Normen
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57 Abs1 Z3
AsylG 2005 §58 Abs1 Z2
B-VG Art133 Abs4
FlKonv Art1 AbschnA Z2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
32011L0095 Status-RL Art10
32011L0095 Status-RL Art9
62012CJ0199 VORAB
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022010285.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein georgischer Staatsangehöriger, stellte am 4. August 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er zusammengefasst damit begründete, dass er als Transgender‑Person („Trans‑Frau“) in Georgien verfolgt werde. Er würde gerne sein Geschlecht ändern.
2 Mit Bescheid vom 5. März 2021 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigen zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im Instanzenzug ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig.
4 Begründend stellte das BVwG zunächst fest, dass der Revisionswerber „Transgender“ sei.
5 Zur Situation von „LGBTIQ“ in Georgien traf das BVwG (auszugsweise) folgende Feststellungen:
„... Die Akzeptanz von LGBTIQ ist in Teilen der georgischen Gesellschaft ... sehr gering. Daher können Übergriffe auf diese Personengruppen nicht ausgeschlossen werden. ... Die Situation von LGBTI‑Personen ist sehr schwierig, auch wenn sie rechtlich nicht benachteiligt sind. ... Sie müssen mit ungleicher Behandlung und Anfeindungen bis hin zu physischen Übergriffen rechnen. Angehörige sexueller Minderheiten sind deshalb oft gezwungen, ihre sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität zu verbergen. Transgender, die die Änderung ihres Geschlechts anerkennen lassen wollen, müssen sich einem medizinischen Eingriff unterziehen. ... Das Büro der Ombudsfrau berichtete, das LGBTIQ+ Personen weiterhin systematische Gewalt, Unterdrückung, Missbrauch, Intoleranz und Diskriminierung erfahren. LGBTIQ+ Menschenrechtsorganisationen berichteten im Laufe des Jahres über mehrere Fälle von Gewalt gegen LGBTIQ+ Personen. Die Behörden leiteten in mehreren Fällen Ermittlungen ein. ... Es wurde berichtet, dass Gewalt gegen LGBTIQ+ Personen, sei es in der Familie oder im öffentlichen Raum, ein ernstes Problem sei und dass die Maßnahmen der Regierung nicht ausreichten, um auf diese Herausforderung zu reagieren. ... Gewalt gegen LGBTIQ Personen, ihre Unterstützer sowie Verteidiger ihrer Rechte ist seit langem ein Problem, welches in Georgien Anlass zur Sorge gibt und durch das Versäumnis Täter zur Rechenschaft zu ziehen ... noch verschärft wird. Diese anhaltende Straflosigkeit verstärkt Voreingenommenheit und hasserfüllte Einstellungen in bestimmten Teilen der georgischen Gesellschaft. ...“
6 Der Revisionswerber habe Georgien weder wegen Problemen mit den dortigen Behörden verlassen müssen, noch werde er derartige Probleme im Fall seiner Rückkehr haben.
7 Zu den vom Revisionswerber im Einzelnen vorgebrachten Fluchtgründen führte das BVwG aus: Zwischen der behaupteten Verfolgung (am 5. März 2019) durch Mitglieder seiner Adoptivfamilie und der erst 16 Monate später (am 27. Juli 2020) erfolgten Ausreise aus Georgien mangle es am zeitlichen Zusammenhang; der Revisionswerber habe zudem die gegen den Ehegatten der Cousine der Adoptivfamilie erstattete Anzeige zurückgezogen. Er sei in Georgien ‑ seinen eigenen Angaben zufolge ‑ von niemandem zur Sexarbeit gezwungen worden. Die behaupteten Übergriffe, die der Revisionswerber im Zuge der Ausübung der Prostitution in Tiflis erlitten habe, stellten eine „milieubedingte“ Gefahr dar, es handle sich dabei aber nicht um eine konkrete Verfolgung. Der Revisionswerber habe auch nicht aus Georgien fliehen müssen, weil er „nach Absolvierung der Pflichtschule nicht zur ‚Matura‘“ angetreten sei.
8 Der Revisionswerber habe ‑ so das BVwG weiter ‑ in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, um kostenlos eine Geschlechtsumwandlung zur Frau zu erhalten. Nachdem das „passiert“ sein werde, werde sich der Revisionswerber „endlich auch in Georgien als Frau registrieren lassen können“.
9 Der Revisionswerber habe daher „insgesamt“ weder glaubhaft machen können, vor seiner Ausreise am 27. Juli 2020 in Georgien verfolgt worden zu sein, noch, dass er in Zukunft in Georgien verfolgt würde.
10 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der nach Durchführung des Vorverfahrens ‑ eine Revisionsbeantwortung erstattete die belangte Behörde nicht ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
11 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit u.a. vor, dass ‑ im Hinblick auf die dem angefochtenen Erkenntnis zu Grunde gelegten Länderinformationsquellen ‑ Feststellungen zur Situation des Revisionswerbers im Falle seiner Rückkehr nach Georgien erforderlich gewesen wären. Das BVwG habe in diesem Zusammenhang insbesondere näher genannte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Möglichkeit der asylrelevanten Verfolgung durch Privatpersonen nicht beachtet.
12 Die Revision ist zulässig und begründet.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat ‑ unter Bezugnahme auf Judikatur des Gerichtshofes der Europäischen Union ‑ bereits wiederholt ausgesprochen, dass eine Verfolgung von Homosexuellen Asyl rechtfertigen kann und dass von einem Asylwerber nicht erwartet werden kann, seine Homosexualität im Herkunftsstaat geheim zu halten, um eine Verfolgung zu vermeiden (vgl. VwGH 13.1.2022, Ra 2020/14/0214, mit Hinweis auf VwGH 23.2.2021, Ra 2020/18/0500). Gleiches gilt auch für Angehörige anderer sexueller Minderheiten, wie insbesondere Bisexuelle, Intersexuelle oder Transgender‑Personen (zur Asylrelevanz der Verfolgung von Mitgliedern der LGBTIQ‑Gemeinschaft vgl. auch VwGH 26.1.2021, Ra 2020/14/0122, Rn. 15).
14 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht.
15 Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche „Vorverfolgung“ für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste. Relevant kann also nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Erlassung der Entscheidung vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der „Asylentscheidung“ immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. zu all dem etwa jüngst VwGH 23.5.2023, Ra 2023/20/0110, mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung des VwGH und VfGH; vgl. zum Erfordernis der Prüfung einer Verfolgungsgefahr ‑ insbesondere im Hinblick auf die Situation im Herkunftsland ‑ zum Entscheidungszeitpunkt auch VwGH 9.6.2015, Ra 2014/20/0185, mwN).
16 Zu Recht macht die Revision auch geltend, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes neben der Verfolgung durch staatliche Akteure auch einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zukommt, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Die Schutzfähigkeit und ‑willigkeit der staatlichen Behörden ist dabei grundsätzlich daran zu messen, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbende Partei unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage ist, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (vgl. auch dazu VwGH Ra 2020/18/0500, mwN).
17 Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung kann dem BVwG zwar zunächst nicht entgegengetreten werden, wenn es im vorliegenden Fall eine vor der Ausreise stattgefundene Verfolgung des Revisionswerbers (durch Private) in Georgien verneinte (vgl. oben Rn. 7).
18 Die Prognose, dass dem Revisionswerber auch im Fall seiner Rückkehr nach Georgien keine derartige Verfolgung drohe, stützte das BVwG indes tragend bzw. ausschließlich auf die Annahme, dass dem Revisionswerber nach erfolgter Geschlechtsumwandlung in Österreich in Georgien die Registrierung als Frau offenstünde.
19 Damit hat das BVwG aber die Verneinung der Verfolgungsgefahr in unzulässiger Weise allein mit dem möglichen Eintritt eines zukünftigen Ereignisses ‑ nämlich der erfolgreichen Durchführung der vom Revisionswerber beabsichtigten Geschlechtsumwandlung ‑ begründet bzw. auf die Prämisse, der Revisionswerber kehre als Frau nach Georgien zurück, gestützt.
20 Hingegen hat sich das BVwG mit der im Zeitpunkt der Erlassung des Erkenntnisses allein maßgeblichen Frage einer konkreten asylrelevanten Verfolgungsgefahr des Revisionswerbers als Transgender‑Person im Fall seiner Rückkehr nach Georgien nicht auseinandergesetzt. Dies wäre jedoch ‑ insbesondere vor dem Hintergrund der nach den getroffenen Länderfeststellungen prekären Lage von Mitgliedern der LGBTIQ‑Gemeinschaft in Georgien ‑ geboten gewesen.
21 Da das Verwaltungsgericht sohin im Fall eines mängelfreien Verfahrens zu einem für den Revisionswerber günstigen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
22 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. Juni 2023
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