AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §18 Abs5
BFA-VG §19
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:I406.2280449.1.00
Spruch:
I406 2280449-1/4EI406 2280451-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gerhard KNITEL als Einzelrichter über die Beschwerde von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , und von 3. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Tunesien, der minderjährige Beschwerdeführer vertreten durch seine Eltern, alle vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH (BBU GmbH), Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 20.09.2023, Zlen. XXXX , XXXX und XXXX , zu Recht und beschließt:
A)
I. Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung wird als unzulässig zurückgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um eine dreiköpfige Familie aus Tunesien. Sie reisten illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 13.11.2022 Anträge auf internationalen Schutz, zu denen sie noch am selben Tag erstbefragt wurden.
Im Rahmen der von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes durchgeführten Erstbefragung gab der Erstbeschwerdeführer als Grund für die Ausreise aus Tunesien an, dass seine Familie ihn mit Gefängnis und Tod bedroht habe. Er habe einfach finanzielle Probleme in Tunesien. Er habe von einem Freund Geld ausgeliehen, das seien ca. 5.000 Dinar gewesen. Von anderen habe er sich 12.000 und 8.000 Dinar ausgeliehen. Er habe das Geld nicht zurückzahlen können. Die Familie seines Vaters mache nun Probleme. Er werde wahrscheinlich in Tunesien ins Gefängnis gehen oder vielleicht bringe ihn jemand um.
Die Zweitbeschwerdeführerin, die Ehefrau des Erstbeschwerdeführers, gab in ihrer Erstbefragung zu ihren Gründen für die Ausreise aus Tunesien an, dass ihr Mann dort Probleme in der Familie gehabt habe. Es sei da um das Erbe gegangen und er habe Schulden gehabt. Ihr Mann habe dann das Land verlassen und sie und ihr Sohn seien von der Familie bedroht worden. Auf die Frage, was sie bei einer Rückkehr in ihre Heimat befürchte, antwortete sie mit; „Keine Ahnung“.
2. Nachdem Abfragen aus dem Eurodac System ergaben, dass die Beschwerdeführer vor ihrer Einreise nach Österreich in Italien um Asyl ansuchten, ersuchte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Italien um Wiederaufnahme der Beschwerdeführer.
Mit Schreiben vom 19.12.2022 akzeptierte Italien das Ansuchen um Wiederaufnahme der Beschwerdeführer. Daraufhin vernahm das Bundesamt den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin am 03.01.2023 niederschriftlich ein und wies mit Bescheid vom 13.03.2023 die Asylanträge der Beschwerdeführer ohne in die Sache einzutreten als unzulässig zurück und ordnete gleichzeitig die Außerlandesbringung (nach Italien) an.
3. Nach (fruchtlosem) Ablauf der (Dublin-)Überstellungsfrist nach Italien wurde am 20.06.2023 das Asylverfahren der Beschwerdeführer in Österreich zugelassen.
4. Am 11.09.2023 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (erneut) niederschriftlich einvernommen.
Befragt zu seinen Gründen für die Asylantragstellung in Österreich erklärte der Erstbeschwerdeführer, Tunesien aufgrund seiner Schulden verlassen zu haben, derentwegen sei er bedroht worden. Ebenso habe er Probleme mit der Familie seines Vaters. Sein Onkel sei reich und habe Einfluss. Wegen diesem sei sein Bruder im Gefängnis. Er selbst sei auch deswegen im Gefängnis gewesen. Es habe einige Gerichtsverhandlungen gegeben, zu denen er erscheinen habe müssen. Er könne nicht nach Tunesien zurück. An anderer Stelle in der Einvernahme äußerte er zudem, seit zwei Monaten die Religion der Zeugen Jehovas zu studieren. Er habe eine E-Mail an die Caritas geschrieben, dass er die Religion der Christen studieren möchte. Ihm sei gesagt worden, er müsse zuerst Deutsch lernen.
Die Zweitbeschwerdeführerin schilderte, Tunesien verlassen zu haben, weil ihr Mann Probleme mit seiner Familie und anderen Personen gehabt habe, nachdem er von diesen Geld ausgeliehen habe und dieses nicht zurückzahlen habe können. Ihr Ehemann sei nach Italien gereist und danach seien diese Personen zu ihr gekommen. Sie habe Angst vor ihnen gehabt, ihr Ehemann habe ihnen Geld schuldet. Deswegen sei sie auch nach Italien gereist. Das sei (aber) nicht so wichtig, wichtiger sei, dass sie jetzt ihre Religion wechseln wollten. In Tunesien gäbe es nur den Islam und sie sei nicht so begeistert von diesem. Sie seien dabei zu konvertieren. Mitglieder der Zeugen Jehovas seien zu ihnen nach Hause gekommen und sie seien ins Gespräch gekommen. Sie würden sich das jetzt anschauen.
5. Mit den angefochtenen Bescheiden vom 20.09.2023 wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz jeweils hinsichtlich Asyl sowie subsidiären Schutz als unbegründet ab. Zugleich erteilte sie den Beschwerdeführern keine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz, erließ gegen sie jeweils eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Tunesien zulässig ist und keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht. Ferner erkannte die belangte Behörde einer Beschwerde gegen die Entscheidungen über die Anträge auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung ab.
6. Gegen diese Bescheide richtet sich die im vollen Umfang erhobene Beschwerde vom 20.10.2023, in welcher unter anderem ein Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gestellt wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu den Beschwerdeführern:
Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von Tunesien und gehören der Volksgruppe der Araber an. Ihre Identitäten stehen nicht fest.
Sie sind gesund und der Erstbeschwerdeführer ist arbeitsfähig.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind miteinander verheiratet und haben einen gemeinsamen Sohn, den im Jahr 2018 geborenen Drittbeschwerdeführer. Die Zweitbeschwerdeführerin ist derzeit schwanger und erwartet ein Kind.
Der Erstbeschwerdeführer stammt aus der Stadt XXXX , wo er geboren wurde und den größten Teil seines Lebens verbrachte. Zwischenzeitlich lebte er ca. sechs Jahre lang in Saudi-Arabien. In Tunesien absolvierte er eine Berufsreifeprüfung und arbeitete am Bau und in der Tourismusbranche. Er war auch als Hilfsarbeiter bei einer Firma tätig und betrieb ca. ein Jahr lang ein Café in XXXX . Nach der Corona Pandemie hatte er viele Schulden und schloss deswegen das Café. Seine Mutter, eine von seinen zwei Schwestern und einer von seinen beiden Brüdern halten sich derzeit in Frankreich auf. Seine zweite Schwester und sein zweiter Bruder, der zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, weil er mit Drogen gehandelt hat, sind nach wie vor in Tunesien.
Im Juli 2022 reiste der Erstbeschwerdeführer aus Tunesien aus und begab sich nach Italien.
Die Zweitbeschwerdeführerin stammt ebenso aus der Stadt XXXX . Sie besuchte drei Jahre lang eine Schule und arbeitete als Schneiderin. Ihre Eltern und ihre zwei Brüder leben in XXXX . Etwa zwei Monate nach der Ausreise ihres Mannes verließ sie gemeinsam mit ihrem Sohn ihren Herkunftsstaat.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Italien, wo die Beschwerdeführer um Asyl ansuchten, reisten sie weiter nach Österreich. Zumindest seit dem 13.11.2022 bzw. dem Tag der Asylantragstellung, halten sie sich durchgehend im Bundesgebiet auf.
Die Beschwerdeführer weisen in Österreich keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf.
Sie gingen bisher in Österreich keiner legalen und der Pflichtversicherung unterliegenden Erwerbstätigkeit nach und beziehen Leistungen von der staatlichen Grundversorgung.
Die Beschwerdeführer sind in Österreich nicht vorbestraft.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:
Die Beschwerdeführer haben Tunesien verlassen, weil sie die finanziellen Schulden des Erstbeschwerdeführers in Tunesien nicht zurückzahlen konnten und Probleme mit den Gläubigern und der Familie des Erstbeschwerdeführers hatten.
Außerdem beabsichtigen sie, vom islamischen Glauben zum Christentum bzw. zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas zu konvertieren.
1.3. Zur (auszugsweise wiedergegebenen) Lage im Herkunftsstaat (mit Angabe der Quellen), soweit sie für den vorliegenden Beschwerdefall von Relevanz sind:
Sicherheitslage
Letzte Änderung 2023-07-28 12:51
Die Sicherheitslage in Tunesien ist vor allem in den südlichen Wüstengebieten (Grenze zu Libyen und Algerien) angespannt, sowie entlang der Grenze zu Algerien im Westen des Landes, dort vor allem im Gebiet um den Jebel Chaambi westlich von Kasserine. Das Risiko von terroristischen Anschlägen ist weiterhin gegeben, es ist aber eine spürbare Verringerung in den letzten Jahren feststellbar. Das Jahr 2015 bildete mit drei großen Anschlägen einen Höhepunkt, seitdem und vor allem 2021 und 2022 kam es zu einer deutlichen Reduktion terroristischer Aktivitäten. Gefahr geht dabei vorwiegend von Rückkehrern aus, v. a. aus Libyen. Die Terrorismusbekämpfung und die Sicherheit an den Grenzen gehören somit weiterhin zu den wichtigsten Prioritäten der tunesischen Regierung. Die tunesischen Behörden haben eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um Terrorzellen zu zerschlagen, insbesondere wurde die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht. Die Zahl der Terroranschläge in Tunesien ist in der Folge in den letzten Jahren zurückgegangen, da sich die Sicherheitsstrukturen des Landes erheblich verbessert haben, was zu einer Stabilisierung der Lage geführt hat. Dies ist auch an statistischen Auswertungen des Global Terrorism Index der Jahre 2021 und 2022 ersichtlich (STDOK 11.4.2023).
Die von den bisherigen Regierungen angestrebte Verbesserung der Sicherheitslage im Inneren und der Kampf gegen den Terrorismus bleiben trotz vermehrter Anstrengungen und zahlreichen Verhaftungs- und Durchsuchungsaktionen weiter eine Herausforderung. Nach mehreren Anschlägen 2015 und einem schweren Angriff von IS-Milizen auf die Grenzstadt Ben Guerdane im März 2016 hat sich die Sicherheitslage zwar verbessert (AA 22.6.2023), bleibt jedoch besonders angespannt (AA 13.7.2023) und es kommt immer wieder zu Anschlägen (AA 22.6.2023). Mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz in diesen Regionen ist zu rechnen (AA 13.7.2023). Zuletzt im Mai 2023, verübte ein Angehöriger der maritimen Nationalgarde einen Anschlag während einer jüdischen Wallfahrt an der La Ghriba-Synagoge und tötet 5 Menschen (AA 22.6.2023).
Im Westen des Landes ist mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz zu rechnen, es kommt zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Terroristengruppen (BMEIA 5.6.2023).
Laut österreichischem Außenministerium gilt (für österreichische Staatsbürger) eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für die Saharagebiete, das Grenzgebiet zu Algerien und die westlichen Landesteile. Reisewarnungen bestehen für die Region südlich der Orte Tozeur – Douz – Ksar Ghilane – Tataouine – Zarzis. Mit gewaltsamen Aktionen terroristischer Organisationen ist zu rechnen. Das militärische Sperrgebiet an der Grenze zu Algerien in der Nähe des Berges Chaambi ist teilweise vermint und kann von den Sicherheitskräften kurzfristig ausgedehnt werden. Im Westen des Landes ist mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz zu rechnen; es finden bewaffnete Auseinandersetzungen mit Terroristengruppen statt (BMEIA 5.6.2023). Die Behörden haben insbesondere die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht, vor allem in den Touristenorten (EDA 9.5.2023; vgl. BMEIA 5.6.2023).
Im Juni 2022 wurden zwei Sicherheitskräfte bei einem Messerangriff im Zentrum von Tunis verletzt und bereits im Jänner kam es zu einem Messerangriff in einem Tram bei Tunis (EDA 9.5.2023).
Der nach der Attentatsserie von 2015 verhängte Ausnahmezustand ist nach wie vor in Kraft, wird regelmäßig verlängert und gilt im ganzen Land (AA 24.5.2023). Er gewährt den Sicherheitsbehörden einen erweiterten Handlungsspielraum, der von der Zivilgesellschaft kritisch beobachtet wird (ÖB 10.2022; vgl. FH 13.4.2023). Die Behörden verfügen somit über eine weitreichende Erlaubnis, die Bewegungsfreiheit von Einzelpersonen einzuschränken, und Tausende von Menschen sind von solchen Verfügungen betroffen (FH 13.4.2023). Mit vermehrten Polizeikontrollen ist landesweit zu rechnen (AA 13.7.2023).
Landesweit kommt es regelmäßig zu vor allem wirtschaftlich und sozial motivierten, oftmals spontanen Protesten, die nicht selten auch in Gewalt umschlagen. Gegen den Staatsumbau von Staatspräsident Saïed kam es im Laufe des Jahres 2022 und rund um die Parlamentswahlen zu Jahresbeginn 2023 zu regelmäßigen Protesten von Ennahdha und anderen Oppositionsparteien/-bündnissen, die jedoch friedlich blieben und derzeit merklich abgeflaut sind (AA 22.6.2023). Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften können dabei nicht ausgeschlossen werden (AA 13.7.2023).
Ferner besteht südlich, bzw. südöstlich in den Sperrzonen der Grenzgebiete zu Algerien und Libyen sowie abseits der Touristenzentren am Rande der Sahara ein erhöhtes Entführungsrisiko (BMEIA 5.6.2023; vgl. AA 13.7.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.7.2023): Tunesien: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tunesiensicherheit/219024 , Zugriff 13.7.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
BMEIA - Bunesministerium Europäische und internationale Angelegenheiten [Österreich] (5.6.2023): Tunesien (Tunesische Republik), https://www.bmeia.gv.at/reise-services/reiseinformation/land/tunesien/ , Zugriff 7.6.2023
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (9.5.2023): Reisehinweise für Tunesien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tunesien/reisehinweise-fuertunesien.html#eda931a7d , Zugriff 7.6.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
STDOK - Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (11.4.2023): Themenbericht intern: Nordafrika - Terrorismus in Ägypten, Libyen, Marokko und Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2090998/NAFR_THEM_Terrorismus_2023_04_11_KE.pdf , Zugriff 13.7.2023
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung 2023-07-28 13:35
Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor, aber die Regierung respektiert die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz nicht (USDOS 22.3.2023). Im September 2021 setzte Präsident Saïed die Verfassung von 2014 größtenteils außer Kraft und erteilte sich selbst nahezu unbegrenzte Befugnisse, um per Dekret zu regieren. Er nutzte diese Befugnis zur Konsolidierung der Macht im Jahr 2022, indem er eine Reihe von regressiven Reformen einführte und die Unabhängigkeit der Justiz untergrub (HRW 12.1.2023). Die nur langsam voranschreitende Justizreform war und ist eine der wichtigsten Säulen des tunesischen Transitionsprozesses. Das Programm zur Unterstützung der Justizreform (PARJ) dessen Finanzierungsvereinbarung den Reformprozess der Regierung erleichtern und die Rechtsstaatlichkeit in Tunesien stärken sollte, ist zum Stillstand gekommen. Zwischen den Prinzipien der Verfassung und den Gesetzen, die in Tunesien tatsächlich in Kraft sind, gibt es noch große Diskrepanzen (ÖB 10.2022). In der neuen Verfassung sind zwar viele Rechte verankert, doch wurden die für ihren Schutz erforderlichen Kontrollmechanismen ausgehebelt. Die Unabhängigkeit der Justiz und des Verfassungsgerichts wird nicht vollständig gewährleistet (HRW 12.1.2023).
Bereits im September 2021 setzte Präsident Saied die Verfassung von 2014 größtenteils außer Kraft und erteilte sich selbst nahezu unbegrenzte Befugnisse, um per Dekret zu regieren (HRW 12.1.2023). Ferner nutze Saïed diese Befugnisse und führte eine Reihe von regressiven Reformen ein, welche die Unabhängigkeit der Justiz untergruben. In der neuen Verfassung sind zwar viele Rechte verankert, doch werden die für ihren Schutz erforderlichen Kontrollmechanismen ausgehebelt. Die Unabhängigkeit der Justiz und des Verfassungsgerichts, das Tunesien erst noch einrichten muss, wird nicht vollständig gewährleistet (HRW 12.1.2023; vgl. AI 27.3.2023). Aktivisten der Zivilgesellschaft erklärten, dass das Versäumnis der Regierung, ein Verfassungsgericht einzurichten, das Land ohne Kontrolle der Exekutivgewalt und ohne eine unabhängige Instanz zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen, insbesondere in Bezug auf die Grundfreiheiten und die Rechte des Einzelnen, dastehen lässt (USDOS 20.3.2023). Die neue im August 2022 in Kraft getretene Verfassung stellt einen weiteren Schritt des Präsidenten Richtung Autoritarismus dar. Darüber hinaus untersagt die Verfassung Richtern zu streiken und schränkt damit ihr Recht auf friedliche Versammlung und Protest erheblich ein (ÖB 10.2022).
Die Regierungen und Gesetzgeber haben es jedoch wiederholt versäumt, den Verfassungsgerichtshof einzurichten, wie es die Verfassung von 2014 vorsieht; seine Aufgabe wäre es gewesen, die Verfassungsmäßigkeit von Verordnungen und Gesetzen zu bewerten. Das Fehlen eines solchen Gerichts wurde 2021 besonders problematisch, da es keinen maßgeblichen Mechanismus gab, um die Verfassungsmäßigkeit der Notstandsmaßnahmen von Saïed zu beurteilen (FH 13.4.2023). Die neue Verfassung enthält zwar Bestimmungen zur Schaffung eines solchen Gerichts, räumt aber dem Präsidenten das letzte Wort bei der Ernennung der Mitglieder ein (AI 27.3.2023).
Am 12.2.2022 löste Saïed den Obersten Justizrat (High Judicial Council- HJC) auf (USDOS 20.3.2023; vgl. HRW 12.1.2023, FH 13.4.2023). Der Oberste Justizrat war das höchste Gremium der tunesischen Justiz und überwachte die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten, ihre Disziplin und ihre berufliche Entwicklung. Präsident Saïed ersetzte den Obersten Justizrat durch ein provisorisches Gremium, das zum Teil vom Präsidenten ernannt wurde, und erteilte sich selbst die Befugnis, in die Ernennung, Laufbahn und Entlassung von Richtern und Staatsanwälten einzugreifen (HRW 12.1.2023). Präsident Kaïs Saïed hat sich dadurch weitgehende Einflussmöglichkeiten auf die Justiz gesichert (AA 22.6.2023).
Während die neue Verfassung sowohl den Obersten Justizrat als auch das Verfassungsgericht dem Namen nach beibehält, räumt sie dem Präsidenten die endgültige Befugnis zur Ernennung von Richtern auf Vorschlag des Obersten Justizrates ein, während die Charta von 2014 die Ernennungsempfehlungen des Obersten Justizrates für die Exekutive verbindlich gemacht hatte. Darüber hinaus wurde in der neuen Verfassung eine Klausel der Verfassung von 2014 gestrichen, die dem Verfassungsgerichtshof die Befugnis einräumte, über den Umfang der Befugnisse des Präsidenten zu entscheiden (FH 13.4.2023).
Am 1.7.2022 erließ Saïed ein Dekret, das die Unabhängigkeit der Justiz weiter aushöhlte (HRW 12.1.2023; vgl. AA 22.6.2023) und entließ einseitig 57 Richter, darunter den ehemaligen Präsidenten des Obersten Justizrats, nachdem er Korruptions- und andere Fehlverhaltensvorwürfe erhoben hatte, von denen Kritiker bezweifelten, dass sie tatsächlich begründet seien. Zivilgesellschaftliche Organisationen wiesen weitgehend Behauptungen zurück, die Entlassungen hätten irgendetwas mit Antikorruptionsbemühungen zu tun und behaupteten, die Entlassungen seien ein Vorwand gewesen, um freie Stellen in der Justiz mit Richtern zu besetzen, die den Präsidenten eindeutig unterstützen würden. Ab dem 6.6.2022 startete die Vereinigung tunesischer Richter (AMT) einen vierwöchigen landesweiten Streik aus Protest gegen die Entlassungen. Während des Streiks setzte das AMT Gerichtsverfahren außer in Fällen im Zusammenhang mit Terrorismus und Bestattungsgenehmigungen aus (USDOS 20.3.2023).
Am 25.7.2022 ordnete Präsident Saïed ein nationales Referendum über einen neuen Verfassungsentwurf an, der die Verfassung von 2014 ersetzen soll. Saïeds Verfassungsentwurf wurde von einem Gremium ausgearbeitet, dessen Mitglieder der Präsident selbst ernannte und das hinter verschlossenen Türen arbeitete und kaum oder gar keine Beiträge von anderen einholte. Der Entwurf wurde nur drei Wochen vor dem Referendum veröffentlicht, sodass praktisch keine Zeit für eine öffentliche Debatte blieb. Die neue Verfassung wurde am 26.7.2022 von 94,6 % der Wahlberechtigten angenommen, bei einer Wahlbeteiligung von nur 30,5 %. Sie trat am 17.8.2022 nach Bekanntgabe der endgültigen Ergebnisse in Kraft (HRW 12.1.2023).
Allerdings setzte das Verwaltungsgericht Tunis am 10.8.2022 die Entscheidung des Präsidenten in Bezug auf 49 der 57 Richter aus und ordnete ihre Wiedereinstellung an. Aber das Justizministerium weigerte sich, die Richter wieder einzustellen (HRW 12.1.2023; vgl. AI 27.3.2023).
Am 22.9.2022 fällte der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker ein wichtiges Urteil, in dem er feststellte, dass die von Saïed getroffenen außergewöhnlichen Maßnahmen unverhältnismäßig waren. Das Gericht ordnete die Aufhebung mehrerer Dekrete an, einschließlich des Dekrets, mit dem der größte Teil der Verfassung von 2014 außer Kraft gesetzt wurde, und ordnete die Einrichtung des Verfassungsgerichts innerhalb von zwei Jahren an (HRW 12.1.2023).
Dem Justizsystem mangelt es an Effizienz und Unabhängigkeit; lange Verfahrensdauer, mangelnde Beachtung der Prozedere und Kapazität haben einen Vertrauensverlust in der Bevölkerung zur Folge. Die heikle Sanierung in Richtung einer unabhängigen und professionellen Justiz ist dringend geboten, um Korruption und Steuerflucht effizient zu bekämpfen. Das Fehlen eines Verfassungsgerichtshofs wird auch international angeprangert (ÖB 10.2022).
Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist gesetzlich verankert, und die unabhängige Justiz setzt dieses Recht im Allgemeinen durch, obwohl sich Angeklagte darüber beschweren, dass die Behörden die gesetzlichen Bestimmungen über die Gerichtsverfahren nicht konsequent befolgen. Vor zivilen Gerichten haben Angeklagte das Recht auf die Unschuldsvermutung. Sie haben auch das Recht, einen Anwalt zu konsultieren oder auf öffentliche Kosten einen Anwalt stellen zu lassen, Zeugen und Beweise vorzulegen und Urteile gegen sie anzufechten. Das Gesetz schreibt vor, dass Angeklagte unverzüglich und detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert werden müssen, gegebenenfalls mit freier Auslegung. Sie müssen auch ausreichend Zeit und Gelegenheit erhalten, ihre Verteidigung vorzubereiten, und dürfen nicht gezwungen werden, auszusagen oder Schuld zu bekennen (USDOS 20.3.2023).
Die Militärgerichte verfolgten weiterhin Zivilisten, allerdings seltener als im Jahr 2021 (AI 27.3.2023). Militärgerichte sind befugt, Fälle zu verhandeln, in denen es um Angehörige der Sicherheits- oder Streitkräfte und Zivilisten geht, denen nationale Sicherheitsverbrechen oder Straftaten wie die Beleidigung des Präsidenten (als Oberbefehlshaber der Streitkräfte) oder anderer Militärangehöriger vorgeworfen werden. Berufungen gegen Entscheidungen der Militärgerichte, an denen Zivilisten beteiligt sind, werden vom Kassationsgericht, dem höchsten Berufungsgericht des Landes, verhandelt und sind Teil des zivilen Justizsystems (USDOS 20.3.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
AI - Amnesty International (27.6.2023): The Human Rights Council should address the rapidly growing human rights crisis in Tunisia, https://www.amnesty.org/en/wp-content/uploads/2023/06/MDE3069262023ENGLISH.pdf , Zugriff 9.7.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085505.html , Zugriff 30.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung 2023-07-28 13:35
Dem Innenministerium untersteht die Nationalpolizei und übt die Exekutivfunktion bzw. Strafverfolgung in Großstädten aus. Die Nationalgarde bzw. Gendarmerie übt die Exekutivfunktion in ländlichen Gebieten und kleineren Städten aus, patrouilliert dort und übernimmt die Grenzsicherung. Zivile Behörden kontrollieren den Sicherheitsapparat, wiewohl es weiterhin regelmäßig zu ungestraften Übergriffen durch die Sicherheitskräfte kommt (USDOS 20.3.2023; vgl. AI 27.3.2023, CIA 16.5.2023). Die Behörden haben es weitgehend versäumt, Angehörige der Sicherheitskräfte, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, zur Rechenschaft zu ziehen (AI 27.3.2023). Es gibt seit langem Beschwerden über Brutalität seitens der Polizei, wobei die Beamten beschuldigt werden, Zivilisten und Inhaftierte ungestraft zu misshandeln (FH 13.4.2023). Die Sicherheitskräfte unterbinden regelmäßig Demonstrationen, indem sie den Zugang zu bestimmten Orten blockieren und übermäßige Gewalt anwenden, um Demonstranten zu vertreiben (HRW 12.1.2023). Die Polizeigewerkschaften haben sich einer Reform widersetzt, mit der das Problem angegangen werden sollte (FH 13.4.2023). Die Regierung unternimmt Schritte, um gegen Beamte zu ermitteln, die mutmaßlich Übergriffe begangen haben, aber die diesbezüglichen Untersuchungen sind nicht transparent und es kommt häufig zu langen Verzögerungen und verfahrenstechnischen Hindernissen (USDOS 20.3.2023).
Der Sicherheitsapparat war unter dem Ben-Ali-Regime allgegenwärtig und sicherte dessen Machterhalt. Die Rolle der Sicherheitskräfte während des Umsturzes aber teilweise auch bei gewaltsam aufgelösten Demonstrationen gegen die ersten beiden Interimsregierungen im Frühjahr 2011 vertieften den Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber den Sicherheitsorganen, insbesondere der Polizei und den Sondereinheiten des Innenministeriums. Zwar wurde die Geheimpolizei („police politique“) aufgelöst, allerdings steht eine umfassende Reform des Innenministeriums und der nachgeordneten Behörden bis heute aus. Die Sicherheitskräfte stehen immer wieder in der Kritik; es mangelt an Transparenz, zudem hält die Straflosigkeit für Vergehen der Sicherheitskräfte an (AA 22.6.2023).
Das Militär genießt aufgrund seiner zurückhaltenden Rolle während der Revolution 2011 ein sehr hohes Ansehen in der Bevölkerung, welches bis dato anhält. Durch die derzeit starke Einbindung des Militärs in den Antiterrorkampf als auch bei der Sicherung der Grenzen (so ist z. B. der Süden Tunesiens militärische Sperrzone) ist das Militär nach wie vor wichtiger Stützpfeiler der äußeren, aber auch der inneren Sicherheit (AA 22.6.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
AI - Amnesty International (27.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; The State of the World's Human Rights; Tunisia 2022, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089657.html , Zugriff 9.7.2023
CIA - Central Intelligence Agency [USA] (21.6.2023): The World Factbook, Tunisia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/tunisia/ , Zugriff 30.6.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085505.html , Zugriff 30.5.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2023-07-31 06:56
Seit Beginn des von Präsident Kaïs Saïed vorangetriebenen Staatsumbaus („Prozess des 25. Juli“) ist beim Menschenrechtsschutz eine Trendumkehr zu verzeichnen. Insbesondere seit Jahresbeginn 2023 hat sich die Lage nochmals deutlich verschlechtert (AA 22.6.2023). Die Bedrohung der Meinungsfreiheit, die Schwächung der Zivilgesellschaft, die Schikanierung von Menschenrechtsaktivisten, die offenkundige Einmischung der Exekutive in Gerichtsverfahren, deren Instrumentalisierung mit dem Ziel, dem politischen Pluralismus ein Ende zu setzen, und die Umsetzung mehrerer Initiativen, die einseitig im Rahmen von Ausnahmemaßnahmen ergriffen wurden, verzerren den demokratischen Prozess zusätzlich. Das autoritäre Regime von Präsident Kais Saïed hat sich in eine Paranoia verwandelt, die bisher nur verbal war und von ihm in zahlreichen öffentlichen Reden verbreitet wurde. Es kommt zu einer Zunahme von Verhaftungen und der Schweigepflicht für die Opposition, ferner kommt es auch zu einem schrumpfenden Spielraum für die Zivilgesellschaft und die Einführung von Gesetzen, die jegliche Kritik verbieten (EMHRN 26.5.2023).
Die neue Verfassung vom 25.7.2022 hat die seit 2011 hart errungene, aber seit Jahren krisengeplagte parlamentarische Demokratie Tunesiens in ein hyper-präsidentielles System umgebaut: nahezu vollständige Machtkonzentration auf den Staatspräsidenten, Schwächung des Parlaments, Fehlen institutioneller „checks and balances“ zur Einhegung der Macht des Präsidenten, zudem zahlreiche mögliche Einfallstore für die Einschränkung von Grundrechten, obgleich diese weitgehend wortgleich aus der Verfassung von 2014 in die übernommen wurden. Dies ist jedoch nur die Papierform, in der Praxis sind die Menschenrechte und insbesondere die politischen und bürgerlichen Rechte und Freiheiten in Tunesien immer stärker unter Druck (AA 22.6.2023).
Tunesien hat somit die meisten Konventionen der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte einschließlich der entsprechenden Zusatzprotokolle ratifiziert und bestehende Vorbehalte größtenteils zurückgezogen. Die Umsetzung der Konventionen in nationales Recht dauern weiterhin an. Das zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe (OP2-ICCPR) wurde bislang nicht signiert (AA 22.6.2023).
Der zur Erleichterung der Terrorabwehr seit November 2015 immer wieder verlängerte Ausnahmezustand (auf Grundlage eines Dekrets von 1978) gestattet den Sicherheitsbehörden nicht nur weitreichende Eingriffe in die Bewegungsfreiheit, sondern dadurch auch mittelbar in weitere Grundrechte. Zuletzt wurde der Ausnahmezustand am 1.2.2023 durch Präsidialdekret bis Jahresende 2023 verlängert (AA 22.6.2023).
Am 17.8.2022 trat eine neue Verfassung in Kraft, die nach dem Referendum am 25.7.2022 von den Wählern angenommen worden war. Die Verfassung spricht Präsident Kaïs Saïed zunehmend autoritäre Entscheidungskraft zu, schränkt die Gewaltentrennung substanziell ein und wurde so gut wie im Alleingang vom Präsidenten erstellt. Der Vorgang zeichnete sich durch Intransparenz und Missachtung des Rechts der Öffentlichkeit, Informationen darüber einzuholen, aus. Die Einschränkungen bei der Durchsetzung von Menschenrechten seit dem Ausrufen des Ausnahmezustands als Antwort auf die Terroranschläge 2015 werden nun durch die neue Verfassung weiter vertieft. Die Verfassung beinhaltet zwar unterschiedlichste Menschenrechtsbestimmungen im Kapitel „Rechte und Freiheiten“, hat jedoch jegliche Referenz zu universellen Menschenrechten in der Präambel verloren und schränkt die institutionelle Garantie für Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Menschenrechte im Vergleich zur Verfassung von 2014 erheblich ein. Die neue Verfassung räumt dem Präsidenten weitreichende Notstandsbefugnisse ohne den erforderlichen Kontrollmechanismus ein, die zur Beschneidung der Menschenrechte und zur Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit genutzt werden können. Darüber hinaus untergräbt die neue Verfassung die Garantien für die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts, einer wichtigen Institution für den Schutz der Menschenrechte, und schränkt dessen Mandat ein, indem sie ihm die Kontrolle über die Verfassungsmäßigkeit der Verlängerung des Ausnahmezustands entzieht. Die Rechte auf persönliche Freiheit, auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sind aufgrund von Verlängerungen des Ausnahmezustands teilweise noch immer eingeschränkt. Der Tatbestand der "Gefährdung der öffentlichen Moral" gilt weiterhin, ebenso wie immer wieder Fälle von Folter angeprangert werden. Zudem fehlt ein verfassungsrechtliches Höchstgericht (ÖB 10.2022).
Zu den wesentlichen Menschenrechtsproblemen gehören glaubwürdige Berichte über Folter durch Regierungsagenten; willkürliche Festnahmen oder Inhaftierungen; schwerwiegende Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Medienfreiheit, einschließlich Verhaftungen oder strafrechtlicher Verfolgung von Journalisten, Zensur oder Durchsetzung oder Androhung der Durchsetzung von strafrechtlichen Verleumdungsgesetzen zur Einschränkung der Meinungsäußerung; Korruption in der Regierung; Diskriminierung und gesellschaftlicher Missbrauch; Straftaten mit Gewalt oder Androhung von Gewalt gegen sexuelle Minderheiten; wie auch Gesetze, die einvernehmliches gleichgeschlechtliches Sexualverhalten zwischen Erwachsenen unter Strafe stellen, und die Durchsetzung dieser Gesetze; und die schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Die Regierung ergriff Schritte, um gegen Beamte zu ermitteln, die mutmaßlich Missbräuche begangen haben. Den Ermittlungen zu Missbräuchen durch Polizei, Sicherheitskräfte und Beamte der Haftanstalten mangelte es jedoch an Transparenz und es kommt häufig zu langen Verzögerungen und verfahrenstechnischen Hindernissen. Auch den hochkarätigen Ermittlungen gegen ehemalige Regierungsbeamte, Parlamentsabgeordnete und Geschäftsleute wegen Korruptionsvorwürfen mangelte es an Transparenz (USDOS 20.3.2023).
Menschenrechtsorganisationen konstatieren in vielen Bereichen wie der Normsetzung, Respekt für und Durchsetzung von Menschenrechten sowie der Offenheit der Regierung für Konsultationen mit der Zivilgesellschaft und den Opfern von Menschenrechtsverletzungen einen negativen Trend, der schon vor der politischen Krise im Sommer 2021 spürbar war, sich seither aber merklich verstärkt hat (AA 22.6.2023).
2014 richtete Tunesien eine Kommission für Wahrheit und Würde (IVD) ein, um die seit 1956 begangenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verbrechen zu untersuchen. Anfang 2018 stimmte das Parlament gegen eine Verlängerung des Mandats der Kommission, eine Entscheidung, die von Rechtsaktivisten als Schwächung der Bemühungen um eine Übergangsjustiz kritisiert wurde. Die Kommission legte ihren Abschlussbericht 2019 vor und veröffentlichte ihn offiziell 2020. Er stützt sich auf mehr als 62 000 Beschwerden tunesischer Bürger gegen den Staat wegen Menschenrechtsverletzungen. Tunesische Gerichte begannen mit der Prüfung von 69 Anklagen und 131 Verweisen der IVD, aber die Notstandsmaßnahmen des Präsidenten im Jahr 2021 schufen Unsicherheit über die Zukunft des Prozesses der Übergangsjustiz (FH 13.4.2023). Die Empfehlungen der IVD zur Umsetzung wichtiger institutioneller Reformen bleiben unerfüllt. Nichtsdestotrotz war sie eine relevante Instanz bei der Sichtbarmachung der Rolle der ehemaligen Präsidenten sowie anderer hochrangiger Beamter bei Folter, willkürlichen Inhaftierung und vielen anderen Misshandlungen. Am 31.12.2021 endete das Mandat der Kommission (ÖB 10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
EMHRN - EuroMed Rights (ehemals: Euro-Mediterranean Human Rights Network, EMHRN) (26.5.2023): Human rights and the rule of law in Tunisia: the slide continues, https://euromedrights.org/publication/human-rights-and-the-rule-of-law-in-tunisia-the-slide-continues/ , Zugriff 21.7.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Religionsfreiheit
Letzte Änderung 2023-07-31 15:26
98-99 % der Bevölkerung sind Muslime – mehr oder weniger praktizierend. Die meisten sind Sunniten. Neben Muslimen leben in Tunesien rund 25.000 Christen (zum Großteil Katholiken), wobei die Gemeinden zum Großteil aus ausländischen Bürgern bestehen, und 1.500 Juden (CIA 13.7.2023; vgl. USDOS 20.3.2023, AA 22.6.2023). Des Weiteren gibt es noch Schiiten und Baha’i (CIA 13.7.2023; vgl. USDOS 15.5.2023). Bis zur Revolution im Jänner 2011 konnte der Islam über die Befolgung der grundlegenden muslimischen Riten hinaus kaum gesellschaftliche und politische Aktivitäten entfalten. Außerhalb der Gebetszeiten blieben die Moscheen geschlossen. Zudem wurden die Freitagspredigten sowie alle religiösen Gemeinschaften vom Staat überwacht. Mit der Revolution ist der Islam im gesellschaftlichen und politischen Leben des Landes allmählich immer sichtbarer geworden (AA 22.6.2023).
Der Islam ist offizielle Religion Tunesiens und der Staatspräsident muss laut Verfassung von 2022 Muslim sein. Die neue Verfassung, die in einem Referendum am 25.7.2022 angenommen wurde und im August in Kraft trat, verlangt vom Staat, die Ziele des Islam zu unterstützen und voranzutreiben, und sieht vor, dass „Tunesien Teil der islamischen Umma [Gemeinschaft oder Nation] ist“. Der Staat muss daran arbeiten, die Ziele des Islam zu erreichen und Leben, Ehre, Eigentum, Religion und Freiheit zu bewahren. In der Verfassung heißt es außerdem, dass dies im Rahmen eines demokratischen Systems geschehen wird. Die Verfassung besagt, dass sie Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Freiheit der Religionsausübung garantiert (USDOS 15.5.2023). Mit der neuen Verfassung von 2022 kam es zu einigen Änderungen. Dabei wurde beispielsweise Tunesien nicht mehr, als ein Staat dessen Religion der Islam ist genannt, sondern als zugehörig zu einer Umma, deren Religion der Islam ist. Zur Erklärung, die Umma ist die Weltgemeinschaft der Muslime. Dieser Bezug auf die Religion und die Ziele des Islams in der Verfassung, gepaart mit der Streichung des Hinweises auf den zivilen Charakter des Staates stellen eine Gefahr für die Freiheiten dar, argumentieren viele NGOs (ÖB 10.2022).
Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird in Tunesien mit gewissen Einschränkungen gewährt (AA 22.6.2023). Die Verfassung reflektiert das herrschende Gleichgewicht zwischen religiösem und säkularem Lager in Gesellschaft und Politik: Der Islam ist als Religion des Landes anerkannt, aber die islamische Scharia wurde nicht in der Verfassung verankert. Ein ziviler Staat ist die Grundlage der Verfassung, in der ausdrücklich auf die universellen Menschenrechte Bezug genommen wird (AA 22.6.2023; vgl. USDOS 15.5.2023).
Juden und Christen werden als gleichberechtigte Bürger akzeptiert (BS 2022). Medienberichten zufolge wurden am 9.5.2023 mehrere jüdische Personen bei einem Angriff auf die El Ghriba-Synagoge in Djerba getötet, weitere verletzt (BAMF 15.5.2023; vgl. DW 14.5.2023). Staatspräsident Kaïs Saïed betonte trotz anderslautender Vorwürfe, sein Land sei weiterhin sicher für Menschen jüdischen Glaubens und der Fall werde untersucht (BAMF 15.5.2023).
Es ist rechtlich möglich, vom Islam zum Christentum zu konvertieren. Missionierung und das Verteilen religiösen Materials sind der katholischen Kirche jedoch verboten (AA 22.6.2023). Es gibt erheblichen gesellschaftlichen Druck gegen die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion (USDOS 15.5.2023). Tunesische Konvertiten (einige hundert im Land) werden innerhalb ihres sozialen und familiären Umfelds zwar zunächst häufig geächtet, mittelfristig aber gesellschaftlich wieder akzeptiert und integriert (AA 22.6.2023); Konvertiten werden häufig schikaniert und diskriminiert (FH 13.4.2023; vgl. USDOS 15.5.2023). Laut NGO Minority Rights Group International (MRGI) berichten Organisationen der Zivilgesellschaft, dass die Zahl muslimischer Konvertiten zum Christentum zunimmt, die gesellschaftlichen Tabus jedoch nach wie vor so stark und weit verbreitet seien, dass diese Personen ihre Konvertierungen im Allgemeinen lieber geheim hielten. Ferner berichten Christen, dass Familienmitglieder Konvertiten häufig beschuldigen, „Schande“ über die Familie zu bringen (USDOS 15.5.2023).
Religiöse Minderheitengruppen berichteten im Laufe des Jahres von extremen Verwaltungsverzögerungen und mangelnder Reaktion der Regierung bei der Bearbeitung ihrer Anträge auf eine Rechtsvereinigung; einige Anträge reichen bis ins Jahr 2017 zurück (USDOS 20.3.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (15.5.2023): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw20-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 7.6.2023
BS - Bertelsmann Stiftung (2022): Tunesien Country Report 2022, https://bti-project.org/de/reports/country-report/TUN , Zugriff 27.7.20 23
CIA - Central Intelligence Agency [USA] (13.7.2023): The World Factbook, Tunisia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/tunisia/ , Zugriff 21.7.2023
DW - Deutsche Welle (14.5.2023): Tunesien: Djerba: Die tödlichen Schüsse vor der Synagoge, https://www.dw.com/de/djerba-die-t%C3%B6dlichen-sch%C3%Bcsse-vor-der-synagoge/a-65604859 , Zugriff 30.5.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.20 23
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
USDOS - US Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2091916.html , Zugriff 30.5.2023
Relevante Bevölkerungsgruppen
FRAUEN
Letzte Änderung 2023-08-02 14:14
Frauen sind seit der Unabhängigkeit Tunesiens mit der Einführung des fortschrittlichen Personenstandsgesetzes von 1957 Männern rechtlich weitgehend gleichgestellt (AA 22.6.2023; vgl. ÖB 10.2022), wobei jedoch keine vollständige Gleichheit vor dem Gesetz gegeben ist (ÖB 10.2022). Eine dieser Ausnahmen stellt das Erbrecht dar (AA 22.6.2023; vgl. ÖB 10.2022).
Unter Beibehaltung einiger Bestimmungen der Verfassung von 2014 legt die Verfassung von 2022 fest, dass Frauen und Männer "in Bezug auf Rechte und Pflichten gleich sind und ohne jegliche Diskriminierung vor dem Gesetz gleich sind", und verpflichtet den Staat, Maßnahmen zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen zu ergreifen. Mit der Verfassung von 2022 wurde jedoch eine neue Bestimmung eingeführt, die besagt, dass "Tunesien Teil der islamischen Umma [Gemeinschaft/Nation] ist" und dass die Verwirklichung der Ziele des Islams eine Aufgabe des Staates ist (Artikel 5). Solche Bestimmungen könnten dazu dienen, die Einschränkung von Rechten, insbesondere der Rechte von Frauen, auf der Grundlage der Auslegung religiöser Gebote zu rechtfertigen, wie es auch andere Staaten in der Region getan haben (HRW 12.1.2023). Obwohl die Verfassung die Gleichstellung der Geschlechter garantiert, werden Frauen in der Arbeitswelt diskriminiert, und sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum ist weiterhin weit verbreitet (FH 13.4.2023).
Das tunesische Recht diskriminiert Frauen bei Erbschaftsangelegenheiten (USDOS 20.3.2023). Nach geltendem Recht erhalten Frauen nur die Hälfte des Anteils an der Erbschaft, den Männer erhalten, und die Bemühungen um eine Gleichstellung der Geschlechter bei den Erbschaftsrechten sind im Parlament nicht vorangekommen (FH 13.4.2023). Der für Konservativismus bekannte Präsident Kaïs Saïed sendet hinsichtlich seiner Einstellung zu Frauenrechten widersprüchliche Signale aus. Einerseits spricht er sich ausdrücklich gegen eine Gleichstellung im Erbrecht aus, andererseits ernannte er die erste Regierungschefin im arabischen Raum und besetzte ein Drittel der Ministerposten mit Frauen (ÖB 10.2022).
Dennoch ist die neue Verfassung Tunesiens im Vergleich zu anderen arabischen oder muslimischen Ländern in Bezug auf Frauenrechte ein Musterbeispiel. Die Gleichstellung der Frau sowie eine Mindestquote im Parlament wurden sichergestellt (ÖB 10.2022). Es gibt keine Gesetze, das die Beteiligung von Frauen am politischen Prozess einschränkt, und sie beteiligen sich (USDOS 20.3.2023). Mit dem am 15.9.2022 erlassenen Gesetzesdekret 2022-55 wurde das tunesische Wahlgesetz geändert, um Bestimmungen aufzuheben, die unter anderem die Vertretung von Frauen im Parlament fördern sollten. Zuvor sah das Gesetz vor, dass die Kandidatenlisten für die Parlamentswahlen eine gleiche Anzahl von Männern und Frauen enthalten mussten. Nach dem geänderten Gesetz werden die Tunesier die Abgeordneten einzeln wählen, ohne dass eine paritätische Vertretung der Geschlechter unter den Kandidaten gewährleistet ist (AI 27.3.2023).
Mit dem Wahlgesetz vom September 2022 wurde die Quote von 2017 für weibliche und junge Kandidaten abgeschafft, was zu einem deutlichen Rückgang der weiblichen Kandidaten bei den Parlamentswahlen im Dezember 2022 führte. Nach Angaben der International Foundation for Electoral Systems wurden im ersten Wahlgang 23 Kandidaten gewählt, davon drei Frauen. Für die zweite Runde waren 262 Kandidaten vorgesehen, darunter 34 Frauen (13 %) und 228 Männer (87 %) (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 13.4.2023), 4 % waren 35 Jahre oder jünger, und zwei waren Menschen mit Behinderungen (FH 13.4.2023).
Das Gesetz gegen gewalttätige Übergriffe in der Ehe und Familie wurde Ende Juli 2017 einstimmig verabschiedet. Zudem wurde die Verpflichtung des Staates zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen ausdrücklich hinzugefügt. Erstmals werden die Opfer von häuslicher Gewalt unter Schutz gestellt. Das neue Gesetz erkennt körperliche, moralische und sexuelle Gewalt gleichermaßen an (ÖB 10.2022). Die Behörden sind jedoch weiterhin nicht in der Lage angemessene Ressourcen und Schulungen bereitzustellen, um Meldungen von Missbrauch zu untersuchen und gefährdeten Frauen Schutz zu bieten (AI 27.3.2023). Dieses 2018 in Kraft getretene Gesetz zur Verhütung von Gewalt, einschließlich politischer Gewalt, gegen Frauen und Mädchen verpflichtet den Staat zu umfangreichen Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Schutz und Nachsorge für Opfer sowie Bestrafung von Tätern (AA 22.6.2023). Die Umsetzung des Gesetzes wurde durch Unzulänglichkeiten behindert, darunter mangelndes Bewusstsein für seine Bestimmungen, ein Mangel an geschulten Beauftragten für die Bearbeitung von Beschwerden, Druck auf Frauen durch einige Beauftragte, misshandelnde Ehemänner nicht vor Gericht zu bringen, und logistische Hindernisse für die Anzeige von Missbrauch. Im Jahr 2022 wurden weiterhin aufsehenerregende Fälle von Femizid im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt gemeldet (FH 13.4.2023). Frauen bleiben somit weiterhin häuslicher Gewalt und anderen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Frauenrechtsgruppen berichteten, dass es keine aktuellen offiziellen Statistiken über gemeldete Tötungen und andere Gewalt gegen Frauen gibt (AI 27.3.2023; vgl. USDOS 20.3.2023). Oft scheitert man immer noch an einer effektiven Gewaltprävention und an ausreichend Schutz für besonders vulnerable Frauen (ÖB 10.2022).
Das Ministerium für Frauen, Familie und Senioren ging Beschwerden über häusliche Gewalt nach und arbeitet auch mit der Zivilgesellschaft zusammen, um das Bewusstsein für das Gesetz zu schärfen und die Zivilgesellschaft dabei zu unterstützen, Frauen an Unterstützungsdienste zu vermitteln. Die Nationale Beobachtungsstelle für Gewalt gegen Frauen betrieb eine Hotline, die Opfer von Gewalt in der Familie weitervermittelt und unterstützt. Das Ministerium für Frauenangelegenheiten entwickelte eine digitale Plattform mit Ressourcen für die Unterstützung und verstärkte die Nachverfolgung und Intervention für die Opfer (USDOS 20.3.2023).
Das Innenministerium betreibt 127 Spezialeinheiten in Polizeistationen im ganzen Land, die mit der Untersuchung von Gewaltverbrechen gegen Frauen betraut sind. Das Justizministerium verfolgte Fälle von Gewalt gegen Frauen und sammelte Informationen über die Fälle in den einzelnen Gerichten, veröffentlichte diese Informationen jedoch nicht. Im August 2022 gab die Frauenministerin Amel Moussa bekannt, dass die Zahl der gemeldeten Fälle von Gewalt gegen Frauen von 15.000 im Jahr 2021 auf 7.500 im gleichen Zeitraum dieses Jahres zurückgegangen sei. Die Ministerin bewertete den Rückgang als Folge des ihrer Meinung nach beispiellosen Anstiegs der Fälle von Gewalt gegen Frauen während der COVID-19-Maßnahman im Jahr 2021 (USDOS 20.3.2023).
Obwohl Vergewaltigung, auch innerhalb der Ehe, gesetzlich verboten ist, bleibt dieses Vergehen ein ernstes Problem. Gewalt gegen Frauen bleibt weit verbreitet und systemisch. Opfer von Vergewaltigungen werden oft durch das herrschende Tabu und sozialen Druck davon abgehalten, Übergriffe zu melden. Frauen können jedoch eine einstweilige Verfügung erwirken, ohne ein Strafverfahren einleiten oder die Scheidung einreichen zu müssen. Das Ministerium für Frauen, Familie und Senioren verfolgt Beschwerden über häusliche Gewalt und arbeitet mit der Zivilgesellschaft zusammen, um das Bewusstsein für das Gesetz zu schärfen und die Frauen mit verfügbaren Unterstützungsdiensten in Kontakt zu bringen. Das Ministerium betreibt eine nationale Hotline für Opfer von Gewalt in der Familie (USDOS 20.3.2023).
2019 wurde unter dem Hashtag „EnaZeda“ durch die tunesische MeToo-Bewegung zunehmend auf Fälle von sexueller Belästigung, insbesondere durch Politiker, aufmerksam gemacht. Auch Fälle von sexueller Belästigung in Schulen wurden öffentlich diskutiert (AA 22.6.2023). Das Gesetz stellt sexuelle Belästigung unter Strafe und sieht für eine Verurteilung eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren und eine hohe Geldstrafe vor (USDOS 20.3.2023).
Das für die arabische Welt als sehr progressiv geltende Personenstandsgesetz vom 13.8.1956 (Code du Statut Personal CSP), gewährt weitreichende jedoch keine vollständige Gleichheit vor dem Gesetz. Der einseitige Verstoß aus dem Familienverband ist durch die richterliche Scheidung ersetzt und die Polygamie abgeschafft, aber innerhalb des Familienverbandes bleibt die patriarchale Struktur bestehen, wie z. B. die elterliche Autorität, die Wahl des Wohnsitzes durch den Ehemann oder die Ungleichheiten im Erbrecht etc. (ÖB 10.2022).
Frauen können die Scheidung einreichen und Unterhaltsansprüche gerichtlich geltend machen (AA 22.6.2023). Weitere gesetzliche Reformen betrafen u.a. Ungleichstellung zwischen Mann und Frau in Bezug auf die elterliche Obsorge: Seit 2015 wird es Frauen ermöglicht, ohne väterliche Genehmigung mit ihren minderjährigen Kindern ins Ausland zu reisen. Es wird jedoch zwischen Sorgerecht und gesetzlicher Vormundschaft unterschieden, Letztere obliegt allein dem Vater als Familienoberhaupt (Art.23(4) CPS) und muss nach dessen Ableben von einem männlichen Familienmitglied übernommen werden (Art.154 CPS) (ÖB 10.2022).
Die Stimme einer Frau als Zeugin in einem Gerichtsverfahren hat dasselbe Gewicht wie die eines Mannes. Eine vom ehemaligen Staatspräsidenten eingesetzte Expertenkommission für Gleichheit und individuelle Freiheiten (COLIBE) hat 2018 umfassende Vorschläge zur vollständigen rechtlichen Gleichstellung von Frauen und Männern erarbeitet. Seither gab es in der Frage mangels politischen Konsenses aber keine Fortschritte. Vor allem das Erbrecht bleibt umstritten: Während progressive Kräfte grundsätzlich gleiche Erbteile für Söhne und Töchter fordern und in der Praxis Erblasserinnen und Erblassern die Möglichkeit lassen, testamentarisch abweichende Regelungen zu treffen, setzen sich islamisch-konservative Kreise für eine Umkehrung dieses Grundsatzes ein. Weitere von der Expertenkommission vorgeschlagene familienrechtliche Reformen zur Förderung der Geschlechtergerechtigkeit, wie z.B. die Abschaffung der hergebrachten Definition des Ehemannes als Familienoberhaupt, haben bislang noch keinen Eingang in konkrete Gesetzesinitiativen gefunden (AA 22.6.2023). Ferner hob das Justizministerium im September 2017 ein Dekret auf, das tunesischen Frauen verboten hatte, nicht-muslimische Männer zu heiraten (ÖB 10.2022).
Die Verfassung verbietet jede Form von Diskriminierung am Arbeitsplatz. Gesellschaftliche, rechtliche und kulturelle Barrieren verringern jedoch die Beteiligung von Frauen am formellen Arbeitsmarkt, insbesondere in Führungspositionen, erheblich. Das Gesetz zur geschlechtsspezifischen Gewalt enthält Bestimmungen zur Beseitigung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles. Das Gesetz schreibt ausdrücklich gleichen Lohn für gleiche Arbeit vor und die Regierung setzte dies im Allgemeinen durch Geldstrafen durch (USDOS 20.3.2023). Obwohl die Verfassung die Gleichstellung der Geschlechter garantiert, werden Frauen in der Arbeitswelt diskriminiert, und sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum ist nach wie vor weit verbreitet. Frauen arbeiten oft lange, ohne Verträge, Sozialleistungen oder Rechtsmittel, und viele sind am Weg zur Arbeit Berichten zufolge gefährlichen Bedingungen ausgesetzt. Fälle von Ausbeutung in der Landwirtschaft und im Textilsektor sind weit verbreitet; Frauen arbeiten oft in langem Ausmaß ohne Verträge, Leistungen oder Rechtsmittel (FH 13.4.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
AI - Amnesty International (27.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; The State of the World's Human Rights; Tunisia 2022, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089657.html , Zugriff 30.5.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085505.html , Zugriff 30.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
KINDER
Letzte Änderung 2023-08-02 14:19
In Tunesien erhalten Kinder per Geburt die Staatsbürgerschaft von den Eltern (USDOS 20.3.2023).
Artikel 52 der Verfassung garantiert Kindern gegenüber ihren Eltern und dem Staat das Recht auf Würde, Gesundheit, Versorgung, Erziehung und Bildung. Der Staat verpflichtet sich darüber hinaus zum Schutz von Kindern "ohne Diskriminierung und im Einklang mit dem Kindeswohl" (AA 22.6.2023). 27 % der Tunesier sind unter 18 Jahre alt. Die Armutsrate unter Kindern betrug 2020 ca. 21,2 % (ÖB 10.2022).
Das Gesetz stellt Kindesmissbrauch unter Strafe. Zivilgesellschaftliche Organisationen berichteten, dass Kindesmissbrauch weit verbreitet sei und vor allem zu Hause und in Schulen vorkomme. Das Bildungsministerium und das Ministerium für Frauen, Familie, Kinder und Senioren führten mit Unterstützung der Zivilgesellschaft öffentliche Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen über die schädlichen Auswirkungen von körperlicher Züchtigung und häuslicher Gewalt durch (USDOS 20.3.2023). Trotz harter Strafen wird eine hohe Dunkelziffer vermutet. Gemäß einer jüngst vom Ministerium für Frauen, Familie und Kindheit veröffentlichten Studie sind 90 % der Kinder Opfer von Gewalt innerhalb der Familie. Im ländlichen Bereich sind Kinder häufig Opfer wirtschaftlicher Ausbeutung und haben wenig Zugang zu Bildung (ÖB 10.2022).
Das 2018 in Kraft getretene Gesetz zur Verhütung von Gewalt, einschließlich politischer Gewalt, gegen Frauen und Mädchen verpflichtet den Staat zu umfangreichen Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Schutz und Nachsorge für Opfer sowie zur Bestrafung der Täter (AA 22.6.2023). Sexuelle Beziehungen mit einem Kind unter 16 Jahren gelten in jedem Fall als Vergewaltigung, und der Täter wird mit 20 Jahren Gefängnis bestraft, wobei die Möglichkeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe besteht, wenn erschwerende Umstände, wie Inzest oder Gewaltanwendung, vorliegen. Gerichte können jedoch in bestimmten Situationen, die Eheschließung von Personen unter 18 Jahren auf Antrag und Zustimmung beider Elternteile genehmigen (USDOS 20.3.2023).
Im Jahr 2021 erzielte Tunesien moderate Fortschritte bei den Bemühungen, die schlimmsten Formen der Kinderarbeit zu beseitigen. Im Juli 2021 verabschiedete das tunesische Parlament das Gesetz über Hausangestellte, das die Beschäftigung von Kindern als Hausangestellte verbietet. Im April 2021 eröffnete das Programm „Second Chance“, das Schulabbrecher im Alter von 12 bis 18 Jahren wieder in das Bildungssystem integriert oder ihnen eine Berufsausbildung ermöglicht, einen neuen Standort. Darüber hinaus wurde im November 2021 eine neue Notunterkunft für Kinder in Tunis eingerichtet, zusammen mit fünf weiteren Unterkünften im ganzen Land, die sich den Bedürfnissen von Kindern widmen. Artikel 53 des Arbeitsgesetzbuchs schreibt ein Mindestalter von 16 Jahren für berufliche Tätigkeiten vor (USDOL 28.9.2022).
Allerdings sind Kinder in Tunesien den schlimmsten Formen der Kinderarbeit ausgesetzt, darunter Zwangsarbeit bei Hausarbeiten und Betteln. Vorwürfe der Ausbeutung von Kindern – einschließlich sexueller Ausbeutung – haben seit Beginn der COVID-19-Pandemie erheblich zugenommen. Den Berichten zufolge gab es im Jahr 2021 einen Anstieg der Zahl der Kinder, die von kriminellen Organisationen zum Betteln gezwungen wurden (USDOL 28.9.2022).
Im Jahr 2021 ergriffen die Strafverfolgungsbehörden in Tunesien Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderarbeit. Es bestehen jedoch Lücken in der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden, die eine angemessene Strafverfolgung behindern können, einschließlich mangelhafter Strukturen für die Strafverfolgungsplanung. Die zivilrechtlichen Bußgelder für Verstöße gegen Kinderarbeitsgesetze sind niedrig und liegen zwischen etwa 7 und 21 US-Dollar pro Verstoß (20 bis 60 TND) und werden bei Wiederholungstätern verdoppelt, der Gesamtbetrag darf jedoch 1.667 US-Dollar (5.000 TND) nicht überschreiten. Zivilrechtliche Bußgelder reichen nach wie vor nicht aus, um potenzielle Verstöße abzuschrecken (USDOL 28.9.2022).
Insbesondere in ländlichen Gebieten stoßen Studierende aufgrund unzureichender Transportmöglichkeiten und Haushaltsarmut auf Bildungshindernisse. Die Abschlussquoten der Mittel- und Oberstufe in armen und ländlichen Gemeinden bleiben deutlich niedriger als in wohlhabenden und städtischen Gebieten (USDOL 28.9.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 29.12.2022
USDOL - US Department of Labor [USA] (28.9.2022): 2021 Findings on the Worst Forms of Child Labor: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2082818.html , Zugriff 7.6.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung 2023-08-03 07:36
Elf Jahre nach der Jasminrevolution konnten die hohen Erwartungen hinsichtlich eines besseren und gerechteren Lebens in wirtschaftlicher Hinsicht nicht realisiert werden. Großen Fortschritten im Bereich Meinungsfreiheit und Parteienvielfalt stehen eine schwere Wirtschaftsrezession und eine Verarmung weiter Bevölkerungsschichten gegenüber. Keiner der zahlreichen Regierungen seit 2011 ist es gelungen, substanzielle und für die Bevölkerung spürbare Verbesserungen ihrer Lebensumstände herbeizuführen; das Gegenteil war der Fall. Auslöser der Jasminrevolution von 2011 waren Armut, sozialer Ausschluss, Ungerechtigkeit und Mangel an Perspektiven. Elf Jahre später hat sich die Lage keineswegs verbessert, es haben sich die Lebensumstände für viele Tunesier zum Teil dramatisch verschlechtert und die Korruption alle Lebensbereiche erfasst (ÖB 10.2022). Tunesien erlebt derzeit einen Zustand des Aufruhrs und der Spannungen, da die meisten Preise für Grundnahrungsmittel von den Märkten ausgegangen sind, insbesondere Zucker und Speiseöl. Parallel dazu heizten die hohen Preise und die steigenden Steuern und Treibstoffkosten, parallel zur verspäteten Zahlung der Gehälter, die Situation an (MW 11.3.2022). Waren die Herausforderungen in wirtschaftlicher, sozialer, moralischer und kultureller Hinsicht bereits bisher enorm, sind sie nun seit Ausbruch der COVID-19-Krise Mitte März 2020 nochmals um ein Vielfaches angewachsen (ÖB 10.2022).
So erlebte Tunesien 2022 einen Zustand des Aufruhrs und der Spannungen, da die meisten Grundnahrungsmittel nicht mehr auf den Märkten erhältlich waren, insbesondere Zucker und Speiseöl. Parallel dazu heizten die hohen Preise und die steigenden Steuern und Treibstoffkosten, parallel zu verspäteten Auszahlungen der Gehälter, die Situation weiter an (MW 11.3.2022).
Trotz Beruhigung der COVID-19-Situation bekommt Tunesien die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine zu spüren. Die ukrainischen Weizenlieferungen blieben lange Zeit aus und die Preise für Erdöl und Erdgas haben stark angezogen (WKO 4.2023). Traditionell importiert Tunesien über 50 % seines Getreidebedarfs aus der Ukraine (WKO 4.2023; DFK 14.3.2023), was eine sehr hohe Inflation zur Folge hat. Laut dem tunesischen Institut für Statistik lag die nationale Inflationsrate im Feber 2023 bei 10,4 % – Tendenz steigend. Zusätzlich zu den steigenden Preisen komme es ständig zu Engpässen bei Gütern des Grundbedarfs; Grundnahrungsmittel wie Milch und Butter werden knapp, der Preis für Speiseöl verdoppelte sich zuletzt (DFK 14.3.2023). Die Knappheit gewisser Rohstoffe und Energieträger und die daraus induzierten Preissteigerungen führten zu einem Anstieg der Inflation. Die Folge ist, dass die Kaufkraft der Tunesier weiter sinkt. Zudem stieg COVID-bedingt die Arbeitslosigkeit 2020 auf 15,9 %. Im Jahresverlauf 2022 war diese wiederum leicht rückläufig aufgrund des langsam wieder anlaufenden Tourismus und belief sich auf 15,5 %. Die tunesischen Exporte entwickeln sich ebenfalls positiv (WKO 4.2023).
Generell hat sich die wirtschaftliche Lage im Land und damit die Situation der Menschen in den vergangenen Jahren konstant verschlechtert. Laut tunesischem Jurist und Politikexperte Hamadi Redissi ist die wirtschaftliche Lage des Landes „dramatisch“. Die Rating-Agentur Moody's stufte Tunesien bereits Ende Jänner 2023 auf die schlechteste Klasse herab (DFK 14.3.2023).
Somit bleibt Tunesien auch finanziell in einer Schieflage. Die Regierung hofft auf einen Milliarden-Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), um einen Staatsbankrott abwenden zu können. Der IWF fordert im Gegenzug die Aufhebung von Subventionen unter anderem für Kraftstoffe und Nahrungsmittel sowie weitere Reformen. Das wiederum lehnen die Gewerkschaften ab (DFK 14.3.2023; vgl. WKO 4.2023).
Die Weltbank erklärte, dass die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise auf den internationalen Märkten zu einem höheren tunesischen Haushaltsdefizit führen werden, welches für 2023 auf -6,1 % und für 2024 auf -5,2 % des BIP geschätzt wird. Im Jahr 2021 betrug die Staatsverschuldung Tunesiens 81,8 % des BIP und Ende 2022 betrug die Schuldenquote bereits 88,8 % des BIP. Ein Finanzierungsbedarf von 19,9 Mrd. TND (d.s. 13,7 % des BIP) ist nötig, um das Budgetdefizit auszugleichen, doch die steigende Inflation und die Situation in der Ukraine werden wohl höhere Zuschüsse erforderlich machen. Die Weltbank merkt auch an, dass Tunesiens Schwierigkeiten beim Zugang zu internationalen Finanzmitteln zunehmen werden, um die Defizite auch künftig finanzieren zu können. Die tunesische Wirtschaft bleibt somit weiterhin unter Druck. Die Regierung hofft auf ein Darlehen in Höhe von 1,9 Mrd. USD des Internationalen Währungsfonds (IWF), um einen Staatsbankrott abwenden zu können. Ohne rasche Umsetzung von Strukturreformen, den Verkauf von staatlichen Unternehmen und Grundbesitz, einer grundlegenden Reform des Subventionssystems und der Kontrolle des Anstiegs der Gehälter aller öffentlich Bediensteten, um den Haushalt zu sanieren (WKO 4.2023; vgl. HBS 7.3.2023). Es ist allerdings wohl kein neues Abkommen mit dem IWF zu erwarten (WKO 4.2023).
Tunesiens Präsident lehnte die Bedingungen des IWF Rettungspakets am 6.4.2023 deutlich ab (AN 6.4.2023). Vergangenen September (2022) hatte sich Tunesien mit dem IWF im Grundsatz auf einen Kredit über 1,9 Milliarden Dollar (1,74 Mrd Euro) geeinigt (NTV 6.4.2023; SRF 16.6.2023). Dessen Bewilligung liegt jedoch in weiter Ferne, da Tunesien die vom IWF formulierten Voraussetzungen dafür nicht erfüllt. Im Zentrum steht eine Übereinkunft zwischen der landesweit größten Gewerkschaft UGTT, der Regierung, dem Präsidenten und dem Arbeitgeberverband UTICA (HBS 7.3.2023). Da Tunesien bereits wichtige Verpflichtungen versäumt hat, und die Geber davon ausgehen, dass die Finanzen des Staates zunehmend von den Zahlen abweichen werden, die zur Berechnung der Vereinbarung herangezogen wurden. Ohne einen Kredit steht Tunesien vor einer ausgewachsenen Zahlungsbilanzkrise und der Zahlungsunfähigkeit (AN 6.4.2023) bzw. einem Staatsbankrott (HBS 7.3.2023).
Die Rettungsgespräche mit dem IWF sind seit Monaten ins Stocken geraten. Zudem haben die drei großen internationalen Ratingagenturen das Fehlen eines IWF-Darlehens als Hauptgrund für die Herabstufung der Bonitätsbewertungen tunesischer Staatsanleihen in den letzten Monaten angegeben. Diese schlechten Bonitätsbewertungen haben den Import von lebenswichtigen Gütern wie Weizen behindert (AN 6.4.2023). Gleichzeitig hängt die Industrieproduktion von der Konjunktur in Europa ab. Die Prognosen für das Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) liegen für 2023 bei knapp unter 2 %. Welche Reformen auf den Weg gebracht werden, ist nach wie vor unklar. Die Verzögerung der Entscheidung des IWF zeigt, dass Klärungsbedarf besteht. Währenddessen nehmen die Spannungen zwischen Regierung, Zentralbank und Gewerkschaften zu. Einige der zu erwartenden Maßnahmen, wie die Reform von Staatsunternehmen und die weitere Senkung von Subventionen, bergen Zündstoff (GTAI 15.4.2023).
Gemäß Weltbankstatistiken leben mehr als 2,5 Mio. Tunesier (bei einer Bevölkerung von 12 Mio.) unter der Armutsgrenze. Allein aufgrund der COVID-19-Krise kamen über 600.000 dazu. Somit ist deren Zahl von 15,5 % vor der Krise auf 21 % angestiegen. Es bestehen regional große Unterschiede. In einigen Regionen im Landesinneren beträgt der Armutsanteile über 50 %. Die Regierung lässt den Ärmsten unregelmäßig – von der Weltbank finanzierte – direkte Unterstützungen zukommen, ohne allerdings die zugrunde liegenden Ursachen zu bekämpfen. Ein flächendeckendes direktes Unterstützungsprogramm für bedürftige Familien ist in Ausarbeitung und soll – wie vom IWF gefordert – das bisherige produktorientierte Subventionssystem ablösen (ÖB 10.2022).
Die Kaufkraft der Tunesier sinkt, jedoch war die Arbeitslosigkeit im Jahresverlauf 2022 mit 15,5 % leicht rückläufig. Grund dafür ist die positive Entwicklung bzw. Erholung des Tourismus und der tunesischen Exporte (WKO 14.4.2023; vgl. WKO 4.2023). Mit Stand März 2023 lag die Arbeitslosenquote bei 14,7 % (WKO 4.2023). Zu dem hohen Anteil an jungen und diplomierten Arbeitslosen kommen die Schulabbrecher (jährlich ca. 100.000), die vom privaten Sektor und vor allem auch im Tourismus krisenbedingt Entlassenen sowie das Heer an Beschäftigten des informellen Sektors (der auf 50 % der Wirtschaftsleistung geschätzt wird), welchen ihre Existenzgrundlage entzogen wurde (ÖB 10.2022). Aufgrund der relativ hohen Inflation müssen Gehälter fortwährend angepasst werden. So variiert die Beschäftigungsquote je nach Region innerhalb Tunesiens. Tendenziell ist die Lage an der Küste und im Norden des Landes besser, was auf die Tourismusbranche sowie die dort angesiedelte Industrie zurückzuführen ist (ABG 2.2023).
Tunesien ist ein Niedriglohnland. Die durchschnittlichen Monatslöhne im produzierenden Gewerbe liegen zwischen 500 und 800 Dinar [160-250 Euro]. Arbeiter im öffentlichen Sektor verdienen rund 900 Dinar, Beamte 1.000-1.600 Dinar [310-500 Euro]. Der staatliche Mindestlohn (sogenannter SMIG), liegt bei 403 Dinar [ca. 120 Euro]. Etwa 25,4 % der Bevölkerung leben in Armut, d. h. sie leben von weniger als dem staatlichen Mindestlohn (sogenannter SMIG), der umgerechnet bei ca. 140 Euro liegt. Auch für die bisherige Mittelschicht wird die Diskrepanz zwischen Verdienst und Deckung der tatsächlichen Bedürfnisse immer größer und die Verschuldung der Privathaushalte hat stark zugenommen. Die Kaufkraft der tunesischen Bevölkerung ist seit der Revolution 2011 um 30 % zurückgegangen. Grund für die dramatische Verschlechterung der Einkommenssituation sind Jahrelanges (so gut wie) Nullwachstum, im Jahr 2020 eine schwere Rezession bedingt durch COVID-19, hohe Inflation, der stets zunehmende Mangel an Arbeitsplätzen für die z. T. schlecht bzw. nicht den Bedürfnissen entsprechend ausgebildeten Arbeitskräfte, ein Niedergang des in Tunesien sehr bedeutenden staatlichen Industriesektors, Misswirtschaft sowie Korruption. Der Wegbruch des Tourismus traf Tunesien besonders hart, er trägt 11 % zum BNP bei (ÖB 10.2022).
Laut Weltbank führen die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise auf den internationalen Märkten zu einem höheren tunesischen Haushaltsdefizit (WKO 4.2023). Immerhin gibt es in einigen Bereichen Erfolgsmeldungen. Die Einnahmen aus dem Tourismus stiegen bereits 2022 wieder stark an, für 2023 haben mehrere Fluglinien ihre Verbindungen nach Tunesien ausgebaut (GTAI 15.3.2023). Der tunesische Tourismussektor erholt sich langsam von der COVID-Pandemie. Die Einnahmen beliefen sich im Jahr 2022 auf 1,2 Mrd. Euro. Aufgrund der Situation in der Ukraine kommt es zu einem Ausbleiben der Touristen aus dieser Region, was etwa 7 % der Gesamteinnahmen dieses Tourismus-Sektors ausmacht. Das Wirtschaftswachstum für das Jahr 2022 betrug +2,5 % (WKO 4.2023).
Der Agrarsektor kam vergleichsweise gut durch das Corona-Jahr 2020. Und auch zu Beginn 2020 lief die Produktion von Phosphat gut. Die Pharmaindustrie gilt weiterhin als Hoffnungsträger und bietet Exportchancen. Nachdem es 2019 gute Aussichten für die Textilbranche gab, ist die Produktion im letzten Jahr um circa 20 % zurückgegangen. Mit mehr als 100.000 Beschäftigten ist Tunesien ein etablierter IT-Standort. Zudem etabliert sich das Land als Start-up-Hub für die Region. E-Commerce und Digitalisierung profitieren auch in Pandemiezeiten. Wegen niedriger Gehälter wandern jährlich allerdings etwa 2.500 Informatiker ins Ausland ab (ABG 2.2023).
Bei einer in drei tunesischen Städten (Great Tunis, Sousse und Sfax) durchgeführten Umfrage zu sozio-ökonomischen Faktoren wurden, mittels Computer Assisted Telephone Interviewing (CATI)-Methode und Quotenstichproben auf der Grundlage der neuesten verfügbaren offiziellen Bevölkerungsdaten im Zeitraum 5.-8.1.2022 in jeder der genannten Zielstädte, Einwohner, bzw. eine Stichprobe von 300 Personen zwischen 16 und 35 Jahren, von One to One for Research and Polling befragt. Dort geben 42 % der Befragten an, dass sie ihren Haushalt kaum oder gar nicht mit Lebensmitteln versorgen können, was eine schwierige Situation für den Großteil der Befragten darstellt. Problematischer ist es, wenn es um den Kauf von grundlegenden Konsumgütern wie Kleidung oder Schuhe geht, denn nur 16 % schaffen es, ihren Haushalt mit diesen Gütern zu versorgen, 28 % schaffen es gerade so, und 53 % können diese Art von Gütern entweder kaum oder gar nicht für ihren Haushalt besorgen. Dennoch geben 44 % der Befragten an, eher zufrieden zu sein mit ihrem Leben. Unter den Einwohner mit niedrigen Einkommen sind 37,3 % der Befragten eher zufrieden, 28,2 % sind gar nicht zufrieden und 16,7 % sind sehr zufrieden mit ihrem Leben. Die für dieses Ergebnis ausschlaggebende demografische Variable ist das Einkommensniveau (BFA 5.2.2022).
Die Grundversorgung der Bevölkerung ist zwar vor allem dank staatlicher Subventions- und Interventionspolitik bis auf saisonale Versorgungsengpässe einigermaßen gesichert, hingegen besteht ein eklatantes Einkommensgefälle zwischen wohlhabenderer Küstenregion sowie dem Großraum Tunis (mit allein ca. 50 % der Bevölkerung) und den benachteiligten ruralen Gebieten im Hinterland (ÖB 10.2022).
Es existiert ein an ein sozialversichertes Beschäftigungsverhältnis geknüpftes Kranken- und Rentenversicherungssystem (CNAM und CNSS) (AA 22.6.2023). Das tunesische Sozialsystem bietet zwar keine großzügigen Leistungen, stellt aber dennoch einen gewissen Grundschutz für Bedürftige, Alte und Kranke dar. Der Deckungsgrad beträgt 95 % (ÖB 10.2022). Nahezu alle Bürger finden Zugang zum Gesundheitssystem. Die Regelungen der Familienmitversicherung sind großzügig und umfassen sowohl Ehepartner als auch Kinder und sogar Eltern der Versicherten. Allerdings gibt es keine allgemeine Grundversorgung oder Sozialhilfe. Die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Lasten müssen überwiegend durch den traditionellen Verband der Großfamilie aufgefangen werden, deren Zusammenhalt allerdings schwindet (AA 22.6.2023). Folgende staatlichen Hilfen werden angeboten: Rente, Arbeitslosengeld, Kindergeld, Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Sterbegeld, Witwenrente, Waisenrente, Invalidenrente, Hilfen für arme Familien, Erstattung der Sach- und Personalkosten bei Krankenbehandlung, Kredite für Familien (ÖB 10.2022).
Eine Arbeitslosenunterstützung wird für maximal ein Jahr ausbezahlt – allerdings unter der Voraussetzung, dass man vorab sozialversichert war. Gemäß Nationalem Statistikinstitut INS zählt der informelle Sektor rund 1,5 Mio. Beschäftigte, die nicht mit einer Finanzhilfe rechnen können. Laut tunesischem Industrieverband UTICA wurden alleine während der ersten COVID-19-Welle 165.000 Arbeitsplätze vernichtet. Während der COVID-Lockdowns kam es zu zahlreichen Protesten, da sich viele ihrer Einkommensgrundlage beraubt sahen. Die früher relativ breite, weit definierte Mittelschicht Tunesiens aus selbstständigen Kleinunternehmern, Angestellten und Beamten sieht ihre Kaufkraft zunehmend schwinden und droht, in die Prekarität abzugleiten. Die schmale Oberschicht aus traditionell einige Wirtschaftszweige beherrschenden Familien ist mehr an Machterhalt als an Beschäftigung zusätzlicher Arbeitskräfte interessiert. Die allmächtige traditionelle Gewerkschaft UGTT lehnt bisher jede Änderung des Status quo rigoros ab und behindert so eine Umstrukturierung des ineffizienten auf Nepotismus und Rentenmentalität beruhenden öffentlichen Sektors. Es gibt folgende Arbeitsvermittlungsinstitutionen: Nationale Arbeitsagentur (ANETI), Berufsbildungsagentur (ATFP), Zentrum für die Ausbildung der Ausbilder und die Entwicklung von Lehrplänen (CENAFFIF), Zentrum für die Weiterbildung und Förderung der beruflichen Bildung (CNFCPP) (ÖB 10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
ABG - Africa Business Guide (2.2023): Länderprofil Wirtschaft in Tunesien: Etablierter Produktionsstandort mit Blick auf Europa, https://www.africa-business-guide.de/de/maerkte/tunesien , Zugriff 21.7.2023
AN - Arab News (6.4.2023): Tunisia president rejects IMF ‘diktats’, casting doubt on bailout, https://www.arabnews.com/node/2282506/middle-east , Zugriff 23.6.2023
BFA Staatendokumentation (Herausgeber) [Österreich], ONE TO ONE for Research and Polling (Autor) (5.4.2022): Dossier Tunisia; Socio-Economic Survey 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2071025/TUNISIA_Socio-Economic+Survey+2022.pdf , Zugriff 25.7.2023
DFK- Deutschlandfunk Kultur (14.3.2023): Verhaftungswelle und Proteste Tunesien kämpft gegen einen Frontalangriff auf die Demokratie, https://www.deutschlandfunkkultur.de/tunesien-innenpolitische-lage-proteste-100.html , Zugriff 22.6.2023
GTAI - Germany Trade & Invest (15.4.2023): Politische Lähmung dämpft wirtschaftliche Aussichten, https://www.gtai.de/de/trade/tunesien/wirtschaftsumfeld/politische-laehmung-daempft-wirtschaftliche-aussichten-241246 , Zugriff 12.6.2023
HBS - Heinrich Böll Stiftung (7.3.2023):Verschwörungstheorien und Gewalt: Tunesien rutscht tiefer in die Krise, https://www.boell.de/de/2023/03/07/verschwoerungstheorien-und-gewalt-tunesien-rutscht-tiefer-die-krise , Zugriff 23.6.2023
MW - MideastWire (11.3.2022): Experts to Arabi 21: Confusing social tension in Tunisia foreshadows explosion, https://mideastwire.com/page/articleFree.php?id=77461 , Zugriff 25.7.2023
NTV- ntv Nachrichtenfernsehen GmbH (6.4.2023): Hilfe nur gegen Reformen Tunesien überwirft sich mit Internationalem Währungsfonds, https://www.n-tv.de/ticker/Tunesien-ueberwirft-sich-mit-Internationalem-Waehrungsfonds-article24038669.html , 12.6.2023
SRF- Schweizer Radio und Fernsehen (16.6.2023): Staatsverschuldung Tunesiens-Der IWF fordert Wirtschaftsreformen in Tunesien, https://www.srf.ch/news/international/staatsverschuldung-tunesiens-der-iwf-fordert-wirtschaftsreformen-in-tunesien , Zugriff 23.6.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
WKO [Österreich] (14.4.2023): Tunesien: Neuer Wirtschaftsbericht, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-tunesische-wirtschaft.html , Zugriff 12.6.2023
WKO [Österreich] (4.2023): Wirtschaftsbericht Tunesien – Außenwirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/tunesien-wirtschaftsbericht.pdf , Zugriff 12.6.2023
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung 2023-08-03 07:37
Die medizinische Versorgung (einschließlich eines akzeptabel funktionierenden staatlichen Gesundheitswesens) hat das für ein Schwellenland übliche Niveau (AA 22.6.2023) - es ist zumindest in Tunis gut. Außerhalb der Hauptstadt ist mit einigen Einschränkungen zu rechnen (AA 13.7.2023). Tunesien hat lange Zeit in das Gesundheitswesen investiert, es gibt in allen Landesteilen staatliche Gesundheitseinrichtungen. Allerdings sind die rund 2.200 Einrichtungen trotz guter medizinischer Ausbildung der Beschäftigten oft in desolatem Zustand. Gerade die COVID-19-Pandemie zeigte die starken Defizite auf (ÖB 10.2022). Üblicherweise ist eine weitreichende Versorgung in den Ballungsräumen (Tunis, Sfax, Sousse) gewährleistet; Probleme gibt es dagegen in den entlegenen Landesteilen (AA 22.6.2023).
Bei einer in drei tunesischen Städten (Great Tunis, Sousse und Sfax) durchgeführten Umfrage zu sozioökonomischen Faktoren wurden, mittels Computer Assisted Telephone Interviewing (CATI)-Methode und Quotenstichproben auf der Grundlage der neuesten verfügbaren offiziellen Bevölkerungsdaten zwischen 5. und 8.1.2022 in jeder der genannten Zielstädte, Einwohner, bzw. eine Stichprobe von 300 Personen zwischen 16 und 35 Jahren, von One to One for Research and Polling befragt. Demnach ist die Verfügbarkeit von Fachärzten insbesondere in Sfax nicht mehr so einfach wie früher. Etwa 34,7 % der befragten Einwohner gaben an, dass sie immer Zugang zu Fachärzten haben, wogegen in Groß-Tunis und Sousse etwa 44 % der befragten Einwohner angaben, immer Zugang zu Fachärzten zu haben. Grundsätzlich ist für Frauen die Verfügbarkeit zu Fachärzten höher als jene für Männer. 44,7 % der befragten Frauen gaben an, immer Zugang zu haben, wogegen 22 % angaben, nur eingeschränkten Zugang zu haben (BFA 5.2.2022).
Eine stark angestiegene Anzahl an gut ausgestatteten Privatkliniken bedient meist Ausländer, u. a. zahlungskräftige Libyer und Algerier (ÖB 10.2022; vgl. AA 13.7.2023). Außerhalb der Hauptstadt ist mit einigen Einschränkungen zu rechnen (AA 13.7.2023).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen ist möglich. Die medizinische Behandlung von HIV-Infizierten bzw. AIDS-Kranken ist sichergestellt; es handelt sich jedoch um ein gesellschaftlich tabuisiertes Thema (AA 22.6.2023).
2005 wurden die beiden Krankenkassen (CNSS: Caisse nationale de sécurité sociale und CNRPS: Caisse nationale de retraite et de prévoyance sociale) zur Caisse Nationale d’Assurance Maladie (CNAM) zusammengelegt. Allerdings ist diese Kasse mit ca. 1 Milliarden Dinar hoch verschuldet – fehlende Beitragszahlungen und verteuerte Medikamente sind nur einige der Gründe (ÖB 10.2022).
In Einzelfällen kann es - insbesondere bei der Behandlung mit speziellen Medikamenten - Versorgungsprobleme geben (BMEIA 5.6.2023; vgl. EDA 9.5.2023). Krankenhäuser verlangen in der Regel vor der Behandlung eine finanzielle Garantie (schriftlich garantierte Kostenübernahme oder Vorschusszahlung)(EDA 9.5.2023). Ein Import dieser Medikamente ist grundsätzlich möglich, wenn auch nur auf eigene Kosten der Patienten. In Einzelfällen ist also eine konkrete Nachfrage bezüglich der Verfügbarkeit der benötigten Medikamente erforderlich, in den allermeisten Fällen sind sie vor Ort problemlos erhältlich (AA 22.6.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.7.2023): Tunesien: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tunesiensicherheit/219024 , Zugriff 21.7.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
BFA Staatendokumentation (Herausgeber) [Österreich], ONE TO ONE for Research and Polling (Autor) (5.4.2022): Dossier Tunisia; Socio-Economic Survey 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2071025/TUNISIA_Socio-Economic+Survey+2022.pdf , Zugriff 25.7.2023
BMEIA - Bundesministerium Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (5.6.2023): Reiseinformationen Tunesien, http://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/ , Zugriff 7.6.2023
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (9.5.2023): Reisehinweise für Tunesien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tunesien/reisehinweise-fuertunesien.html#eda931a7d , Zugriff 7.6.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 29.12.2022
Rückkehr
Letzte Änderung 2023-08-03 07:38
Es gibt keine speziellen Hilfsangebote für Rückkehrer. Soweit bekannt, werden zurückgeführte tunesische Staatsangehörige nach Übernahme durch die tunesische Grenzpolizei einzeln befragt und es erfolgt ein Abgleich mit den örtlichen erkennungsdienstlichen Registern. Sofern keine innerstaatlichen strafrechtlich relevanten Erkenntnisse vorliegen, erfolgt anschließend eine reguläre Einreise. Hinweise darauf, dass, wie früher üblich, den Rückgeführten nach Einreise der Pass entzogen und erst nach langer Wartezeit wieder ausgehändigt wird, liegen nicht vor. An der zugrunde liegenden Gesetzeslage für die strafrechtliche Behandlung von Rückkehrern hat sich indes nichts geändert. Sollte ein zurückgeführter tunesischer Staatsangehöriger sein Land illegal verlassen haben, ist mit einer Anwendung der Strafbestimmung in § 35 des Gesetzes Nr. 40 vom 14.5.1975 zu rechnen: „Jeder Tunesier, der beabsichtigt, ohne offizielles Reisedokument das tunesische Territorium zu verlassen oder zu betreten, wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen 15 Tagen und sechs Monaten sowie einer Geldstrafe zwischen 30 und 120 DT (ca. 15 bis 60 Euro) oder zu einer der beiden Strafarten verurteilt. Bei Wiederholung der Tat (Rückfälligkeit) kann sich das im vorhergehenden Absatz aufgeführte Strafmaß für den Täter verdoppeln.“ Soweit bekannt, wurden im vergangenen Jahr ausschließlich Geldstrafen verhängt. Die im Gesetz aufgeführten Strafen kommen dann nicht zur Anwendung, wenn Personen das tunesische Territorium aufgrund höherer Gewalt oder besonderer Umstände ohne Reisedokument betreten (AA 22.6.2023).
Eine „Bescheinigung des Genusses der Generalamnestie“ wird auf Antrag vom Justizministerium ausgestellt und gilt als Nachweis, dass die in dieser Bescheinigung ausdrücklich aufgeführten Verurteilungen - kraft Gesetz - erloschen sind. Eventuelle andere, nicht aufgeführte zivil- oder strafrechtliche Verurteilungen bleiben unberührt. Um zweifelsfrei festzustellen, ob gegen eine Person weitere Strafverfahren oder Verurteilungen vorliegen, kann ein Führungszeugnis (das sog. „Bulletin Numéro 3“) beantragt werden (AA 22.6.2023).
Seit der Revolution 2011 sind tausende Tunesier illegal emigriert. Vor allem junge Tunesier haben nach der Revolution das Land verlassen, kehren nun teilweise zurück und finden so gut wie keine staatliche Unterstützung zur Reintegration. Eine kontinuierliche Quelle der Spannung ist die Diskrepanz zwischen starkem Migrationsdruck und eingeschränkten legalen Migrationskanälen. Die Reintegration tunesischer Migranten wird durch eine Reihe von Projekten von IOM unterstützt. Finanzielle Hilfe dafür kommt hauptsächlich von der EU, sowie aus humanitären Programmen u. a. der Schweiz und Norwegens (Programm AVRR). Rückkehrprojekte umfassen z. B. Unterstützung beim Aufbau von Mikrobetrieben oder im Bereich der Landwirtschaft, haben jedoch gem. Beobachtungen bislang kaum Erfolg gezeigt (ÖB 10.2022).
Als zweite Institution ist das ICMPD seit 10. Juni 2015 offizieller Partner in Tunesien im Rahmen des sog. „Dialog Süd“ – Programms (EUROMED Migrationsprogramm). Neben Ländern wie Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko und Syrien wird Tunesien dabei als „Plattform“ (interaktiv zu verfolgen unter: www.eurotun-migr.net ) für folgende Arbeitsbereiche gesehen:
• IBM: Integrated Border Management (IBM): technische und operative Unterstützung der nationalen Institutionen im Bereich grüne und blaue Grenzsicherung
• MIEUX: Migration EU Expertise : eine gemeinsame EU-ICMPD Initiative zur Stärkung der Nationalen Migrationsstrategie, insbesondere des Nationalen Migrationsobservatoriums (ONM)
Im Dezember 2020 hat die UGTT, der tunesischen Gewerkschaft, ein Büro für ausländische Arbeiter zum Schutz gegen Ausbeute, Rassismus und Verletzung ihrer sozialen - wie wirtschaftlichen Rechte eröffnet (ÖB 10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zum Sachverhalt:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz sowie in das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Tunesien.
Ergänzend wurden Auszüge aus dem zentralen Melderegister, dem Strafregister, dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung und der Sozialversicherungsdatenbank eingeholt.
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und dem vorliegenden Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes.
2.2. Zu den Beschwerdeführern:
Die Feststellungen ergeben sich primär aus den Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in den Erstbefragungen und niederschriftlichen Einvernahmen.
Da die Beschwerdeführer den österreichischen Behörden keine identitätsbezeugenden Dokumente im Original vorlegten, welche ihre Identitäten hinreichend bestätigen könnten, stehen ihre Identitäten nicht fest.
Dass sie bisher keiner der Pflichtversicherung unterliegenden Erwerbstätigkeit nachgingen und Leistungen aus der Grundversorgung beziehen, ergibt sich aus dem abgefragten Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem und dem eingeholten Sozialversicherungsdatenauszug.
Die Feststellung zur mangelnden Integration der Beschwerdeführer ergibt sich aus der kurzen Aufenthaltsdauer und dem Fehlen von maßgeblichen Integrationsschritten.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit der Beschwerdeführer ergibt sich aus dem Strafregister der Republik Österreich.
2.3. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:
Im Verfahren haben die Beschwerdeführer in zentralen Punkten die Gründe, welche sie letztlich zum Verlassen ihres Heimatstaates verhalten haben, und ihre Absicht zu konvertieren gleichbleibend geschildert. Ihr Vorbringen war daher den Feststellungen zugrunde zu legen.
2.4. Zum Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf den aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation für Tunesien vom 03.08.2023 samt den dort publizierten Quellen und Nachweisen.
Diese Länderinformationen stützen sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von Nichtregierungsorganisationen, wie bspw. Open Doors, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen.
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Aufgrund der Kürze der verstrichenen Zeit zwischen der Erlassung der bekämpften Bescheide und der vorliegenden Entscheidung ergeben sich keine wesentlichen Änderungen zu den im bekämpften Bescheid getroffenen Länderfeststellungen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zur Nichtgewährung von Asyl:
3.1.1. Rechtslage
Gemäß § 3 Abs 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art 1 Absch A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Im Sinne des Art 1 Absch A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furch nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt der in Art 1 Absch A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 06.10.1999, 99/01/0279).
Selbst in einem Staat herrschende allgemein schlechte Verhältnisse oder bürgerkriegsähnliche Zustände begründen für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Um eine Verfolgung im Sinne des AsylG erfolgreich geltend zu machen, bedarf es einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Herkunftsstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
3.1.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Die Beschwerdeführer gaben als Grund für die Ausreise aus Tunesien an, finanzielle Schulden und Probleme mit den Gläubigern und der Familie des Erstbeschwerdeführers zu haben. Abgesehen davon brachten sie vor, zum Christentum bzw. zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas konvertieren zu wollen.
Die von den Beschwerdeführern vorgebrachten Gründe für ihre Asylantragstellung in Österreich weisen nicht die hinreichend erforderliche Verknüpfung mit einem Konventionsgrund auf.
Konkrete Hinweise für eine den Beschwerdeführern drohende staatliche Verfolgung in Tunesien liegen nicht vor. Bei den von ihnen dargestellten persönlichen Problemen mit ihren Gläubigern oder der Familie des Erstbeschwerdeführers handelt es sich weder um eine von einer staatlichen Behörde ausgehende noch um eine dem Staat zurechenbare Verfolgung.
Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen oder privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (vgl. etwa VwGH vom 21.04.2011, 2011/01/0100 mwN).
Abgesehen davon, dass einer derartigen, nicht vom Staat sondern von Privatpersonen ausgehenden Bedrohung nur dann Asylrelevanz zuzubilligen wäre, wenn solche Übergriffe von staatlichen Stellen geduldet würden (VwGH 10.03.1993, 92/01/1090) bzw. wenn der betreffende Staat nicht in der Lage oder nicht gewillt wäre, diese Verfolgung hintanzuhalten, hat der Verwaltungsgerichtshof in diesem Zusammenhang ausdrücklich klargestellt, dass die Asylgewährung für den Fall einer solchen Bedrohung nur dann in Betracht kommt, wenn diese von Privatpersonen ausgehende Verfolgung auf Konventionsgründe zurückzuführen ist (vgl. etwa VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551).
Vom Vorliegen eines Konventionsgrundes kann in Bezug auf die persönlichen Probleme mit den Gläubigern und der Familie des Erstbeschwerdeführers nicht gesprochen werden. Es liegen auch keine Anhaltspunkte vor, dass die Beschwerdeführer den Schutz der tunesischen Sicherheitsbehörden vor Bedrohungen durch Privatpersonen nicht in Anspruch nehmen können. Eine allgemeine, offensichtliche Schutzunwillig- und Schutzunfähigkeit der tunesischen Sicherheitsbehörden lässt sich aus den aktuellen Länderberichten nicht ableiten und in Tunesien besteht zum jetzigen Zeitpunkt ein im Grundsatz funktionierendes Exekutiv- und Sicherheitswesen, wenngleich es dem Justizsystem an Effizienz und Unabhängigkeit mangelt. Im Übrigen ist in Tunesien das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren gesetzlich verankert und die unabhängige Justiz setzt dieses Recht im Allgemeinen durch. Den Beschwerdeführern ist es daher durchaus zumutbar, allenfalls den Schutz des tunesischen Polizeiapparates vor einer allfälligen Verfolgung durch Privatpersonen in Anspruch zu nehmen.
Zum Vorbringen der Beschwerdeführer, wonach sie beabsichtigen, vom islamischen Glauben zum Christentum zu konvertieren, ist festzuhalten, dass es in Tunesien rechtlich möglich ist, vom Islam zum Christentum zu konvertieren und Christen als gleichberechtigte Bürger akzeptiert werden. Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird in Tunesien mit gewissen Einschränkungen gewährt.
Es gibt zwar erheblichen gesellschaftlichen Druck gegen die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion und tunesische Konvertiten werden häufig schikaniert und diskriminiert, jedoch lässt sich aus den Länderberichten zu Tunesien keine drohende Verfolgung wegen Konversion ableiten. Aus den Länderberichten geht auch nicht hervor, dass Personen, die konvertiert sind, keinen Schutz der Sicherheitsbehörden erhalten.
Die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl sind daher insgesamt nicht gegeben. Aus diesem Grund war die Beschwerde betreffend die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zur Nichtgewährung von subsidiärem Schutz:
3.2.1. Rechtslage
Gemäß § 8 Abs 1 Z 1 AsylG ist einem Fremden der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK (ZPERMRK) bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Im Rahmen der Prüfung des Einzelfalls ist die Frage zu beantworten, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein – über eine bloße Möglichkeit hinausgehendes – "real risk" einer gegen Art 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht (vgl VwGH 28.06.2011, 2008/01/0102). Die dabei aufgrund konkreter vom Fremden aufgezeigter oder von Amts wegen bekannter Anhaltspunkte anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 15.12.2010, 2006/19/1354; 31.05.2005, 2005/20/0095, 31.03.2005, 2002/20/0582).
Die Abschiebung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann eine Verletzung von Art 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also bezogen auf den Einzelfall die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art 3 EMRK ist nicht ausreichend (VwGH 06.11.2009, 2008/19/0174). Zu berücksichtigen ist auch, dass nur bei Vorliegen exzeptioneller Umstände, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet, die Gefahr einer Verletzung von Art 3 EMRK angenommen werden kann (VwGH 06.11.2009, 2008/19/0174; 19.11.2015, Ra 2015/20/0174 ua). Das Vorliegen solcher exzeptioneller Umstände erfordert detaillierte und konkrete Darlegungen (vgl VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 07.09.2016, Ra 2015/19/0303 ua).
3.2.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Den Beschwerdeführern droht in ihrem Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung und ganz allgemein besteht in einem sicheren Herkunftsstaat wie Tunesien (§ 1 Z 11 Herkunftsstaaten Verordnung – HStV) derzeit keine solche Gefährdungslage, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, bloß aufgrund seiner Anwesenheit einer Gefährdung im Sinne des Art 2 und 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK (ZPEMRK) ausgesetzt wäre.
Im Verfahren sind auch keine Umstände bekannt geworden und ergeben sich auch nicht aus dem amtliches Wissen darstellenden Länderinformationsblatt für Tunesien, die nahelegen würden, dass bezogen auf die Beschwerdeführer ein reales Risiko einer gegen Art 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung bzw der Todesstrafe besteht.
Auch dafür, dass ihnen im Falle einer Rückkehr nach Tunesien die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre, gibt es im vorliegenden Beschwerdefall keinen Anhaltspunkt. In Tunesien ist die Grundversorgung der Bevölkerung einigermaßen gesichert und existiert ein funktionierendes Sozialsystem.
Exzeptionelle Umstände oder besondere Vulnerabilitäten, die einer Rückkehr entgegenstehen würden, liegen nicht vor. Die Beschwerdeführer sind gesund und der Erstbeschwerdeführer arbeitsfähig. Die Zweitbeschwerdeführerin wird nach der überstandenen Schwangerschaft wieder arbeitsfähig sein.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin können sich in ihrem Herkunftsstaat eine Unterkunft zu nehmen, am Erwerbsleben teilnehmen und ihre Kinder versorgen.
Der minderjährige Beschwerdeführer kehrt gemeinsam mit seinen Eltern zurück, weshalb seine Betreuung, Erziehung und Beaufsichtigung sichergestellt ist. Er wird auch von seinen Eltern versorgt und es kann aufgrund der sozioökonomischen Lage in Tunesien nicht davon ausgegangen werden, dass er in eine Notlage gerät. Angesichts der Sicherheitslage in Tunesien ist auch nicht zu befürchten, dass er mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Bedrohung oder von terroristischen oder kriminellen Aktivtäten betroffen wäre.
Damit sind die Beschwerdeführer durch die Abschiebung nach Tunesien nicht in ihrem Recht gemäß Artikel 3 EMRK verletzt, weil die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz im konkreten Fall gedeckt werden können. Dass die Beschwerdeführer allenfalls in Österreich wirtschaftlich gegenüber ihrer Situation in Tunesien besser gestellt sind, genügt nicht für die Annahme, sie würden in Tunesien keine Lebensgrundlage vorfinden und somit ihre Existenz nicht decken können. Hierfür fehlen im vorliegenden Fall alle Hinweise auf derart exzeptionelle Umstände.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, sodass sie auch hinsichtlich der Nichtgewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen war.
3.3. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen:
Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG 2005 wurde von den Beschwerdeführern nicht dargelegt und auch aus dem Verwaltungsakt ergeben sich keine Hinweise, die es nahelegen würden, dass die Erteilung einer solchen Aufenthaltsberechtigung in Betracht kommt.
Da somit die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 nicht gegeben sind, war die Beschwerde in Bezug auf die Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz als unbegründet abzuweisen.
3.4. Zur Rückkehrentscheidung:
3.4.1. Rechtslage
Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz (dem AsylG) mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.
Gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt.
Gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, wenn dadurch in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind insbesondere die in § 9 Abs 2 Z 1 bis 9 BFA-VG aufgezählten Gesichtspunkte zu berücksichtigen (die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist).
3.4.2. Anwendung der Rechtslage auf den Beschwerdefall
Nachdem die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen waren, hat das Bundesamt die erlassenen Rückkehrentscheidungen zutreffend auf § 52 Abs. 2 Z 2 FPG gestützt.
Die Voraussetzungen für Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG liegen nicht vor. Zu prüfen ist daher, ob die Rückkehrentscheidungen mit Artikel 8 EMRK vereinbar sind, weil sie nur dann zulässig wären und nur im verneinenden Fall Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG überhaupt in Betracht kämen.
Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtige Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG 2014 genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG 2014 ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 05.12.2018, Ra 2018/20/0371; 05.11.2019, Ro 2019/01/0008; 01.09.2020, Ra 2020/20/0239).
Ein Eingriff in das Recht auf ein Familienleben der Beschwerdeführer liegt nicht vor, da sie alle jeweils von einer Rückkehrentscheidung betroffen sind und sie gemeinsam nach Tunesien zurückkehren (vgl. das Urteil des EGMR vom 20.03.1991, 15576/89, Cruz Varas vs Schweden oder das Erk. des VwGH vom 17.03.2009, Zl. 2008/21/0096).
Die Rückkehrentscheidungen könnten daher allenfalls in das Recht auf Privatleben der Beschwerdeführer eingreifen.
Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nehmen die persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. VwGH 10.11.2015, Ro 2015/19/0001).
Der VwGH hat außerdem wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet, noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchgeführte Interessensabwägung zukommt (vgl. VwGH 15.3.2016, Zl. Ra 2016/19/0031-0034, mit Verweis auf VwGH vom 30.7.2015, Zl. Ra 2014/22/0055 bis 0058, vom 21.1.2016, Zl. Ra 2015/22/0119 und vom 15.12.2015, Zl. Ra 2015/19/0247, mwN).
Die Beschwerdeführer reisten im November 2022 ins Bundesgebiet ein und stellten am 13.11.2022 Anträge auf internationalen Schutz.
Der bisherige Aufenthalt der Beschwerdeführer war ausschließlich auf ihre Asylanträge gestützt, wodurch sie zu keinem Zeitpunkt über ein Aufenthaltsrecht, abgesehen vom vorübergehenden Aufenthaltsrecht für die Dauer des Asylverfahrens, verfügten. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin mussten sich von Anfang an ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein und durften nicht annehmen, in Österreich bleiben zu dürfen.
Das Asylverfahren ging auf keine erheblichen Verzögerungen zurück und wurde in einem angemessenen Zeitrahmen abgeschlossen. Die Dauer des Verfahrens überstieg nicht das Maß dessen, was für ein rechtsstaatlich geordnetes, den verfassungsrechtlichen Vorgaben an Sachverhaltsermittlungen und Rechtschutzmöglichkeiten entsprechendes Asylverfahren erforderlich ist.
Zudem haben die Beschwerdeführer keinen hinreichenden Grad an Integration erlangt, der ihren persönlichen Interessen ein entscheidendes Gewicht verleihen würde.
Das Gewicht ihrer privaten Interessen wird zudem dadurch gemindert, dass sie sie sich ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten (vgl VwGH 30.04.2009, 2009/21/0086; VfSlg. 18.382/2008 mHa EGMR 24.11.1998, 40.447/98, Mitchell; EGMR 11.04.2006, 61.292/00, Useinov). Das Bewusstsein der Eltern über die Unsicherheit des Aufenthalts wirkt auch auf deren Kinder durch, jedoch geringere Bedeutung im Rahmen der Gesamtabwägung (VwGH 28.2.2020, Ra 2019/14/0545).
Soweit Kinder von einer Ausweisung betroffen sind, sind nach der Judikatur des EGMR die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen (vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 18. Oktober 2006, Üner gegen die Niederlande, Beschwerde Nr. 46410/99, Randnr. 58, und vom 6. Juli 2010, Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz, Beschwerde Nr. 41615/07, Randnr. 146). Maßgebliche Bedeutung hat der EGMR dabei den Fragen beigemessen, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter ("adaptable age"; vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 31. Juli 2008, Darren Omoregie und andere gegen Norwegen, Beschwerde Nr. 265/07, Randnr. 66, vom 17. Februar 2009, Onur gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 27319/07, Randnr. 60, und vom 24. November 2009, Omojudi gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 1820/08, Randnr. 46; siehe dazu auch das hg. Erk. vom 17. Dezember 2007, 2006/01/0216 bis 0219) befinden (VwGH 21.04.2011, 2011/01/0132).
Der minderjährige Beschwerdeführer befindet sich in einem sehr anpassungsfähigen Alter, weshalb er sich im Falle der Rückkehr schnell an die tunesischen Gegebenheiten anpassen wird, zumal er in Tunesien geboren wurde und seine ersten Lebensjahre dort verbracht hat.
In Österreich fand noch keine maßgebliche Sozialisierung statt und ist er in sprachlicher, kultureller oder sozialer Hinsicht mit Österreich nicht stark verbunden. Er wuchs bisher im Umfeld seiner Mutter und seines Vaters auf, welche mit der Obsorge betraut sind und für seinen Lebensunterhalt sorgen. In Tunesien verpflichtet sich der Staat zum Schutz von Kindern ohne Diskriminierung und im Einklang mit dem Kindeswohl und Kindesmissbrauch steht unter Strafe.
Ein gravierender oder unverhältnismäßiger Eingriff der Rückkehrentscheidung in das Wohl des minderjährigen Beschwerdeführers ergibt sich insgesamt nicht. Konkret drohende Gefahren für seine körperliche sowie seelische Integrität in Tunesien können anhand der aktuellen Länderberichte nicht erkannt werden.
Außerdem liegt es auch primär an den Eltern für das Wohlergehen, die Erziehung und eine bestmögliche Förderung der Entwicklung ihrer Kinder zu sorgen. Allfällige ungünstigere Entwicklungsbedingungen im Ausland begründen für sich allein noch keine Gefährdung des Kindeswohls und die Eltern und deren sozioökonomischen Verhältnisse gehören grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes. Der minderjährige Beschwerdeführer kann in Tunesien ein normales Leben ohne unbillige Härte führen. Dass er in seinem Herkunftsstaat keine angemessene Versorgung und keine Entwicklungsmöglichkeiten hat, ist nicht der Fall. Mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit wird er auch keine Gewalt oder keine Übergriffe miterleben.
Im Ergebnis ist auch unter dem Blickwinkel des Kindeswohls die Rückkehrentscheidung gegen den minderjährigen Drittbeschwerdeführer zulässig.
Des Weiteren stehen dem persönlichen Interesse der Beschwerdeführer an einem Verbleib in Österreich (bzw. Europa) öffentliche Interessen gegenüber. Dazu zählt das öffentliche Interesse daran, dass das geltende Migrationsrecht auch vollzogen wird, indem Personen, die - wie die Beschwerdeführer - ohne Aufenthaltstitel aufhältig sind, gegebenenfalls nach Abschluss eines allfälligen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz, auch zur tatsächlichen Ausreise verhalten werden.
Bei einer Gesamtbetrachtung wiegt unter diesen Umständen das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Durchsetzung der geltenden Bedingungen des Einwanderungsrechts und an der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, denen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung – und damit eines von Art 8 Abs 2 EMRK erfassten Interesses – ein hoher Stellenwert zukommt (vgl zB VwGH 30.04.2009, 2009/21/0086), schwerer als die schwach ausgebildeten privaten Interessen der Beschwerdeführer am Verbleib in Österreich.
Auf Grund des Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich daher, dass die in den angefochtenen Bescheiden angeordneten Rückkehrentscheidungen keinen ungerechtfertigten Eingriff in das durch Art 8 EMRK gewährleistete Recht auf Privat- und Familienleben darstellt.
Die Beschwerde war daher, soweit sie sich gegen die erlassenen Rückkehrentscheidungen richtet, abzuweisen.
3.5. Zum Ausspruch, dass die Abschiebung nach Tunesien zulässig ist:
3.5.1. Rechtslage
Gemäß § 52 Abs 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist. Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs 1 FPG unzulässig, wenn dadurch Art 2 oder 3 EMRK oder deren 6. bzw 13. ZPEMRK verletzt würden oder für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre. Gemäß § 50 Abs 2 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative. Nach § 50 Abs 3 FPG ist die Abschiebung unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
3.5.2. Anwendung der Rechtslage auf den vorliegenden Fall
Im vorliegenden Fall liegen keine Gründe vor, wonach die Abschiebung in den Herkunftsstaat gemäß § 50 Abs 1 FPG unzulässig wäre.
Ein inhaltliches Auseinanderfallen der Entscheidungen nach § 8 Abs 1 AsylG (zur Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz) und nach § 52 Abs 9 FPG (zur Frage der Zulässigkeit der Abschiebung) ist ausgeschlossen. Damit ist es unmöglich, die Frage der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Rahmen der von Amts wegen zu treffenden Feststellung nach § 52 Abs 9 FPG neu aufzurollen und entgegen der getroffenen Entscheidung über die Versagung von Asyl und subsidiärem Schutz anders zu beurteilen (vgl dazu etwa VwGH, 16.12.2015, Ra 2015/21/0119 und auch die Beschlüsse VwGH 19.02.2015, Ra 2015/21/0005 und 30.06.2015, Ra 2015/21/0059 – 0062).
Die Abschiebung ist auch nicht unzulässig im Sinne des § 50 Abs 2 FPG, da den Beschwerdeführern keine Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Weiters steht keine Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der Abschiebung entgegen.
Die in den angefochtenen Bescheiden jeweils getroffene Feststellung über die Zulässigkeit der Abschiebung nach Tunesien erfolgte daher zu Recht.
Die Beschwerde war daher in Bezug auf die Aussprüche über die Zulässigkeit der Abschiebung nach Tunesien abzuweisen.
3.6. Zum Ausspruch, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht:
Gemäß § 55 Abs 1a FPG besteht ua eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht, wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird. Hierunter fallen neben Verfahren, in denen einer Beschwerde ex lege keine aufschiebende Wirkung zukam, auch die Verfahren, in denen das BFA die aufschiebende Wirkung aberkannt hat und in denen jeweils keine Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung durch das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG erfolgt ist.
Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde einer Beschwerde gegen die bekämpften Bescheide die aufschiebende Wirkung aberkannt.
Nach § 18 Abs 5 BFA-VG hat das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde, der die aufschiebende Wirkung vom BFA aberkannt wurde, binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wenn anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK, Art 8 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Bei der Rückkehr der Beschwerdeführer nach Tunesien besteht keine Gefahr, dass ihnen die Todesstrafe, Folter, eine unmenschliche Behandlung oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes drohen. Ein von Art 8 EMRK geschützter Eingriff in ihr Privat- und Familienleben ist ebenfalls nicht zu befürchten.
Die durchzuführende Interessensabwägung zwischen den Interessen der Beschwerdeführer und jenen Österreichs ergibt einen Überhang der Interessen Österreichs an der unverzüglichen Vollstreckung des bekämpften Bescheides. Damit waren keine Gründe für die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG gegeben.
Zu Recht hat daher die belangte Behörde § 55 Abs 1a FPG zur Anwendung gebracht, weshalb die Beschwerde, soweit sie sich gegen das Nichtbestehen einer Frist für die freiwillige Ausreise richtet, abzuweisen war.
3.7. Zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung:
Gemäß § 18 Abs 1 Z 1 BFA-VG kann vom Bundesamt einer Beschwerde gegen eine abweisende Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung aberkennen, wenn der Asylwerber aus einem sicheren Herkunftsstaat (§ 19) stammt.
Da die Beschwerdeführer aus Tunesien, einem sicheren Herkunftsstaat (§ 1 Z 11 Herkunftsstaaten Verordnung – HStV), stammen, hat das Bundesamt somit zu Recht die aufschiebende Wirkung aberkannt.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie auch hinsichtlich der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung abzuweisen war.
Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung war zurückzuweisen, da ein (zusätzlicher) Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nach § 18 Abs. 5 BFA-VG unzulässig ist (vgl. zum Ganzen den hg. Beschluss vom 13. September 2016, Fr 2016/01/0014).“ (VwGH 19.06.2017, Fr 2017/19/0023). § 18 Abs. 5 BFA-VG regelt, dass das Bundesverwaltungsgericht einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung unter den dort genannten Voraussetzungen zuzuerkennen hat. Ein Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung ist hingegen nicht vorgesehen.
4. Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.
Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungsrelevante Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Ferner muss die Verwaltungsbehörde die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht diese tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung in seiner Entscheidung teilen. Auch darf im Rahmen der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten ebenso außer Betracht zu bleiben hat, wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (VwGH 28.05.2014, 2014/20/0017).
Eine mündliche Verhandlung ist bei konkretem sachverhaltsbezogenem Vorbringen des Revisionswerbers vor dem VwG durchzuführen (VwGH 30.06.2015, Ra 2015/06/0050, mwN). Eine mündliche Verhandlung ist ebenfalls durchzuführen zur mündlichen Erörterung von nach der Aktenlage strittigen Rechtsfragen zwischen den Parteien und dem Gericht (VwGH 30.09.2015, Ra 2015/06/0007, mwN) sowie auch vor einer ergänzenden Beweiswürdigung durch das VwG (VwGH 16.02.2017, Ra 2016/05/0038). § 21 Abs 7 BFA-VG erlaubt andererseits das Unterbleiben einer Verhandlung, wenn – wie im vorliegenden Fall – deren Durchführung in der Beschwerde ausdrücklich beantragt wurde, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint (VwGH 23.11.2016, Ra 2016/04/0085; 22.01.2015, Ra 2014/21/0052 ua). Diese Regelung steht im Einklang mit Art 47 Abs 2 GRC (VwGH 25.02.2016, Ra 2016/21/0022).
Die vorgenannten Kriterien treffen in diesem Fall zu. Der Sachverhalt ist durch die belangte Behörde vollständig erhoben worden und weist die gebotene Aktualität auf. Den tragenden Erwägungen des Bundesamtes hat sich das Bundesverwaltungsgericht angeschlossen.
Das Beschwerdevorbringen ist unsubstantiiert und es waren keine Beweise aufgenommen werden. Das Bundesverwaltungsgericht musste sich auch keinen persönlicher Eindruck von den Beschwerdeführern trotz des Vorliegens einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verschaffen, da selbst unter Berücksichtigung aller zugunsten der Beschwerdeführer sprechenden Fakten auch dann für die Beschwerdeführer kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist.
Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte sohin unterbleiben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder fehlt es an einer Rechtsprechung betreffend die Prüfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten und betreffend die Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung noch weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
