEGIES AND STRUGGLES OF THE TURKISH OPPOSITION UNDER AUTOCRATIZATION, https://www.mei.edu/sites/default/files/2022-10/Turkish Views - Crisis and Opportunities for Turkey in 2023.pdf, Zugriff 16.10.2023
Migrationsverket - Schwedisches Migrationsamt [Schweden] (9.4.2024): Landinformation; Turkiet Politisk utveckling, fri-och rättigheter samt situationen för särskilda grupper, https://www.ecoi.net/en/file/local/2107087/240409300.pdf , Zugriff 24.9.2024
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
OSCE - Organization for Security and Co-operation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true , Zugriff 16.10.2023
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe / Office for Democratic Institutions and Human Rights (29.5.2023): Türkiye, Presidential Election, Second Round, 28 May 2023: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/files/f/documents/7/c/544660.pdf , Zugriff 16.10.2023
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe / Office for Democratic Institutions and Human Rights (15.5.2023): Türkiye, General Elections, 14 May 2023: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/files/f/documents/6/2/543543.pdf , Zugriff 6.10.2023
OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey – Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true , Zugriff 16.10.2023
Politico - Politico (29.5.2023): Turkey’s Erdoğan wins again, https://www.politico.eu/article/turkey-erdogan-set-for-election-victory/ , Zugriff 17.10.2023
PRT - Presidency of the Republic of Turkey [Turkey] (10.3.2023): "Our nation will go to the polls on May 14 for the presidential and parliamentary elections", https://www.tccb.gov.tr/en/news/542/144172/-our-nation-will-go-to-the-polls-on-may-14-for-the-presidential-and-parliamentary-elections -, Zugriff 16.10.2023 [Login erforderlich]
SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (1.4.2021): Turkey’s Presidential System after Two and a Half Years. An Overview of Institutions and Politics, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/research_papers/2021RP02_Turkey_Presidential_System.pdf , Zugriff 16.10.2023
taz - Tageszeitung, Die (10.4.2023): Aus Grün mach HDP, https://taz.de/Wahl-in-der-Tuerkei/ !5924917/, Zugriff 17.10.2023
TM - Turkish Minute (11.12.2023): Pro-Kurdish party drops acronym HEDEP, adopts abbreviation DEM - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2023/12/11/kurdish-party-drop-acronym-hedep-adopts-abbreviation-dem/ , Zugriff 12.12.2023
TRT - TRT World (2023): 2023 Türkiye elections, https://www.trtworld.com/ , Zugriff 17.10.2023
WZ - Wiener Zeitung (7.5.2023): Verzweifelter Ruf nach einem Wechsel, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2187684-Verzweifelter-Ruf-nach-einem-Wechsel.html , Zugriff 16.10.2023
YSK - YÜKSEK SEÇİM KURULU [Türkei] (30.5.2023): Karar No: 2023/1255 [Beschluss Nr.: 2023/1255], https://www.ysk.gov.tr/doc/karar/dosya/45639002/2023-1255.pdf , Zugriff 17.10.2023
Zeit Online - Zeit Online (22.5.2023): Ultranationalist Oğan gibt Wahlempfehlung für Erdoğan ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-05/ultranationalist-ogan-kuendigt-unterstuetzung-erdogan-in-stichwahl-an , Zugriff 16.10.2023
Sicherheitslage
Letzte Änderung 2024-10-15 10:49
Akteure der Sicherheitsbedrohung
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den Islamischen Staat (IS) (AA 20.5.2024, S. 4; vgl. USDOS 30.11.2023, Crisis 24 25.8.2023) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16; vgl. USDOS 30.11.2023, Crisis 24 25.8.2023) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 20.5.2024, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).
Höhepunkt der Terroranschläge und bewaffneter Aufstände 2015-2017
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2024, S. 32f.). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022b). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage und zum Thema Binnenflüchtlinge das Unterkapitel: Flüchtlinge / Binnenflüchtlinge (IDPs).
Aktuelle Entwicklungen und Lage
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (MBZ 18.3.2021, S. 12). Zwischen 2026 und 2023 stieg die Gewaltrate allmählich im gesamten Nordirak sowie in Nordsyrien an, wo sich die Eskalation zwischen den türkischen Sicherheitskräften, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), der syrischen Schwesterorganisation der PKK, verschärfte. Die Eskalation innerhalb der Türkei hingegen ging in diesem Zeitraum deutlich zurück (ICG 8.1.2024).
Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 8.11.2023, S. 50). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023a), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Bergregionen im Südosten des Landes (MBZ 2.3.2022, S. 13). Die Lage im Südosten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge und ist in der Grenzregion prekär, insbesondere nach den Erdbeben im Februar 2023. Die türkische Regierung hat zudem grenzüberschreitende Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und Syrien durchgeführt, und in den Grenzgebieten besteht ein Sicherheitsrisiko durch terroristische Angriffe der PKK (EC 8.11.2023, S. 4, 18). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK und der TAK, in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis 24 24.11.2022). Die Berichte der türkischen Behörden deuten zudem darauf hin, dass die Zahl der PKK-Kämpfer auf türkischem Boden zurückgegangen ist (MBZ 31.8.2023, S. 16).
Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Berichte, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat. Die PKK verübte weiterhin Anschläge auf Zivilisten; die Regierung bemühte sich weiterhin, solche Angriffe zu verhindern (USDOS 22.4.2024, S. 3, 24). Die Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 3.5.2024), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK mit Drohnenangriffen im Nordirak, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend auch im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten und von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), wo die Angriffe der Türkei im Oktober 2023 kritische Infrastrukturen beschädigten und die Wasser- und Stromversorgung von Millionen von Menschen unterbrachen. Die Türkei hält weiterhin Gebiete in Nordsyrien besetzt, wo ihre lokalen syrischen Vertreter ungestraft die Rechte der Zivilbevölkerung verletzen (HRW 11.1.2024). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 22.4.2024, S. 24). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 3.5.2024).
Zuletzt kam es im Dezember 2023 und Jänner 2024 zu einer Eskalation. - Am 12.1.2024 wurden bei einem Angriff der PKK auf eine türkische Militärbasis im Nordirak neun Soldaten getötet. Ende Dezember 2023 waren bei einer ähnlichen Aktion zwölf Armeeangehörige ums Leben gekommen. Die türkische Regierung berief umgehend einen Krisenstab ein und holte, wie stets in solchen Fällen, zu massiven Vergeltungsschlägen aus. Bis zum 17.1.2024 waren laut Verteidigungsministerium mehr als siebzig Ziele durch Luftangriffe zerstört worden. Die Türkei beschränkte ihre Vergeltungsaktionen nicht auf den kurdischen Nordirak, sondern griff auch Positionen der SDF sowie Infrastruktureinrichtungen im Nordosten Syriens an. Ankara betrachtet die SDF und vor allem deren wichtigste Einheit, die kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten (YPG), als Arm der PKK und somit als Staatsfeind (NZZ 18.1.2024; vgl. RND 14.1.2024).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2023 242 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 173 bewaffnete Kämpfer, 69 Angehörige der Sicherheitskräfte, jedoch keine Zivilisten (İHD/HRA 23.8.2024, S. 2). Das waren deutlich weniger als in der İHD-Zählung von 2022 als 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten den Tod fanden (İHD/HRA 27.9.2023b). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum Dezember 20.9.2024 7.119 (4.763 PKK-Kämpfer, 1.491 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.055], aber auch 304 Polizisten und 132 sogenannte Dorfschützer - 639 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen (ICG 20.9.2024).
Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 8.11.2023, S. 18). Hierzu bekräftigte das Europäische Parlament im September 2023 neuerlich (nach Juni 2022), "dass die Wiederaufnahme eines verlässlichen politischen Prozesses, bei dem alle relevanten Parteien und demokratischen Kräfte an einen Tisch gebracht werden, dringend erforderlich ist, um sie friedlich beizulegen; [und] fordert die neue türkische Regierung auf, sich durch die Förderung von Dialog und Aussöhnung in diese Richtung zu bewegen" (EP 13.9.2023, Pt. 16).
Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 13.9.2024; vgl. EDA 3.5.2024). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis 24 24.11.2022). Die Maßnahmen der Sicherheitskräfte gegen die PKK betreffen in unverhältnismäßiger Weise kurdische Gemeinschaften. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen. - Ausgangssperren und Verbote öffentlicher Versammlungen, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die Operationen gegen die PKK und die Militäroperation des Landes in Nordsyrien verhängt wurden, schränkten die Bewegungs- und Meinungsfreiheit ebenfalls ein. (USDOS 22.4.2024, S. 24, 42, 68).
2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AlMon 20.4.2022). Der damalige Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26.9.2022 das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, AN 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (AN 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AlMon 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AlMon 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (AnA 18.11.2022). Anfang Oktober 2023 kam es zu einem Bombenanschlag in Ankara. Ein Selbstmordattentäter hatte sich im Zentrum der Hauptstadt in die Luft gesprengt. Ein zweiter Täter wurde nach Angaben des Innenministeriums erschossen. Der Angriff richtete sich gegen den Sitz der Polizei und gegen das Innenministerium, die sich in einem Gebäudekomplex in der Nähe des Parlaments befinden. Bei einem Schusswechsel im Anschluss an die Explosion wurden zwei Polizisten leicht verletzt. Die PKK bekannte sich zu dem Anschlag (DW 1.10.2023b; vgl. Presse 4.10.2023). Nach dem Anschlag kam es zu landesweiten Polizei-Razzien in 64 Provinzen. Offiziellen Angaben zufolge wurden 928 Personen wegen illegalen Waffenbesitzes und 90 Personen wegen mutmaßlicher PKK-Mitgliederschaft verhaftet (AJ 3.10.2023). Die Zahl erhöhte sich hernach auf 145 (Alaraby 3.10.2023).
Das türkische Parlament stimmte im Oktober 2023 einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP), inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt, waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vgl. AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).
Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023
Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei für drei Monate in Kraft (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). - Dieser endete im Mai 2023 (JICA 23.8.2023). - Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).
Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind" (ANF 9.2.2023; vgl. FR24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023). - Die PKK verkündete, die neuen Angriffswellen der türkischen Sicherheitskräfte beklagend, Mitte Juni 2023 das Ende ihres einseitigen Waffenstillstands (SBN 14.6.2023; vgl. ANF 14.6.2023).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.9.2024): Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962 , Zugriff 20.9.2024
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_April_2021),_03.06.2021.pdf, Zugriff 6.10.2023 [Login erforderlich]
AJ - Al Jazeera (3.10.2023): Turkey detains 90 people over suspected PKK links after Ankara bomb attack, https://www.aljazeera.com/news/2023/10/3/turkey-detains-dozens-after-ankara-bomb-attack , Zugriff 6.10.2023
AJ - Al Jazeera (12.12.2016): Turkey detains pro-Kurdish party officials after attack, https://www.aljazeera.com/news/2016/12/12/turkey-detains-pro-kurdish-party-officials-after-attack , Zugriff 14.11.2023
Alaraby - New Arab, The (3.10.2023): Turkey arrests 145 people over suspected links to PKK, https://www.newarab.com/news/turkey-arrests-145-people-over-suspected-links-pkk , Zugriff 6.10.2023
AlMon - Al Monitor (17.10.2023): Turkey extends mandate for military operations in Syria, Iraq, https://www.al-monitor.com/originals/2023/10/turkey-extends-mandate-military-operations-syria-iraq?token=eyJlbWFpbCI6IndqZjUyODRAcG9zdGVvLmRlIiwibmlkIjoiNjAyNDAifQ==&utm_medium=email&utm_campaign=Ungrouped transactional email&utm_content=Ungrouped transactional email ID_5a7d9926-b3ad-11ee-9975-610118d3daf2&utm_source=campmgr&utm_term=Access Article, Zugriff 15.1.2024 [Login erforderlich]
AlMon - Al Monitor (14.11.2022): Turkey points to Kurdish militants for deadly Istanbul bombing, https://www.al-monitor.com/originals/2022/11/turkey-points-kurdish-militants-deadly-istanbul-bombing , Zugriff 15.1.2024 [Login erforderlich]
AlMon - Al Monitor (20.4.2022): Bus bombing brings trauma of past terror back to Turkish cities, https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/bus-bombing-brings-trauma-past-terror-back-turkish-cities , Zugriff 15.1.2024
AN - Arab News (28.9.2022): PKK blamed for deadly police guesthouse attack in Turkey, https://www.arabnews.com/node/2171341/middle-east , Zugriff 15.1.2024 [Login erforderlich]
AnA - Anadolu Agency (18.11.2022): 17 suspects linked to Istanbul terror attack arrested by court order, https://www.aa.com.tr/en/turkiye/17-suspects-linked-to-istanbul-terror-attack-arrested-by-court-order/2741670 , Zugriff 15.1.2024
ANF - Firat News Agency (14.6.2023): HPG-Bilanz der Feuerpause: 32 Gefallene, https://anfdeutsch.com/kurdistan/hpg-bilanz-der-feuerpause-32-gefallene-37875 , Zugriff 7.2.2024
ANF - Firat News Agency (9.2.2023): Cemil Bayık: We won't carry out military actions unless the Turkish state attacks us, https://anfenglishmobile.com/kurdistan/cemil-bayik-we-have-decided-not-to-take-action-unless-the-turkish-state-attacks-us-65431 , Zugriff 15.9.2023
ANHA - Hawar News Agency (14.11.2022): YPG denies any connection with Istanbul bombing, https://www.hawarnews.com/en/haber/ypg-denies-any-connection-with-istanbul-bombing-h33671.html , Zugriff 15.1.2024 [Login erforderlich]
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (13.2.2023): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw07-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 25.10.2023
BICC - Bonn International Centre for Conflict Studies (7.2024): Länderinformation - Türkei, https://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/tuerkei/2024_Tuerkei.pdf , Zugriff 13.8.2024
Crisis 24 - Crisis24 (25.8.2023): Turkey, Europe | Country Profile | Crisis24, https://crisis24.garda.com/insights-intelligence/intelligence/country-reports/turkey , Zugriff 3.10.2024
Crisis 24 - Crisis24 (24.11.2022): Syria, Iraq: Additional Turkish airstrikes remain likely in northern regions of both countries through at least early December, https://crisis24.garda.com/alerts/2022/11/syria-iraq-additional-turkish-airstrikes-remain-likely-in-northern-regions-of-both-countries-through-at-least-early-december , Zugriff 14.11.2023
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023
Duvar - Duvar (8.7.2022b): Top Turkish court finds no rights violation in death of Cizre curfew victims, https://www.duvarenglish.com/top-turkish-court-finds-no-rights-violation-in-death-of-cizre-curfew-victims-news-61010 , Zugriff 14.11.2023
DW - Deutsche Welle (1.10.2023b): Bombenanschlag vor türkischem Innenministerium in Ankara, https://www.dw.com/de/bombenanschlag-vor-türkischem-innenministerium-in-ankara/a-66973874 , Zugriff 6.10.2023
DW - Deutsche Welle (14.11.2022): Nach Bombenanschlag in der Türkei steht Regierung in Kritik, https://www.dw.com/de/nach-bombenanschlag-in-der-türkei-steht-regierung-in-kritik/a-63753228 , Zugriff 15.1.2024
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023
EC - Europäische Kommission (9.11.2016): Turkey 2016 Report [SWD(2016) 366 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/1156617/1226_1480931038_20161109-report-turkey.pdf , Zugriff 14.11.2023
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (3.5.2024): Reisehinweise für die Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html#edab1d7a0 , Zugriff 20.9.2024
EP - Europäisches Parlament (13.9.2023): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2023 zu dem Bericht 2022 der Kommission über die Türkei (2022/2205(INI), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0320_DE.pdf , Zugriff 25.10.2023
EP - Europäisches Parlament (14.4.2016): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. April 2016 zu dem Bericht 2015 über die Türkei (2015/2898(RSP)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2016-0133_DE.pdf , Zugriff 14.11.2023
FR24 - France 24 (10.2.2023): Kurdish militants suspend 'operations' after Turkey quake, https://www.france24.com/en/live-news/20230210-kurdish-militants-suspend-operations-after-turkey-quake , Zugriff 15.9.2023 [Login erforderlich]
HDN - Hürriyet Daily News (18.10.2023): Parliament extends mandate for troops in Iraq, Syria, https://www.hurriyetdailynews.com/parliament-extends-mandate-for-troops-in-iraq-syria-187140 , Zugriff 15.1.2024
HDN - Hürriyet Daily News (14.11.2022): Perpetrator behind deadly Istanbul bombing arrested, https://www.hurriyetdailynews.com/suspect-arrested-in-deadly-istanbul-bombing-minister-says-178493 , Zugriff 15.1.2024
HDN - Hürriyet Daily News (22.4.2022): PKK affiliated group carried out attacks in Istanbul, Bursa: Soylu, https://www.hurriyetdailynews.com/pkk-affiliated-group-carried-out-attacks-in-istanbul-bursa-soylu-173207?utm_source=Facebook&utm_medium=post&utm_term=post , Zugriff 27.9.2023
HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Türkiye, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103139.html , Zugriff 17.1.2024
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023a): World Report 2023 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085506.html , Zugriff 14.11.2023
ICG - International Crisis Group (20.9.2024): Türkiyes PKK Conflict: A Visual Explainer | Crisis Group, https://www.crisisgroup.org/content/turkiyes-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 14.10.2024 [Login erforderlich]
ICG - International Crisis Group (8.1.2024): Türkiye’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkiyes-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 3.10.2024 [Login erforderlich]
ICG - International Crisis Group (4.2023): CrisisWatch - Tracking Conflict Worldwide: Türkiye, https://www.crisisgroup.org/crisiswatch/database?location []=58, Zugriff 15.1.2024
ICG - International Crisis Group (3.2023): CrisisWatch - Tracking Conflict Worldwide: Türkiye, https://www.crisisgroup.org/crisiswatch/database?location []=58, Zugriff 15.1.2024
ICG - International Crisis Group (9.2022): CrisisWatch - Tracking Conflict Worldwide: Türkiye, https://www.crisisgroup.org/crisiswatch , Zugriff 15.1.2024
İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (23.8.2024): 2023 Yılı Hak İhlalleri Raporu İnsan Hakları Derneği [2023 Bericht über Rechtsverletzungen Menschenrechtsvereinigung], https://www.ihd.org.tr/wp-content/uploads/2024/08/2023-Y ılı-Hak-İhlalleri-Bilançosu.pdf, Zugriff 20.9.2024
İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (27.9.2023b): Human Rights Association 2022 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2023/09/2022-Summary-Table_Human-Rights-Violations.pdf , Zugriff 12.1.2024
JICA - Japan International Cooperation Agency (23.8.2023): Quakes hit in south-eastern Türkiye: Behind the scenes from Ankara xn–ej7c News & Media - JICA, https://www.jica.go.jp/english/information/blog/1516263_24156.html , Zugriff 7.2.2024
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General COI report Turkiye (August 2023).pdf, Zugriff 13.11.2023
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich]
NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.1.2024): Der Konflikt zwischen der Türkei und kurdischen Milizen heizt sich auf, https://www.nzz.ch/international/der-konflikt-zwischen-der-tuerkei-und-kurdischen-milizen-heizt-sich-auf-ld.1774692 , Zugriff 7.2.2024
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe / Office for Democratic Institutions and Human Rights (15.5.2023): Türkiye, General Elections, 14 May 2023: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/files/f/documents/6/2/543543.pdf , Zugriff 6.10.2023
Presse - Presse, Die (4.10.2023): Anschlag in Ankara: Täter als PKK-Mitglieder identifiziert, https://www.diepresse.com/17716841/anschlag-in-ankara-taeter-als-pkk-mitglieder-identifiziert , Zugriff 6.10.2023
RND - RedaktionsNetzwerk Deutschland (14.1.2024): Türkei bombardiert erneut Kurdenmilizen im Nordirak und Syrien, https://www.rnd.de/politik/tuerkei-luftangriffe-gegen-kurdenmilizen-im-nordirak-und-syrien-nach-toedlichem-pkk-angriff-NXPJ6MR3AVMQ3KKVEV7QSJS234.html , Zugriff 7.2.2024
SBN - Salzburger Nachrichten (14.6.2023): PKK verkündet Ende von Waffenstillstand in der Türkei, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/pkk-verkuendet-ende-von-waffenstillstand-in-der-tuerkei-140427274 , Zugriff 7.2.2024
SZ - Süddeutsche Zeitung (20.4.2022): Bombenanschlag in Bursa, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-anschlag-bursa-1.5569449 , Zugriff 15.1.2024
SZ - Süddeutsche Zeitung (29.6.2016): Chronologie des Terrors in der Türkei, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-der-terror-begann-in-suruc-1.3316595 , Zugriff 14.11.2023
TM - Turkish Minute (4.11.2022): Top court finds no rights violations of victims of 2015 curfew in Kurdish-majority city - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2022/11/04/rights-violations-of-victims-of-2015-curfew-in-kurdish-majority-city , Zugriff 14.11.2023
UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (9.2.2023): UNHCR TÜRKİYE - EMERGENCY RESPONSE TO EARTHQUAKE, https://reliefweb.int/attachments/fe740f86-ba7b-4a23-831e-fc09b4da5508/2023 02 09 UNHCR TÜRKİYE Emergency Response to Earthquake.pdf, Zugriff 15.1.2024
USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich]
USDOS - United States Department of State [USA] (30.11.2023): Country Report on Terrorism 2022 - Chapter 1 - Türkiye, https://www.ecoi.net/de/dokument/2101613.html , Zugriff 6.2.2024
YR - Yetkin Report (30.9.2022): PKK attack in Mersin tangles as details unveil, https://yetkinreport.com/en/2022/09/30/pkk-attack-in-mersin-tangles-as-details-unveil/ , Zugriff 15.1.2024
Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Letzte Änderung 2024-10-15 13:18
Allgemeine Situation der Rechtsstaatlichkeit und des Justizwesens
Der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit der Justiz ist eines der größten Probleme in der Türkei. Die Exekutive bzw. die Regierung übt eine erhebliche Kontrolle über die Justiz aus und mischt sich häufig in gerichtliche Entscheidungen ein, wodurch die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz immer weiter zurückgedrängt werden. Die Justiz ist nach wie vor ein zentrales Instrument der Regierung, um die Opposition zum Schweigen zu bringen und Andersdenkende zu inhaftieren (BS 19.3.2024, S. 12f.; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 11f., CAT 14.8.2024, S. 11). Die Justiz ist der Einmischung der Regierung ausgesetzt, auch bei der Untersuchung und Verfolgung größerer Korruptionsfälle (USDOS 22.4.2024, S. 58).
2022 zeigte sich das Europäische Parlament in einer Entschließung "weiterhin besorgt über die fortgesetzte Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, die mit der abschreckenden Wirkung der von der Regierung in den vergangenen Jahren vorgenommenen Massenentlassungen sowie öffentlichen Stellungnahmen von Personen in führender Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren verbunden sind, wodurch die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die allgemeine Fähigkeit der Justiz, bei Menschenrechtsverletzungen wirksam Abhilfe zu schaffen, geschwächt werden [und] stellt mit Bedauern fest, dass diese grundlegenden Mängel bei den Justizreformen nicht in Angriff genommen werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. AI 29.3.2022a). Nicht nur, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz verschlechtert hat, mangelt es ebenso an Verbesserungen des Funktionierens der Justiz im Ganzen (EC 12.10.2022, S. 23f.; vgl. EC 8.11.2023, S. 23, USDOS 22.4.2024, S. 1, 11f.). Am 13.9.2023 bekräftigte das Europäische Parlament uneingeschränkt den Inhalt seiner vormaligen Entschließung, dass die "dargestellte desolate Lage in Bezug auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit nach wie vor unverändert ist" (EP 13.9.2023, Pt. 8).
Bei der Anwendung des EU-Besitzstands und der europäischen Standards im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte befindet sich die Türkei laut der Europäischen Kommission (EK) noch in einem frühen Stadium. Laut EK kam es sogar zu Rückschritten (EC 8.11.2023, S. 23). In diesem Zusammenhang betonte die Präsidentin der "Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés (MEDEL)", der Vereinigung der Europäischen Richter für Demokratie und Freiheit, Mariarosaria Guglielmi, im Juni 2023, dass die türkischen Bürgerinnen und Bürger aufgrund der jahrelangen Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, des harten Zugriffs der politischen Mehrheit auf den Obersten Justizrat und der Massenverhaftungen und Prozesse gegen Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte derzeit keinen wirksamen gerichtlichen Schutz ihrer Grundrechte genießen. Diese Situation wird durch die Anwendung der Anti-Terror-Gesetzgebung noch verschärft, die zu einem mächtigen Instrument für die Verfolgung von Oppositionellen und all jenen, die unrechtmäßig verhaftet wurden, durch die Justiz geworden ist (MEDEL 23.6.2023).
Das im April 2023 verabschiedete siebente Reformpaket beinhaltet einige positive Schritte. Allerdings wurden viele strukturelle Probleme im Justizsystem bislang nicht angegangen. Somit kam es insgesamt zu keiner nennenswerten Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit. Die in der Justiz vorherrschenden Probleme ergeben sich nicht aus fehlenden rechtlichen Regelungen, sondern im Vollzug der Gesetze. Grundprobleme bleiben die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte sowie problematische, vage und weit auslegbare Bestimmungen, v. a. im Strafrecht und im Bereich der Anti-Terror-Gesetzgebung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 19). Die Korrektur der Anti-Terror-Gesetzgebung stand im Zentrum des achten Reformpaketes, welches im März 2024 in Kraft trat. - Die umstrittenste Bestimmung des Pakets betraf nämlich den Straftatbestand der "Begehung von Straftaten im Namen einer terroristischen Vereinigung, ohne deren Mitglied zu sein", der in Artikel 220/6 des türkischen Strafgesetzbuchs (TCK) geregelt war, aber im September 2023 vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben worden war. In der Begründung für seine einstimmige Entscheidung erklärte das Verfassungsgericht, dass die Bestimmung "nicht klar und vorhersehbar genug ist, um willkürliche Praktiken von Behörden zu verhindern, und nicht den Kriterien der Rechtmäßigkeit entspricht" (EI 4.4.2024; vgl. AI 29.2.2024, S. 1, MLSA 23.2.2024). Darüber hinaus argumentierte das Gericht, dass "wenn die begangene Straftat im Zusammenhang mit der Ausübung von Grundrechten steht, die weite Auslegung aufgrund der Unbestimmtheit des Begriffs im Namen einer Organisation eine abschreckende Wirkung auf die Ausübung von Grundrechten wie der Meinungsfreiheit, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit oder der Religions- und Gewissensfreiheit hat". Die Änderung von Artikel 220/6 trägt allerdings den bereits bestehenden Bedenken in Bezug auf Klarheit und Vorhersehbarkeit zum besseren Schutz der Menschenrechte von Personen, die einer Straftat beschuldigt werden, nicht in vollem Umfang Rechnung, da der vorgeschlagene Artikel nach wie vor keine klaren Kriterien dafür enthält, wann die Begehung einer Straftat im Namen einer bewaffneten Organisation unter Strafe gestellt werden kann, und somit keine auf internationalen Standards basierenden Garantien gegen willkürliche Eingriffe durch staatliche Behörden bietet (AI 29.2.2024, S. 2f.). Das heißt, mit dem Justizreformpaket 2024 wurde die Vorschrift über die "Begehung von Straftaten im Namen einer Organisation, ohne Mitglied zu sein", trotz vorhergehender Aufhebung und des Auftrages durch das Verfassungsgericht an den Gesetzesgeber innert vier Monaten die Mängel im Gesetzestext zu beheben, unverändert übernommen. Die gleiche Bestimmung gilt auch für "bewaffnete kriminelle Organisationen" gemäß Artikel 314 des Strafgesetzbuches (MLSA 23.2.2024).
Laut der offiziellen Statistik des türkischen Justizministeriums für das Jahr 2021 wurden 7.059 Strafurteile gem. Art. 220 und 44.042 gem. Art. 314 des Strafgesetzbuches (Gesetz Nr. 5237) gefällt. 3.057 wurden nach Art. 220 und 18.816 nach Art. 314 zu Haftstrafen verurteilt. 1.912 (Art. 220) bzw. 12.093 (Art. 314) fielen in die Kategorie sonstigen Verurteilungen. 7.098 Angeklagte nach Artikel 220 und 17.970 nach Artikel 314 wurden freigesprochen [der Rest fällt in diverse andere Kategorien, welche hier nicht speziell angeführt werden]. 2021 gab es nach dem Anti-Terror-Gesetz (Gesetz Nr. 3713) 2.892 Verurteilungen, davon 1.149 Haftstrafen und 210 bedingte Haftstrafen. Die Zahl der sonstigen Verurteilungen von Angeklagten vor Strafgerichten nach dem Anti-Terror-Gesetz betrug 751 (MoJ - GDJR&S 2022, S. 95, 98, 102, 112, 154, 157, 163, 166, 181, 184; S. 63, 113, 122, 140, 158, 167).
Faires Verfahren
Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2023 betrafen von den 72 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 17 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 1.2024). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9).
Bereits im Juni 2020 wies der damalige Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan [Anm.: am 21.3.2024 aus dem Amt geschieden], darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 16).
Einschränkungen für den Rechtsbeistand
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 20.5.2024, S. 12; vgl. AI 26.10.2020). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11).
Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019). Ein jüngstes, prominentes Beispiel hierfür:
In seinem Urteil vom 6.6.2023 in der Rechtssache Demirtaş und Yüksekdağ Şenoğlu [seit November 2016 in Haft] gegen die Türkei entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrheitlich (mit 6 gegen 1 Stimme), dass ein Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf eine rasche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) vorliegt. Die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP beschwerten sich darüber, dass sie keinen wirksamen Rechtsbeistand erhalten hatten, um gegen ihre Untersuchungshaft zu klagen, da die Gefängnisbehörden ihre Treffen mit ihren Anwälten überwacht und die mit ihnen ausgetauschten Dokumente beschlagnahmt hatten. Der EGMR war der Ansicht, dass die nationalen Gerichte keine außergewöhnlichen Umstände dargelegt hatten, die eine Abweichung vom Grundprinzip der Vertraulichkeit der Gespräche der Beschwerdeführer mit ihren Rechtsanwälten rechtfertigen könnten, und dass die Verletzung des Anwaltsgeheimnisses den Beschwerdeführern einen wirksamen Beistand durch ihre Rechtsanwälte im Sinne von Artikel 5 § 4 der Konvention vorenthalten hatte. In Anbetracht der in seinen früheren Urteilen getroffenen Feststellungen war der Gerichtshof außerdem der Ansicht, dass es nicht möglich war, das Vorliegen solcher Umstände nachzuweisen, da der Gerichtshof das Argument der türkischen Regierung vormals zurückgewiesen hatte, dass sich die Beschwerdeführer wegen terrorismusbezogener Straftaten in Untersuchungshaft befunden hätten. Schließlich stellte das Gericht fest, dass die nationalen Behörden keine detaillierten Beweise vorgelegt hatten, die die Verhängung der angefochtenen Maßnahmen gegen die Kläger im Rahmen des Notstandsdekrets Nr. 676 rechtfertigen könnten. Das Gericht entschied, dass die Türkei den Klägern jeweils 5.500 Euro an immateriellem Schaden und zusammen 2.500 Euro an Kosten und Auslagen zu zahlen hat (ECHR 6.6.2023).
Verfolgung von Strafverteidigern bei Terrorismusverfahren
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 20.3.2023 S. 11, 19). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (USDOS 20.3.2023, S. 11; vgl. TT/Perilli 2.2021, S. 41, HRW 13.1.2021). Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 15). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben (AI 26.10.2020). Im Mai (2023) erklärte der damalige Innenminister Soylu: "Wenn die Anwälte der PKK eingesperrt werden, dann wird es in der Türkei keine PKK mehr geben. Sie sind das Ziel ... Die PKK vergiftet die Türkei über die Anwälte" (USDOS 22.4.2024, S. 9).
Siehe, insbesondere zum sog. Kobanê-Prozess, auch das Unterkapitel: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition
Geheime bzw. anonyme Zeugen
Das Thema der geheimen Zeugenaussagen kam mit dem 2008 verabschiedeten Zeugenschutzgesetz auf der Tagesordnung. Trotz dutzender Skandale fällen die Gerichte nach wie vor Urteile auf der Grundlage der Aussagen anonymer bzw. geheimer Zeugen, bzw. sehen diese kritisch als ein politisches Instrument. So soll einst die Gülen-Bewegung, als sie gemeinsam mit der regierenden AKP die Macht teilte, anonyme Zeugen gegen ihre Gegner verwendet haben. Nach dem Putschversuch 2016 waren es dann vor allem vermeintliche Gülen-Mitglieder, gegen welche sich das Instrument der geheimen Zeugen richtete. Ein Zeuge mit dem Codenamen "Garson" (Kellner) ist wahrscheinlich der bekannteste, da er Zeuge in einem Fall war, an dem rund 4.000 Polizisten, vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung, beteiligt waren. Problematisch sind insbesondere Fälle, bei denen sich herausstellt, dass die anonymen Zeugen gar nicht existieren. Etwa wurden die Aussagen des anonymen Zeugen "Mercek" zur Begründung für die Verurteilung vieler Politiker herangezogen, u. a. auch gegen den seit 2016 inhaftierten, ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş. Später stellte sich jedoch heraus, dass es diese Person gar nicht gab (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020b). Mitunter geben die Behörden zu, dass es keine anonymen Zeugen gibt. So musste die Polizeibehörde von Diyarbakır 2019 eingestehen, dass eine anonyme Zeugin mit dem Codenamen "Venus", deren Aussage zur Festnahme und Inhaftierung zahlreicher Personen führte, in Wirklichkeit nicht existierte (NaT 19.2.2019). Im seit 2022 laufenden Verbotsverfahren gegen die HDP wurde zumindest ein anonymer Zeuge gehört, der laut HDP-Parlamentarierin, Meral Danış-Beştaş, der Generalstaatsanwaltschaft Auskunft über die Parteifinanzen erteilte, was vermeintlich zur Sperrung der Parteienförderung für die HDP führte (Bianet 30.1.2023).
Im Februar 2022 stellte das türkische Verfassungsgericht fest, dass die Aussagen geheimer Zeugen, die konkrete Tatsachen enthalten, als "starke Indizien für eine Straftat" akzeptiert werden können, ohne dass sie durch andere Beweise gestützt werden, und dass die auf diese Weise vorgenommenen Verhaftungen im Einklang mit dem Gesetz stehen würden (DW 17.2.2022; vgl. Duvar 18.2.2022). Allerdings liegt die Betonung auf "konkrete Tatsachen", denn das Urteil war die Folge einer laut Verfassungsgericht rechtswidrigen Verhaftung eines Gemeinderates in Diyarbakır-Eğil im Jahr 2020 und basierte auf einer geheimen Zeugenaussage, mit welcher der Gemeinderat der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" beschuldigt wurde. Diese Aussage war rechtswidrig weil "abstrakt" und eben nicht "konkret". Kritiker der Hinzuziehung geheimer bzw. anonymer Zeugen betrachten diese Praxis als Instrument, Zeugenaussagen zu fälschen und abweichende Meinungen und Widerstand zum Schweigen zu bringen (Duvar 18.2.2022).
Im Gegensatz zum Verfassungsgericht hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits Mitte Oktober 2020 entschieden, dass geheime Zeugenaussagen, welche die türkischen Gerichte insbesondere in Prozessen gegen politische Dissidenten als Beweismittel akzeptiert haben, nicht als ausreichendes Beweismaterial für eine Verurteilung angesehen werden können. Wenn die Verteidigung die Identität des Zeugen nicht kennt, wird ihr nach Ansicht des EGMR in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit genommen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen infrage zu stellen oder in Zweifel zu ziehen. Infolgedessen können geheime Zeugenaussagen allein keine rechtmäßige Verurteilung begründen, es sei denn, eine Verurteilung stützt sich noch auf andere solide Beweise (SCF 26.11.2022; vgl. TM 26.11.2020b).
Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung
Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (Rat der EU 14.12.2021, S. 16, Pt. 34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählt insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes. Opposition, Zivilgesellschaft und namhafte Juristen kritisieren die Einschränkungen als eine Perpetuierung des Ausnahmezustands. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7). Das Europäische Parlament (EP) "betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 29) "unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S. 9, Pt. 14).
Auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S. 44).
Siehe auch die Kapitel: Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im AuslandSicherheitslage / Gülen- oder Hizmet-Bewegung.
Beleidigung des Präsidenten sowie die Herabwürdigung des türkischen Staates und der türkischen Nation als Strafbestand
"[E]ntsetzt über den grob missbräuchlichen Rückgriff auf Artikel 299 des Strafgesetzbuchs der Türkei über Beleidigungen des Präsidenten, die eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren nach sich ziehen können", forderte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 7.6.2022, "das Gesetz über die Beleidigung des Staatspräsidenten gemäß den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ändern" (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021).
Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt (DW 9.2.2022; vgl.ARTICLE19 8.4.2022). 106 der Schuldsprüche betrafen Kinder unter 18 Jahren, von denen zehn zu Haftstrafen verurteilt wurden (ARTICLE19 8.4.2022). Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022). Beispielsweise wurde im Mai 2022 ein marokkanischer Tourist von der Polizei verhaftet, nachdem dieser die Türkei als "Terroristenstaat" bezeichnete und Präsident Erdoğan beleidigte. Der damalige türkische Innenminister Soylu warnte bereits im März 2019, dass der Staat alle Touristen, die im Verdacht stehen, gegen das Regime von Präsident Erdogan zu opponieren, festnehme, sobald sie türkischen Boden betreten (MWN 9.5.2022).
Die Zahl der Personen, gegen die nach den Artikeln 299 und 301 (Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen) des Strafgesetzbuches ermittelt wurde, stieg im Jahr 2022 laut den Statistiken des Ministeriums auf 16.753 von zuvor 12.304 im Jahr 2021 (TM 14.3.2024). Im einzelnen wurden im Jahr 2021 gemäß Artikel 299 1.239 Personen zu Haftstrafen verurteilt, darunter nur zwei Minderjährige im Alter zwischen 15 und 17. 38 Personen wurden gemäß Artikel 300, der Herabwürdigung staatlicher Symbole, und 111 Personen (darunter auch ein Minderjähriger in der Altersklasse 12-14) laut Artikel 301 zu Gefängnisstrafen verurteilt. Sonstige Strafen gem. Artikel 299 wurden gegen 1.130, gem. Artikel 300 gegen 24 und dem Artikel 301 folgend gegen 87 Individuen verfügt [Anm.: Neuere Statistiken differenzieren nicht mehr nach einzelnen Artikeln des Strafgesetzbuches.] (MoJ - GDJR&S 2022, S. 120, 156).
Siehe, insbesondere für konkrete Beispiele, auch die (Unter-)Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit / InternetVersammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition.
Politisierung der Justiz
Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diesen vom Präsidenten zu ernennenden Gouverneuren der 81 Provinzen werden weitreichende Kompetenzen eingeräumt. Sie können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten und auch Versammlungen untersagen. Sie haben zudem großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7f.; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 38, 42).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (Bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert hatten (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S. 10, Pt. 19).
Im vom "World Justice Project" jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2023 auf Rang 117 von 142 Ländern (2021: Platz 116 von 140 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator viel weiter auf 0,41 ab (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,30 (Rang 133 von 142) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 137 von 142) sowie bei der Strafjustiz mit 0,34 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,72, der annähernd dem globalen Durchschnitt entsprach (WJP 12.2023).
Konflikte der Höchstgerichte und dessen Politisierung durch die Regierung
Am 25.10.2023 entschied das Verfassungsgericht, dass der inhaftierte TİP-Politiker Can Atalay, der bei den Parlamentswahlen im Mai zum Abgeordneten gewählt worden ist, in seinem Recht zu wählen und gewählt zu werden sowie in seinem Recht auf persönliche Sicherheit und Freiheit verletzt wurde. Das Verfassungsgericht ordnete die Freilassung Atalays an. Das zuständige Strafgericht setzte dieses Urteil nicht um, sondern verwies den Fall an das Kassationsgericht. Dieses wiederum entschied am 9.11.2023 in Überschreitung seiner Zuständigkeit, dass das Urteil des Verfassungsgerichts nicht rechtserheblich und daher nicht umzusetzen sei, mit der Begründung, dass das Verfassungsrecht seine Kompetenzen überschritten habe. Überdies verlangte das Kassationsgericht, ein Strafverfahren gegen jene neun Richter des Verfassungsgerichts einzuleiten, welche für die Freilassung Atalays gestimmt hatten. Die Begründung des Kassationsgerichts hierfür lautete, dass diese Richter gegen die Verfassung verstoßen und ihre Befugnisse überschritten hätten. Staatspräsident Erdoğan unterstützte die Entscheidung des Kassationsgerichts, das Urteil des Verfassungsgerichts nicht umzusetzen. Er und andere AKP-Politiker junktimieren diese Frage mit dem prioritären Ziel der Regierung, eine neue Verfassung zu verabschieden, mit der Begründung, dass zur Lösung dieses Kompetenzkonfliktes eine Verfassungsreform nötig sei. Durch die Kritik Erdoğans am Verfassungsgericht wird die Umsetzung von Verfassungsgerichtsurteilen, insbesondere wenn diese der Umsetzung von EGMR-Urteilen dienen, und das Vertrauen in Unabhängigkeit der Justiz weiter geschwächt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11f.; vgl. LTO 29.11.2023, Standard 9.11.2023). Erdoğans Regierungspartner Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP bezeichnete den Präsidenten des Verfassungsgerichts als Terrorist und verlangte, dass das Verfassungsgericht entweder geschlossen oder umstrukturiert werden muss. Passend dazu hatte kurz vorher die regierungstreue Zeitung Yeni Şafak mit Fotos der neun umstrittenen Verfassungsrichter getitelt und ihnen vorgeworfen, die "Pforte für Terroristen geöffnet" zu haben. - Anwälte verwiesen auf die türkische Verfassung, wonach Entscheidungen des Verfassungsgerichts endgültig sind und die gesetzgebenden, exekutiven und judikativen Organe sowie die Verwaltungsbehörden und natürliche, wie juristische Personen binden (Absatz 6). Für die Einleitung einer Untersuchung der Richter bräuchte es die Genehmigung der fünfzehnköpfigen Generalversammlung des Verfassungsgerichts, das für eine abschließende Entscheidung eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Die Istanbuler Anwaltskammer protestierte gegen das Vorgehen und reichte am 1.11.2023 eine Klage gegen den Präsidenten und die Mitglieder der 3. Strafkammer des Kassationsgerichts ein. Die Vorwürfe lauten etwa "Freiheitsbeschränkung", weil der Abgeordnete Atalay noch immer im Gefängnis sitzt und "Amtsmissbrauch". Mehrere Tausend Anwälte unterstützen das Verfahren per Unterschriftenliste. Die Anzeige dürfte aber vor allem Symbolcharakter haben, denn die Klage wurde beim Ersten Präsidialausschuss des Kassationsgerichts eingereicht, also bei jener Behörde, aus der Mitglieder sich gerade gegen das Verfassungsgericht erheben (LTO 29.11.2023). Richter des Verfassungsgerichts bekräftigten gegenüber dem Ko-Berichterstatter des Europarates im Juni 2014, dass das Urteil des Verfassungsgerichts bindend und die Nichteinhaltung auf die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts zurückzuführen sei, das sich geweigert habe, den Fall wieder aufzunehmen (CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 14).
Infragestellung der Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte
Es gab der Europäischen Kommission zufolge keine Fortschritte bei der Beseitigung des unzulässigen Einflusses und Drucks der Exekutive auf Richter und Staatsanwälte, was sich wiederum negativ auf die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Qualität der Justiz auswirkt (EC 8.11.2023, S. 5, 24).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme, wie Druck auf Richter und Staatsanwälte, unterlaufen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (Hakimler ve Savcilar Kurumu - HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019; ÖB Ankara 28.12.2023, CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 13). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S. 5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019). Infolgedessen sind Staatsanwälte und Richter häufig auf der Linie der Regierung. Richter, die gegen den Willen der Regierung entscheiden, wurden abgesetzt und ersetzt, während diejenigen, die Erdoğans Kritiker verurteilen, befördert wurden (FH 29.2.2024, F1).
Sami Selçuk, vormaliger und Ehrenpräsident des Kassationsgerichts, kritisierte Ende Mai 2024 die in der Türkei weitverbreitete Praxis der Ersetzung von Richtern, insbesondere in politisch motivierten, kritischen Prozessen, wie z. B. in den Verfahren gegen Osman Kavala, den oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, und pro-kurdische Parlamentarier, darunter der inhaftierte Selahattin Demirtaş. Dementsprechen erklärte Selçuk, dass 99 Prozent der Gerichtsurteile in der Türkei "null und nichtig" seien. Die Kritik steht in einer Linie mit einer früheren Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten, wonach die Unabhängigkeit der Justiz davon abhängt, dass die Richter eine sichere Amtszeit haben, unabsetzbar sind, und eine Entlassung nur bei schwerwiegenden Verstößen gegen das Gesetz oder bei Unfähigkeit zulässig ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte in einem früheren Urteil festgestellt, dass Richter im türkischen Rechtsrahmen weder über eine solche Garantie noch über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügen, um Entscheidungen über ihre Versetzung anzufechten, die sie nicht beantragt haben (TM 30.5.2024; vgl. SCF 30.5.2024).
Laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission entschied der Staatsrat (Verwaltungsgerichtshof) im Oktober 2022 zugunsten der Wiedereinsetzung von 178 Richtern und Staatsanwälten, die im Rahmen der Notstandsdekrete von 2016 wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen worden waren, und begründete dies damit, dass die ihnen zur Last gelegten Handlungen nicht ausreichten, um ihre Verbindungen zur Bewegung zu beweisen. Der Staatsrat ordnete außerdem an, dass der Staat den Richtern und Staatsanwälten Entschädigung und Schadenersatz zahlen muss. Bis März 2023 waren 3.683 der Entlassungsverfahren abgeschlossen und die Verfahren liefen noch. 845 entlassene/suspendierte Richter und Staatsanwälte wurden wieder in ihr Amt eingesetzt (EC 8.11.2023, S. 26).
Das Fehlen objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und vorab festgelegter Kriterien für die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten gibt weiterhin Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 5, 24). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt. Es wurden (Stand: Dez. 2023) keine Maßnahmen gesetzt, um den Empfehlungen der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 nachzukommen. Diese hatte festgestellt, dass die Entscheidungsprozesse betreffend die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten unzulänglich seien und jede Entlassung eines Richters individuell begründet und auf verifizierbare Beweise abgestützt sein müsse (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10). Häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten beeinträchtigte weiterhin die Qualität der Justiz, ebenso wie die Ernennung von neu eingestellten und weniger erfahrenen Richtern und Staatsanwälten an den Strafgerichten (EC 8.11.2023, S. 26). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignorierten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 11; vgl. EC 19.10.2021, S. 23).
Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 9f.; vgl. SCF 3.2021, S. 46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S. 46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10).
Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 7f). - Die Amtszeit der 15 Mitglieder des Gerichts ist auf zwölf Jahre begrenzt. Zwölf Mitglieder werden vom Präsidenten aus einer Liste von Kandidaten ernannt, die von obersten Gerichten oder aus dem Kreis hochrangiger Bürokraten vorgeschlagen werden, während drei Mitglieder vom Parlament ernannt werden, das derzeit von Erdoğans regierender AKP dominiert wird. - Mit der Nominierung von Metin Kıratlı, eines Spitzenbürokraten aus dem Präsidentenpalast, zum Verfassungsrichter im Juli 2024, hat Staatspräsident Erdoğan mittlerweile zehn der 15 Verfassungsrichter ernannt (TM 18.7.2024). Das Verfassungsgericht hat seit 2019 zwar eine gewisse Unabhängigkeit gezeigt, doch ist es nicht frei von politischer Einflussnahme und fällt oft Urteile im Sinne der Interessen der regierenden AKP (FH 29.2.2024, F1). Siehe hierzu Beispiele in diversen Kapiteln!
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10f.).
Aufbau des Justizsystems
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Höchstgerichte sind gemäß der Verfassung das Verfassungsgericht (auch Verfassungsgerichtshof bzw. Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) als oberste Instanz in Verwaltungsangelegenheiten, der Kassationsgerichtshof (Yargitay) als oberste Instanz in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Da die Friedensrichter als von der Regierung selektiert und ihr loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Venedig-Kommission des Europarates forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z. B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sondern wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurden, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten ist für einen bestimmten Katalog von Straftaten bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S. 24; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 8).
Rolle des Verfassungsgerichts
Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde (bireysel başvuru) beim Verfassungsgericht. Die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden kann durch Ausschüsse einer Vorprüfung unterzogen werden. Sie ist nur gegen Gerichtsentscheidungen letzter Instanz, nicht gegen Gesetze statthaft (RRLex 7.2023, S. 4; vgl. AA 20.5.2024, S. 5), eingeführt u. a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 sind bis Ende 2021 beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5 % seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022). Die Individualbeschwerde hat große Akzeptanz gefunden, ist jedoch stark formalisiert und leidet unter langer Verfahrensdauer (RRLex 7.2023, S. 4).
Infolge der teilweise sehr lang andauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge Mahkemeleri) eingerichtet worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Denn große Teile der Richterschaft arbeiten unter erheblichen Druck, um die Rückstände bei den Verfahren aufzuarbeiten bzw. laufende Verfahren abzuschließen. Allerdings scheint laut Justizministerium die Zahl der unbehandelten Verfahren rückläufig zu sein (ÖB Ankara 28.12.2023 S. 9).
Der Widerstand der türkischen Gerichte oder auch des Parlaments, sich an die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu halten, ist ein Problem, was durch wiederholte verbale Angriffe von Amtsträgern auf das Verfassungsgericht noch verstärkt wird (CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 14). Das heißt, untergeordnete Gerichte ignorieren mitunter die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts oder verzögern sie erheblich. Das Ministerkomitee des Europarats berichtete, dass die meisten EGMR-Entscheidungen zur Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit nicht umgesetzt wurden (USDOS 22.4.2024, S. 13). Das Verfassungsgericht hat aber auch uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).
Zur neuesten Rechtssprechung des Verfassungsgerichts hinsichtlich der Meinungs- und Pressefreiheit siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit / Internet.
Präsidentendekrete
Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war [Siehe auch Kapitel: Politische Lage]. Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen gewisse Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).
Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welches ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 12.10.2022, S. 43). Auf Basis des Anti-Terrorgesetzes Nr. 3713 kann der Zugang einer in Polizeigewahrsam befindlichen Person zu einem Rechtsvertreter während der ersten 24 Stunden eingeschränkt werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 10).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Die Gründe für eine Untersuchungshaft sind in der türkischen Strafprozessordnung (StPO) festgelegt: Fluchtgefahr; Verhalten des Verdächtigen/Beschuldigten (Verdunkelungsgefahr und Beeinflussung von Zeugen, Opfer etc.) sowie Vorliegen dringender Verdachtsgründe, dass eine der in Art. 100 (3) StPO taxativ aufgezählten Straftaten begangen wurde, wie zum Beispiel Genozid, Schlepperei und Menschenhandel, Mord, sexueller Missbrauch von Kindern. Zu den im vierten Justizreformpaket von Juli 2021 angenommenen Änderungen betreffend die Verhaftung aufgrund von Verbrechen, die unter sog. "Katalogverbrechen" fallen und bei denen jedenfalls die Notwendigkeit einer Untersuchungshaft angenommen wird, zählen z. B. Terrorismus und organisiertes Verbrechen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 12f.).
Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen (OHAL)
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter 15.000 und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 19).
Die mittels Präsidentendekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission [türkische Abk.: OHAL] begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 19f.). Bis Jänner 2023 waren laut Beschwerdekommission die Klassifizierung, Registrierung und Archivierung von insgesamt fast einer halben Million Akten, darunter Personalakten, die von ihren Institutionen übernommen wurden, Gerichtsakten und frühere Bewerbungen, abgeschlossen. Bis zum 12.1.2023 waren 127.292 Anträge gestellt worden. Davon hat die Kommission seit ihrer Errichtung im Dezember 2017 alle Anträge bearbeitet, wobei lediglich 17.960 positiv gelöst wurden. 72 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen, Schulen, Zeitungen und Fernsehstationen (ICSEM 1.2023). Es bestehen nach wie vor große Bedenken hinsichtlich der Qualität der Arbeit der Untersuchungskommission, auch wenn sie die Prüfung aller Fälle abgeschlossen hat. Bezweifelt wird, ob die Fälle einzeln geprüft und die Verteidigungsrechte gewahrt wurden und ob das Bewertungsverfahren internationalen Standards entsprach (EC 8.11.2023, S. 23).
Die Beschwerdekommission stand in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder wurden von der Regierung ernannt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20). Betroffene hatten keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrechterhalten wurde, stützte sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zog an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20; vgl. EC 12.10.2022, S. 23). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird (bzw. wurde) auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen kritisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20).
Die Fälle Kavala und Demirtaş als prominente Beispiele der Missachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S. 20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei (AA 20.5.2024, S. 16). Zuletzt sorgte die beharrliche Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Kulturmäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen die EMRK festgestellt und die Freilassung gefordert (AA 28.7.2022, S. 16).
Im Falle Kavalas lehnte ein Gericht in Istanbul auch 2022 trotz Aufforderung des Europarats die Enthaftung ab (DW 17.1.2022; vgl. AA 20.5.2024, S. 16). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Frage zu befassen (CoE-CM 3.12.2021; vgl. AA 20.5.2024, S. 16), verwies das Ministerkomitee nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE-CM 3.2.2022; vgl. AA 20.5.2024, S. 16). Trotz alledem wurde Kavala am 25.4.2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen "Umsturzversuches" zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Neben Kavala wurden sieben weitere Angeklagte wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt (FR 25.4.2022; vgl. DW 25.4.2022, AA 20.5.2024, S. 16). Weil die Türkei das Urteil des EGMR aus dem Jahr 2019 zur sofortigen Freilassung Kavalas jedoch missachtet hatte, verurteilte der EGMR Mitte Juli 2022 die Türkei ein zweites Urteil, in dem er gemäß Artikel 46 § 4 feststellte, dass die Türkei durch die Nichtfreilassung von Herrn Kavala ihrer Verpflichtung, dem ersten Urteil nachzukommen, nicht nachgekommen war. Dies ist der einzige vom Ministerkomitee überwachte Fall, in dem der Gerichtshof eine Verletzung von Artikel 46 § 4 festgestellt hat und die geforderten individuellen Maßnahmen - hauptsächlich die Freilassung des Klägers - immer noch nicht ergriffen wurden (CoE-CM 11.4.2024, S. 28, vgl. AA 20.5.2024, S. 16). Das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft weiter (DW 11.7.2022; vgl. AA 20.5.2024, S. 16). Ende Dezember 2022 bestätigte trotz alledem ein Berufungsgericht in Istanbul die lebenslängliche Strafe gegen Kavala sowie die Verurteilung von sieben weiteren Angeklagten zu 18 Jahren Haft als rechtens (Zeit Online 28.12.2022). Am 28.9.2023 hat das Kassationsgericht die lebenslange Haftstrafe für Osman Kavala bestätigt (AI 29.9.2023; vgl. DW 28.9.2023, AA 20.5.2024, S. 16). Die beiden Berichterstatter für die Türkei des Europarates zeigten im September 2023 sich angesichts dessen extrem enttäuscht und kündigten an, dass sie und der Europarat weiterhin Druck auf die türkischen Behörden ausüben werden, damit letztere den Urteilen des EGMR nachkommen und alle Angeklagten freilassen (CoE-PACE 29.9.2023). Zuletzt erinnerte Ko-Berichterstatter, Stefan Schennach, bei seinen Treffen mit den Regierungsvertretern in Ankara im Juni 2024 daran, dass die Umsetzung von Urteilen des EGMR eine rechtliche Verpflichtung darstellt, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist, fordernd, dass die Autoritäten unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Urteile des EGMR in Bezug auf die Herren Kavala und Demirtaş umzusetzen (CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 25). Am 15.5.2024 jedoch hat ein Istanbuler Gericht für schwere Straftaten den Antrag Kavalas auf Wiederaufnahme des Verfahrens zum dritten Mal abgelehnt (Duvar 15.5.2024).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Auswärtiges_Amt_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2022)_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2020),_24.08.2020.pdf, Zugriff 8.9.2023 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt ,_B3richt_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf, Zugriff 6.11.2022 [Login erforderlich]
AI - Amnesty International (29.2.2024): Türkiye: New judicial package leaves people at continued risk of human rights violations [EUR 44/7765/2024], https://www.ecoi.net/en/file/local/2105260/EUR4477652024ENGLISH.pdf , Zugriff 26.8.2024
AI - Amnesty International (29.9.2023): Türkei: Berufungsgericht bestätigt lebenslange Haftstrafe für Osman Kavala, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/tuerkei-osman-kavala-berufungsgericht-bestaetigt-lebenslange-haftstrafe , Zugriff 26.2.2024
AI - Amnesty International (29.3.2022a): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070315.html , Zugriff 16.10.2023
AI - Amnesty International (26.10.2020): TURKEY: POLITICIANS, LAWYERS, ACTIVISTS TARGETED IN NEW WAVE OF MASS ARRESTS, https://www.amnesty.org/download/Documents/EUR4432212020ENGLISH.PDF , Zugriff 26.2.2024
ARTICLE19 - ARTICLE19 (8.4.2022): Blog: COVID-19, social media and freedom of expression in Turkey, https://www.article19.org/resources/pandemic-social-media-freedom-of-expression-turkey/ , Zugriff 20.2.2024
Bianet - Bianet (30.1.2023): MP questions secret witness statement in HDP closure case, https://bianet.org/english/law/273517-mp-questions-secret-witness-statement-in-hdp-closure-case , Zugriff 26.2.2024
Bianet - Bianet (24.2.2020): Bar Associatons: Turkey Experiencing Most Severe Judicial Crisis in History, https://bianet.org/english/law/220510-bar-associatons-turkey-experiencing-most-severe-judicial-crisis-in-history , Zugriff 26.2.2024
BS - Bertelsmann Stiftung (19.3.2024): BTI 2024 Country Report Türkiye, https://www.ecoi.net/en/file/local/2105839/country_report_2024_TUR.pdf , Zugriff 26.3.2024
CAT - UN Committee Against Torture (14.8.2024): Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, Concluding observations on the fifth periodic report of Türkiye [CAT/C/TUR/CO/5], https://docstore.ohchr.org/SelfServices/FilesHandler.ashx?enc=6QkG1d/PPRiCAqhKb7yhsnvJXP2+50OL9O36biF/9eYNuWlF4vseeSBQGdDwKcDhXeQvpdWBxS7faNQojzGppZgo7ezhxcynNXnQrXBJVp4KtXtnRild/kR2B08jzYHi , Zugriff 6.9.2024
CoE-CM - Council of Europe - Committee of Ministers (11.4.2024): 17th Annual Report of the Committee of Ministers - SUPERVISION OF THE EXECUTION OF JUDGMENTS AND DECISIONS OF THE EUROPEAN COURT OF HUMAN RIGHTS, https://rm.coe.int/annual-report-2023/1680af6e81 , Zugriff 26.8.2024
CoE-CM - Council of Europe - Committee of Ministers (3.2.2022): Committee of Ministers refers Kavala v. Turkey case to the European Court of Human Rights, https://www.coe.int/en/web/portal/-/committee-of-ministers-refers-kavala-v-turkey-case-to-the-european-court-of-human-rights , Zugriff 26.2.2024
CoE-CM - Council of Europe - Committee of Ministers (3.12.2021): Implementing ECHR judgments: Council of Europe ministers serve formal notice on Turkey in the Kavala case [Ref. DC 224(2021)], https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=0900001680a4c19d , Zugriff 21.1.2022
CoE-CommDH - Council of Europe – Commissioner for Human Rights (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH(2020)1 - Report on Turkey_EN.docx.pdf, Zugriff 31.10.2023
CoE-PACE - Council of Europe - Parliamentary Assembly (29.9.2023): PACE co-rapporteurs appalled by Turkish Supreme Courts decision to confirm the aggravated life sentence for Osman Kavala, https://pace.coe.int/en/news/9217/pace-co-rapporteurs-appalled-by-turkish-supreme-court-s-decision-to-confirm-the-aggravated-life-sentence-for-osman-kavala , Zugriff 26.8.2024 [Login erforderlich]
CoE-PACE/MonComm - Council of Europe - PACE - Committee on the Honouring of Obligations and Commitments by Member States of the Council of Europe (Monitoring Committee) (Autor), Council of Europe - Parliamentary Assembly (Herausgeber) (11.9.2024): The honouring of obligations and commitments by Türkiye Information note following the fact-finding visit (11-14 June 2024)AS/Mon (2018) 12 E, https://rm.coe.int/as-mon-2024-16-information-note-the-honouring-of-obligations-and-commi/1680b19600 , Zugriff 20.9.2024
Duvar - Duvar (15.5.2024): Turkish court denies Kavalas retrial for third time against expectations, https://www.duvarenglish.com/turkish-court-denies-kavalas-retrial-for-third-time-against-expectations-news-64350 , Zugriff 4.7.2024
Duvar - Duvar (18.2.2022): Turkish Constitutional Court deems anonymous testimony sufficient grounds for arrest, https://www.duvarenglish.com/constitutional-court-deems-anonymous-secret-testimony-sufficient-grounds-for-detention-news-60413 , Zugriff 26.2.2024
Duvar - Duvar (9.6.2020): Turkey's top court head admits majority of rights violations stem from lack of right to a fair trial, https://www.duvarenglish.com/human-rights/2020/06/09/turkeys-top-court-head-admits-majority-of-rights-violations-stem-from-lack-of-right-to-a-fair-trial , Zugriff 26.2.2024
DW - Deutsche Welle (28.9.2023): Türkisches Gericht bestätigt Urteil gegen Osman Kavala, https://www.dw.com/de/türkisches-gericht-bestätigt-urteil-gegen-osman-kavala/a-66955087 , Zugriff 26.2.2024
DW - Deutsche Welle (11.7.2022): Europäischer Gerichtshof verurteilt Türkei wegen Haft von Osman Kavala, https://www.dw.com/de/europäischer-gerichtshof-verurteilt-türkei-wegen-haft-von-osman-kavala/a-62437290 , Zugriff 26.2.2024
DW - Deutsche Welle (25.4.2022): Türkischer Kulturförderer Osman Kavala zu lebenslanger Haft verurteilt, https://www.dw.com/de/türkischer-kulturförderer-osman-kavala-zu-lebenslanger-haft-verurteilt/a-59870684 , Zugriff 26.2.2024
DW - Deutsche Welle (17.2.2022): AYM'den tartışmalı gizli tanık içtihadı [umstrittene Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu geheimen Zeugen], https://www.dw.com/tr/aymden-tart ışmalı-gizli-tanık-içtihadı/a-60817990, Zugriff 26.2.2024
DW - Deutsche Welle (9.2.2022): Erdogan: Der beleidigte Präsident, https://www.dw.com/de/erdogan-der-beleidigte-präsident/a-60705884 , Zugriff 26.2.2024
DW - Deutsche Welle (17.1.2022): Türkei ignoriert Frist zur Freilassung von Kavala, https://www.dw.com/de/türkei-ignoriert-frist-zur-freilassung-von-kavala/a-60455412 , Zugriff 26.2.2024
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023
EC - Europäische Kommission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=Türkiye Report 2022.pdf, Zugriff 31.10.2023
EC - Europäische Kommission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 31.10.2023
EC - Europäische Kommission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD (2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 16.10.2023
ECHR - European Court of Human Rights (1.2024): Violations by Article and by State, https://www.echr.coe.int/documents/d/echr/stats-violation-2023-eng , Zugriff 9.2.2024
ECHR - European Court of Human Rights (6.6.2023): Press Release: Violation of the Convention for failure to respect the confidentiality of meetings between S. Demirtaş and F. Yüksekdağ and their lawyers [ECHR 168 (2023)], https://hudoc.echr.coe.int/app/conversion/pdf/?library=ECHR&id=003-7666851-10570032&filename=Judgment Demirtas and Yüksekdag Senoglu v. Türkiye - Failure to respect the confidentiality of meetings between the applicants and their lawyers.pdf, Zugriff 26.2.2024
EI - Expression Interrupted (4.4.2024): ANALYSIS | The 8th Judicial Package "takes us further back than legislation annulled by top court" - Expression Interrupted, https://www.expressioninterrupted.com/analysis-the-8th-judicial-package-takes-us-further-back-than-legislation-annulled-by-constitutional-court , Zugriff 26.8.2024
EP - Europäisches Parlament (13.9.2023): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2023 zu dem Bericht 2022 der Kommission über die Türkei (2022/2205(INI), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0320_DE.pdf , Zugriff 25.10.2023
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 29.9.2023
FH - Freedom House (29.2.2024): Freedom in the World 2024 - Turkey, 202, https://www.ecoi.net/de/dokument/2105043.html , Zugriff 15.2.2024
FR - Frankfurter Rundschau (25.4.2022): Türkei: Lebenslange Haft für Kulturförderer Kavala, https://www.fr.de/politik/tuerkei-lebenslange-haft-fuer-kulturfoerderer-kavala-zr-91500881.html , Zugriff 26.2.2024
HDN - Hürriyet Daily News (18.1.2021): Some 300,000 people applied to Top Court for violation of rights in 8 years, https://www.hurriyetdailynews.com/some-300-000-people-applied-to-top-court-for-violation-of-rights-in-8-years-161704 , Zugriff 26.2.2024
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2043511.html , Zugriff 1.2.2024
HRW - Human Rights Watch (10.4.2019): Lawyers on Trial - Abusive Prosecutions and Erosion of Fair Trial Rights in Turkey, https://www.hrw.org/report/2019/04/10/lawyers-trial/abusive-prosecutions-and-erosion-fair-trial-rights-turkey , Zugriff 26.2.2024
ICSEM - Inquiry Commission on the State of Emergency Measures [Türkei] (1.2023): THE INQUIRY COMMISSION ON THE STATE OF EMERGENCY MEASURES ACTIVITY REPORT (2017 - 2022), https://soe.tccb.gov.tr/Docs/SOE_Report_20172022.pdf , Zugriff 9.2.2024 [Login erforderlich]
IPI - International Press Institute (18.11.2019): Turkey's Journalists in the Dock: Judicial Silencing of the Fourth Estate – Joint International Press Freedom Mission To Turkey (September 11–13, 2019), https://freeturkeyjournalists.ipi.media/wp-content/uploads/2019/11/Turkey-Mission-Report-IPI-FINAL4PRINT.pdf , Zugriff 26.2.2024
LoC - Library of Congress [USA] (7.11.2021): Turkey: Constitutional Court Rules Convictions for Offense of "Insulting the President" Violate Right to Freedom of Expression, https://www.loc.gov/item/global-legal-monitor/2021-11-07/turkey-constitutional-court-rules-convictions-for-offense-of-insulting-the-president-violate-right-to-freedom-of-expression/ , Zugriff 26.2.2024
LoC - Library of Congress [USA] (6.2021): Turkey: New Court Decisions and Developments in Law Regarding Scope and Limits of Presidential Decrees, https://www.loc.gov/item/global-legal-monitor/2021-07-25/turkey-new-court-decisions-and-developments-in-law-regarding-scope-and-limits-of-presidential-decrees/# , Zugriff 26.2.2024
LTO - Legal Tribune Online (29.11.2023): Ein Justizputsch in der Türkei?, https://www.lto.de/recht/justiz/j/tuerkei-justiz-putsch-politik-verfassungsgericht-staatsanwaltschaft-atalay-erdogan , Zugriff 26.2.2024
MEDEL - Magistrats européens pour la démocratie et les libertés (23.6.2023): MEDEL at the side event Revisiting the functioning of democratic institutions and rule of law in Turkey – Role of judiciary in current situation of Turkey in honouring the obligations deriving from CoE membership, https://medelnet.eu/medel-at-the-side-event-revisiting-the-functioning-of-democratic-institutions-and-rule-of-law-in-turkey-role-of-judiciary-in-current-situation-of-turkey-in-honouring-the-obligations-deriving/ , Zugriff 26.2.2024
Mezopotamya - Mezopotamya (2.8.2022): The picklock of the government: Anonymous witness, http://mezopotamyaajansi35.com/en/ALL-NEWS/content/view/178661?page=6 , Zugriff 8.9.2023
MLSA - Media and Law Studies Association (23.2.2024): MLSA Legal Unit publishes information note on the new judicial package, https://www.mlsaturkey.com/en/mlsa-legal-unit-publishes-information-note-on-the-new-judicial-package , Zugriff 26.8.2024
MoJ - GDJR&S - Republic of Turkey Ministry of Justice - General Directorate of Judicial Record and Statistics (2022): ADALET İSTATİSTİKLERİ Judicial Statistics 2021, https://adlisicil.adalet.gov.tr/Resimler/SayfaDokuman/9092022143819adalet_ist-2021.pdf , Zugriff 26.8.2024
MWN - Marocco World News (9.5.2022): Turkey Arrests Moroccan Tourist for Insulting President Erdogan, https://www.moroccoworldnews.com/2022/05/348906/turkey-arrests-moroccan-tourist-for-insulting-president-erdogan , Zugriff 26.2.2024
NaT - News about Turkey (19.2.2019): Turkish police reveal nonexistence of ‘secret witness’ whose statements led to many imprisonments, https://newsaboutturkey.com/2019/02/19/news-about-turkey-turkish-police-reveal-nonexistence-of-secret-witness-whose-statements-led-to-many-imprisonments/ , Zugriff 26.2.2024
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_ÖB-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 9.1.2024 [Login erforderlich]
Rat der EU - Rat der EU (14.12.2021): ENLARGEMENT AND STABILISATION AND ASSOCIATION PROCESS [15033/21], https://www.consilium.europa.eu/media/53454/st15033-en21.pdf , Zugriff 26.2.2024 [Login erforderlich]
RRLex - RRLex - Rumpf Rechtsanwälte (7.2023): Das Gerichtssystem in der Türkei, https://www.tuerkei-recht.de/downloads/Gerichtssystem_Tuerkei.pdf , Zugriff 27.2.2024
SCF - Stockholm Center for Freedom (30.5.2024): Top appeals courts honorary president says 99 percent of rulings by Turkish courts are null and void - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/top-appeals-courts-honorary-president-says-99-percent-of-rulings-by-turkish-courts-are-null-and-void , Zugriff 4.7.2024
SCF - Stockholm Center for Freedom (26.11.2022): European rights court slams convictions based on secret witness testimony, https://stockholmcf.org/european-rights-court-slams-convictions-based-on-secret-witness-testimony/ , Zugriff 26.2.2024
SCF - Stockholm Center for Freedom (3.2021): TURKEY’S JUDICIAL COUNCIL - :Guarantor or Annihilator of Judicial Independence?, https://stockholmcf.org/wp-content/uploads/2021/03/Turkish-Judicial-Council-HSK-Report.pdf , Zugriff 26.2.2024
Standard - Standard, Der (9.11.2023): Juristischer Putsch gegen türkisches Verfassungsgericht, https://www.derstandard.at/story/3000000194536/juristischer-putsch-gegen-tuerkisches-verfassungsgericht , Zugriff 26.2.2024
TM - Turkish Minute (18.7.2024): From presidential palace to top court: Erdoğan appoints aide as courts new member - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2024/07/18/from-presidential-palace-to-top-court-erdogan-appoints-aide-as-courts-new-member , Zugriff 2.10.2024
TM - Turkish Minute (30.5.2024): Top appeals courts honorary president says 99 percent of rulings by Turkish courts are ’null and void’ - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2024/05/30/top-appeal-court-honorary-president-said-99-percent-of-ruling-by-turkish-courts-are-null-and-void/amp , Zugriff 4.7.2024
TM - Turkish Minute (14.3.2024): Over 52,000 people investigated for insulting Erdogan, his government in 4 years - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2024/03/14/over-52000-people-investigated-for-insulting-erdogan-government-4-year , Zugriff 15.3.2024
TM - Turkish Minute (18.1.2022): Turkey’s top court finds rights violations in 11,830 applications in 2021, https://www.turkishminute.com/2022/01/18/keys-top-court-finds-rights-violations-in-11830-applications-in-2021/ , Zugriff 26.2.2024
TM - Turkish Minute (26.11.2020b): ECtHR judgment could spell the end of anonymous witnesses in Turkey, https://www.turkishminute.com/2020/11/26/ecthr-judgment-could-spell-the-end-of-anonymous-witnesses-in-turkey/ , Zugriff 26.2.2024
TT/Perilli - Turkish Tribunal (Herausgeber), Perilli, Luca (Autor) (2.2021): Judicial Independence & Access to Justice, https://turkeytribunal.org/wp-content/uploads/2021/11/Report_Luca_Perilli_-Independence_Access_to_Justice_f.pdf , Zugriff 26.2.2024
USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich]
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU ̈RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 29.9.2023
WJP - World Justice Project (12.2023): WJP Rule of Law Index, https://worldjusticeproject.org/rule-of-law-index/country/2023/Turkiye , Zugriff 26.2.2024
Zeit Online - Zeit Online (28.12.2022): Lebenslange Haftstrafe für Osman Kavala bestätigt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-12/tuerkei-osman-kavala-lebenslange-haft-bestaetigung , Zugriff 26.2.2024
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung 2024-10-09 10:51
Die Regierung (Exekutive) verfügt weiterhin über weitreichende Befugnisse gegenüber den Sicherheitskräften. Der Umfang des militärischen Justizsystems wurde eingeschränkt. Höhere zivile Gerichte überprüfen weiterhin Berufungen gegen Entscheidungen von Militärgerichten. Die zivile Aufsicht über die Sicherheitskräfte bleibt jedoch unvollständig, da es keine wirksamen Rechenschaftsmechanismen gibt. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsinstitutionen muss laut Europäischer Kommission gestärkt werden. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin weit verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung nach wie vor weitreichenden gerichtlichen und administrativen Schutz. Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Militärangehörigen und der obersten Kommandoebene werden weiterhin rechtliche Privilegien gewährt. Die Untersuchung mutmaßlicher militärischer Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, erfordert die vorherige Genehmigung entweder durch militärische oder zivile Vorgesetzte (EC 8.11.2023, S. 17).
Das Militär trägt die Gesamtverantwortung für die Bewachung der Grenzen (USDOS 20.3.2023, S. 1). Seit 2003 jedoch wurden die Befugnisse des Militärs schrittweise beschränkt und hohe Positionen innerhalb der Streitkräfte im Laufe der Zeit durch regierungsnahe Persönlichkeiten ersetzt. Diese Politik hat sich seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016, nach dem 29.444 Angehörige aus den türkischen Streitkräften (hier allein: 15.000), der Gendarmerie und der Küstenwache entlassen wurden, noch einmal verstärkt. Die Einschränkung der Macht des Militärs wurde in der Bevölkerung und der Politik zum Teil sehr begrüßt. Allerdings zeigt sich gegenwärtig, dass mit diesem Prozess nicht die Stärkung der demokratischen Institutionen einhergeht. Die Umstrukturierung der Streitkräfte soll den Einfluss des Militärs nochmals einschränken, u. a. durch den Ausbau politischer Kontrollmechanismen. Der geplante Einflussverlust etwa des Generalstabs macht sich daran fest, dass einerseits einige seiner Kompetenzen an das Verteidigungsministerium übergehen und dass der Generalstab, wie auch andere militärische Institutionen, andererseits vermehrt mit ideologisch und persönlich loyalen Personen besetzt werden soll. Während die drei Teilstreitkräfte nun dem Verteidigungsministerium direkt unterstellt sind, sind die paramilitärischen Einheiten dem Innenministerium angegliedert. Auch der Hohe Militärrat, die Kontrolle der Militärgerichtsbarkeit, das Sanitätswesen der Streitkräfte und das militärische Ausbildungswesen werden zunehmend zivil besetzt (BICC 7.2024, S. 2, 17f., 25).
Die Polizei und die Gendarmerie (türk.: Jandarma), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten (Polizei) respektive in ländlichen und Grenzgebieten (Gendarmerie) zuständig (USDOS 20.3.2023, S. 1; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Gendarmerie ist für die öffentliche Ordnung in ländlichen Gebieten, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizeikräfte fallen, sowie für die Gewährleistung der inneren Sicherheit und die allgemeine Grenzkontrolle zuständig. Die Verantwortung für die Gendarmerie wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 7.2024, S. 18; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei. Nach Ermittlungen der Polizei wegen Korruption und Geldwäsche gegen ranghohe AKP-Funktionäre 2013, insbesondere aber seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden massenhaft Polizisten entlassen (BICC 7.2024, S. 2). Die Polizei hatte 2023 einen Personalstand von fast 339.400 (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21). Die Gendarmerie mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.100 und 196.285 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21; vgl. BICC 7.2024, S. 17, 25). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 7.2024, S. 17, 25).
Es gab Berichte, dass Gendarmerie-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende schossen, die versuchten die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). [Siehe hierzu u. a. das Kapitel: Flüchtlinge]. Das Generalkommando der Gendarmerie beaufsichtigt auch die sogenannten Dorfschützer (Köy Korucusu), 2017 in Sicherheitswächter (Güvenlik Korucusu) umbenannt. Diese sind paramilitärische Einheiten [oft kurdischer Herkunft], welche vornehmlich in ländlichen Regionen im Südosten der Türkei hauptsächlich zur Bekämpfung der PKK eingesetzt werden (BAMF 2.2023, S. 1; vgl. USDOS 13.3.2019). Gemäß einer Studie sollen Dorfbewohner dem Dorfschützersystem in der Vergangenheit zwangsweise als Teil ihres Clans, aus finanzieller Notwendigkeit oder aufgrund von Zwangsrekrutierungen durch staatliche Sicherheitskräfte beigetreten sein (BAMF 2.2023; vgl. JSPP/Acar Y.G. 18.12.2019). Sowohl die Dorfschützer als auch die Opfer von Dorfschützern erzählten Ähnliches über den Druck, Dorfschützer zu werden, und die Räumung der Dörfer: Die Sicherheitskräfte betraten das Dorf und sagten den Dorfbewohnern, dass sie Dorfschützer werden oder ihr Dorf verlassen müssen. Wenn die Dorfbewohner nicht in der Lage waren, sich zwischen der Ablehnung oder der Annahme, Dorfwächter zu werden, zu entscheiden, räumten die Soldaten ihr Dorf (JSPP/Acar Y.G. 18.12.2019). In den letzten Jahren wurden keine Berichte über Zwangsrekrutierungen bekannt. Inzwischen können sich Personen, die sich für eine Einstellung als Dorfschützer interessieren, bei der Dorfverwaltung bewerben (BAMF 2.2023).
Einige der traditionellen Militäraufgaben sollen durch die Polizei, die zunehmend mit schweren Waffen ausgestattet wird, übernommen werden. Diese Reformen setzen einen Trend fort, der sich schon in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei abgezeichnet hat. Sichtbar wurde dies auch, gemeinsam mit der Gendarmerie, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 7.2024, S. 18; vgl. BICC 12.2022, S. 18).
Polizei, Gendarmerie und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen (AA 20.5.2024, S. 6).
Die 2008 abgeschaffte "Nachbarschaftswache" alias "Nachtwache" (türk.: Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Von 29.000 mit Stand Herbst 2020 (TM 28.11.2020) ist die ihre Zahl (mit Beginn 2023) auf rund 40.000 angewachsen. Das türkische Innenministerium will 1.200 neue "Bekçis" einstellen. Dabei handelt es sich um Wachleute, die, bewaffnet mit Waffe und Schlagstock, vor allem nachts für Ordnung sorgen sollen. Die neuen Sicherheitskräfte sollen in 26 Provinzen zum Einsatz kommen (FR 20.1.2023). Sie werden nach nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt (BIRN 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BIRN 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (MBZ 2.3.2022; S. 19; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 20). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum ausgebildet sein (AA 20.5.2024, S. 6; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 20, BIRN 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Vor allem kritisiert die Opposition, dass Erdoğan ein ihm loyal verbundenes Gegengewicht zur Gendarmerie und Polizei aufbaut (FR 20.1.2023). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Mit der Gesetzesänderung tauchten u. a. Bilder auf, wie die neuen Sicherheitskräfte willkürlich Personen kontrollieren und Gewalt ausüben (FR 20.1.2023). Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums handeln die Bekçi in der Regel nach ihren eigenen nationalistischen und konservativen Normen und Werten. So griffen sie beispielsweise ein, wenn jemand auf Kurdisch öffentlich sang, einen kurzen Rock trug oder einen "extravaganten" Haarschnitt hatte. Wenn die angehaltene Person nicht kooperierte, wurden ihr Handschellen angelegt und sie wurde der Polizei übergeben (MBZ 2.3.2022, S. 19). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). Beispiele für Übergriffe der Nachtwache: Im August 2021 wurden drei Journalisten von Mitgliedern der Nachtwache attackiert, weil sie über das nächtliche Verschwinden eines, später tot aufgefundenen, Kleinkindes im Istanbuler Ortsteil Beylikdüzü berichteten (SCF 19.8.2021). Im Mai 2022 wurde angeblich eine 16-Jährige durch Angehörige der Nachtwache in Istanbul verhaftet und sexuell belästigt (SCF 11.5.2022). Und Mitte Juli 2022 wurden drei Transfrauen in der westtürkischen Provinz Izmir von Mitgliedern der Nachtwache im Rahmen einer Ausweiskontrolle mit Tränengas besprüht, geschlagen und in Handschellen auf die Polizeistation gebracht (Duvar 18.7.2022).
Das Verfassungsgericht entschied mit seinem am 1.6.2023 veröffentlichten Urteil, dass Nachbarschaftswachen nicht mehr befugt sind, Maßnahmen zu ergreifen, um Demonstrationen zu verhindern, die die öffentliche Ordnung stören könnten. Derartige Befugnisse würden einen Verstoß gegen das Versammlungs- und Demonstrationsrecht darstellen. Das Verfassungsgericht bestätigte allerdings, dass die Nachbarschaftswachen weiterhin befugt sind, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen sowie Identitätskontrollen durchzuführen. Das Verfassungsgericht räumte dem Parlament eine Frist von neun Monaten ein, um das genannte Urteil in ein Gesetz zu gießen (MBZ 31.8.2023, S. 20).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichten- und Geheimdienststellen. Ebenso unterhält die Gendarmerie einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 22f.).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (AnA 27.3.2015).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei [Anm.: Generaldirektion für Sicherheit - Emniyet Genel Müdürlüğü/ EGM] und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die Türkischen Streitkräfte (TSK), EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S. 15, Pt. 38).
Das türkische Verfassungsgericht hat mehrere Artikel zweier Gesetze über den Ausnahmezustand im Jänner 2023 für nichtig erklärt. Unter anderem erklärte es eine Bestimmung für nichtig, wonach Angehörige der türkischen Streitkräfte (TSK), des Generalkommandos der Gendarmerie, des Kommandos der Küstenwache und der Generaldirektion für Sicherheit wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation aus dem Dienst entfernt werden können, ohne dass eine Untersuchung gegen sie durchgeführt wird. Überdies wurde eine Verordnung, die vorsah, dass der türkische Geheimdienst (MİT) ohne Ausnahmen vom Geltungsbereich des Gesetzes Nr. 4982 über das Recht auf Information ausgenommen wird, für ungültig erklärt, da sie "die Möglichkeit, das Recht auf Information auszuüben, vollständig abschafft" (TM 16.1.2023).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
Ahval - Ahval (7.1.2021): Turkish police and intelligence allowed to use military weapons domestically, https://ahvalnews.com/police-violence/turkish-police-and-intelligence-allowed-use-military-weapons-domestically , Zugriff 6.10.2023 [Login erforderlich]
AnA - Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-parliament-approves-domestic-security-package/63105 , Zugriff 6.10.2023
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (2.2023): Das Dorfschützersystem in der Türkei, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=24053809&objAction=Open&nexturl=/OTCS/cs.exe?func=srch.SearchCache&cacheId=1476259282 , Zugriff 5.10.2023 [Login erforderlich]
BICC - Bonn International Centre for Conflict Studies (7.2024): Länderinformation - Türkei, https://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/tuerkei/2024_Tuerkei.pdf , Zugriff 13.8.2024
BICC - Bonn International Centre for Conflict Studies (12.2022): Länderinformation - Türkei, https://cloud.staatendokumentation.at/index.php/apps/files/?dir=coi-cms-archive/aa/ab&fileid=04667809o , Zugriff 5.10.2023
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (10.6.2020): Turkey Opposition Condemns Move to Arm Night Watchmen, https://balkaninsight.com/2020/06/10/turkey-opposition-condemns-move-to-arm-night-watchmen/ , Zugriff 6.10.2023
Duvar - Duvar (18.7.2022): Turkish watchmen batter trans women in western İzmir, https://www.duvarenglish.com/turkish-watchmen-batter-trans-women-in-western-izmir-news-61038 , Zugriff 6.10.2023
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 29.9.2023
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html , Zugriff 6.10.2023
FR - Frankfurter Rundschau (20.1.2023): Erdogan baut loyale Privatarmee ,,Bekcis“ weiter aus, https://www.fr.de/politik/tuerkei-erdogan-baut-loyale-privatarmee-bekcis-weiter-aus-92038019.html , Zugriff 6.10.2023
Guardian - The Guardian (8.6.2020): Alarm at Turkish plan to expand powers of nightwatchmen, https://www.theguardian.com/world/2020/jun/08/alarm-at-turkish-plan-to-expand-powers-of-nightwatchmen , Zugriff 1.2.2024
HDN - Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338 , Zugriff 6.10.2023
JSPP/Acar Y.G. - Acar Yasemin Gülsüm (Autor), Journal of Social and Political Psychology (Herausgeber) (18.12.2019): Village Guards as In Between in the Turkish-Kurdish Conflict: Re-Examining Identity and Position in Intergroup Conflict| Journal of Social and Political Psychology, https://jspp.psychopen.eu/index.php/jspp/article/view/5171/5171.html , Zugriff 10.9.2024
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General COI report Turkiye (August 2023).pdf, Zugriff 13.11.2023
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023
NZZ - Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712 , Zugriff 6.10.2023
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
SCF - Stockholm Center for Freedom (11.5.2022): Neighborhood watchmen allegedly harass 16-year-old girl in Istanbul, https://stockholmcf.org/neighborhood-watchmen-allegedly-harass-16-year-old-girl-in-istanbul/ , Zugriff 6.10.2023
SCF - Stockholm Center for Freedom (19.8.2021): Watchmen attack journalists reporting on missing toddler in İstanbul, https://stockholmcf.org/watchmen-attack-journalists-reporting-on-missing-toddler-in-istanbul/ , Zugriff 6.10.2023
SCF - Stockholm Center for Freedom (8.1.2021): Turkish police and intelligence agency authorized to use military weaponry in event of civil unrest, https://stockholmcf.org/turkish-police-and-intelligence-agency-authorized-to-use-military-weaponry-in-event-of-civil-unrest/ , Zugriff 15.2.2022
Spiegel - Spiegel, Der (9.6.2020): Erdogans Parallel-Polizei, https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-nachbarschaftswache-recep-tayyip-erdogans-parallel-polizei-a-ece122d1-5df6-4fb9-bd24-fa44b687e5fd , Zugriff 6.10.2023
TM - Turkish Minute (16.1.2023): Top court annuls critical articles of laws on state of emergency - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2023/01/16/top-court-annul-critical-articles-of-law-on-state-of-emergency , Zugriff 27.6.2024
TM - Turkish Minute (28.11.2020): Erdoğan's army, https://www.turkishminute.com/2020/11/28/erdogans-army/ , Zugriff 6.10.2023
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU ̈RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 29.9.2023
USDOS - United States Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.10.2023
USDOS - United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 5.10.2023
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2024-10-18 12:11
Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38; vgl. EC 8.11.2023, S. 6, 38). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023, S. 1, 21; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38).
Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Es wurden keine Gesetzesänderungen verabschiedet, um die verbleibenden Elemente der Notstandsgesetze von 2016 aufzuheben (Stand November 2023). Die Weigerung der Türkei, bestimmte Urteile des EGMR umzusetzen, gibt der Europäischen Kommission Anlass zur Sorge hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Türkei hat das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Juli 2022, das im Rahmen des vom Ministerkomitee gegen die Türkei eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens erging, nicht umgesetzt, was darauf hindeutet, dass die Türkei sich von den Standards für Menschenrechte und Grundfreiheiten, die sie als Mitglied des Europarats unterzeichnet hat, entfernt hat. Die Umsetzung des im Jahr 2021 angenommenen Aktionsplans für Menschenrechte wurde zwar fortgesetzt, kritische Punkte wurden jedoch nicht angegangen. - Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 8.11.2023, S. 6, 28). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 20.5.2024, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).
Am Vorabend der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 verzeichnete die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, in einer Stellungnahme, eine Verschärfung des Drucks auf diese wichtigen Akteure der demokratischen Gesellschaft sowie eine Verschlechterung der Menschenrechtslage, insbesondere der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Die türkischen Behörden wurden aufgefordert, das feindselige Umfeld für Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, NGOs und Anwälte zu beenden und sie nicht länger durch administrative und gerichtliche Maßnahmen zum Schweigen zu bringen. Die öffentliche Verwendung hasserfüllter Rhetorik gegen Minderheiten, LGBTI-Personen und Migranten, auch durch hochrangige Beamte, hat laut Mijatović ein alarmierendes Ausmaß erreicht und die bestehende Polarisierung in der Gesellschaft verstärkt, in einem Umfeld, das bereits von zunehmender Gewalt und hasserfüllten Verbrechen gegen Angehörige dieser Gruppen geprägt ist (CoE-CommDH 5.5.2023).
Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören glaubwürdige Berichte über: Verschwindenlassen; Folter oder grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch die Regierung oder im Auftrag der Regierung; willkürliche Verhaftung oder Inhaftierung; schwerwiegende Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; politische Gefangene oder Inhaftierte; grenzüberschreitende Repressionen gegen Personen in einem anderen Land; schwerwiegende Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung und der Medienfreiheit, einschließlich Gewalt und Androhung von Gewalt gegen Journalisten, ungerechtfertigte Verhaftungen oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten, Zensur oder Durchsetzung oder Androhung der Durchsetzung von Gesetzen zur strafrechtlichen Verfolgung wegen Verleumdung, um die Meinungsäußerung einzuschränken; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; erhebliche Eingriffe in die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze hinsichtlich der Organisation, Finanzierung oder Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen und Organisationen der Zivilgesellschaft; Beschränkungen der Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit im Hoheitsgebiet eines Staates und des Rechts, das Land zu verlassen; Zurückweisung von Flüchtlingen in ein Land, in dem ihnen Folter oder Verfolgung drohen, einschließlich schwerwiegender Schäden wie Bedrohung des Lebens oder der Freiheit oder anderer Misshandlungen, die eine gesonderte Menschenrechtsverletzung darstellen würden; schwerwiegende staatliche Beschränkungen oder Schikanen gegenüber inländischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen; umfassende geschlechtsspezifische Gewalt, einschließlich häuslicher oder intimer Partnergewalt, sexueller Gewalt, Gewalt am Arbeitsplatz, Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung, weiblicher Genitalverstümmelung/-beschneidung, Femizid und anderer Formen solcher Gewalt; Gewaltverbrechen oder Gewaltandrohungen gegen Angehörige nationaler und ethnischer Gruppen, wie der kurdischen Minderheit, sowie Flüchtlinge; und Gewaltverbrechen oder Gewaltandrohungen gegen Mitglieder sexueller Minderheiten (LGBTQI+). Hinzukommen glaubwürdige Berichte über willkürliche oder unrechtmäßige Tötungen durch die Vertreter der Staatsmacht, so etwa durch Sicherheitskräfte, Polizei und Gefängniswärter. (USDOS 22.4.2024, S. 1-3; vgl. AI 28.3.2023, EEAS 29.5.2024, S. 23). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 22.4.2024, S. 2; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 39).
Zuletzt zeigte sich (nach Mai 2022) das Europäische Parlament im September 2023 "nach wie vor besorgt über die schwerwiegenden Einschränkungen der Grundfreiheiten – insbesondere der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, für die das Gezi-Verfahren symbolhaft ist – und die anhaltenden Angriffe auf die Grundrechte von Mitgliedern der Opposition, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Gewerkschaftern, Angehörigen von Minderheiten, Journalisten, Wissenschaftlern und Aktivisten der Zivilgesellschaft, unter anderem durch juristische und administrative Schikanen, willkürliche Anwendung von Anti-Terrorgesetzen, Stigmatisierung und Auflösung von Vereinigungen" (EP 13.9.2023, Pt. 10).
Mit Stand 31.8.2024 waren 24.200 (Nov. 2023: 23.750) Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 37,2 % (Nov. 2023: 33,2 %) aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 9.2024; vgl. ECHR 12.2023), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Im Jahr 2024 stellte der EGMR für das Jahr 2023 in 72 Fällen (von 78) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 17, betrafen das Recht auf ein faires Verfahren, gefolgt vom Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), dem Versammlung- und Vereinigungsrecht (16), dem Recht auf Familien- und Privatleben (15) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (10) (ECHR 1.2024).
Das Recht auf Leben
Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD/HRA 6.11.2022b, S. 9).
Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Mutmaßliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte im Südosten, insbesondere während der Ereignisse im Jahr 2015, wurden nicht wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 30f.). Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt, insbesondere im Südosten des Landes (EC 12.10.2022, S. 33).
Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022a).
Siehe hierzu insbesondere die Kapitel bzw. Subkapitel: Sicherheitslage, Folter und unmenschliche Behandlung, Folter und unmenschliche Behandlung / Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
AI - Amnesty International (28.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089660.html , Zugriff 30.1.2024
CoE-CommDH - Council of Europe – Commissioner for Human Rights (5.5.2023): The Turkish authorities must protect democratic freedoms, https://www.coe.int/en/web/commissioner/-/the-turkish-authorities-must-protect-democratic-freedoms , Zugriff 27.6.2024
Duvar - Duvar (8.7.2022a): Top Turkish court finds no rights violation in death of Cizre curfew victims, https://www.duvarenglish.com/top-turkish-court-finds-no-rights-violation-in-death-of-cizre-curfew-victims-news-61010 , Zugriff 9.2.2024
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023
EC - Europäische Kommission (12.10.2022): Türkiye 2022 Report [SWD (2022) 333 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/ccedfba1-0ea4-4220-9f94-ae50c7fd0302_en?filename=Türkiye Report 2022.pdf, Zugriff 31.10.2023
EC - Europäische Kommission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 17.10.2023
ECHR - European Court of Human Rights (9.2024): PENDING APPLICATIONS ALLOCATED TO A JUDICIAL FORMATION - REQUÊTES PENDANTES DEVANT UNE FORMATION JUDICIAIRE 31/08/2024 - ECHR - European Court of Human Rights, https://www.echr.coe.int/documents/d/echr/stats-pending-month-2024-bil , Zugriff 23.9.2024 [Login erforderlich]
ECHR - European Court of Human Rights (1.2024): Violations by Article and by State, https://www.echr.coe.int/documents/d/echr/stats-violation-2023-eng , Zugriff 9.2.2024
ECHR - European Court of Human Rights (12.2023): PENDING APPLICATIONS ALLOCATED TO A JUDICIAL FORMATION - REQUÊTES PENDANTES DEVANT UNE FORMATION JUDICIAIRE 30/11/2022, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2023_BIL.PDF , Zugriff 9.2.2024
EEAS - European Union / European External Action Service (29.5.2024): EU ANNUAL REPORT ON HUMAN RIGHTS AND DEMOCRACY IN THE WORLD 2023 COUNTRY UPDATES, https://www.eeas.europa.eu/sites/default/files/documents/2024/2023 EU country updates on human rights and democracy_2.pdf, Zugriff 23.9.2024
EP - Europäisches Parlament (13.9.2023): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2023 zu dem Bericht 2022 der Kommission über die Türkei (2022/2205(INI), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0320_DE.pdf , Zugriff 25.10.2023
İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (6.11.2022b): Human Rights Association 2021 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2022/11/SR2022_2021-Turkey-Violations-Report.pdf , Zugriff 31.10.2023
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich]
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU ̈RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 29.9.2023
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung 2024-10-14 10:56
Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13; vgl., USDOS 22.4.2024 S. 41). So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 29.2.2024, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7; vgl. USDOS 22.4.2024 S. 42), obschon die Verfassung vorschreibt, dass nur Richter die Bewegungsfreiheit von Bürgern limitieren können, und auch nur in Verbindung mit einer strafrechtlichen Untersuchung bzw. Verfolgung (USDOS 22.4.2024 S. 42).
Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar. Die Ausreisekontrollen an türkischen Grenzübergängen sind in der Regel streng. Ein- und Ausreisedaten werden genauestens erfasst und die Reisenden in den entsprechenden Fahndungssystemen überprüft (AA 20.5.2024, S. 24f.).
Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, S. 27f.; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, S. 27). Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Und Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022). Vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Parlamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023). Im März 2024 weigerte sich das 22. Hoche Strafgericht von Ankara das Verfahren auszusetzen und so die Ausreisesperre gegen den Vize-Parlamentsprecher der DEM-Partei, Sırrı Süreyya Önder, aufzuheben, der zu jener Gruppe der 15 Parlamentarier gehörte, und dies trotz seiner parlamentarischen Immunität, und zwar wegen des laufenden Kobanê-Prozesses (Duvar 22.3.2024). Und im Juni 2024 zogen die Behörden die Pässe von neun Ko-Bürgermeistern aus Gemeinden mit kurdischer Mehrheit ein, darunter die Bürgermeisterin von Diyarbakır Serra Bucak, ohne dass ein Gerichtsbeschluss vorlag. Das Innenministerium verteidigte den Schritt mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung (Medya 24.6.2024; vgl. Rudaw 24.6.2024).
Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit Online 16.11.2023).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z. B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, S. 27f).
Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 22.4.2024, S. 42f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45).
Urteile des Verfassungsgerichtes im Sinne der Bewegungsfreiheit
Das türkische Verfassungsgericht hob Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung auf, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Das Verfassungsgericht entschied überdies Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Im Frühjahr 2024 erklärte das Verfassungsgericht, dass das gegen die Menschenrechtsaktivistin Nurcan Kaya verhängte internationale Reiseverbot ihre Meinungsfreiheit verletze. Nurcan Kaya wurde am Istanbuler Flughafen im Oktober 2019 festgenommen, als sie versuchte, an einer Sitzung der Vereinten Nationen teilzunehmen. Kaya wurde im Rahmen einer Untersuchung inhaftiert unter der Anschuldigung "Hass und Feindschaft unter den Menschen zu schüren", nachdem sie 2014 in einem Tweet geschrieben hatte: "Nicht nur die Kurden, sondern alle in Kobanê lebenden Völker leisten Widerstand." Während ihres Prozesses unterlag Kaya einer 1,5-monatigen gerichtlichen Kontrolle, die ein internationales Reiseverbot und die Beschlagnahme ihres Reisepasses beinhaltete. - Das Verfassungsgericht erkannte an, dass die gerichtlichen Maßnahmen Kayas Fähigkeit zur Teilnahme am öffentlichen Diskurs beeinträchtigten, und sprach Kaya 13.500 Lira (ca. 390 Euro mit 6.3.2024) als immateriellen Schadenersatz zu. Darüber hinaus kritisierte das Verfassungsgericht die Justiz dafür, dass sie vor der Verhängung des Reiseverbots keine weniger restriktiven Maßnahmen in Betracht gezogen und Berufungen gegen das Verbot aus „abstrakten Gründen“ abgelehnt hatte (Duvar 7.3.2024; vgl. MLSA 6.3.2024).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
Duvar - Duvar (22.3.2024): Turkish court refuses to lift intl travel ban imposed on deputy parliament speaker Önder, https://www.duvarenglish.com/turkish-court-refuses-to-lift-intl-travel-ban-imposed-on-deputy-parliament-speaker-onder-news-64063 , Zugriff 16.9.2024
Duvar - Duvar (7.3.2024): Turkeys top court rules international travel ban violation of freedom of expression, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-international-travel-ban-violation-of-freedom-of-expression-news-63958 , Zugriff 16.9.2024
Duvar - Duvar (20.10.2023): 15 MPs, deputy speaker of Turkish Parliament banned from traveling abroad, https://www.duvarenglish.com/15-mps-deputy-speaker-of-turkish-parliament-banned-from-traveling-abroad-news-63183 , Zugriff 18.1.2024
Duvar - Duvar (26.12.2022): International travel ban imposed on HDP MP, https://www.duvarenglish.com/international-travel-ban-imposed-on-hdp-mp-news-61648 , Zugriff 18.1.2024
Duvar - Duvar (10.3.2022): HDP MP Gergerlioğlu files objection against int'l travel ban, seizure of passport, https://www.duvarenglish.com/hdp-mp-omer-faruk-gergerlioglu-files-objection-against-intl-travel-ban-seizure-of-passport-news-60577 , Zugriff 18.1.2024
Duvar - Duvar (29.1.2022): Turkey’s top court rules passport cancellation for sacked civil servants unconstitutional, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-passport-cancellation-for-sacked-civil-servants-unconstitutional-news-60256 , Zugriff 18.1.2024
FH - Freedom House (29.2.2024): Freedom in the World 2024 - Turkey, 202, https://www.ecoi.net/de/dokument/2105043.html , Zugriff 15.2.2024
FR - Frankfurter Rundschau (11.6.2022): Gefangen in der Türkei: Mehr als 100 Deutsche dürfen nicht ausreisen, https://www.fr.de/politik/gefangen-erdogan-tuerkei-viele-deutsche-duerfen-nicht-zurueck-deutschland-pkk-91604026.html , Zugriff 18.1.2024
HDN - Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000 , Zugriff 18.1.2024
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich]
Medya - MedyaNews (24.6.2024): Turkish authorities impose travel bans on Kurdish co-mayors, https://medyanews.net/turkish-authorities-impose-travel-bans-on-kurdish-co-mayors , Zugriff 4.7.2024
Medya - MedyaNews (26.12.2022): Turkey imposes travel ban on Kurdish-Alevi lawmaker, https://medyanews.net/turkey-imposes-travel-ban-on-kurdish-alevi-lawmaker/ , Zugriff 18.1.2024
MLSA - Media and Law Studies Association (6.3.2024): Turkey’s Constitutional Court declares travel ban a violation of freedom of speech in landmark ruling, https://mlsaturkey.com/en/turkeys-constitutional-court-declares-travel-ban-a-violation-of-freedom-of-speech-in-landmark-ruling , Zugriff 16.9.2024
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
Rudaw - Rudaw Media Network (24.6.2024): Turkey imposes travel ban on pro-Kurdish mayors without court order: DEM Party official, https://www.rudaw.net/english/middleeast/turkey/24062024 , Zugriff 4.7.2024
TM - Turkish Minute (22.6.2020): Turkey removes passport restrictions for 28,000 more citizens, https://www.turkishminute.com/2020/06/22/turkey-removes-passport-restrictions-for-28000-more-citizens/ , Zugriff 18.1.2024
TM - Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects' spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regulation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/ , Zugriff 18.1.2024
TM - Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkey-lifts-restrictions-on-more-than-50000-passports/ , Zugriff 18.1.2024
USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich]
USDOS - United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.11.2023
USDOS - United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 5.10.2023
Zeit Online - Zeit Online (16.11.2023): Ausreiseverbot: Mindestens 65 deutsche Staatsbürger dürfen die Türkei nicht verlassen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/tuerkei-deutsche-ausreiseverbot-terrorverdacht-erdogan-besuch-deutschland , Zugriff 18.1.2024
KURDENLetzte Änderung 2024-10-18 21:31
Demografie und Selbstdefinition
Die kurdische Volksgruppe hat laut Schätzungen ca. 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung und lebt zum Großteil im Südosten des Landes sowie in den südlich und westlich gelegenen Großstädten Adana, Antalya, Gaziantep, Mersin, Istanbul und Izmir (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 47, UKHO 10.2023a, S. 6). Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20). Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Türkei, jedoch liegen keine Angaben über deren genaue Größe vor. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. - Erstens wird bei den türkischen Volkszählungen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen nicht erfasst. Zweitens verheimlichen einige Kurden ihre ethnische Zugehörigkeit, da sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer kurdischen Herkunft befürchten. Und drittens ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer zum kurdischen Teil der Bevölkerung gehört. So identifizieren sich Sprecher des Zazaki - einer Sprachvariante, die mit Kurmandji ("Kurdisch") verwandt ist - teils als Kurden und teils eben als eine völlig separate Bevölkerungsgruppe (MBZ 31.8.2023, S. 47).
Allgemeine Situation, politische Orientierung und Vertretung
Es gibt Belege für eine anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über rassistische Angriffe gegen Kurden (auch) im Jahr 2023. In einigen Fällen wurden diese Angriffe möglicherweise nicht ordnungsgemäß untersucht oder nicht als rassistisch erkannt (UKHO 10.2023a, S. 8f.). Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. UKHO 10.2023a, S. 8f.).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) [inzwischen in Partei für Gleichberechtigung und Demokratie der Völker - DEM-Partei umbenannt] (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 48). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Scharia eintritt. Zwar tritt sie wie die HDP für die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem ein, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (MBZ 31.10.2019). Die Unterstützung wiederholte sich auch angesichts der Präsidenten- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2023. - Bei den Parlamentswahlen 2023 zogen vier Abgeordnete der Hüda-Par über die Liste der AKP ins türkische Parlament ein. Möglich war das durch einen umfangreichen Deal mit Präsident Erdoğan. Für die vier sicheren Listenplätze erhielt dieser die Unterstützung der Hüda-Par bei den gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen (FR 19.5.2023; vgl. Duvar 9.6.2023). Die Hüda-Par gilt beispielsweise nicht nur als Gegnerin der Istanbuler Konvention, sondern generell der Frauenemanzipation. Die Frau ist für Hüda-Par in erster Linie Mutter. Die Partei möchte zudem außereheliche Beziehungen verbieten (FR 19.5.2023). Mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober 2023 stellte sich die Hüda-Par als Unterstützerin der HAMAS heraus, die in der EU, den USA und anderen Ländern, nicht jedoch in der Türkei, als Terrororganisation gilt. So empfing die Parlamentsfraktion der Hüda-Par bereits am 11.10.2023 eine Delegation der HAMAS unter Führung von Basam Naim im türkischen Parlament. Şehzade Demir, Abgeordneter der Hüda-Par, warf bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Israel nicht nur Kriegsverbrechen vor, sondern erklärte, dass "das zionistische Regime der gesamten islamischen Gemeinschaft und unseren heiligen Werten den Krieg erklärt" hätte (Duvar 12.10.2023). Zudem begrüßte Demir den HAMAS-Angriff vom 7.10.2023 und nannte Israel eine Terrororganisation, zu der alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen beendet werden sollten (FR 12.10.2023).
Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobanê-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (MBZ 31.10.2019).
Religiöse Orientierung
In religiöser Hinsicht sind die Kurden in der Türkei nicht einheitlich. Nach einer Schätzung sind siebzig Prozent der Kurden Sunniten, die restlichen dreißig Prozent sind Aleviten und Jesiden [eine verschwindend geringe Zahl] (MBZ 31.8.2023, S. 48; vgl. MRG 6.2018b). Die sunnitische Mehrheit unter den Kurden gehören allerdings in der Regel der Shafi'i-Schule und nicht der Hanafi-Schule wie die meisten ethnischen Türken an. Die türkischen Religionsbehörden betrachten beide Schulen als gleichwertig, und Anhänger der Shafi'i-Schule werden aus religiösen Gründen nicht unterschiedlich behandelt. Kurdische Aleviten verstehen sich eher als Aleviten denn als Kurden (DFAT 10.9.2020, S. 20, 24).
Allgemeine Einschätzungen zur Lage der Kurden durch die EU-Institutionen
Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich auch 2023 "besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Künstler, einschließlich Massenverhaftungen vor den Wahlen [2023] sowie über das laufende Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker". Überdies zeigte sich das EP "beunruhigt über die schwere und zunehmende Unterdrückung der kurdischen Gemeinschaft, insbesondere im Südosten des Landes, unter anderem durch die weitere Einschränkung der kulturellen Rechte und rechtliche Einschränkungen im Hinblick auf den Gebrauch der kurdischen Sprache als Unterrichtssprache im Bildungswesen" (EP 13.9.2023, Pt. 13, 16).
2022 zeigte sich das EP zudem "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 44).
Laut Europäischer Kommission dauern Hassverbrechen und Hassreden gegen Kurden an (EC 8.11.2023, S. 19). Auch das EP weist darauf hin, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 19.5.2021, S. 16f, Pt. 44).
Kurdische Zivilgesellschaft
Es gab mehrere Angriffe gegen ethnische Kurden, die nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen rassistisch motiviert waren. Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt (USDOS 22.4.2024, S. 69). Hunderte von kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023, S. 85) und die meisten blieben es auch (EC 8.11.2023, S. 18, 44). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass Letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete. Allerdings wurde das Urteil des Verfassungsgerichts (mit Stand November 2023) nicht umgesetzt (EC 8.11.2023, S. 18f.; vgl. CCRT 8.4.2021).
Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes mit der Kurdischen Arbeiterpartei - PKK
Dennoch wird der Krieg der Regierung gegen die PKK zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen. Die Behörden nehmen regelmäßig Massenverhaftungen in kurdisch dominierten Provinzen vor und beschuldigen die Verhafteten, die PKK zu unterstützen. Ende April 2023 nahm die Polizei in Diyarbakır und anderen Provinzen über 100 Personen fest, darunter Politiker, Rechtsanwälte und Journalisten (FH 29.2.2024, F4). Auch 2024 setzte sich dieses Vorgehen fort. - Am 16.1.2024 nahm die Polizei bei mehreren Razzien in 28 Provinzen insgesamt 165 Personen fest, darunter Mitglieder der pro-kurdischen Partei für Demokratie und Gleichheit (DEM-Partei), wegen mutmaßlicher Verbindungen zu terroristischen Organisationen. Das Innenministerium erklärte, die Festgenommenen seien wegen mutmaßlicher Unterstützung der PKK oder wegen der Verbreitung von PKK-Propaganda in den sozialen Medien festgenommen worden. Unter den Festgenommenen waren mehrere Mitglieder der sog. Peace Mothers, eine Gruppe von Aktivistinnen, die sich für eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen dem Staat und der PKK einsetzt, sowie Mitglieder der Jugend- und Frauennetzwerke der DEM-Partei (BAMF 30.6.2024, S. 1).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli (Dersim) blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 22.4.2024, S. 24, 68f.). Die Lage im Südosten bleibt besorgniserregend und wurde durch die Erdbeben im Februar 2023, von denen auch ein Teil der Region betroffen war, noch verschärft. Die Regierung setzte ihre inländischen und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen in Irak und Syrien fort, auch nach den Erdbeben. Die Sicherheitslage in den Grenzgebieten bleibt aufgrund der terroristischen Angriffe der PKK prekär (EC 8.11.2023, S. 18).
Für weiterführende Informationen siehe Kapitel bzw. Unterkapitel: Sicherheitslage, Sicherheitslage / Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 18). Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise betroffen. In einem Prozess in Diyarbakır gegen 18 kurdische Journalisten und Medienschaffende, die der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" beschuldigt wurden, verbrachten 15 von ihnen 13 Monate (seit Juni 2022) in Untersuchungshaft, bevor sie bei ihrer ersten Anhörung im Juli freigelassen wurden (HRW 11.1.2024; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). In einem Verfahren in Ankara gegen elf kurdische Journalisten verbrachten neun von ihnen sieben Monate in Untersuchungshaft, bevor sie im Mai 2023 bei ihrer ersten Anhörung freigelassen wurden (Die beiden Verfahren dauerten mit Stand Ende 2023 noch an.) (HRW 11.1.2024). Laut eigenen Angaben werden kurdische Journalisten schlicht wegen ihrer Berichte über die sich verschlimmernde Menschenrechtslage in den Kurdengebieten angeklagt (BIRN 8.12.2023).
Vom Vorwurf der Terrorismusunterstützung sind nebst pro-kurdischen politischen Parteien [siehe hierzu das Unterkapitel Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition] auch Vertreter kurdischer NGOs und Vereine betroffen. - So hat ein Gericht in Diyarbakır Narin Gezgör, ein Gründungsmitglied der "Rosa Frauenvereinigung", einer kurdischen Frauenrechtsgruppe, im September 2023 wegen Terrorismus zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Zu den gegen Gezgör vorgebrachten Beweisen gehörten ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung sowie ihre Medieninterviews und anonyme Zeugenaussagen, die sie belasteten (SCF 11.9.2023; vgl. ANF 11.9.2023).
Zur Verfolgung kurdischer Journalisten siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 20.5.2024, S. 8f.). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), am 1. Mai (WKI 3.5.2022) oder routinemäßig zum kurdischen Neujahrsfest Newroz. So wurden 2023 gemäß offiziellen Angaben 224 Personen in Istanbul anlässlich des Frühlingsfestes verhaftet (Duvar 20.3.2023). 2024 berichteten regierungstreue Medien, dass mindestens 75 Personen festgenommen wurden, weil sie laut lokalen Behörden bei einer Newroz-Feier in Istanbul terroristische Propaganda verbreitet haben sollen, u. a. in Form der Verteilung von Postern mit dem Bild Abdullah Öcalans oder des Skandierens "illegaler Slogans" (DS 18.3.2024). Im Zuge dessen ist auch eine AFP-Journalistin von der Polizei verhaftet worden. Laut ihren Angaben sei sie festgenommen und in einen Polizeiwagen gebracht worden, nachdem sie sich gegen eine Leibesvisitation gewehrt habe. Sie wurde bis zur Freilassung für sechs Stunden zusammen mit 14 weiteren Personen von der Polizei festgehalten. Sie und die anderen festgesetzten Personen seien von der Polizei beschimpft und bedroht worden. Zwei Journalisten der pro-kurdischen Nachrichtenseite Bianet, welche die Verhaftungen gefilmt hatten, berichteten, sie seien von der Polizei geschlagen und zu Boden geworfen worden (BAMF 25.3.2024).
Gewaltsame Übergriffe und behördliches Vorgehen
Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (MBZ 2.3.2022, S. 43; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 2). Im Juli 2021 veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021). Auch in den Jahren 2022 und 2023 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Dieser Trend setzte sich 2024 fort.
Beispiele 2023: Bilder von Fans des Fußballklubs Bursaspor, die Spieler von Amedspor aus Diyarbakır mit scharfen Gegenständen, leeren Patronenhülsen und Flaschen bewarfen und dabei rassistische Parolen riefen, schockierten das Land im März 2023. Ein kurdischer Jugendlicher, der es wagte, ein Amedspor-Transparent hochzuhalten, wurde von Bursaspor-Anhängern brutal zusammengeschlagen. Amedspor-Spieler gaben an, dass sie in den Umkleidekabinen von "privaten Sicherheitsleuten, Sicherheitsbeamten des Vereins, Vereinsmitarbeitern und Polizeibeamten" schikaniert wurden (AlMon 6.3.2023). Anfang April 2023 kam es zu einem gewaltsamen Übergriff auf drei Bauarbeiter im Bezirk Bodrum der Provinz Muğla, weil sie Kurdisch sprachen. Die Angreifer griffen die kurdischen Arbeiter mit einer Schrotflinte, einer Axt und Eisenstangen an und setzten danach ihre Drohungen mit WhatsApp-Nachrichten fort (Gercek 3.4.2023; vgl. TİHV/HRFT 3.4.2023). Am 2.5.2023 wurde der kurdische Straßensänger Cihan Aymaz in Istanbul von einem Mann erstochen, da er verweigerte, das Lied "Ölürem Türkiyem" ("Ich würde für meine Türkei sterben") sofort zu singen, und zudem regelmäßig kurdische Lieder sang (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. Bianet 4.5.2023). Die Istanbuler Polizei hat kurdische Jugendliche daran gehindert, Halay, einen traditionellen kurdischen Volkstanz, zu kurdischer Musik zu tanzen und vier von ihnen nach einem Gerangel festgenommen. Anschließend tauchte ein Video auf, das zeigt, wie die Polizei die Festgenommenen zwingt, osmanische Militärmusik zu hören, während sie mit gefesselten Händen auf dem Boden liegen (Duvar 22.5.2023). Das Sicherheitspersonal eines Flughafens in Provinz Trabzon griff am 16.12.2023 vier Bauarbeiter an, weil sie sich auf Kurdisch unterhielten. Ein Arbeiter sagte, dass nur drei Angreifer auf die Polizeiwache gebracht wurden, obwohl sie eigentlich von etwa 25 Personen attackiert wurden (Duvar 17.12.2023).
Beispiele 2024: Ein kurdischer Betreiber eines Cafés in Diyarbakır wurde Ende Mai 2024 verhaftet, nachdem er anlässlich des Tages der kurdischen Sprache (15. Mai) angekündigt hatte, seine Kunden künftig ausschließlich auf Kurdisch zu bedienen. Die Behörden werfen dem Gastronomen vor, durch sein Vorhaben terroristische Propaganda zu betreiben, ein diesbezügliches Strafverfahren wurde eingeleitet. Zuvor war der Cafébesitzer bereits in den sozialen Medien angefeindet worden (BAMF 3.6.2024, vgl. BIRN 30.5.2024).
Im Sommer 2024 wurden an mehreren Orten Hochzeitsgäste, die kurdische Lieder sangen und kurdische Tänze tanzten von der Polizei verhaftet bzw. wurde Anklage wegen "Verbreitung von Terrorismuspropaganda" erhoben. Dieses Verbrechen kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte schon zuvor entschieden, dass das Singen von Volksliedern oder das Vortragen von Gedichten, das Rufen allgemeiner Slogans, auch bei öffentlichen Versammlungen, oder der Verweis auf den 40-jährigen Aufstand der bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegen das türkische Militär rechtlich erlaubte Meinungsäußerungen darstellen. Denn der Inhalt der Lieder und Slogans auf den Hochzeitsfeiern und anderswo ruft weder zur Gewalt auf noch stellt er eine unmittelbare Gefahr für Personen dar, die eine strafrechtliche Verfolgung rechtfertigen könnte (HRW 15.8.2024). - Mehr als 30 Verhaftungen erfolgten im Juli in den Provinzen Istanbul, Aydın, Mersin, Ağrı, Siirt, Batman und Hakkâri. So wurden am 27.7.2024 Presseberichten zufolge insgesamt elf Personen verhaftet, die in Istanbul bei verschiedenen Hochzeiten laut eines Istanbuler Gerichts "Propaganda für terroristische Organisationen" betrieben haben sollen. In Hakkâri kam es am 28.7.2024 zu Razzien während Hochzeitsfeierlichkeiten, da auf jenen kurdische Lieder gespielt und dazu getanzt worden sei. Berichten zufolge sollen bei den Razzien eine nicht näher bekannte Anzahl an Musikern und Hochzeitsgästen ebenfalls unter dem Vorwurf der "Propaganda für eine terroristische Organisation" festgenommen worden sein. Am 5.8.2024 wurden fünf Personen festgenommen, da sie auf einer Hochzeit in der Provinz Osmaniye kurdischsprachige Lieder gesungen, den kurdischen Volkstanz "Halay" aufgeführt und die Hochzeitsfahrzeuge mit gelben und roten Luftschlangen geschmückt haben sollen. Unter den Festgenommenen waren auch die beiden Ko-Vorsitzenden der Partei für Gleichheit und Demokratie (DEM) des Bezirks Osmaniye (BAMF 12.8.2024, S. 7; vgl. Bianet 30.7.2024, MLSA 1.8.2024b). Am 10.8.2024 führte die Istanbuler Polizei eine Razzia bei einer Hochzeit im Stadtteil Esenyurt durch, bei der acht Personen festgenommen wurden, darunter die Gastgeber der Hochzeit und Musiker. Die Razzia wurde Berichten zufolge durch das Abspielen "politischer Lieder" ausgelöst. Fünf der acht Personen, die wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" angeklagt waren, wurden nach ihrer Aussage auf dem Polizeirevier Kıraç wieder freigelassen. Drei Musiker, die nach ihrer Aussage an die Staatsanwaltschaft verwiesen wurden, wurden mit dem Antrag auf Freilassung auf Bewährung an das Gericht verwiesen, welches infolge die Musiker auf Bewährung freiließ (Mezopotamya 12.8.2024; vgl.Bianet 12.8.2024).
Ende Juli 2024 kam es zu mutmaßlichen Festnahmen und Misshandlungen von sechs kurdischen Jugendlichen in der Stadt Yüksekova in der Provinz Hakkâri durch die Polizei. Die Jugendlichen seien laut ihrer eigenen Aussage festgenommen worden, da sie sich gegen die Verhaftung eines Freundes während einer Identitätskontrolle zur Wehr gesetzt hätten. Bei der Befragung der Jugendlichen in einem Polizeiauto seien sie laut ihrer Aussage schließlich von Polizisten wiederholt auf den Kopf geschlagen und beleidigt worden. Gemäß Presseberichten hätten sich am Tag der Festnahme die Familien und Anwälte der Jugendlichen beim lokalen Polizeipräsidium gemeldet. Dort sei ihnen jedoch gesagt worden, dass die Jugendlichen nicht dort wären und es auf dem Präsidium keine Bürger gäbe, die von Polizeieinheiten festgenommen worden wären (BAMF 19.8.2024, S. 10; vgl. SCF 2.8.2024).
[Anmerkung: Für Beispiele vor dem Jahr 2023 siehe vormalige Versionen der Länderinformationen Türkei!]
Stellung der kurdischen Sprache im Bildungssystem
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 20.5.2024, S. 10), so auch als Unterrichtssprache (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Unterricht in kurdischer Sprache ist an öffentlichen Schulen seit 2012 und an privaten Einrichtungen seit 2014 möglich (als Wahlpflichtfach). Der Unterricht wird in der Praxis aufgrund faktischer Barrieren aber oftmals nicht angeboten (AA 20.5.2024). Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift, wobei die Kurdischkenntnisse vor allem in den Großstädten zurückgehen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Nur wenige politische Parteien haben muttersprachlichen Unterricht ausdrücklich in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirken sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus, und eine Reihe von Kunst- und Kulturgruppen in kurdischer Sprache wurden von den Treuhändern entlassen. Ein Dutzend Konzerte, Festivals und kulturelle Veranstaltungen wurden von den Gouvernements und Gemeinden mit der Begründung "Sicherheit und öffentliche Ordnung" verboten. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, Medien und zahlreiche Kunsträume blieben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016, was zu einer weiteren Beschneidung ihrer kulturellen Rechte beitrug (EC 8.11.2023; S. 44). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). 2023 hatte das Ministerium im Rahmen eines Programms mit dem Titel "Lebendige Sprachen und Dialekte" noch 50 Kurdischlehrer eingestellt. 2024 führte die Entscheidung des Bildungsministeriums, von 20.000 neuen Lehrerstellen nur zehn Stellen für Kurdischlehrer (sechs Lehrer für den Kurmanci-Dialekt und vier für Zazaki) zu vergeben, zu heftigen Reaktionen von Politikern und Organisationen der Zivilgesellschaft, die argumentieren, dass dadurch das Recht der Kurden auf Bildung in ihrer Muttersprache untergraben wird (SCF 9.5.2024; vgl. VOA 9.5.2024).
Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (MBZ 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AlMon 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der damals nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).
Verwendung des Kurdischen in den Medien, im Kulturbereich und Gefängnissen
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8; vgl. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Doğan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. - Der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AlMon 10.8.2022; vgl. ÖB Ankara 30.11.2021). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Sprachkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022). Und im Jänner 2023 teilte der Parlamentsabgeordnete der HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, mit, dass zwei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Hevra festgenommen wurden, weil sie auf Kurdisch auf einem vom HDP-Jugendrat organisierten Konzert in Darıca nahe Istanbul gesungen hatten (Duvar 23.1.2023).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021a). Ein Gefängnis in der türkischen Provinz Şırnak hat im August 2024 ein Verbot des Gebrauchs der kurdischen Sprache bei Telefongesprächen zwischen Insassen und ihren Familien verhängt (SCF 12.8.2024; vgl. TR724 12.8.2024).
Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April 2022 nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).
Laut manchen Medienberichten bzw. Vertreter kurdischer Kultur- und Sprachvereine kam es in der Vergangenheit sogar zu massiven Gewalttaten, vereinzelt mit Todesfolge, an Personen, die in der Öffentlichkeit Kurdisch sprachen, wobei die Behörden die Taten ignorierten bzw. nicht ahndeten (SCF 12.5.2021; vgl. DW 22.10.2019). So wurde 2018 beispielsweise ein Kurde namens Kadir Sakci in der Schwarzmeerprovinz Sakarya angeschossen und getötet. Sein 16-jähriger Sohn wurde schwer verletzt. Die beiden sprachen kurdisch, als sie angegriffen wurden. Ein weiterer Fall machte Schlagzeilen, kurz nachdem die Türkei ihre Offensive in Nordsyrien begonnen hatte. Sirin Tosun starb 2019 auf einer Intensivstation an den Verletzungen, die er Ende August desselben Jahres erlitten hatte, als er mit seiner Familie in Adapazari, ebenfalls in der Provinz Sakarya, Haselnüsse sammeln wollte. Sechs Personen schlugen und schossen auf ihn, weil er angeblich kurdisch sprach (DW 22.10.2019; vgl. Duvar 15.10.2019).
Amtlicher Verwendung des Kurdischen und dessen neuerliche Einschränkung
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020). Die vom Staat ernannten Treuhänder im Südosten änderten weiterhin die ursprünglichen (kurdischen) Straßennamen (EC 8.11.2023; S. 44). Im August 2024 sind in der Provinz Diyarbakır auf Anweisung des Gouverneursamtes zum wiederholten Male kurdischsprachige Verkehrsschilder entfernt worden. Das Innenministerium hatte zuvor eine Richtlinie erlassen, wonach alle Verkehrsschilder den von der türkischen Generaldirektion für Autobahnen (KGM) festgelegten Standards entsprechen müssten. Die KGM hatte die Entfernung der kurdischen Verkehrsschilder auf Anweisung des Ministeriums veranlasst, aber die Gemeinden hatten die Schilder zunächst in Van und anschließend in Diyarbakır, Batman und Mardin wieder aufgestellt. Die Schilder seien nun in Diyarbakır ein zweites Mal entfernt worden. Laut des stellvertretenden Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakır gebe es keine rechtlichen Hindernisse, die Gemeinden daran hindern, öffentliche Dienstleistungen in verschiedenen Sprachen anzubieten und außerdem gebe es seit 15 Jahren Warnschilder auf Kurdisch in Diyarbakır (BAMF 12.8.2024, S. 7f., vgl. Bianet 31.7.2024a, MLSA 1.8.2024b).
Die Verwendung bzw. Nennung der (ursprünglichen) kurdischen Namen für Städte und andere Orte kann zu Beleidigungen und Drohungen führen, wie das Beispiel einer Kurdischlehrerin aus Diyarbakır im November 2023 zeigte. Die Anwaltskammer von Şırnak verurteilte die Online-Schikanen gegen die Lehrerin sogar als Symptom für einen unterschwelligen Hass auf die kurdische Sprache. - Die Republik Türkei, die als Nationalstaat gegründet wurde und sich auf die vorherrschende türkische Identität stützt, änderte im Verlaufe der Zeit die Namen vieler Städte und Dörfer, deren frühere Bezeichnungen ihr kurdisches oder auch armenisches, georgisches, griechisches oder assyrisches Erbe widerspiegelten. Laut einer Studie aus dem Jahr 2011 wurden in den meisten südöstlichen Provinzen [Zentrum der kurdischen Bevölkerung] sogar mehr als 75 % der Namen geändert (SCF 10.11.2023).
2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).
Siehe auch das Unterkapitel: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / OppositionHaftbedingungen
Verwendung des Begriffes "Kurdistan"
Obwohl der einstige türkische Staatspräsident Abdullah Gül bei seinem historischen Besuch 2009 im Nachbarland Irak zum ersten Mal öffentlich das Wort "Kurdistan" in den Mund nahm, auch wenn er sich auf die irakische autonome Region bezog, galt dies damals als Tabubruch (FAZ 24.3.2009). Laut dem pro-kurdischen Internetportal Bianet lassen sich etliche Beispiele finden, wonach das Wort "Kurdistan" in der Türkei je nach der politischen Atmosphäre gesagt oder nicht gesagt werden kann. Das Wort "Kurdistan" zu sagen, kann eine Beleidigung sein oder auch nicht. Aber am gefährlichsten ist es immer, wenn Kurden "Kurdistan" sagen (Bianet 16.7.2019). - Während auch Erdoğan, damals Regierungschef, den Begriff anlässlich des Besuchs des Präsidenten der Kurdischen Region im Nordirak, Massoud Barzani, in Diyarbakır im Oktober 2013 verwendete (DW 19.11.2013), kam es kaum einen Monat später zu Spannungen im türkischen Parlament, weil in einem Bericht der pro-kurdischen BDP [Vorgängerpartei der HDP] zum Budgetentwurf der Regierung der Begriff "Kurdistan" zur Beschreibung der kurdischen Siedlungsgebiete in Ost- und Südostanatolien auftauchte. Die anderen Parteien im Parlament wandten sich gegen die Benutzung des Wortes, das bei türkischen Nationalisten als Ausdruck eines kurdischen Separatismus gilt. Während einer Debatte über den BDP-Bericht gingen Abgeordnete von BDP und ultra-nationalistischen MHP aufeinander los (Standard 10.12.2013). - Nach der parlamentarischen Geschäftsordnung können Abgeordnete wegen der Verwendung des Wortes "Kurdistan" oder anderer sensibler Begriffe im Plenum des Parlaments verwarnt oder vorübergehend aus dem Parlament ausgeschlossen werden. Die Behörden wendeten dieses Verfahren nicht einheitlich an (USDOS 22.4.2024, S. 28).
2019 sagte Binali Yıldırım, der AKP-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von İstanbul und ehemaliger Ministerpräsident, auf einer Kundgebung vor den Wahlen "Kurdistan", und als er darauf angesprochen wurde, antwortete er, dass das Wort Kurdistan jenes sei, welches Mustafa Kemal Atatürk für die Vertreter verwendet hatte, die während des Unabhängigkeitskampfes vor der Gründung der Republik aus dieser Region kamen. Für die "Vereinigung der Jugendbewegung Kurdistans" in Istanbul hingegen erklärte das Innenministerium, dass die Verwendung des Wortes "Kurdistan" ein Verstoß gegen Artikel 14 der Verfassung und Artikel 302 des türkischen Strafgesetzbuches sei. Es dürfe nicht im Namen einer Vereinigung verwendet werden. Es folgte eine Klage gegen den Verein (Bianet 16.7.2019). Und im Oktober 2021 verhaftete die Polizei in Siirt vorübergehend einen kurdischen Geschäftsmann, nachdem er während eines Streits mit einem nationalistischen Politiker seine Stadt als Teil von "Kurdistan" bezeichnet hatte. Ihm wurde vorgeworfen, Propaganda für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu machen (Rudaw 29.10.2021).
Die Auseinandersetzung hinsichtlich der Verwendung des Begriffes "Kurdistan" hat mittlerweile selbst den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erreicht. - Dieser entschied am 13.6.2023, dass die türkischen Behörden die Rechte des ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Volkspartei (HDP), Osman Baydemir, verletzt hatten, indem sie gegen ihn eine Strafe verhängten, weil er 2017 während einer Rede im Parlament den Begriff "Kurdistan" verwendet hatte. In seinem Urteil vom 13.6.2023 stellte der EGMR fest, dass Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über "Meinungsfreiheit" verletzt worden sei. Der EGMR verurteilte die Türkei zur Zahlung einer Entschädigung von fast 17.000 Euro an Baydemir (Duvar 13.6.2023; vgl. ECHR 13.6.2023).
Die Thematik bleibt allerdings aktuell. - So entschied das Verfassungsgericht zugunsten von Abdurrahim Kılıç, der zuvor wegen des Tragens eines T-Shirts mit dem Wort "Kurdistan" und dem Emblem der Mesopotamischen Sonne verurteilt worden war. Im Jahr 2016 verurteilte ihn das schwere Strafgericht Midyat wegen "terroristischer Propaganda" zu einer Geldstrafe von 7.300 Lira [Anm.: zum damaligen Kurs um die 2.200 Euro]. Infolge der Bestätigung des Urteils durch den Kassationsgerichtshof 2021 reichte Kılıç eine Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht ein. Am 12.6.2024 entschied das Verfassungsgericht, dass Kılıçs Recht auf freie Meinungsäußerung, das durch Artikel 26 der Verfassung geschützt ist, verletzt worden war. In seinem ausführlichen Urteil kritisierte das Gericht die mangelnde Begründung der Vorinstanz für die Verurteilung von Kılıç und stellte fest, dass in dem Urteil weder die Bedeutung der Symbole auf dem T-Shirt noch ihre angebliche Verbindung zu einer terroristischen Organisation erläutert wurde. Darüber hinaus wies das Gericht darauf hin, dass nicht bewertet wurde, inwiefern das Tragen des T-Shirts zu Gewalt aufrief oder die öffentliche Ordnung bedrohte (Bianet 31.7.2024b; vgl. IFE 2.8.2024, Duvar 30.7.2024).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
AlMon - Al Monitor (6.3.2023): Anti-Kurdish racism stains soccer pitch in western Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2023/03/anti-kurdish-racism-stains-soccer-pitch-western-turkey , Zugriff 22.1.2024 [Login erforderlich]
AlMon - Al Monitor (10.8.2022): Kurdish diva brokenhearted but resolute in face of language discrimination in Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2022/08/kurdish-diva-brokenhearted-resolute-face-language-discrimination-turkey , Zugriff 23.1.2024
AlMon - Al Monitor (9.11.2021): Turkey’s Kurds revive fight for language rights, https://www.al-monitor.com/originals/2021/11/turkeys-kurds-revive-fight-language-rights , Zugriff 20.4.2022 [Login erforderlich]
ANF - Firat News Agency (11.9.2023): Linguistin wegen Engagement für Frauenverein verurteilt, https://anfdeutsch.com/frauen/linguistin-wegen-engagement-fur-frauenverein-verurteilt-38970 , Zugriff 4.9.2024
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.8.2024): Briefing Notes KW34 / 2024, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2024/briefingnotes-kw34-2024.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 20.8.2024
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (12.8.2024): Briefing Notes KW32 / 2024, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2024/briefingnotes-kw33-2024.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 13.8.2024
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.6.2024): Briefing Notes Zusammenfassung - Türkei – Januar bis Juni 2024, https://milo.bamf.de/otcs/cs.exe/fetchcsui/-30238391/Deutschland._Bundesamt_für_Migration_und_Flüchtlinge ,_Briefing_Notes_Zusammenfassung_–_Türkei,_Januar_bis_Juni_2024,_30.06.2024.pdf?nodeid=30237621&vernum=-2, Zugriff 4.9.2024
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (3.6.2024): Briefing Notes KW23 / 2024, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2024/briefingnotes-kw23-2024.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 19.6.2024
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (25.3.2024): Briefing Notes KW13 / 2024, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2024/briefingnotes-kw13-2024.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 27.3.2024
Bianet - Bianet (12.8.2024): Police raid Kurdish wedding in İstanbul, https://bianet.org/haber/police-raid-kurdish-wedding-in-istanbul-298474 , Zugriff 21.8.2024
Bianet - Bianet (31.7.2024a): Authorities remove Kurdish traffic signs in several cities, https://bianet.org/haber/authorities-remove-kurdish-traffic-signs-in-several-cities-298081 , Zugriff 13.8.2024
Bianet - Bianet (31.7.2024b): Constitutional Court overturns conviction for wearing Kurdistan t-shirt, https://bianet.org/haber/constitutional-court-overturns-conviction-for-wearing-kurdistan-t-shirt-298036 , Zugriff 13.8.2024
Bianet - Bianet (30.7.2024): Turkeys crackdown on Kurdish political movement expands to terrorist weddings, https://bianet.org/yazi/turkeys-crackdown-on-kurdish-political-movement-expands-to-terrorist-weddings-297974 , Zugriff 13.8.2024
Bianet - Bianet (4.5.2023): Pain and anger for young street singer killed in Kadköy, https://bianet.org/haber/pain-and-anger-for-young-street-singer-killed-in-kadikoy-278178 , Zugriff 22.1.2024
Bianet - Bianet (21.2.2022): More than 20,000 students choose Kurdish language classes in Turkey, https://bianet.org/english/education/258034-more-than-20-000-students-choose-kurdish-language-classes-in-turkey , Zugriff 23.1.2024
Bianet - Bianet (22.7.2021): 15 bar associations condemn racist attacks against Kurds in Turkey, https://m.bianet.org/english/human-rights/247531-15-bar-associations-condemn-racist-attacks-against-kurds-in-turkey, Zugriff 22.1.2024
Bianet - Bianet (16.7.2019): Who Can and Cannot Say 'Kurdistan' in Turkey: A Guide, https://bianet.org/biamag/freedom-of-expression/210526-who-can-and-cannot-say-kurdistan-in-turkey-a-guide , Zugriff 23.1.2024
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (30.5.2024): Turkeys Detention of Kurdish-Only Café Owner Condemned, https://balkaninsight.com/2024/05/30/turkeys-detention-of-kurdish-only-cafe-owner-condemned , Zugriff 19.6.2024
BIRN - Balkan Investigative Reporting Network / Balkan Insight (8.12.2023): Turkey is Targeting Kurdish Journalists for Reporting Rights Violations – Lawyer, https://balkaninsight.com/2023/12/08/turkey-is-targeting-kurdish-journalists-for-reporting-rights-violations-lawyer , Zugriff 22.1.2024
CCRT - The Constitutional Court of the Republic of Turkey [Turkey] (8.4.2021): Constitutionality Review - Press Release concerning the Decision Annulling the Provision Enabling the Closure of Media Outlets Associated with Organisations Found Established to Pose a Threat to the National Security, https://www.anayasa.gov.tr/en/news/constitutionality-review/press-release-concerning-the-decision-annulling-the-provision-enabling-the-closure-of-media-outlets-associated-with-organisations-found-established-to-pose-a-threat-to-the-national-security/ , Zugriff 22.1.2024
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023
DS - Daily Sabah (18.3.2024): Turkish police detain 75 for terrorist propaganda at Nevruz event, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/turkish-police-detain-75-for-terrorist-propaganda-at-nevruz-event , Zugriff 27.3.2024
Duvar - Duvar (30.7.2024): AYM’den Kürdistan yazılı tişörte cezaya hak ihlali kararı [Urteil des Verfassungsgerichts zur Verletzung der Rechte wegen eines T-Shirts mit der Aufschrift "Kurdistan], https://www.gazeteduvar.com.tr/aymden-kurdistan-yazili-tisorte-cezaya-hak-ihlali-karari-haber-1709428 , Zugriff 13.8.2024
Duvar - Duvar (17.12.2023): Turkish security guards assault workers for talking in Kurdish, https://www.duvarenglish.com/turkish-security-guards-assault-workers-for-talking-in-kurdish-news-63503 , Zugriff 23.1.2024
Duvar - Duvar (12.10.2023): Turkish Islamist party holds press conference with Hamas executive at parliament, https://www.duvarenglish.com/turkish-islamist-party-holds-press-conference-with-hamas-executive-at-parliament-news-63142 , Zugriff 22.1.2024
Duvar - Duvar (13.6.2023): ECHR finds rights violation in penalty imposed on former HDP MP Osman Baydemir over ‘Kurdistan’ remark, https://www.duvarenglish.com/echr-finds-rights-violation-in-penalty-imposed-on-former-hdp-mp-osman-baydemir-over-kurdistan-remark-news-62542 , Zugriff 24.1.2024
Duvar - Duvar (9.6.2023): HÜDA-PAR MPs return to own party after elected under AKP list, https://www.duvarenglish.com/huda-par-mps-return-to-own-party-after-elected-under-akp-list-news-62539 , Zugriff 22.1.2024
Duvar - Duvar (22.5.2023): Istanbul police detain four youth after brawl over dancing halay to Kurdish music, https://www.duvarenglish.com/istanbul-police-detain-four-youth-after-brawl-over-dancing-halay-to-kurdish-music-news-62447 , Zugriff 23.1.2024
Duvar - Duvar (20.3.2023): Thousands celebrate Newroz across Turkey, 224 detained in Istanbul, https://www.duvarenglish.com/thousands-celebrate-newroz-across-turkey-224-detained-in-istanbul-news-62052 , Zugriff 22.1.2024
Duvar - Duvar (23.1.2023): Kurdish music group members detained after playing for concert organized by HDP, https://www.duvarenglish.com/kurdish-music-group-members-detained-after-playing-for-concert-organized-by-hdp-news-61719 , Zugriff 23.1.2024
Duvar - Duvar (30.4.2022): Turkey's Education Ministry fines teacher for speaking Kurdish, Arabic with students, https://www.duvarenglish.com/turkeys-education-ministry-fines-teacher-for-speaking-kurdish-arabic-with-students-news-60833 , Zugriff 23.1.2024
Duvar - Duvar (26.4.2022): Turkish police detain citizen for singing in Kurdish in eastern Van, https://www.duvarenglish.com/turkish-police-detain-citizen-for-singing-in-kurdish-in-eastern-van-news-60825 , Zugriff 23.1.2024
Duvar - Duvar (25.4.2022): Turkish top court finds no violation in banning letter 'w' from Kurdish names, https://www.duvarenglish.com/turkish-top-court-finds-no-violation-in-banning-letter-w-from-kurdish-names-news-60823 , Zugriff 23.1.2024
Duvar - Duvar (2.2.2022): Ban on Kurdish alphabet leads to problems for people bearing Kurdish names in Turkey, https://www.duvarenglish.com/ban-on-kurdish-alphabet-leads-to-problems-for-people-bearing-kurdish-names-in-turkey-news-60279 , Zugriff 23.1.2024
Duvar - Duvar (30.8.2021a): Imprisoned former HDP deputy, eight others given disciplinary penalty for Kurdish song, https://www.duvarenglish.com/imprisoned-former-hdp-deputy-eight-others-given-disciplinary-penalty-for-kurdish-song-news-58657 , Zugriff 23.1.2024
Duvar - Duvar (15.10.2019): Young man attacked for speaking Kurdish dies after 50 days, https://www.duvarenglish.com/human-rights/2019/10/15/young-man-attacked-for-speaking-kurdish-dies-after-50-days , Zugriff 4.9.2024
DW - Deutsche Welle (22.10.2019): Violence, hate crimes toward Kurds in Turkey a ’disgrace’, https://www.dw.com/en/kurds-in-turkey-increasingly-subject-to-violent-hate-crimes/a-50940046 , Zugriff 4.9.2024
DW - Deutsche Welle (19.11.2013): Historic meeting, https://www.dw.com/en/turkeys-kurdish-opening/a-17239234 , Zugriff 23.1.2024
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023
EC - Europäische Kommission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 31.10.2023
ECHR - European Court of Human Rights (13.6.2023): Press Release [ECHR 175 (2023)]: Judgments of 13 June 2023, Baydemir v. Türkiye (no. 23445/18), INVALID URL, https://hudoc.echr.coe.int/app/conversion/pdf/?library=ECHR&id=003-7673643-10582143&filename=Judgments of 13.06.2023.pdf, Zugriff 24.1.2024
EP - Europäisches Parlament (13.9.2023): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2023 zu dem Bericht 2022 der Kommission über die Türkei (2022/2205(INI), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0320_DE.pdf , Zugriff 25.10.2023
EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 29.9.2023
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (24.3.2009): Gül bricht ein Tabu, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kurdistan-guel-bricht-ein-tabu-1927280.html , Zugriff 23.1.2024
FH - Freedom House (29.2.2024): Freedom in the World 2024 - Turkey, 202, https://www.ecoi.net/de/dokument/2105043.html , Zugriff 15.2.2024
FR - Frankfurter Rundschau (12.10.2023): Bruderstaat der Hamas: Die Türkei hat über die Parteigrenzen hinweg klare Position zum Israel-Krieg, https://www.fr.de/politik/krieg-in-israel-das-sagen-die-tuerkischen-politiker-und-parteien-ueber-die-hamas-zr-92574212.html , Zugriff 22.1.2024
FR - Frankfurter Rundschau (19.5.2023): Nach Türkei-Wahl 2023: Vereidigung im türkischen Parlament wegen Hüda Par verschoben?, https://www.fr.de/politik/nach-tuerkei-wahl-2023-vereidigung-im-tuerkischen-parlament-wegen-hueda-par-verschoben-92289404.html , Zugriff 22.1.2024
Gercek - Gercek News (3.4.2023): Kurdish workers attacked in Bodrum for speaking Kurdish, https://www.gerceknews.com/turkey/kurdish-workers-attacked-in-bodrum-for-speaking-kurdish-219448h , Zugriff 25.1.2024
HRW - Human Rights Watch (15.8.2024): Türkiye: Kurdish Songs and Dances Are Not Terrorist Propaganda, https://www.ecoi.net/de/dokument/2114082.html , Zugriff 10.9.2024
HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Türkiye, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103139.html , Zugriff 17.1.2024
İBV - İsmail Beşikçi Foundation (7.2021): Monitoring Work on Rights Violations against Kurdish Artists specific to Musicians, https://www.ismailbesikcivakfi.org/uploads/files/KURDISHARTISTS_ENG.pdf.pdf , Zugriff 23.1.2024
IFE - Initiative for Freedom of Expression (2.8.2024): Constitutional Court ruling on violation of rights - Düşünce Suçu?!na Karşı Girişim, https://www.dusun-think.net/en/news/constitutional-court-ruling-on-violation-of-rights/# , Zugriff 13.8.2024
K24 - Kurdistan 24 (10.4.2022): Teacher expelled for speaking Kurdish in Turkey, https://www.kurdistan24.net/en/story/27935-Teacher-expelled-for-speaking-Kurdish-in-Turkey , Zugriff 23.1.2024 [Login erforderlich]
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General COI report Turkiye (August 2023).pdf, Zugriff 13.11.2023
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-information-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich]
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije October 2019.pdf, Zugriff 29.11.2023 [Login erforderlich]
Mezopotamya - Mezopotamya (12.8.2024): Wedding raid detaniees releases, http://mezopotamyaajansi35.com/en/search/content/view/250210?page=1&key=c1be437cd6cd0e2d3806877a2e79ce97 , Zugriff 21.8.2024
MLSA - Media and Law Studies Association (1.8.2024b): Arrests for dancing at weddings face backlash: "No legal basis", https://mlsaturkey.com/en/arrests-for-dancing-at-weddings-face-backlash-no-legal-basis , Zugriff 13.8.2024
MRG - Minority Rights Group (6.2018b): Kurds - Minority Rights Group, https://minorityrights.org/minorities/kurds-2 , Zugriff 22.1.2024
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_ÖB-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 9.1.2024 [Login erforderlich]
Rudaw - Rudaw Media Network (29.10.2021): Kurdish man arrested in Turkey for saying ‘Kurdistan’, https://www.rudaw.net/english/middleeast/turkey/291020211 , Zugriff 24.1.2024
SCF - Stockholm Center for Freedom (12.8.2024): Turkish prison bans Kurdish language in phone calls with relatives - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/turkish-prison-bans-kurdish-language-in-phone-calls-with-relatives , Zugriff 13.8.2024
SCF - Stockholm Center for Freedom (2.8.2024): Kurdish teenagers allegedly mistreated by police in SE Turkey - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/kurdish-teenagers-allegedly-mistreated-by-police-in-se-turkey , Zugriff 20.8.2024
SCF - Stockholm Center for Freedom (9.5.2024): Turkey allocates only 10 out of 20,000 teaching positions for Kurdish language - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/turkey-allocates-only-10-out-of-20000-teaching-positions-for-kurdish-language , Zugriff 4.9.2024
SCF - Stockholm Center for Freedom (10.11.2023): Kurdish language teacher suffers threats and insults on social media - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/kurdish-language-teacher-suffers-threats-and-insults-on-social-media , Zugriff 4.9.2024
SCF - Stockholm Center for Freedom (11.9.2023): Turkey sentences founding member of Kurdish women’s association to more than 7 years in prison - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/turkey-sentences-founding-member-of-kurdish-womens-association-to-more-than-7-years-in-prison , Zugriff 25.1.2024
SCF - Stockholm Center for Freedom (12.5.2021): Suppression of Kurdish language in Turkey is reflection of general intolerance towards Kurds: community leader - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/suppression-of-kurdish-language-in-turkey-is-reflection-of-general-intolerance-towards-kurds-community-leader , Zugriff 4.9.2024
Standard - Standard, Der (10.12.2013): "Kurdistan" löst Schlägerei im türkischen Parlament aus, https://www.derstandard.at/story/1385170500709/kurdistan-loest-schlaegerei-im-tuerkischen-parlament-aus , Zugriff 24.1.2024
SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (19.4.2022): Erdoğan and the Turkish Opposition Revisit the Kurdish Question, https://www.cats-network.eu/publication/erdogan-and-the-turkish-opposition-revisit-the-kurdish-question , Zugriff 23.1.2024
TİHV/HRFT - Türkiye İnsan Hakları Vakfı / Human Rights Foundation Turkey (3.4.2023): 1 - 3 April 2023 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report - HRFT - Human Rights Foundation of Turkey, https://en.tihv.org.tr/documentation/1-3-april-2023-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report , Zugriff 25.1.2024
TM - Turkish Minute (1.2.2022): Police ban on Kurdish music in İstanbul street sparks Kurdish music frenzy, https://www.turkishminute.com/2022/02/01/ice-ban-on-kurdish-music-in-istanbul-street-sparks-kurdish-music-frenzy/ , Zugriff 23.1.2024
TM - Turkish Minute (17.9.2020): Turkey removes signs in Kurdish as racist attacks on Kurds surge, https://www.turkishminute.com/2020/09/17/turkey-removes-signs-in-kurdish-as-racist-attacks-on-kurds-surge/ , Zugriff 23.1.2024
TR724 - TR724 (12.8.2024): Şırnak Cezaevi’nde Kürtçe yasağı iddiası: Açık görüşte mahpusların ailelerine sarılması da yasak - Tr724, https://www.tr724.com/sirnak-cezaevinde-kurtce-yasagi-iddiasi-acik-goruste-mahpuslarin-ailelerine-sarilmasi-da-yasak , Zugriff 13.8.2024
UKHO - United Kingdom Home Office [United Kingdom] (10.2023a): Country Policy and Information Note Turkey: Kurds [Version 4.0], https://www.ecoi.net/de/dokument/2100047.html , Zugriff 23.1.2024
USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich]
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU ̈RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 29.9.2023
VOA - Voice of America (9.5.2024): Kürtçe için 10 öğretmen atanacak olmasına tepki: Anadilde eğitime engel olunmaya çalışılıyor [Reaktion auf die Ernennung von 10 Lehrern für die kurdische Sprache: „Ein Versuch, den Unterricht in der Muttersprache zu verhindern“], https://d33vxfhewnqf4z.cloudfront.net/a/kurtce-icin-on-ogretmen-atanacak-olmasina-tepki-anadilde-egitime-engel-olunmaya-calisiliyor/7604089.html , Zugriff 4.9.2024
WKI - Washington Kurdish Institute (3.5.2022): Kurdistan’s Weekly Brief May 3, 2022, https://dckurd.org/2022/05/03/kurdistans-weekly-brief-may-3-2022/ , Zugriff 22.1.2024
WKI - Washington Kurdish Institute (22.3.2022): Kurdistan’s Weekly Brief March 22, 202, https://dckurd.org/2022/03/22/kurdistans-weekly-brief-march-22-2022/ , Zugriff 22.1.2024
Grundversorgung / Wirtschaft
Letzte Änderung 2024-10-14 11:09
Das Wirtschaftswachstum könnte sich 2024 infolge der strafferen Geldpolitik laut Internationalem Währungsfonds auf 3,1 % abschwächen, verglichen mit rund 4,5 % im Jahr 2023 (GTAI 1.7.2024; vgl. WKO 4.2024). Getragen von privatem Verbrauch und Staatsausgaben haben Wahlkampfgeschenke, Lohn- und Pensionssteigerungen, Frühpensionierungen und günstige Kredite das Wachstum angetrieben. Die türkische Wirtschaft profitiert zudem davon, dass viele Unternehmen aus der EU in die Türkei ausweichen, um das verlorene Geschäft mit Russland bzw. der Ukraine auszugleichen (WKO 4.2024, S. 4). - Das Wachstum des BIP im Jahr 2023 war vor allem auf den robusten Anstieg des privaten Verbrauchs (real 12,8 %), der Investitionen (8,9 %) und der Staatsausgaben (5,2 %) zurückzuführen. Die Exporte hingegen schrumpften 2023 um 2,7 %, während die Importe mit 11,7 % kräftig zulegten und das Wachstum bremsten. Der Dienstleistungssektor wuchs um 4,8 % und der Bausektor um 7,8 % profitierend von den Wiederaufbaumaßnahmen nach dem Erdbeben (WB 9.4.2024).
Nach der gewonnenen Wahl im Mai 2023 vollzog Staatspräsident Erdoğan einen Kurswechsel hin zu einer restriktiven Geldpolitik, mit dem obersten Ziel, die horrende Inflation zu bekämpfen. - Im Mai 2024 lag sie bei 75 %. Die Niedrigzinspolitik der Vorjahre hat Spuren hinterlassen. Sie befeuerte die Inflation und den Abwertungsdruck auf die türkische Lira. Die Nettoreserven der Zentralbank sind gesunken, die Auslandsverschuldung und Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen ist hoch. Die bisherigen Entscheidungen lassen auf eine verlässlichere Wirtschafts- und Geldpolitik hoffen. Viele Unternehmen befürchten allerdings weitere Kehrtwenden Erdoğans. Für die künftige Wirtschaftsentwicklung wird es entscheidend sein, Vertrauen bei internationalen Investoren und der heimischen Wirtschaft zurückzugewinnen. Die Inflation hat die reale Kaufkraft der Haushalte geschmälert. Gehaltserhöhungen federn die Einbußen meist nur ab. Die Leitzinserhöhungen könnten mittelfristig den Konsum dämpfen. Noch treibt die Inflation den Konsum an, denn Sparen lohnt sich kaum. Die Bevölkerung flüchtet wegen der schwachen Lira in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien (GTAI 1.7.2024; vgl. WKO 4.2024, S. 5).
Inoffizielle Erhebungen ergeben teilweise um bis zu doppelt so hohe Inflationsraten. Zu den größten Preistreibern zählen derzeit die Sektoren Hotellerie und Gastronomie, Gesundheit, Lebensmittel, nicht-alkoholische Getränke und Transport (WKO 4.2024, S. 5).
Die offizielle saisonal bereinigte Arbeitslosenquote ist wieder leicht angestiegen. Betrug sie im November 2021 noch 11,1 %, sank sie im Oktober 2023 laut türkischem Statistikamt auf 8,6 % (TUIK 10.1.2024). Im Juni 2024 waren hingegen wieder 9,2 % arbeitslos. Die Frauenarbeitslosenquote (saisonbereinigt) betrug im Juni 2024 hingegen 12,4 %, verglichen mit 7,6 % bei den Männern (TUIK 12.8.2024).
Neben der hohen Jugendarbeitslosigkeit bleibt die Langzeitarbeitslosigkeit von 20,8 % ein Problem. Lag die Jugendarbeitslosigkeit (Altersgruppe 15-24) im Herbst 2023 noch bei von 17,2 % (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52), erhöhte sich diese auf 17,6 % im Juni 2024, wobei diese bei jungen Frauen gar bei 23,2 %, verglichen mit 14,8 % bei den jungen Männern, lag. - Die offizielle saisonbereinigte Erwerbsquote lag im Juni 2024 bei 49,3 %. Die Erwerbsquote war bei den Männern mit 66,9 % mehr als doppelt so hoch wie bei den Frauen mit lediglich 32,1 % (TUIK 12.8.2024).
Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine empirische Studie der Forschungsagentur KONDA vom Mai 2024 unter 930 Jugendlichen zwischen 15 und 29 (von insgesamt 3.147 Befragten aller Altersgruppen) ergab, dass fast 60 % der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren im Ausland leben wollen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. In der Altersgruppe der 25- bis 29-Jährigen ging dieser Anteil zwar leicht zurück, lag aber immer noch bei mehr als der Hälfte (Duvar 24.6.2024).
Armut und soziale Ungleichheit
Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).
Was die soziale Inklusion und den sozialen Schutz betrifft, so verfügt die Türkei laut Europäischer Kommission noch immer nicht über eine gezielte Strategie zur Armutsbekämpfung. Der anhaltende Preisanstieg hat das Armutsrisiko für Arbeitslose und Lohnempfänger in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter erhöht. Die Armutsquote erreichte 2022 14,4 % gegenüber 13,8 % im Jahr 2021. Die Quote der schweren materiellen Verarmung (severe-material-deprivation rate) erreichte im Jahr 2022 28,4 % (2021: 27,2 %). Die Kinderarmutsquote war im Jahr 2022 mit 41,6 % besonders hoch (EC 8.11.2023, S. 102). Der Gini-Koeffizient als Maß für die soziale Ungleichheit (Dieser schwankt zwischen 0, was theoretisch völlige Gleichheit, und 1, was völlige Ungleichheit bedeuten würde.) stieg auch 2023 nach Einberechnung der dämpfend wirkenden Sozialtransfers weiterhin an. Betrug er 2014 noch 0,391, stieg er 2023 auf den Höchstwert von 0,433 (TUIK 29.1.2024) [Anm.: In Österreich betrug laut Momentum Institut der Gini-Koeffizient nach Steuern und staatlichen Transferleistungen 2020 0,28].
Zu den bekannten Auswirkungen hoher Inflation gehört, dass die Schere zwischen niedrigen und hohen Einkommen weiter auseinandergeht. Von 2014 bis 2023 ist der Anteil der niedrigsten vier Einkommensgruppen (80 %) am Gesamteinkommen gesunken, während der Anteil der höchsten Einkommensgruppe von 45,9 auf 49,8 % gestiegen ist. Das bedeutet, dass die obersten 20 % fast die Hälfte des verfügbaren Einkommens besitzen. Während Haushalte in der niedrigsten Einkommensgruppe mehr als 36 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke aufwenden müssen, beträgt dieser Anteil in der höchsten Einkommensgruppe nur gut 14 %. Das bedeutet, dass die niedrigste Einkommensgruppe mit 78 % überdurchschnittliche von der Inflation betroffen ist. Betrachtet man den Zeitraum von zehn Jahren, so ist der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke in der niedrigsten Einkommensgruppe von 28,8 % in 2014 auf 36,6 % in 2023 angestiegen (FES 11.7.2024).
Die Armutsgrenze in der Türkei lag Ende Dezember 2023 laut Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) bei 47.000 Lira (rund 1.400 Euro). - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag Ende Dezember 2023 bei 14.431 Lira (rund 440 Euro) (Duvar 3.1.2024a). Die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KAMU-AR gab gegen Ende Jänner 2024 bereits eine weitere Steigerung an. - Demnach lag die Hungergrenze bei 17.442 und die Armutsgrenze bereits bei 48.559 Lira (TM 25.1.2024).
Laut Statistikamt erhöhten sich die Preise im Jänner 2024 im Vergleich zum Vorjahresmonat um durchschnittlich fast 65 %. Daraufhin wurde der Mindestlohns zu Beginn des Jahres 2024 auf rund 17.000 Lira (516 Euro) angehoben. Seit Januar 2023 hat sich der Mindestlohn damit verdoppelt (Zeit Online 5.2.2024). Anders als für 2023 schloss Staatspräsident Erdoğan eine zweite Anpassung im Jahr 2024 aus (Duvar 27.12.2023). Auch Arbeitsminister Vedat Işıkhan schloss im Juni 2024 eine Erhöhung des Mindestlohns für die zweite Hälfte des Jahres 2024 aus und blieb bei der Position der Regierung, dass häufige Lohnerhöhungen die Inflation verschärfen könnten. Die Gewerkschaften waren der Ansicht, dass die Lohnempfänger nicht unter den Folgen der hohen Inflation leiden dürfen und dass die Regierung andere Wege zur Eindämmung der Inflation suchen sollte, anstatt den Arbeitnehmern eine Lohnerhöhung vorzuenthalten (TM 15.7.2024).
Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betrugen Anfang 2023 die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern im Mittel 25.365 Lira (ca. 1.260 Euro), und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023). So lagen die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten für eine vierköpfige Familie in der Istanbul im Januar 2024 bei 53.000 Lira (rund 1.540 Euro) und damit etwa dreimal so hoch wie der Mindestlohn (17.002 Lira), was zudem einer Steigerung um über 80 % im Vergleich zum Vorjahr (2023) entsprach (Duvar 11.2.2024).
Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befand sich 2023 mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).
Die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen betrugen 2021 lediglich 10,8 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).
Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gewährleistet. Unterkünfte im unteren Preissegment sind Mangelware. Die Zahl der Obdachlosen steigt durch Flüchtlinge, Inflation und zuletzt durch das Erdbeben. Bis auf einige gemeinnützige Einrichtungen mit wenigen Plätzen gibt es keine staatlichen Obdachlosenunterkünfte (AA 20.5.2024, S. 21).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
Duvar - Duvar (24.6.2024): Some 56 pct of young people in Turkey want to live abroad if given opportunity, https://www.duvarenglish.com/some-56-pct-of-young-people-in-turkey-want-to-live-abroad-if-given-opportunity-news-64562 , Zugriff 27.8.2024
Duvar - Duvar (11.2.2024): Cost of living for a family of four exceeds 53,000 liras in Istanbul, https://www.duvarenglish.com/cost-of-living-for-a-family-of-four-exceeds-53000-liras-in-istanbul-news-63818 , Zugriff 28.8.2024
Duvar - Duvar (3.1.2024a): Turkey’s poverty threshold hits nearly three times of new minimum wage, https://www.duvarenglish.com/turkeys-poverty-threshold-hits-nearly-three-times-of-new-minimum-wage-news-63595 , Zugriff 31.1.2024
Duvar - Duvar (27.12.2023): Turkey increases minimum wage by 49 percent to $578, https://www.duvarenglish.com/turkey-increases-minimum-wage-by-49-percent-to-578-news-63558 , Zugriff 9.1.2024
Duvar - Duvar (7.6.2022): 14.8 million people in Turkey suffer from undernourishment: UN report, https://www.duvarenglish.com/148-million-people-in-turkey-suffer-from-undernourishment-un-report-news-60908 , Zugriff 8.11.2023
DW - Deutsche Welle (13.4.2023): Türkei vor der Wahl: Fleisch für viele Menschen unerschwinglich, https://www.dw.com/de/türkei-vor-der-wahl-fleisch-für-viele-menschen-unerschwinglich/a-65299835 , Zugriff 10.11.2023
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023
FES - Friedrich-Ebert-Stiftung (11.7.2024): AKP UND CHP IM DIALOG, https://turkey.fes.de/de/e/akp-und-chp-im-dialog.html , Zugriff 21.8.2024
FP - Foreign Policy (27.1.2023): Erdogan’s Turkey Faces a Growing Exodus Ahead of Elections, https://foreignpolicy.com/2023/01/27/turkey-elections-erdogan-exodus-population-migration/ , Zugriff 8.11.2023
GCT - Greek City Times (8.6.2022): Malnutrition in Turkey explodes as Erdoğan escalates war rhetoric against Greece, https://greekcitytimes.com/2022/06/08/malnutrition-in-turkey-erdogan/ , Zugriff 8.11.2023
GTAI - Germany Trade and Invest (1.7.2024): Türkei erwartet schwächeres Wirtschaftswachstum, https://www.gtai.de/de/trade/tuerkei/wirtschaftsumfeld/tuerkei-erwartet-schwaecheres-wirtschaftswachstum-247908#toc-anchor--3 , Zugriff 22.8.2024
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
Standard - Standard, Der (25.7.2022): Türkei lernt, mit Inflationsraten jenseits der 100 Prozent zu leben, https://www.derstandard.at/story/2000137723848/tuerkei-lernt-mit-inflationsraten-jenseits-der-100-prozent-zu-leben?ref=loginwall_articleredirect , Zugriff 9.1.2024
TM - Turkish Minute (15.7.2024): Turkeys poverty line nears $2,000, quadruple the minimum wage - Turkish Minute, https://turkishminute.com/2024/07/15/turkey-poverty-line-near-2000-quadruple-minimum-wage , Zugriff 28.8.2024
TM - Turkish Minute (25.1.2024): Hunger line surpasses Turkey’s 2024 minimum wage in January: union - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2024/01/25/hunger-line-surpass-turkey-2024-minimum-wage-in-january-union , Zugriff 31.1.2024
TM - Turkish Minute (8.6.2022): 90 percent of Turks struggling to make ends meet amid economic crisis: poll, https://www.turkishminute.com/2022/06/08/rcent-of-turks-struggling-to-make-ends-meet-amid-economic-crisis-poll/ , Zugriff 7.11.2023
TM - Turkish Minute (7.6.2022): 14.8 million Turks suffer from insufficient food consumption, UN data show, https://www.turkishminute.com/2022/06/07/illion-turks-suffer-from-insufficient-food-consumption-un-data-show/ , Zugriff 8.11.2023
TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (12.8.2024): TURKSTAT - Labour Force Statistics, June 2024, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Labour-Force-Statistics-June-2024-53512&dil=2 , Zugriff 22.8.2024
TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (29.1.2024): TÜİK Kurumsal, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Income-Distribution-Statistics-2023-53711 , Zugriff 22.8.2024
TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (10.1.2024): TURKSTAT - Labour Force Statistics, November 2023, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Labour-Force-Statistics-November-2023-49378&dil=2 , Zugriff 26.1.2024
WB - Weltbank (9.4.2024): Türkiye - Overview: Economy, https://www.worldbank.org/en/country/turkey/overview#3 , Zugriff 22.8.2024
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (4.2024): Außenwirtschaft Wirtschaftsbericht Türkei, https://www.wko.at/oe/aussenwirtschaft/tuerkei-wirtschaftsbericht.pdf , Zugriff 22.8.2024
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (10.3.2023): Mindestlohn ab 1.1.2023 um 55 % höher - Lebenshaltungskosten steigen weiter, http://web.archive.org/web/20230401112003/https:/www.wko.at/service/aussenwirtschaft/mindestlohn-ab-2023-55-prozent-hoeher.html , Zugriff 8.11.2023
Zeit Online - Zeit Online (5.2.2024): Wirtschaftskrise: Inflation in der Türkei steigt nach Mindestlohnerhöhung deutlich an, https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-02/tuerkei-wirtschaftskrise-inflation-mindestlohn-zentralbank , Zugriff 28.8.2024
Sozialbeihilfen / -versicherung
Letzte Änderung 2024-10-14 11:09
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 20.5.2024, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfı) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 20.5.2024, S. 21).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 46 Sozialunterstützungsleistungen, wobei der Anspruch an schwer zu erfüllende Bedingungen gekoppelt ist. - Hierzu zählen (alle mit Stand: November 2023): Sachspenden in Form von Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 türkische Lira (TL) für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von zwölf Monaten über monatlich 350 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 3.800 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 520 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Pensionen und Betreuungsgeld für Behinderte und ältere pflegebedürftige Personen: zwischen 1.200 TL und 1.800 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 5.089 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hatte 2023 monatlich Anspruch auf 2.250 TL aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt 23.308 TL, ansonsten 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SSA 9.2018).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt ,_B3richt_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf, Zugriff 6.11.2022 [Login erforderlich]
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
SGK - Anstalt für Soziale Sicherheit (Sosyal Güvenlik Kurumu) [Türkei] (2016): Universal Health Insurance, https://web.archive.org/web/20170103191505/http:/www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins , Zugriff 6.11.2023
SSA - Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 7.11.2023
Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung 2024-10-14 11:10
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR o.D.; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51).
Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 7.2023; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53., İŞKUR o.D.). Zudem muss der Arbeitnehmer die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).
Für das Jahr 2024 gab das türkische Arbeitsamt an, dass das Mindest-Arbeitslosengeld 7.940 TL (ca. 242 Euro, Wechselkurs vom 10.1.2024) und das Maximum an Arbeitslosenunterstützung 15.880 TL (ca. 484 Euro) betragen wird. Hierbei gilt generell die Bestimmung, wonach das maximale Arbeitslosengeld 80 % des Brutto-Mindestlohns nicht überschreiten darf, welcher für 2024 mit 20.002 TL (ca. 610 Euro) festgesetzt wurde (İŞKUR o.D.).
Quellen
IOM - International Organization for Migration (7.2023): Länderinformationsblatt 2023, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2023_Türkiye_DE.pdf , Zugriff 23.8.2024
IOM - International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 7.11.2023
İŞKUR - Turkish Employment Agency (Türkiye İş Kurumu) [Turkey] (o.D.): Unemployment Benefit, https://www.iskur.gov.tr/en/job-seeker/unemployment-insurance/unemployment-benefit/ , Zugriff 10.1.2024
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
Pension
Letzte Änderung 2024-10-14 11:11
Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der oder die Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er oder sie eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung. Personen, die älter als 65 sind, Menschen mit Behinderungen über 18 und Personen mit Verwandten unter 18 Jahren mit Behinderungen, für die sie die gesetzliche Vormundschaft übernehmen, können eine regelmäßige monatliche Zahlung erhalten. Unmittelbare Familienmitglieder von Versicherten, die nach ihrer Pensionierung verstorben sind und/oder mindestens zehn Jahre gearbeitet haben, haben Anspruch auf Witwen- oder Waisenhilfe. Wenn der/die Verstorbene länger als fünf Jahre gearbeitet hat, haben seine/ihre Kinder unter 18 Jahren, Kinder in der Sekundarschule unter 20 Jahren und Kinder, die unter 25 Jahre alt sind und an einer Hochschule eingeschrieben sind, Anspruch auf Waisenhilfe. Die Voraussetzungen für den Zugang für Rückkehrende sind folgende: Türkische Staatsbürger über 18 Jahre; Expatriates, die ihre Arbeit im Ausland dokumentieren können (einschließlich ein Jahr Arbeitslosigkeit); Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Pension erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben. Um um eine Pension anzusuchen müssen Rückkehrer sich bei der Sozialversicherung SGK anmelden, bei der sie ihre Prämie innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Ankunft gezahlt haben. Aus dem Ausland gezahlte Prämien können in die Türkei überwiesen und zum jeweiligen Wechselkurs bei Zeitpunkt der Überweisung in türkischen Lira zurückgezahlt werden. Erforderliche Dokumente umfassen eine beglaubigte Kopie des Personalausweises, Erklärungs- und Verpflichtungsschreiben sowie eine Quittung zur Bestätigung der Zahlung (IOM 7.2023).
Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2 % für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90 %. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018).
Kurz vor dem Jahreswechsel 2022/2023 hat Präsident Erdoğan das Mindestalter für die Pension aufgehoben und damit mehr als zwei Millionen Bürgern die Möglichkeit gegeben, sofort in den Ruhestand zu treten. Bislang galt in der Türkei ein Mindestalter von 60 Jahren für Männer und 58 für Frauen (Zeit Online 29.12.2022). Ab Mitte Jänner 2023 zählt nur noch die gearbeitete Zeit. 7.200 Tage berechtigen dann zum Pensionseintritt. Allerdings arbeiten viele Pensionisten trotzdem weiter, da die Pension nicht zum Leben reicht. Über zwei Mio. Türken würden in den Genuss der neuen Regelung kommen (ARD 2.1.2023).
Nachdem das staatliche türkische Statistikamt (TÜİK) bekannt gegeben hatte, dass der jährliche Verbraucherpreisindex für 2023 bei fast 65 % liegt, wurde u. a. auch die Erhöhung der Pensionen in die Wege geleitet. Die neue Mindestpension bleibt jedoch unter der Hungergrenze. Die Pensionen werden um 37,5 % erhöht. Dies ist jedoch nicht notwendigerweise der offizielle Betrag, da die Regierung u. a. einen Sozialanteil für alle Pensionisten hinzufügen kann. Die Hungergrenze in der Türkei lag im Dezember 2023 bei 14.431 Lira [rund 440 Euro mit Stand Jänner 2024], wie aus Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) hervorgeht. Die Gehälter von Beamten sowie Beamtenpensionen sollten um 46,5 % steigen (Duvar 3.1.2024b; vgl. TPE 17.12.2023).
Bei den Empfängern von Mindestpensionen erfolgt keine automatische Erhöhung mehr. Die Mindestpension setzt sich zusammen aus dem Pensionsanspruch und einer Zuzahlung aus dem Budget, der die Pension dann auf das Niveau der Mindestpension aufstockt. Die gesetzliche Erhöhung der Pension um die Inflation im ersten Halbjahr erhöht dann zwar den Pensionsanspruch, doch weil die Mindestpension nicht gesetzlich angehoben wurde, verringert sich dadurch nur die staatliche Zuzahlung. Aus diesem Grund haben Empfänger von Mindestpensionen im Jahr 2023 keine Erhöhung ihrer Zahlungen erhalten. Auch für Jahr 2024 war eine Erhöhung der Mindestpension zur Jahresmitte nicht vorgesehen (FES 11.7.2024).
Die türkischen Pensionisten gehören zu den ärmsten der Welt. Das Pensionsniveau in der Türkei liegt bei knapp 22 % des Wertes der nationalen Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Pension nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern (ILO 2021 S. 56f).
Quellen
ARD - Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (2.1.2023): Erdogans Rentengeschenk, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/erdogan-schafft-renteneintrittsalter-ab-101.html , Zugriff 7.11.2023
Duvar - Duvar (3.1.2024b): Turkey’s lowest pensioner salary to stay below hunger threshold after hike, https://www.duvarenglish.com/turkeys-lowest-pensioner-salary-to-stay-below-hunger-threshold-after-hike-news-63594 , Zugriff 10.1.2024
FES - Friedrich-Ebert-Stiftung (11.7.2024): AKP UND CHP IM DIALOG, https://turkey.fes.de/de/e/akp-und-chp-im-dialog.html , Zugriff 21.8.2024
ILO - International Labour Organization (2021): World Social Protection Report 2020–22: Social Protection at the Crossroads – in Pursuit of a Better Future, http://web.archive.org/web/20210901120748/https:/www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/---publ/documents/publication/wcms_817572.pdf , Zugriff 7.11.2023
IOM - International Organization for Migration (7.2023): Länderinformationsblatt 2023, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2023_Türkiye_DE.pdf , Zugriff 23.8.2024
SSA - Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 7.11.2023
TPE - Turkey Posts English (17.12.2023): The Central Bank’s inflation expectation has changed, the calculations are confused regarding the raises of retirees and civil servants! Here are the increased pension and civil servant salaries, https://turkey.postsen.com/business/462354/The-Central-Bank ’s-inflation-expectation-has-changed-the-calculations-are-confused-regarding-the-raises-of-retirees-and-civil-servants-Here-are-the-increased-pension-and-civil-servant-salaries.html, Zugriff 10.1.2024
Zeit Online - Zeit Online (29.12.2022): Türkei schafft Mindestalter für Altersrente ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-12/recep-tayyip-erdogan-alter-rente-tuerkei-aufgehoben?utm_referrer=https://www.zeit.de/thema/tuerkei , Zugriff 7.11.2023
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung 2024-10-14 11:12
Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54). Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. 10 Euro pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54; vgl. MPI-SRSP 3.2022), genauer, wenn das Haushaltseinkommen pro Person ein Drittel des Bruttomindestlohns unterschreitet (MPI-SRSP 3.2022). Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016).
Die Gesundheitsausgaben der Haushalte für Behandlungen, Arzneimittel usw. aus eigener Tasche erreichten im Jahr 2022 knapp über 112 Milliarden Lira, was einem Anstieg von 98,8 % gegenüber dem Vorjahr entsprach. Der Anteil der Gesundheitsausgaben der privaten Haushalte an den gesamten Gesundheitsausgaben lag 2022 bei 18,5 %, während dieser 2021 noch 15,9 % ausmachte (TUIK 7.12.2023).
Personen, die über eine Sozial- oder Krankenversicherung verfügen, können im Rahmen dieser Versicherung kostenlose Leistungen von Krankenhäusern in Anspruch nehmen. Die drei wichtigsten Organisationen in diesem Bereich sind:
Sozialversicherungsanstalt (SGK): für die Privatwirtschaft und die Arbeiter des öffentlichen Dienstes. Nach dem Gesetz haben alle Personen, die auf der Grundlage eines Dienstvertrags beschäftigt sind, Anspruch auf Sozialversicherung und Gesundheitsfürsorge.
Sozialversicherungsanstalt für Selbstständige (Bag-Kur): Diese Einrichtung deckt die Selbstständigen ab, die nicht unter das Sozialversicherungsgesetz (SGK) fallen. Dies sind Handwerker, Gewerbetreibende, Kleinunternehmer und Selbstständige in der Landwirtschaft.
Pensionsfonds für Beamte (Emekli Sandigi): Dies ist ein Pensionsfonds für Staatsbedienstete im Ruhestand, der auch eine Krankenversicherung umfasst (EUAA 8.4.2023).
GSS - Allgemeine Krankenversicherung
Für diejenigen, die nicht krankenversichert sind, wurde mit dem durch das Sozialversicherungs- und Allgemeine Krankenversicherungsgesetz allen türkischen Bürgern der Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglicht. Das GSS erfasst Personen, die gesetzlich pflichtversichert oder freiwillig versichert sind; Personen, die ein Einkommen oder eine Pension nach dem Gesetz Nr. 5510 über die soziale Sicherheit und die allgemeine Krankenversicherung beziehen; Bürger, deren Familieneinkommen pro Kopf weniger als ein Drittel des Mindestlohns beträgt; sowie türkische Staatsbürger, die nicht über eine allgemeine Krankenversicherung verfügen, oder Unterhaltsberechtigte ohne Einkommensermittlung, Kinder unter 18 Jahren, Personen, die Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld beziehen. - Der Antrag für die allgemeine Krankenversicherung wird bei den Sozialhilfe- und Solidaritätsstiftungen innerhalb der Verwaltungsgrenzen der Provinz oder des Bezirks gestellt, in der/dem der Wohnsitz der Person im adressbasierten Melderegister eingetragen ist. Was die Kosten betrifft, so beträgt die allgemeine Krankenversicherungsprämie für Personen, deren Einkommen über einem Drittel des Bruttomindestlohns liegt, 3 % dieses Bruttomindestlohns. Die Höhe der von den Versicherten im Jahr 2023 zu zahlenden allgemeinen Krankenversicherungsprämie beträgt rund 300 Lira pro Monat (EUAA 8.4.2023).
Selbstbehalt (Zuzahlungen)
Beim Selbstbehalt (i. e. Zuzahlung) handelt es sich um einen kleinen Betrag, der von den Bürgern gezahlt wird und der als Zuzahlung für Untersuchungen bezeichnet wird. Mit anderen Worten, die Zuzahlung bzw. Selbstbehalt bezieht sich auf die Gebühr, die Versicherte und Rentner oder ihre abhängigen Angehörigen für die Gesundheitsdienstleistungen zahlen, die sie von Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern, Hausärzten, Gesundheitszentren usw. erhalten. Die Zuzahlung wird für ambulante Untersuchungen erhoben, mit Ausnahme derjenigen, die bei primären Gesundheitsdienstleistern, d. h. bei Hausärzten, durchgeführt werden. Die Zuzahlung beträgt 6 Lira in öffentlichen Einrichtungen der sekundären Gesundheitsversorgung, 7 Lira in Ausbildungs- und Forschungskrankenhäusern des Gesundheitsministeriums, die gemeinsam mit Universitäten genutzt werden, und 8 Lira in Universitätskliniken. Zuzahlungen bzw. Selbstbehalte bei Medikamenten werden von der Apotheke bei der ersten Beantragung eines Rezepts erhoben. Im Falle einer ambulanten Behandlung sind die Sätze: 10 % der Arzneimittelkosten für Rentner und deren Angehörige, 20 % der Medikamentenkosten für andere Versicherte und deren Angehörige (EUAA 8.4.2023).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Private Versicherungen können, je nach Umfang und Deckung, hohe Behandlungskosten übernehmen. Innerhalb der SGK sind Impfungen, Laboruntersuchungen zur Diagnose, medizinische Untersuchungen, Geburtsvorbereitung und Behandlungen nach der Schwangerschaft sowie Notfallbehandlungen kostenlos. Der Beitrag für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenversicherung (GSS) hängt vom Einkommen des Leistungsempfängers ab - ab 150,12 Lira für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 7.2023). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SRSP 3.2021, S. 15).
Rückkehrende mit einer Aufenthaltserlaubnis, die dauerhaft (seit mindestens einem Jahr) in der Türkei leben und keine Krankenversicherung nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes haben, müssen eine monatliche Pflichtgebühr entrichten. Die Begünstigten müssen sich registrieren lassen und die Versicherungsprämie für mindestens 180 Tage im Voraus bezahlen, damit sie in den Genuss des Sozialversicherungssystems bzw. der Gesundheitsversorgung zu kommen. Die Versicherung tritt automatisch in Kraft, und die Begünstigten können das System auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch weitere sechs Monate in Anspruch nehmen. Die Versicherung muss mindestens 60 Tage vor der Diagnose abgeschlossen worden sein. - Rückkehrende können sich über Sozialversicherungsämter im ganzen Land anmelden (IOM 7.2023).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 54). Trotzdem wurd das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren ausgebaut, vor allem in ländlichen Gegenden. 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt. Der grundsätzlichen Krankenversicherungspflicht unterliegen alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei. Für Bedürftige übernimmt der Staat die Krankenversicherungsbeiträge. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 20.5.2024, S. 21).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Ízmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, S. 22).
Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Mit Stand März 2021 waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SRSP 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SRSP 20.6.2020).
Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind (FNS 31.3.2022a). Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der İYİ‐Partei, Turhan CÖMEZ, Parlamentsabgeordneter und selbst Arzt gab im Juni 2024 gegenüber der Tageszeitung Sözcü bekannt, dass bereits 15.000 türkische Ärzte zum Arbeiten ins Ausland gegangen seien. Mitverantwortlich dafür seien neben dem Hauptanreiz einer besseren Entlohnung auch die schlechten Arbeitsbedingungen und die ständig präsenten verbalen und physischen Übergriffe auf das medizinische Personal (TM 19.6.2024). Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt fast 12.000 Fälle von Gewalt gegen medizinisches Fachpersonal, darunter auch mehrere mit tödlichem Ausgang (FNS 31.3.2022a).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Auswärtiges_Amt_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2022)_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich]
EUAA - European Union Agency for Asylum (8.4.2023): Medical Country of Origin Information [ACC 7765], https://medcoi.euaa.europa.eu/Source/Detail/23301 , Zugriff 3.11.2023 [Login erforderlich]
FNS - Friedrich Naumann Stiftung (31.3.2022a): Brain-Drain: Die Abwanderung türkischer Ärztinnen und Ärzte, https://www.freiheit.org/de/tuerkei/brain-drain-die-abwanderung-turkischer-aerztinnen-und-aerzte?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter 2021-12-08T17:03:25+01:00, Zugriff 6.11.2023
IOM - International Organization for Migration (7.2023): Länderinformationsblatt 2023, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2023_Türkiye_DE.pdf , Zugriff 23.8.2024
MPI-SRSP - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik (3.2022): Sozialrechtliche Entwicklungen in der Türkei, Berichtszeitraum: März 2021 – März 2022, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_3_2022_Turkey.pdf , Zugriff 6.11.2023
MPI-SRSP - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik (3.2021): Social Law Report No. 4/2021 - Sozialrechtliche Entwicklungen in der Türkei Berichtszeitraum: April 2020 – März 2021, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_4_2021__Türkei.pdf , Zugriff 6.11.2023
MPI-SRSP - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April 2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_Türkei__final.pdf , Zugriff 6.11.2023
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
SGK - Anstalt für Soziale Sicherheit (Sosyal Güvenlik Kurumu) [Türkei] (2016): Universal Health Insurance, https://web.archive.org/web/20170103191505/http:/www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins , Zugriff 6.11.2023
TM - Turkish Minute (19.6.2024): 15,000 doctors have left Turkey for better opportunities abroad: opposition MP - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2024/06/19/15000-doctors-have-left-turkey-for-better-opportunities-abroad-opposition-mp , Zugriff 24.7.2024
TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (7.12.2023): TÜIK Kurumsal, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Health-Expenditure-Statistics-2022-49676 , Zugriff 10.1.2024
Behandlung nach Rückkehr
Letzte Änderung 2024-10-14 11:12
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).
Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in bzw. für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen (AA 20.5.2024, S. 15f.), auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) (AA 28.7.2022, S. 15) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 20.5.2024, S. 15f.). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 10.1.2024). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (MBZ 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 10.1.2024). Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren sind auch im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien zu beobachten, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt z. B. in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben (AA 10.1.2024). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 10.1.2024).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13f.).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 50). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Eine Abfrage im Zentralen Personenstandsregister ist verpflichtend vorgeschrieben, insbesondere bei Rückübernahmen von türkischen Staatsangehörigen. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien und der Ukraine, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 57). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. MBZ 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (MBZ 18.3.2021, S. 71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB Istanbul 1.3.2023; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 20). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB Istanbul 1.3.2023).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: http://bruecke-istanbul.com/
TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf (DFAT 10.9.2020, S. 50).
Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Gegen Personen, die im Ausland für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurden, kann in der Türkei erneut ein Verfahren geführt werden (Art. 9). Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11/1). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben und Geldfälschung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51). Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S. 50).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat begangen wird: entweder gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE-VC 15.2.2016).
Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wird die illegale Ausreise aus der Türkei nicht als Straftat betrachtet. Infolgedessen müssten Personen, die unter diesen Umständen zurückkehren, wahrscheinlich nur mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 88).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/2110308/Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (10.1.2024): Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962 , Zugriff 11.1.2024
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Auswärtiges_Amt_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2022)_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich]
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2020),_24.08.2020.pdf, Zugriff 8.9.2023 [Login erforderlich]
CoE-VC - Council of Europe - Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-en.pdf , Zugriff 11.1.2024
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023
EU - Europäische Union (24.2.2023): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 24. Februar 2023, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2022/1241, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32023D0422&qid=1680857637258&from=DE , Zugriff 11.1.2024
Independent - Independent, The (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/295631/yurtd ışında-yaşayan-binlerce-kişiye-türkiye-girişlerinde-sosyal-medya-paylaşımları, Zugriff 10.1.2024
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General COI report Turkiye (August 2023).pdf, Zugriff 13.11.2023
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich]
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije October 2019.pdf, Zugriff 29.11.2023 [Login erforderlich]
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]
SCF - Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-or-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/ , Zugriff 11.1.2024
TRMFA - Republic of Turkey - Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (2022): PKK, https://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa , Zugriff 11.1.2024 [Login erforderlich]
USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich]
VB Istanbul - VB - Verbindungsbeamte des BMI in Ankara/Istanbul [Österreich] (1.3.2023): Auskunft des Büros des ÖB Militärattachés, Antwort per E-Mail
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person der Beschwerdeführer:
Da der Beschwerdeführer vor den österreichischen Behörden keine identitätsbezeugenden Dokumente in Vorlage brachte, steht seine Identität nicht fest.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunftsregion, Lebensumständen, Familienstand, Familienverhältnissen in der Türkei und Berufserfahrung ergeben sich ebenso wie die Feststellungen zu seinen Sprachkenntnissen, seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner Konfession sowie der Ausreise nach Europa und deren Kosten aus den glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers basieren auf seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung.
Wann der Beschwerdeführer die Türkei verlassen und den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist in den Erstbefragungen dokumentiert. Dass er illegal in das Bundesgebiet einreiste, steht außer Frage.
Gestützt auf den Angaben des Beschwerdeführers und der Eintragungen im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister konnte das Bundesverwaltungsgericht die Feststellungen zum Aufenthaltsstatus treffen.
Die Feststellung zum Bezug von Leistungen von der Grundversorgung ist durch aktuelle Auszüge des Betreuungsinformationssystems belegt.
Aus einer Abfrage des Hauptverbands österreichischer Sozialversicherungsträger sowie den Angaben des Beschwerdeführers ist ersichtlich, dass er keiner angemeldeten Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nachgeht.
Die Feststellungen zu der Beziehung des Beschwerdeführers mit Frau B in Österreich ergeben sich aus den glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers und von Frau B in der mündlichen Verhandlung. Frau B hat in der Verhandlung auch angegeben, dass sie bei einer Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei, zu ihm in die Türkei ziehen würde.
Die Feststellungen zu den Deutschkenntnissen und dass er keine Kurse besucht hat, basieren auf den Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung. Der Beschwerdeführer hat zu keinem Zeitpunkt dargelegt, Mitglied in einem Verein zu sein und hat keine Unterstützungsschreiben in Vorlage gebracht.
Die Unbescholtenheit der Beschwerdeführer leitet sich aus einer aktuellen Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich ab.
2.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
2.2.1. Der Beschwerdeführer hat gleichbleibend vor der Polizei und der belangten Behörde angegeben, dass er in der Türkei Schulden gehabt hat. Auch in der Verhandlung bestätigte er dies und gibt es für die Richterin keinen Grund, an diesen Angaben zu zweifeln.
Weiters hat er auch gleichbleibend den Streit mit seinen Brüdern aufgrund der Schulden geschildert. Es war für die erkennende Richterin ebenfalls glaubhaft, dass es vor mehreren Jahren zu körperlichen Angriffen gegen den Beschwerdeführer gekommen ist, er deshalb medizinisch behandelt werden musste und auch ein Bruder deswegen verurteilt wurde.
Dass es nach diesem Vorfall vor 7-8 Jahren zu keinen körperlichen Übergriffen mehr gekommen ist, hat der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung angegeben.
Dass bei diesem Vorbringen kein Zusammenhang mit einem GFK Grund besteht, ergibt sich aus den Angaben des Beschwerdeführers, dass der Streit aufgrund der Schulden bestehen würde und die Schulden entstanden sind, da der Beschwerdeführer vorhatte, durch den Ankauf des Kleinviehs eine weitere Einkommensquelle zu lukrieren.
2.2.2. Der Beschwerdeführer hat weder vor der Polizei noch gegenüber dem BFA angegeben, aufgrund seiner Volksgruppe Verfolgung erfahren zu haben. Auch auf Nachfrage der Richterin in der mündlichen Verhandlung hat er ausdrücklich verneint, aufgrund seiner Volksgruppe Probleme gehabt zu haben.
Eine allgemeine Verfolgung der Kurden ist auch aus den allgemeinen Länderberichten nicht ableitbar: In der Türkei findet keine systematische, landesweite Verfolgung von Angehörigen der Volksgruppe der Kurden – die mit ca. 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung die größte ethnische Minderheit in der Türkei darstellen – statt.
Es gibt zwar durchaus Belege für eine anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über ungerechtfertigte Angriffe gegen Kurden auch in der jüngeren Vergangenheit, jedoch keine Hinweise, dass derartige Übergriffe seitens der türkischen Behörden prinzipiell nicht ordnungsgemäß verfolgt würden bzw. dass derartige Übergriffe systematisch erfolgen und dem Beschwerdeführer daher in Zukunft drohen würden (vgl. Punkt II.1.3.). Der Beschwerdeführer hat auch gar nicht angegeben, allein aufgrund seiner kurdischen Abstammung bisher verfolgt worden zu sein, weshalb auch nicht davon auszugehen wäre, dass eine solche bei einer Rückkehr drohen würde.
Für die erkennende Richterin steht aufgrund der Angaben des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde und im Rahmen der mündlichen Verhandlung fest, dass er mit seiner Ausreise eine Verbesserung seiner finanziellen Situation herbeiführen wollte. Allerdings waren seine finanziellen Schwierigkeiten und die Probleme mit seinen Brüdern bereits seit mehreren Jahren vorhanden und ist daher der Wunsch des Beschwerdeführers, nach Österreich zu kommen und dort mit Frau B zusammen zu sein, nach Ansicht der Richterin ausschlaggebend dafür gewesen, die Türkei zu verlassen. So gab der Beschwerdeführer im Rahmen seiner Erstbefragung an, den Entschluss zur Ausreise im Dezember 2024 getroffen zu haben, also kurz nach der Kontaktaufnahme mit Frau B über das Internet. Außerdem hat er in dieser Befragung auch angegeben, dass er Frau B über das Internet kennenglernt habe und diese ihm angeboten habe, bei ihr zu leben. Darüberhinaus war es nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer nicht seinen Onkel, der ihm ja die Schleppung nach Österreich in der Höhe von mehreren Tausend Euro finanziert hat, um Hilfe bei der Bezahlung seiner Schulden gebeten hätte, wären dies tatsächlich seine Motive für die Ausreise gewesen. Schließlich stehen ja auch die Streitereien mit seinen Brüdern den Angaben des Beschwerdeführers zufolge in Zusammenhang mit seinen Schulden.
2.3. Zu den Länderfeststellungen:
Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei und den dort zitierten Quellen. Dieser Bericht fußt sowohl auf Berichten verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von internationalen Organisationen, wie bspw. dem UNHCR, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen, wie zum Beispiel der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche dargestellt wird, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Der Beschwerdeführer bzw. seine rechtsfreundliche Vertretung traten diesen Quellen und deren Kernaussagen zur Situation im Herkunftsland in der mündlichen Verhandlung nicht entgegen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
3.1. Zum Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides
3.1. Zum Status von Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.
Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der „Rasse“, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350; 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, jeweils mwN; vgl. zum hinsichtlich der Glaubhaftmachung einer Verfolgungsgefahr anzulegenden Prüfungsmaßstab näher VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472). Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an (vgl. VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192 unter Hinweis auf VwGH 27.6.2019, Ra 2018/14/0274, mwN).
Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. etwa VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, Rn. 27, unter Bezugnahme auf Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie 2011/95/EU ).
Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. VwGH 16.4.2020, Ra 2019/14/0505, Rn. 17, mwN).
Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH 23.02.2017, Ra 2016/20/0089 unter Hinweis auf VwGH 29.04.2015, Ra 2014/20/0151, mwN).
Wie in der Beweiswürdigung unter Punkt II.2.2. dargestellt, konnten die Beschwerdeführer im gegenständlichen Fall keine Gründe glaubhaft machen, die für eine asylrelevante Verfolgung sprechen würden. Der Beschwerdeführer hat die Türkei verlassen, um seine finanzielle Situation zu verbessern.
Wirtschaftliche Gründe rechtfertigen nach Art. 1 Abschnitt A GFK grundsätzlich nicht die Ansehung als Flüchtling. Sie könnten nur dann relevant sein, wenn dem Beschwerdeführer der völlige Verlust seiner Existenzgrundlage drohte (vgl. VwGH 28.06.2005, 2002/01/0414; 08.09.1999, 98/01/0614; 13.05.1998, 96/01/0045). Dafür gibt es jedoch vorliegend weder aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers noch aus den Länderfeststellungen substantiierte Anhaltspunkte. Die vom Beschwerdeführer getroffenen Ausführungen zu seiner wirtschaftlichen Situation vor seiner Ausreise lassen nicht den Schluss zu, dass dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat jegliche Existenzgrundlage entzogen würde. Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der „Rasse“, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung – zusammenhängt, was im vorliegenden Fall auch zu verneinen wäre.
Als weiteren Grund machte der Beschwerdeführer Streitigkeiten mit seinen Brüdern geltend und brachte dazu einen Vorfall vor 7 bzw. 8 Jahren vor, bei welchem er von seinen Brüdern verletzt wurde und in einem Krankenhaus für einen Tag behandelt werden musste.
Dazu ist zunächst anzuführen, die Voraussetzung der wohlbegründeten Furcht in der Regel nur erfüllt wird, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. zur notwendigen Berücksichtigung der Umstände im Einzelfall aus der Rechtsprechung etwa das Erkenntnis des VwGH vom 07.11.1995, 94/20/0793; ferner VwGH 19.10.2000, 98/20/0430, siehe auch VwGH 30.08.2007, 2006/19/0400.). Ein zeitlicher Zusammenhang besteht auch bei länger zurückliegenden Ereignissen dann, wenn sich der Asylwerber während seines bis zur Ausreise noch andauernden Aufenthaltes im Lande verstecken oder sonst durch Verschleierung seiner Identität der Verfolgung einstweilen entziehen konnte. Ab welcher Dauer eines derartigen Aufenthaltes Zweifel am Vorliegen einer wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung begründet erscheinen mögen, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (VwGH 07.11.1995, 94/20/0793).
Der Beschwerdeführer brachte nicht vor, dass er sich versteckt hätte oder sich sonst durch Verschleierung seiner Identität einer (hier hypothetischen) Verfolgung hätten entziehen können. Der vom Beschwerdeführer geschilderte Vorfall vermag daher keinen zeitlichen Zusammenhang zwischen einer Verfolgung und der Ausreise des Beschwerdeführers aus der Türkei zu begründen.
Im Übrigen handelt es sich bei diesem Vorbringen um eine Privatverfolgung:
Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH liegt eine dem Staat zuzurechnende Verfolgungshandlung in diesem Zusammenhang nur dann vor, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, von Privatpersonen ausgehende Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden. Auf die Frage, ob der Staat "seiner Schutzpflicht nachkommen kann", kommt es im Zusammenhang mit einer drohenden Privatverfolgung, die in keinem Zusammenhang mit einem Konventionsgrund steht, nur an, wenn die staatlichen Einrichtungen diesen Schutz aus Konventionsgründen nicht gewähren (VwGH 24.06.1999, 98/20/574; VwGH 13.11.2001, 2000/01/0098; VwGH 23.11.2006, 2005/20/0406). Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 29.01.2020, Ra 2019/18/0228, mwN). Die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden ist grundsätzlich daran zu messen, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbenden Parteien unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage sind, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (vgl. VwGH 29.06.2023, Ra 2022/01/0285, mwN).
Ungeachtet diverser Korruptionsproblematiken sowie Problemen in Zusammenhang mit einer Politisierung der Justiz verfügt die Türkei – die im Übrigen auch Mitglied des Europarates ist und sich angesichts dessen zur Einhaltung der EMRK verpflichtet hat - grundsätzlich über einen funktionierenden Sicherheits- und Justizapparat und gibt es keinerlei konkrete Hinweise, wonach Übergriffe von Privatpersonen von den türkischen Behörden systematisch nicht ordnungsgemäß verfolgt würden (vgl. Punkt II. 1.3.). Die staatlichen Institutionen der Türkei (insbesondere Sicherheitsbehörden, Polizei und Justiz) sind grundsätzlich fähig und willig, die Bürger vor Übergriffen Dritter zu schützen.
Dies wurde auch durch den Umstand bestätigt, dass ein Bruder des Beschwerdeführers nachdem es zu dem Übergriff auf den Beschwerdeführer gekommen ist, deswegen zu einer (Gefängnis) Strafe verurteilt wurde.
Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte die Situation für Kurden – abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche Anhängerschaft hinsichtlich des Beschwerdeführesr nicht festgestellt werden konnte – nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein auf Grund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an der Person des Beschwerdeführers haben sollten, wurden nicht vorgebracht. Darüber hinaus leben Familienangehörige des Beschwerdeführers nach wie vor in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers in der Türkei, und kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, weshalb dem Beschwerdeführer auf Grund seiner kurdischen Abstammung ein weiterer Aufenthalt in seinem Herkunftsstaat unzumutbar sein soll, wohingegen seine Tochter, sein Onkel und Geschwister nach wie vor dort ansässig sind. Von den Länderberichten entnehmbaren Repressalien, wie den Massenentlassungen im öffentlichen Dienst oder dem Vorgehen gegen kritische Journalisten oder Anhänger der Gülen-Bewegung in der Türkei, sind die Beschwerdeführer darüber hinaus nicht betroffen. Das Bundesverwaltungsgericht zweifelt nicht an, dass Kurden in der Türkei generell Diskriminierungen und Benachteiligungen ausgesetzt sind. Diese erreichen jedoch im Allgemeinen nicht die Intensität von Verfolgungshandlungen. Es kann nicht erkannt werden, dass regelmäßig (Verfolgungsintensität erreichende) Maßnahmen zielgerichtet gegen die Angehörigen der kurdischen Volksgruppe gesetzt werden.
Auch aus den Angaben des Beschwerdeführers selbst, ergeben sich keinerlei konkrete, stichhaltige Hinweise darauf, dass eine asylrelevante Gefährdung des Beschwerdeführers maßgeblich wahrscheinlich zu erwarten wäre; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN).
Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer keine Verfolgung aus in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht. Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und unruhebedingten Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen ebenso wie allfällige persönliche und wirtschaftliche Gründe keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (vgl. VwGH 21.11.1995, 95/20/0329 mwN).
Es gibt bei Zugrundelegung des Gesamtvorbringens des Beschwerdeführers keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Türkei maßgeblich wahrscheinlich Gefahr laufen würde, einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status von Asylberechtigten zu erhalten (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).
Aus diesen Gründen ist festzustellen, dass dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat Türkei keine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht und war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zum Status von subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.
Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 08.11.2021, Ra 2021/19/0226 unter Hinweis auf VwGH 16.03.2021, Ra 2020/19/0324, mwN).
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. VwGH 08.09.2021, Ra 2021/20/1251).
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (vgl. VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016, mwN).
Im gegenständlichen Fall ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, eine individuelle Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr glaubhaft zu machen und er gehört auch keiner Personengruppe mit speziellem Risikoprofil an, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergibt, der gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte.
Dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat einer Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059), hat doch der Beschwerdeführer selbst gar nicht vorgebracht, dass ihm im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und er in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre.
Der Beschwerdeführer ist nach wie vor im Besitz eines Hauses und hat bis zuletzt als Hirte gearbeitet. Es kann davon ausgegangen werden, dass er weiterhin in diesem Berufsfeld arbeiten oder zumindest sonstigen Gelegenheitsarbeiten nachgehen kann. Der Beschwerdeführer steht auch mit seinen Familienangehörigen (Tochter und Onkel) in Kontakt. Der Onkel hat dem Beschwerdeführer auch seine Ausreise finanziert und kann daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer auch auf entsprechende Unterstützung zurückgreifen könnte.
Nach dem festgestellten Sachverhalt besteht auch kein Hinweis auf „außergewöhnliche Umstände“, welche eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei unzulässig machen könnten.
Auch aus der allgemeinen Sicherheitslage ergibt sich für den Beschwerdeführer keine reale Gefahr der Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte oder eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt.
Es erscheint daher eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei nicht grundsätzlich ausgeschlossen und auf Grund der individuellen Situation des Beschwerdeführers insgesamt auch zumutbar.
Schließlich steht dem Beschwerdeführer das in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, offen, da sie über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Leistungen werden etwa in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Kindergeld) oder Wohnprogrammen gewährt.
Es kann sohin nicht erkannt werden, dass dem erwerbsfähigen Beschwerdeführer, der in der Türkei über ein familiäres Netz und ein Eigentumshaus verfügt, im Falle einer Rückkehr in die Türkei dort die notwendigste Lebensgrundlage entzogen und dadurch die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat grundsätzlich in der Lage sein wird, ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor.
Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder den relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 und Nr. 13 verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
Die Beschwerde waren daher auch hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen.
3.3. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides):
Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG liegen nicht vor, weil der Aufenthalt des Beschwerdeführers weder seit mindestens einem Jahr gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet, noch zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig ist, noch der Beschwerdeführer Opfer von Gewalt wurden.
Die Entscheidung ist daher gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden.
Die Beschwerde war daher auch hinsichtlich Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen.
3.4. Zur Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.
Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.
Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 hat das Bundesamt einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig auf Dauer unzulässig erklärt wurde. Es ist daher zu prüfen, ob eine Rückkehrentscheidung auf Basis des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG für unzulässig zu erklären ist.
Der mit "Schutz des Privat- und Familienlebens" betitelte § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet wie folgt:
„(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.“
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes und verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Der Beschwerdeführer lernte vor etwa 4 Monaten über das Internet Frau B kennen und begründete am mit ihr am 13.02.2025 einen gemeinsamen Wohnsitz.
Hinsichtlich der Beurteilung einer Ehe- bzw. Lebensgemeinschaft sind insbesondere auch die Staatsangehörigkeit der einzelnen Betroffenen, die familiäre Situation des Antragstellers und die Dauer seiner Ehe und andere Faktoren, welche die Effektivität eines Familienlebens bei einem Paar belegen; die Frage, ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und wenn ja, welches Alter sie haben und das Maß an Schwierigkeiten, denen der Ehegatte in dem Land unter Umständen begegnet, in das der Antragsteller auszuweisen ist, zu berücksichtigen (VfGH 22.06.2009, U1031/09; VfGH 01.07.2009 U954/09). Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist dabei etwa, ob ein allfälliges Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden ist, als sich die betroffenen Personen bewusst gewesen sind, dass der Aufenthaltsstatus eines Familienmitgliedes bzw. der Fortbestand des Familienlebens im Gastland von vornherein unsicher gewesen ist. (vgl. EGMR 11.04.2006, Useinov vs. the Netherlands, Appl. 61292/00). Nach Ansicht des EGMR können Fremde, die bei Begründung ihres Familienlebens aufgrund ihres ungewissen Aufenthaltsstatus nicht mit dessen Fortsetzung rechnen durften, nur unter außergewöhnlichen Umständen den Schutz des Art. 8 EMRK erlangen (vgl. EGMR 11.04.2006, Useinov vs. the Netherlands, Appl. 61292/00). Nach der Rechtsprechung des EGMR kann sich ein Beschwerdeführer im Kontext des Art. 8 MRK auch nicht auf eine Beziehung zu einer neuen Freundin und selbst die Geburt eines Kindes aus dieser Beziehung berufen, wenn sie zu einem Zeitpunkt zustande kam, als der Aufenthalt unsicher war (vgl. VwGH 31.01.2022, Ra 2021/20/0486, mwN und Verweis auf EGMR 16.4.2013, Udeh/Schweiz, 12020/09, Z 50).
Relativiert werden die familiären Interessen des Beschwerdeführers (und seiner Lebensgefährtin) gegenständlich dadurch, dass die Genannten sich erst wenige Monate kennen und ein Paar sind. Eine – insbesondere zeitlich befristete – Trennung ist ihnen sohin zumutbar, da die wechselseitige emotionale Abhängigkeit jedenfalls von geringerer Erheblichkeit ist, als es nach jahrelanger Beziehung der Fall wäre.
Beiden Partnern war die Unsicherheit des Aufenthalts des Beschwerdeführers vollends bewusst. Angesichts seines Fluchtvorbringens und der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat durfte der Beschwerdeführer niemals davon ausgehen, einen Schutzstatus zu erhalten.
Zudem bleibt es Frau B unbenommen, ihn in seinem zukünftigen Aufenthaltsstaat regelmäßig zu besuchen bzw. könnte der Kontakt mittels Telefon und E-Mail (wenn auch in geminderter Form) aufrechterhalten werden (vgl. EGMR, Joseph Grant gg. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 08.01.2009, Bsw. Nr. 10.606/07, damit korrespondierend Peter Chvosta: „Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 EMRK“, ÖJZ 2007/74 mwN).
Die ständige Rechtsprechung weist im Übrigen darauf hin, dass auch die Möglichkeit der gemeinsamen Niederlassung im Herkunftsstaat des Fremden zwecks Aufrechterhaltung des Familienlebens eine Möglichkeit darstellt. Frau B verfügt über gute türkische Sprachkenntnisse und hat selbst angegeben, dass sie in die Türkei zum Beschwerdeführer ziehen würde, sollte er dorthin zurückkehren müssen.
Eine besondere Abhängigkeit der beiden gesunden Partner ist ebenfalls nicht ersichtlich. Auch die finanzielle Unterstützung des Beschwerdeführers durch seine Lebensgefährtin wird insofern relativiert, als die erhaltene materielle Hilfestellung im gegebenen Fall kein dauerhaftes Abhängigkeitsverhältnis begründet, zumal die finanzielle Unterstützung für den Beschwerdeführer etwa aufgrund eines eigenen Rechtsanspruches auf staatliche Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber oder durch die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme keineswegs unerlässlich ist und damit eher ein Ausdruck einer partnerschaftlichen Unterstützung, als einer irreversiblen finanziellen Abhängigkeit ist.
Was die Schutzwürdigkeit der Beziehung des Beschwerdeführers zu seinen in Österreich aufhältigen Cousins anbelangt, so kann nach Ansicht des EGMR auch außerhalb der Kernfamilie, insofern auch zwischen Geschwistern, ein Familienleben im Sinne des Art 8 EMRK vorliegen, wenn ein Familienleben tatsächlich besteht und hinreichend intensiv ist, was anhand zwei Kriterien beurteilt wird, nämlich einerseits nach dem Zusammenleben der betroffenen Personen und andererseits das Bestehen einer finanziellen oder sonstigen Abhängigkeit (AsylGH 30.09.2008, S6 401.589-1/2008).
Der Beschwerdeführer lebte in Österreich nie mit seinen Cousins in einem gemeinsamen Haushalt und wurde auch sonst keine Abhängigkeit vorgebracht.
Dass die Rückkehrentscheidung einen (unverhältnismäßigen) Eingriff in das Familienleben des Beschwerdeführers darstellt, kann gegenständlich daher nicht erkannt werden.
Zu prüfen ist auch ein etwaiger Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers. Unter "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva u.a. gg Lettland, EuGRZ 2006, 554).
Unter Berücksichtigung der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. etwa Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/01/0479 zu einem dreijährigen Aufenthalt im Bundesgebiet oder auch Erkenntnis vom 15.12.2015, Ra 2015/19/0247 zu einem zweijährigem Aufenthalt in Verbindung mit dem Umstand, dass der Beschwerdeführer mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet war), des Verfassungsgerichtshofes (29.11.2007, B 1958/07, wonach im Fall eines sich seit zwei Jahren im Bundesgebiet aufhältigen Berufungswerbers die Behandlung der Beschwerde wegen Verletzung des Art. 8 EMRK abgelehnt wurde; ebenso 26.04.2010, U 493/10-5 im Falle eines fünfjährigen Aufenthaltes) und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (siehe etwa EGMR, 08.04.2008, Nnyanzi v. UK, 21878/06) vermag der lediglich etwa elfmonatige Inlandsaufenthalt des Beschwerdeführers sein Interesse an einem Verbleib in Österreich nicht maßgeblich aufzuwerten.
Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht alleine maßgeblich, sondern ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 05.10.2020, Ra 2020/19/0330, mwN). Liegt eine relativ kurze Aufenthaltsdauer eines Fremden in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. VwGH 03.12.2019, Ra 2019/18/0471, mwN), wobei nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes selbst die Kombination aus Fleiß, Arbeitswille, Unbescholtenheit, dem Bestehen sozialer Kontakte in Österreich, dem verhältnismäßig guten Erlernen der deutschen Sprache sowie der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vor dem Hintergrund einer Aufenthaltsdauer von knapp vier Jahren keine "außergewöhnliche Integration" darstellt (vgl. VwGH 18.09.2019, Ra 2019/18/0212).
Fallgegenständlich beruhte der bisherige Aufenthalt des Beschwerdeführers von zweieinhalb Monaten im Bundesgebiet als Asylwerber lediglich auf einer temporären, nicht endgültig gesicherten rechtlichen Grundlage, weshalb er während der gesamten Dauer seines Aufenthaltes auch nicht darauf vertrauen durfte, dass er sich in Österreich auf rechtlich gesicherte Weise bleibend verfestigen kann. Der seitens des Verwaltungsgerichtshofes in ständiger Rechtsprechung ins Treffen geführte Aspekt, es müsse unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht akzeptiert werden, dass ein Fremder mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen (vgl. VwGH 29.06.2022, Ra 2021/20/0403, mwN), trifft insoweit auch auf den vorliegenden Beschwerdefall zu. Zudem wurde seitens des Beschwerdeführers gegenständlich jedoch auch gar keine besondere Aufenthaltsverfestigung dargetan. Er verfügt über keine Deutschkenntnisse und ging in Österreich zu keinem Zeitpunkt einer angemeldeten Erwerbstätigkeit nach. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt zunächst von Leistungen der Grundversorgung und nunmehr durch Zuwendungen seiner Lebensgefährtin. Besondere Bindungen zu Österreich kamen nicht hervor. Dementgegen kann nach wie vor von einem Bestehen von Bindungen des Beschwerdeführers zu seinem Herkunftsstaat Türkei ausgegangen werden, zumal er dort den weit überwiegenden Teil seines Lebens verbracht hat. Er ist in der Türkei geboren und aufgewachsen, hat dort seit seinem 9. Lebensjahr bis zu seiner Ausreise in der Türkei gearbeitet. Er spricht nach wie vor Türkisch und ist mit den regionalen Sitten und Gebräuchen der türkischen bzw. der kurdischen Kultur weiterhin vertraut. Auch verfügt er in seiner Heimatstadt über familiäre Anknüpfungspunkte in Gestalt seiner Tochter und zumindest eines Onkels. Raum für die Annahme, dass der Beschwerdeführer im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG gar keine Bindungen zu seinem Heimatstaat mehr hat, besteht sohin nicht.
Es sind - unter der Schwelle des Art. 2 und 3 EMRK – aber auch die Verhältnisse im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens zu berücksichtigen, so sind etwa Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder auch Behandlungsmöglichkeiten bei medizinischen Problemen bzw. eine etwaige wegen der dort herrschenden Verhältnisse bewirkte maßgebliche Verschlechterung psychischer Probleme in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessensabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen (vgl. VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119). Eine diesbezüglich besonders zu berücksichtigende Situation liegt jedoch im Fall des volljährigen, gesunden und erwerbsfähigen Beschwerdeführers, welcher zudem über eine jahrelange Berufserfahrung in seinem Herkunftsstaat verfügt, ebenfalls nicht vor.
Den persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem weiteren Aufenthalt in Österreich steht somit das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens gegenüber. Diesem gewichtigen öffentlichen Interesse kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (vgl. VwGH 29.01.2021, Ra 2021/17/0014, mwN).
Aus dem Gesagten schlägt die im vorliegenden Beschwerdefall vorzunehmende Interessensabwägung im Rahmen einer Gesamtschau zuungunsten des Beschwerdeführers und zugunsten des öffentlichen Interesses an seiner Ausreise aus. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ergibt eine individuelle Abwägung der berührten Interessen, dass ein Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers durch seine Ausreise als im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK verhältnismäßig angesehen werden kann und war die von der belangten Behörde erlassene Rückkehrentscheidung daher im Ergebnis nicht zu beanstanden, weshalb auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 nicht in Betracht kommt.
Die sonstigen Voraussetzungen einer Rückkehrentscheidung nach § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 und § 52 Abs. 2 Z 2 FPG sind ebenso erfüllt. Sie ist auch sonst nicht (etwa vorübergehend nach Art. 8 EMRK, vgl. § 9 Abs. 3 BFA-VG und VwGH 16.12.2015,
Ra 2015/21/0119) unzulässig. Der Beschwerdeführer verfügt auch über kein sonstiges Aufenthaltsrecht.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, sodass sie auch hinsichtlich Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen war.
3.5. Zur Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides)
Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Nach § 50 Abs. 2 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).
Nach § 50 Abs. 3 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
Die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat Türkei ist gem. § 46 FPG gegeben, da nach den der Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen der vorliegenden Entscheidung keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würden.
Es waren daher die Entscheidung des BFA im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerde somit hinsichtlich des Spruchpunktes V. der angefochtenen Bescheides abzuweisen.
3.6. Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides):
§ 55 Abs. 1a FPG lautet:
Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird.
Aus der rechtskonformen Anwendung des § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG (siehe dazu Ausführungen unter Punkt 3.7.) folgte zwingend die Anwendung des § 55 Abs. 1a FPG, dem zufolge iZm der gegen den Beschwerdeführer erlassenen Rückkehrentscheidung keine Frist für eine freiwillige Ausreise besteht.
Die Beschwerde war sohin auch hinsichtlich Spruchpunkt VI. als unbegründet abzuweisen.
3.7. Zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde (Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides):
§ 18 BFA-VG lautet:
(1) Einer Beschwerde gegen eine abweisende Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz kann das Bundesamt die aufschiebende Wirkung aberkennen, wenn
1. der Asylwerber aus einem sicheren Herkunftsstaat (§ 19) stammt,
2. schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Asylwerber eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellt,
3. der Asylwerber das Bundesamt durch falsche Angaben oder Dokumente oder durch Verschweigen wichtiger Informationen oder durch Zurückhalten von Dokumenten über seine Identität oder seine Staatsangehörigkeit zu täuschen versucht hat,
4. der Asylwerber Verfolgungsgründe nicht vorgebracht hat,
5. das Vorbringen des Asylwerbers zu seiner Bedrohungssituation offensichtlich nicht den Tatsachen entspricht,
6. gegen den Asylwerber vor Stellung des Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung, eine durchsetzbare Ausweisung oder ein durchsetzbares Aufenthaltsverbot erlassen worden ist, oder
7. der Asylwerber sich weigert, trotz Verpflichtung seine Fingerabdrücke abnehmen zu lassen.
Hat das Bundesamt die aufschiebende Wirkung nicht aberkannt, so ist Abs. 2 auf diese Fälle nicht anwendbar. Hat das Bundesamt die aufschiebende Wirkung aberkannt, gilt dies als Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde gegen eine mit der abweisenden Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz verbundenen Rückkehrentscheidung. (…)
(5) Das Bundesverwaltungsgericht hat der Beschwerde, der die aufschiebende Wirkung vom Bundesamt aberkannt wurde, binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde von Amts wegen die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wenn anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen Konfliktes mit sich bringen würde. In der Beschwerde gegen den in der Hauptsache ergangenen Bescheid sind die Gründe, auf die die Behauptung des Vorliegens einer realen Gefahr oder einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit gem. Satz 1 stützt, genau zu bezeichnen. § 38 VwGG gilt.
(6) Ein Ablauf der Frist nach Abs. 5 steht der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nicht entgegen.
(7) Die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG sind in den Fällen der Abs. 1 bis 6 nicht anwendbar.
Das Bundesamt stützte ihre Entscheidung in Spruchpunkt VII. des bekämpften Bescheides über die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde auf die Bestimmung des § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG.
In Anbetracht der vorgebrachten Gründe - Verbesserung der finanziellen Situation und Streitigkeiten mit seinen Brüdern- ist die belangte Behörde zurecht von der Annahme ausgegangen, dass der Beschwerdeführer keine Verfolgungsgründe im Sinne der GFK geltend gemacht hat.
Die nach der Judikatur verlangte und im Einzelfall vorzunehmende Interessensabwägung (VwGH 13.12.2017, Ro 2017/19/0003) ließ keine Interessen des Beschwerdeführers erkennen, die das große öffentliche Interesse an seiner Außerlandesbringung aufzuwiegen vermochten.
Es ergaben sich auch sonst keine stichhaltigen Hinweise aus dem Akteninhalt, die das Erfordernis der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung aus einem der in § 18 Abs. 5 BFA-VG genannten Gründe begründet hätten bzw. wurden auch keine solchen Gründe in der Beschwerde dargelegt.
Die Anwendung von § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG war daher aus Sicht des BVwG gerechtfertigt.
Die Beschwerde war daher auch hinsichtlich Spruchpunkt VII. als unbegründet abzuweisen.
Zu Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
