VwGH Ra 2023/20/0110

VwGHRa 2023/20/011023.5.2023

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel, den Hofrat Dr. Horvath und die Hofrätin Dr.in Oswald als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Herrmann‑Preschnofsky, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Februar 2023, W121 2258891‑1/8E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (Mitbeteiligter: J I, vertreten durch F K, als gesetzlicher Vertreter), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1
FlKonv Art1 AbschnA Z2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2023200110.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte wurde im Juli 2010 geboren und ist syrischer Staatsangehöriger. Er verließ im Juni 2021 sein Heimatland und gelangte zunächst in die Türkei. In der Folge reiste er im August 2021 unrechtmäßig in Österreich ein. Am 6. September 2021 teilte ein Vertreter der Kinder‑ und Jugendhilfe der Stadt Wels dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit, dass sich der Mitbeteiligte in der Obhut seines Onkels in Vöcklabruck befinde, und ersuchte zwecks Stellung eines Asylantrages um Vergabe eines Termins. Mit Schreiben vom 16. September 2021 teilte der Träger der Kinder‑ und Jugendhilfe dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit, dass mit Wirkung vom 8. September 2021 dem Onkel die Pflege und Erziehung des Mitbeteiligten sowie dessen gesetzliche Vertretung „in diesen Bereichen“ übertragen worden sei. Dieser sei auch „bevollmächtigt“, im Asylverfahren „die gesetzliche Vertretung“ auszuüben. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl setzte daraufhin einen Termin für die Erstbefragung des Mitbeteiligten fest.

2 Am 20. Oktober 2021 wurde die Erstbefragung im Rahmen des nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) eingeleiteten Verfahrens über den vom Mitbeteiligten gestellten Antrag auf internationalen Schutz durchgeführt, bei der neben dem Mitbeteiligten auch dessen Onkel sowie Mag. K, die in der darüber angefertigten Niederschrift als „Gesetzliche Vertretung im Verfahren“ bezeichnet wurde, anwesend waren. Dieser Niederschrift zufolge gab der Mitbeteiligte an, dass seine Eltern, zwei Brüder und drei Schwestern (weiterhin) im Herkunftsland lebten. In Österreich lebten sein Onkel (in Vöcklabruck) und ein etwa 17 Jahre alter Cousin (in Wien). Die Reise des Mitbeteiligten nach Österreich sei von seinem Vater organisiert worden. Österreich sei deswegen als Zielland ausgewählt worden, weil hier bereits der Onkel lebe. Der Mitbeteiligte sei mit einer anderen Familie aus Syrien ausgereist, die „alles erledigt“ hätte. Auf die Frage, was der Mitbeteiligte bei einer Rückkehr in seine Heimat befürchte, antwortete er, dass er Angst vor dem Krieg habe. Man sehe die Zerstörung und bekomme jeden Tag die Explosionen mit. Er wolle keine Waffen tragen und für niemanden kämpfen.

3 Am 16. März 2022 fand eine Befragung des Mitbeteiligten in Anwesenheit seines Onkels vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. Der Mitbeteiligte gab ‑ der darüber angefertigten Niederschrift zufolge ‑ an, dass er Syrien allein verlassen habe, weil sich sein Vater um die restliche Familie habe kümmern müssen. Er sei ausgereist, „um die Familie nachzuholen“. Soweit sich die Befragung auf eine etwaige Verfolgung im Herkunftsstaat bezog, gab der Mitbeteiligte an, nicht politisch tätig zu sein. Er habe keine Probleme wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit (als Kurde) oder seiner Religion (als sunnitischer Moslem). Er sei nie persönlich bedroht oder verfolgt worden. Es bestehe gegen ihn weder ein Haftbefehl noch eine Strafanzeige oder eine ähnliche Maßnahme. Es werde nach ihm auch nicht gefahndet. Aber er müsse in drei bis vier Jahren „zum Militärdienst“. Wegen dem Krieg „hätten sie“ ihn zum Militärdienst eingezogen. Es gebe keine Zukunft in Syrien. „Außerdem“ lebe seine Familie in Gefahr und er wolle diese zu sich holen. Die Menschen in Syrien seien arm und hätten Angst, „von IS oder Türkei angegriffen zu werden“. Von seinem Onkel (als Vertreter des Mitbeteiligten) wurde ergänzend angeführt, dass „die Kurden“ Kinder rekrutierten. Der Vater des Mitbeteiligten habe Angst, dass auch der Mitbeteiligte „von den Kurden“ rekrutiert werde. Auch der IS sei „in der Nähe“. „Sie“ rekrutierten auch Kinder und „machen mit ihnen Gehirnwäsche“. Es seien „die Kurden“ ‑ was aber der Mitbeteiligte gar nicht wisse ‑ bereits mehrmals bei dessen Vater gewesen und hätten jenen aufgefordert, den Mitbeteiligten „zur Ausbildung zu schicken“. Es würden „alle Kinder in diesem Alter“ aufgefordert.

4 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den vom Revisionswerber gestellten Antrag, soweit er damit die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten begehrt hatte, mit Bescheid vom 20. Juli 2022 gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab. Jedoch sprach die Behörde unter einem aus, dass ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte mit der Gültigkeit für ein Jahr erteilt werde.

5 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde, soweit ihm die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten versagt blieb. Er machte geltend, in drei bis vier Jahren zum Militärdienst eingezogen zu werden. Weiters verwies er auf Berichte, aus denen sich ergebe, dass in Syrien Kinder von Zwangsrekrutierungen „durch verschiedene Organisationen“ betroffen seien und der syrische Staat weder schutzfähig noch schutzwillig sei. Zudem würden Kinder vom syrischen Regime „wegen vermeintlicher Verbindungen zu bewaffneten Gruppen inhaftiert, vergewaltigt, gefoltert und exekutiert“. Es komme auch von Seiten der YPG zu Zwangsrekrutierungen. Besonders betroffen sei neben dem Nordwesten auch der Nordosten Syriens, woher der Mitbeteiligte stamme. Weiters machte der Mitbeteiligte in der Beschwerde (erstmals) geltend, dass ihm im Herkunftsstaat auch wegen der illegalen Ausreise und der Asylantragstellung sowie wegen der Teilnahme seines Onkels an Demonstrationen gegen das syrische Regime Verfolgung drohe.

6 Das Bundesverwaltungsgericht führte eine Verhandlung durch, in deren Rahmen der Mitbeteiligte ‑ im Beisein seines Onkels sowie eines von ihm bevollmächtigten Vertreters ‑ befragt wurde. Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis gab es der Beschwerde des Mitbeteiligten statt, erkannte diesem gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des Asylberechtigten zu und stellte gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 fest, dass diesem kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Weiters sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

7 In seiner Begründung ging das Bundesverwaltungsgericht ‑ soweit für das Revisionsverfahren von Interesse ‑ im Rahmen seiner Feststellungen davon aus, der Mitbeteiligte stamme aus der Stadt Amuda, Provinz Al Hasaka, die unter der Kontrolle der kurdischen Truppen stehe. In Syrien bestehe ein verpflichtender Wehrdienst für männliche Staatsbürger ab dem Alter von 18 Jahren. Der Mitbeteiligte sei im Zeitpunkt seiner Ausreise aus Syrien zwar noch nicht im wehrpflichtigen Alter gewesen. Er sei jedoch wehrdienstpflichtig. Er habe den Wehrdienst noch nicht abgeleistet und sei von diesem nicht befreit worden. Er könnte nur über Grenzübergänge, die in der Hand des syrischen Regimes seien, sicher und legal in seine Herkunftsregion Al Hasaka zurückkehren. Es bestehe das reale Risiko, dass er am Grenzkontrollposten verhaftet und dem Dienst als Grundwehrdiener zugeführt werde. Der Dienst als Grundwehrdiener sei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit dem Zwang zur Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen verbunden. Im Fall der Weigerung würde der Mitbeteiligte „zumindest“ mit einer mit Folter verbundenen Gefängnisstrafe belegt werden. Eine solche drohe ihm aber auch, weil er sich dem Dienst als Grundwehrdiener der syrischen Armee, was vom Regime als Ausdruck einer oppositionellen Gesinnung gesehen werde, entzogen habe. Ähnlich würde es ihm bei einer Verweigerung des Wehrdienstes „für die Kurden“ ergehen. Dem Mitbeteiligten drohten „in Syrien, wegen der Wehrdienstverweigerung unverhältnismäßig harte Strafen, die zwangsweise Einziehung in den Militärdienst der Regierung oder der Kurden, ein Einsatz im bewaffneten Konflikt, die Unterstellung der politischen Gegnerschaft zur Regierung bzw. den Interessen der Kurden, bei einer Verweigerung des Wehrdienstes bzw. deren Unterstützung sowie Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen zu werden“.

8 Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung beschäftigte sich das Bundesverwaltungsgericht sodann nur noch mit der Frage, welche Sanktionen oder Bestrafungsmaßnahmen bei Wehrdienstverweigerung und im Fall der Weigerung, Befehle während des Militärdienstes oder eines Einsatzes auszuführen, drohen könnten und ob diese aus dem Blickwinkel des Asylrechts von maßgeblicher Intensität seien.

9 Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision begründete das Bundesverwaltungsgericht mit der Verneinung der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG sowie mit dem Hinweis, dass „der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln“ sei.

10 Dagegen wendet sich die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingebrachte Revision, die vom Bundesverwaltungsgericht samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt wurde. Vom Verwaltungsgerichtshof wurde das Vorverfahren eingeleitet. Es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

12 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl macht zur Zulässigkeit der von ihm erhobenen Revision geltend, nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes komme es für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es stelle sich im vorliegenden Fall die Frage, ob es für die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz ausreichend sei, dass es als „absehbar“ zu werten sei, dass ein 12-Jähriger mit 18 Jahren zum Wehrdienst eingezogen werde. Der Mitbeteiligte sei erst 12 Jahre alt. Nach Ansicht der revisionswerbenden Behörde sei „zeitlicher Bezugspunkt“ der Zeitpunkt der Entscheidung. Es könne im vorliegenden Fall aufgrund des Zeitraumes von sechs Jahren, nach dessen Ablauf der Mitbeteiligte erst zum Wehrdienst eingezogen werden würde, keinesfalls von einem „absehbaren Zeitraum“ ausgegangen werden.

13 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet, weil das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.

14 § 3 AsylG 2005 lautet (auszugsweise und samt Überschrift):

„Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) ...

...

(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.“

15 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 21.5.2021, Ro 2020/19/0001; 28.3.2023, Ra 2023/20/0027).

16 Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (vgl. VwGH 2.2.2023, Ro 2022/18/0002, mwN).

17 Für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt es nicht bloß auf die tatsächliche politische Gesinnung an, auch die seitens der Verfolger dem Asylwerber unterstellte politische Gesinnung ist asylrechtlich relevant (vgl. dazu nochmals VwGH Ra 2023/20/0027, mwN).

18 Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche „Vorverfolgung“ für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. etwa VwGH 7.3.2023, Ra 2022/18/0284, mwN). Relevant kann also nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Erlassung der Entscheidung vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der „Asylentscheidung“ immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 19.10.2000, 98/20/0233, mwN; sowie jüngst unter Hinweis auf diese Entscheidung VfGH 27.2.2023, E 3307/2022).

19 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern könnte nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen (vgl. dazu nochmals VwGH Ra 2023/20/0027, mwN). Wie der Verwaltungsgerichtshof zur möglichen Asylrelevanz von Wehrdienstverweigerung näher ausgeführt hat, kann auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen ‑ wie etwa der Anwendung von Folter ‑ jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine „bloße“ Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (vgl. auch dazu VwGH Ra 2023/20/0027, mwN).

20 Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass der Mitbeteiligte bei Rückkehr in sein Heimatland von der syrischen Armee „am Grenzkontrollposten verhaftet und dem Dienst als Grundwehrdiener zugeführt werde“.

21 Den vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen zur Wehrpflicht und der Pflicht zur Absolvierung des Wehrdienstes ist betreffend das Alter von Wehrpflichtigen zu entnehmen, dass männliche syrische Staatsangehörige im Alter von 18 bis 42 Jahren zur Ableistung eines Wehrdienstes in der Dauer von zwei Jahren gesetzlich verpflichtet seien. Dies gelte vom 1. Jänner des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht werde, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren. Junge Männer in Syrien seien im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren werde man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten.

22 Der Mitbeteiligte war im Zeitpunkt der vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Entscheidung allerdings erst etwas mehr als 12 1/2 Jahre alt. Weshalb das Bundesverwaltungsgericht angesichts der angeführten Feststellungen davon ausgeht, der Mitbeteiligte sei bereits im Zeitpunkt seiner Entscheidung „militärdienstpflichtig“ und hätte bezogen auf diesen Zeitpunkt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, anlässlich einer Personenkontrolle durch die syrischen Streitkräfte zum Wehrdienst eingezogen zu werden, ist anhand seiner Entscheidung in keiner Weise nachvollziehbar.

23 Nach der dargestellten Rechtslage ist aber für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten maßgeblich, dass die Gefahr einer Verfolgung aktuell sein und sohin bei Erlassung der Entscheidung vorliegen muss. Hingegen ist ein lediglich in ferner Zukunft liegendes, theoretisch denkbares Szenario, bei dem zudem ohne nähere Begründung davon ausgegangen wird, dass eine in einem Staat im Zeitpunkt der Entscheidung gegebene Situation auch in ferner Zukunft unverändert weiterbestehen werde, für die Gewährung von Asyl nicht maßgeblich.

24 Da sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen der rechtlich von ihm gezogene Schluss nicht ableiten lässt, hat es schon deshalb seine Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Mit dem weiteren Vorbringen des Mitbeteiligten, er werde in seiner Herkunftsregion (vgl. zur Bedeutung der ‑ vorrangig vorzunehmenden ‑ Prüfung der Verfolgung in der Herkunftsregion sowie des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausführlich VwGH 25.5.2020, Ra 2019/19/0192; weiters aus jüngerer Zeit VwGH 3.1.2023, Ra 2022/01/0328; 9.3.2023, Ra 2022/20/0211; 9.3.2023, Ra 2022/20/0235) einer Zwangsrekrutierung als Kindersoldat unterliegen sowie er werde aufgrund seiner Ausreise und der Asylantragstellung und auch wegen Handlungen seines Onkels verfolgt, hat sich das Verwaltungsgericht ‑ weil es dies in Verkennung der Rechtslage für nicht erforderlich gehalten hat ‑ nicht weiter befasst. Im Besonderen ist darauf hinzuweisen, dass die zu Rekrutierungen von Minderjährigen vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen keine abschließende Aussage zulassen, ob davon ‑ im Besonderen in der Herkunftsregion des Mitbeteiligten ‑ auch Kinder, die sich im (hier maßgeblichen) Alter des Mitbeteiligten befinden, betroffen sind und ob ‑ wenn dies der Fall sein sollte ‑ ein Konnex zu einem in der GFK aufgezählten Grund herstellbar ist oder es sich bloß um willkürliche Zwangsakte handelt, vor deren Schutz die ‑ dem Mitbeteiligten ohnedies zuteil gewordene ‑ Gewährung subsidiären Schutzes dient.

25 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen ‑ vorrangig wahrzunehmender ‑ Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 23. Mai 2023

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