BVwG W107 2195820-1

BVwGW107 2195820-116.9.2022

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:W107.2195820.1.00

 

Spruch:

W107 2195820/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Sibyll BÖCK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch BBU GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen die den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.06.2022 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 5 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) reiste schlepperunterstützt und unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte hier am 09.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 11.12.2015 erfolgte die Erstbefragung des BF vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu. Hier gab der BF im Wesentlichen an, er stamme aus der Provinz XXXX , sei Paschtune, habe sieben Geschwister, sei verheiratet, und habe zehn Jahre eine höhere Schule (AHS) besucht. Er habe Afghanistan verlassen, da er wegen seiner Tätigkeit als Soldat von den Taliban bedroht worden sei. Weitere Fluchtgründe gebe es nicht.

3. Am 11.04.2018 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA oder belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers seiner Muttersprache zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Im Rahmen der Einvernahme brachte der BF afghanische Dokumente sowie Integrationsnachweise in Vorlage und gab im Wesentlichen zu Protokoll, dass er gesund sei und keine Medikamente nehme. Von den Taliban sei er mehrere Male aufgrund seiner Tätigkeit als Soldat telefonisch bedroht worden, es habe auch ein Bombenattentat gegeben. Sein Kommandant bei der Armee habe ihm die Flucht empfohlen, um nicht getötet zu werden; dies habe er in Folge dann gemacht.

4. Mit dem nunmehr angefochtenem Bescheid des BFA vom 13.04.2018 wurde der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den BF wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

5. Gegen diesen Bescheid erhob der BF mit Schriftsatz seiner damaligen Rechtsvertretung vom 14.05.2018 vollumfängliche Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Dazu wurden Fotos des BF, die ihn bei der Arbeit für das afghanische Militär zeigen, vorgelegt.

Das BFA legte die Beschwerde und den Akt des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) zur Entscheidung vor.

6. Nach Aufforderung des BVwG übermittelte der BF mit Schriftsatz seiner damaligen Rechtsvertretung vom 18.05.2020 eine ausführliche Stellungnahme zur Lage in Afghanistan.

7. Mit Schriftsatz seiner rechtlichen Vertretung vom 31.05.2022 bezog der BF erneut Stellung zum Verfahren, zu seinen Fluchtgründen und zur aktuellen Situation in Afghanistan.

8. Das BVwG führte am 14.06.2022 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu, eines länderkundigen Sachverständigen (im Folgenden: SV) und der ausgewiesenen Rechtsvertretung des BF eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, im Zuge derer der BF zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen wurde. Vertreter der belangten Behörde sind nicht erschienen.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurde das aktuellste, am Tag der Verhandlung elektronisch verfügbare Länderinformationsblatt zu Afghanistan (Stand: 04.05.2022) in das Verfahren eingeführt und eine gutachterliche Stellungnahme des länderkundigen SV abgegeben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den zugrundeliegenden Verwaltungsakt, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG und Einholung gutachterlicher Ausführungen eines länderkundigen SV im Rahmen der mündlichen Verhandlung, Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten Länderberichte, in die vom BF vorgelegten Dokumente bzw. Fotos, in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF führt den im Spruch angeführten Namen und ist volljähriger Staatsangehöriger von Afghanistan. Seine Muttersprache ist Paschtu und kann lesen und schreiben. Er spricht zudem Dari/Farsi. Er ist der Volksgruppe der Paschtunen zugehörig und bekennt sich zum Islam sunnitischer Ausrichtung. Der BF ist gesund und leidet an keinen schweren bzw. lebensbedrohlichen Krankheiten.

Der BF ist in der Provinz XXXX , Distrikt XXXX , Dorf XXXX , Dorfteil XXXX , geboren und gemeinsam mit seiner Familie (Vater XXXX (jetzt ca. 47 J), der Mutter XXXX (jetzt ca. 47 J), den Brüdern XXXX (jetzt ca. 32 J), XXXX (jetzt ca. 29), XXXX (jetzt ca. 25 J), XXXX (jetzt ca. 17 J), XXXX (jetzt ca. 15 J) und den Schwestern XXXX (jetzt ca. 22 J), XXXX (jetzt ca. 19 J) im eigenen Haus, das dem Vater gehört, aufgewachsen. Die Familie besitzt landwirtschaftliche Grundstücke von ca. 3 Jirib, diese werden von der Familie bebaut und die Ernte wird teilweise verkauft (VP, S.5). Die gesamte Familie des BF lebt nach wie vor im Heimatdorf und bestreitet den Lebensunterhalt aus der Landwirtschaft.

Im Jahr 2015, ca. vier Monate vor der Ausreise im November 2015, ging der BF auf Wunsch seiner Eltern eine traditionelle Ehe ein. Seine Frau XXXX lebt aktuell bei der Familie des BF im Heimatdorf in XXXX ; für ihren Lebensunterhalt sorgt der Vater des BF.

Der BF hat einen Onkel väterlicherseits – XXXX - und zwei Tanten mütterlicherseits, die aktuell mit ihren Familien im Heimatdorf des BF leben. Der Onkel hat die Ausreise des BF finanziert (VP S. 5).

Der BF besuchte zehn Jahre die Schule und ging nach der 10. Klasse zur afghanischen Nationalarmee. Nach einem dreimonatigen Training in einem Camp in Kabul absolvierte der BF im Camp in Folge eine Erste-Hilfe-Ausbildung, die ca. zwei Monate - vom 21.12.2013 bis 13.02.2014 – dauerte (VP. Beilage ./2). Der BF wurde für den Gesundheitsbereich ausgebildet und lernte, wie Verletzte zu behandeln sind (zB bandagieren, transportieren. Medikamentengabe etc.). Der BF erhielt nach dieser Ausbildung ein Zertifikat (VP S: 9, Beilage ./2).

Nach dieser Ausbildung war der BF bei einem Armee Corps in der Provinz XXXX tätig. Er war dorthin als Sanitäter geschickt worden und dort als solcher bis kurz vor seiner Ausreise ca. im November 2015 tätig (BFA, AS 11,12; VP S. 11). Der BF wurde mit einer Waffe ausgestattet, war aber nie an Kampfhandlungen direkt beteiligt und hat diese Waffe nie eingesetzt (VP S. 11).

Festgestellt wird mit dem länderkundigen Sachverständigen, dass Sanitäter, die bei der afghanischen Armee tätig sind, Uniformen tragen und auch Waffen zum eigenen Schutz (VP. S. 14). Der BF war ausschließlich zu Erste-Hilfe-Leistungen zuständig, nicht jedoch zur Teilnahme an Kampfhandlungen.

Festgestellt wird mit dem länderkundigen Sachverständigen, dass der BF kein exponierter Offizier der afghanischen Armee war. Eine Feindschaft mit den Taliban besteht betreffend den BF nicht; die Familie des BF lebt nach wie vor unbehelligt im Heimatdorf (VP, S. 15).

1.2. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat:

1.2.1. Festgestellt wird mit dem BF, dass dieser von den Taliban nie persönlich bedroht wurde (BFA, AS 8). Nicht festgestellt werden kann, dass der BF von Angehörigen der Taliban telefonisch bedroht wurde.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF in seinem Herkunftsstaat jemals einer konkret gegen seine Person gerichteten Bedrohung oder Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung ausgesetzt gewesen wäre oder ihm im Falle seiner Rückkehr eine solche droht.

1.2.2. Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage, den Versorgungsengpässen sowie der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit droht.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan läuft der BF Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, derzeit nicht befriedigen zu können, ohne in eine ausweglose oder existenzbedrohende Situation zu geraten. Es ist dem BF derzeit nicht möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten bei einer Ansiedlung in Afghanistan Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der BF hält sich seit Dezember 2015 durchgehend in Österreich auf. Er lebt in der XXXX , XXXX Wien, in einer Mietwohnung mit zwei afghanischen Mitbewohnern. Sie kochen zusammen und hören afghanische Musik. Der BF zahlt mit Hilfe der Caritas 150 Euro pro Monat Miete. Der BF besuchte Sprachkurse und erlangte am 16.03.2018 ein Sprachzertifikat für das Niveau A2. Er bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist strafrechtlich unbescholten.

Es leben keine Angehörigen des BF in Österreich. Es besteht zu keiner Person in Österreich ein (finanzielles oder sonstiges) Abhängigkeitsverhältnis. Die Deutschkenntnisse des BF sind sehr mäßig, eine ergiebige Unterhaltung mit ihm ist nicht möglich. Der BF ist in Österreich nie einer Erwerbstätigkeit nachgegangen und war auch nicht ehrenamtlich aktiv.

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:

Bezogen auf die Situation des BF sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 10.08.2022):

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan:

Mit Stand 29.7.2022 wurden 185.272 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO o.D.). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2022; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen Patienten mit Verdacht auf COVID-19 vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 18.3.2021). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. DW 17.6.2021).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021).

Mit Stand 4.4.2022 wurden insgesamt 5.872.684 Impfdosen verabreicht (WHO o.D.). Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2022). Von den 40 COVID-19-Krankenhäusern in ganz Afghanistan bieten mit Stand März 2022 21 Krankenhäuser eine COVID-19-Behandlung an, 19 weitere wurden nach der Machtübernahme der Taliban wegen fehlender Finanzierung geschlossen (WHO 21.3.2022). Die Mitarbeiter des Afghan-Japan-Hospital gingen mit 17.11.2021 in einen Streik, da diese seit Monaten nicht bezahlt wurden (TN 17.11.2021). Im Februar 2022 setzte das Krankenhaus seine Arbeit fort (IOM 12.4.2022).

Die WHO übernimmt derzeit die vollen Betriebskosten / unterstützt die vollen Betriebskosten der folgenden COVID-19-Krankenhäuser/Gesundheitseinrichtungen ab Februar 2022 für 5-12 Monate (IOM 12.4.2022):

Übernahme der vollen Betriebskosten

 Nangahar COVID-19 mit 50 Betten - Healthnet TPO

 Ghazni COVID-19 Krankenhaus mit 25 Betten - AADA

 Uruzgan COVID-19-Krankenhaus mit 20 Betten - MOVE

 Afghanisches Japan COVID-19 Krankenhaus mit 100 Betten - Healthnet TPO

 Paktia COVID-19 Krankenhaus mit 50 Betten - AADA

Unterstützung der vollen Betriebskosten

 Kunar COVID-19 Krankenhaus mit 10 Betten - mit Healthnet TPO

 Zabul COVID-19 Krankenhaus mit 20 Betten - mit AADA

 Nimroz COVID-19-Krankenhaus mit 20 Betten - mit CHA

 Indonesien COVID-19-Krankenhaus in Kabul mit 70 Betten - mit JACK, ab 1. März

Mit Stand April 2022 gibt es in Afghanistan keine Restriktionen im Hinblick auf COVID-19 (IOM 12.4.2022).

Politische Lage

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a).

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021).

Nachdem der vormalige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Als letzte Provinz steht seit dem 5.9.2021 auch die Provinz Panjshir und damit, trotz vereinzelten bewaffneten Widerstands, ganz Afghanistan weitgehend unter der Kontrolle der Taliban (AA 21.10.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021).

Ende Oktober 2021, nach drei Ernennungsrunden auf höchster Ebene - am 7. September, 21. September und 4. Oktober - scheinen die meisten Schlüsselpositionen besetzt worden zu sein, zumindest in Kabul. Das Kabinett selbst umfasst über 30 Ministerien, ein Erbe der Vorgängerregierung (AAN 7.10.2021). Entgegen früheren Erklärungen handelt es sich nicht um eine "inklusive" Regierung mit Beteiligung verschiedener Akteure, sondern um eine reine Taliban-Regierung. Ihr gehören Mitglieder der alten Taliban-Elite an, die bereits in den 1990er-Jahren zentrale Rollen innehatten, ergänzt durch Taliban-Führer, die zu jung waren, um im ersten Emirat zu regieren. Die große Mehrheit sind Paschtunen. Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a, AA 21.10.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt. Dafür wurde ein Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für Laster und Tugend" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine sogenannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021). Die Übernahme der faktischen Regierungsverantwortung inklusive der Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung stellt die Taliban vor Herausforderungen, auf die sie kaum vorbereitet sind. Leere öffentliche Kassen und die Sperrung des afghanischen Staatsguthabens im Ausland, sowie internationale und US-Sanktionen gegen Mitglieder der Übergangsregierung, haben zu Schwierigkeiten bei der Geldversorgung, steigenden Preisen und Verknappung essenzieller Güter geführt (AA 21.10.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75 % (ICG 24.8.2021) bis 80 % des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a). Diese Finanzierungsquellen werden zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Mit Oktober 2021 hat sich unter den Taliban bislang noch kein umfassendes Staatswesen herausgebildet. Der Status der bisherigen Verfassung und Gesetze der Vorgängerregierung ist, trotz politischer Ankündigungen einzelner Taliban, auf die Verfassung von 1964 zurückgreifen zu wollen, unklar. Das Regierungshandeln zeigte sich bisher uneinheitlich. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Talibanführung auf ihre Vertreter auf Provinz- und Distriktebene. Repressives Verhalten von Taliban der Bevölkerung gegenüber hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab (AA 21.10.2021).

Im Juni 2022 berichtet der UN-Sicherheitsrat, dass sich die Taliban mit einer wachsenden Zahl von Problemen bei der Staatsführung und Sicherheitsproblemen konfrontiert sehen, unter anderem mit Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bewegung selbst (UNGASC 15.6.2022; vgl. USDOS 12.4.2022), dem Auftauchen weiterer bewaffneter Oppositionsgruppen, erneuten Angriffen des Islamischen Staats und Grenzspannungen mit mehreren Nachbarländern (UNGASC 15.6.2022).

Die Taliban haben die Umstrukturierung staatlicher Einrichtungen auch 2022 fortgesetzt und ehemaliges Regierungspersonal durch Taliban-Mitglieder ersetzt (UNGASC 15.6.2022; vgl. USDOS 12.4.2022), wobei sie häufig versuchten, verschiedenen Gruppen entgegenzukommen und durch diese Ernennungen interne Spannungen zu lösen. Im Januar verkleinerten die Behörden die frühere unabhängige Kommission für Verwaltungsreform und öffentlichen Dienst und legten sie mit dem Büro für Verwaltungsangelegenheiten zusammen. Am 7.4.2022 kündigte das Justizministerium der Taliban die Abschaffung der Abteilung für politische Parteien an und schloss damit die Registrierung von politischen Parteien aus. Am 4.5.2022 wurden die Unabhängige Menschenrechtskommission, die Kommission für die Überwachung der Umsetzung der Verfassung und die Sekretariate von Ober- und Unterhaus des Parlaments aufgelöst. Trotz der Forderungen der Afghanen, der Länder in der Region und der internationalen Gemeinschaft nach größerer ethnischer, politischer und geografischer Vielfalt sowie der Einbeziehung von Frauen in die Verwaltungsstrukturen der Taliban blieben das 25-köpfige Kabinett (bestehend aus 21 Paschtunen, drei Tadschiken und einem Usbeken) und die 34 durch die Taliban ernannten Provinzgouverneure (27 Paschtunen, vier Tadschiken und je ein Usbeke, Turkmene und Paschayi) alle männlich und den Taliban verbunden. Viele der Kabinettsmitglieder haben einen religiösen Hintergrund und begrenzte Verwaltungserfahrung und stehen auf der Sanktionsliste gemäß der Sicherheitsratsresolution 1988 (2011) (UNGASC 15.6.2022).

Am 29.4.2022, zum Eid al-Fitr, dem Ende des heiligen Monats Ramadan, gab der Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada eine Erklärung ab, in der er das Engagement der Taliban-Behörden für "alle Scharia-Rechte von Männern und Frauen" darlegte und insbesondere die wirtschaftliche Entwicklung, die Sicherheit, die Bemühungen um einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung sowie die Rückkehr von Afghanen aus dem Ausland und die Bemühungen um die nationale Einheit hervorhob. Am 11.5.2022 leitete der stellvertretende Ministerpräsident Kabir die erste Sitzung der Kommission für Rückkehr und Kommunikation mit ehemaligen afghanischen Beamten und politischen Persönlichkeiten, die daraufhin ihr Mandat annahm und die Absicht ankündigte, eine Loya Jirga einzuberufen. Am 18.5.2022 trafen sich Vertreter der bislang zersplitterten politischen Opposition aus verschiedenen ethnischen Gruppen in der Türkei unter dem Dach des Hohen Rates des Nationalen Widerstands zur Rettung Afghanistans und forderten die Taliban auf, sich zu Verhandlungen bereit zu erklären (UNGASC 15.6.2022; vgl. BAMF 1.7.2022).

Exilpolitische Aktivitäten

Am 28.9.2021 kündigten Angehörige der früheren afghanischen Regierung mit einem in der Schweiz veröffentlichten Statement der dortigen afghanischen Botschaft die Gründung einer Exilregierung unter Vizepräsident Saleh an (AA 21.10.2021; vgl. ANI 29.9.2021). Eine Reihe von afghanischen Auslandsvertretungen in Drittstaaten hatte zuvor die Übergangsregierung der Taliban verurteilt und auf den Fortbestand der afghanischen Verfassung von 2004 verwiesen. Weitere ehemalige Regierungsmitglieder bzw. politische Akteure der ehemaligen Republik sind in unterschiedlichen Gruppierungen aus dem Ausland aktiv (AA 21.10.2021).

Die Taliban haben bisher allen ehemaligen Regierungsvertretern Amnestie zugesagt, soweit sie den Widerstand gegen sie aufgeben und ihre Autorität anerkennen (AA 21.10.2021; vgl. France 24 17.8.2021). Zur Umsetzung dieser Zusicherung im Falle der Rückkehr prominenter Vertreter der Republik ist bisher nichts bekannt (AA 21.10.2021).

Sicherheitslage

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor war schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weitverbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes deutlich zurückgegangen - mit weniger zivilen Opfern (UNGASC 28.1.2022) und weniger sicherheitsrelevanten Vorfällen im restlichen Verlauf des Jahres (USDOS 12.4.2022). Nach Angaben der UN sind konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) seit der Eroberung des Landes durch die Taliban deutlich zurückgegangen (UNGASC 28.1.2022). Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften hat sich auch die Zahl der zivilen Opfer erheblich verringert (UNGASC 28.1.2022; vgl. PAJ 21.8.2021, DIS 12.2021). Zwischen 19.8.2021 und 31.12.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 985 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einem Rückgang von 91% gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2020 entspricht (UNGASC 28.1.2022). Insbesondere die ländlichen Gebiete sind sicherer geworden, und die Menschen können in Gegenden reisen, die in den letzten 15-20 Jahren als zu gefährlich oder unzugänglich galten, da sich die Sicherheit auf den Straßen durch den Rückgang der IEDs verbessert hat (NYT 15.9.2021; vgl. DIS 12.2021).

Die Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle ging nach dem 15.8.2021 deutlich zurück, von 600 auf weniger als 100 Zwischenfälle pro Woche. Aus den verfügbaren Daten für den Zeitraum bis Ende 2021 geht hervor, dass bewaffnete Zusammenstöße gegenüber demselben Zeitraum im Vorjahr um 98% von 7.430 auf 148 Vorfälle zurückgingen, Luftangriffe um 99% von 501 auf 3, Detonationen von improvisierten Sprengsätzen um 91% von 1.118 auf 101 und gezielte Tötungen um 51% von 424 auf 207. Andere Arten von Sicherheitsvorfällen wie Kriminalität haben jedoch zugenommen, während sich die wirtschaftliche und humanitäre Lage rapide verschlechtert hat. Auf die östlichen, zentralen, südlichen und westlichen Regionen entfielen 75% aller registrierten Vorfälle, wobei Nangarhar, Kabul, Kunar und Kandahar die am stärksten konfliktbetroffenen Provinzen sind (UNGASC 28.1.2022).

Trotz des Rückgangs der Gewalt sahen sich die Taliban-Behörden mit mehreren Herausforderungen konfrontiert, darunter eine Zunahme der Angriffe auf deren Mitglieder. Einige der Angriffe werden der National Resistance Front (NRF) zugeschrieben, der einige Persönlichkeiten der ehemaligen Regierung und der Opposition angehören (UNGASC 28.1.2022). Diese formierte sich im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 und wird von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten der NRF in den Provinzen Parwan, Baghlan (IP 13.11.2021; vgl. NR 15.10.2021) und Samangan berichtet (IP 1.12.2021). Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der „National Resistance Front“ und anderer militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (IP 13.11.2021).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021).

Seit der Übernahme durch die Taliban hat die Zahl der Anschläge des ISKP Berichten zufolge zugenommen, insbesondere in den östlichen Provinzen Nangharhar und Kunar sowie in Kabul (DIS 12.2021; vgl. AA 21.10.2021, UNGASC 28.1.2022). Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung. Am 26.8.2021 wurden durch einen Anschlag des ISKP am Flughafen Kabul 170 Personen getötet und zahlreiche weitere verletzt (AA 21.10.2021; vgl. MEE 27.8.2021, AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP, sowie zehn Zivilisten getötet wurden (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021). Am 8. und 15. Oktober 2021 kamen in Kunduz und Kandahar jeweils bei Selbstmordanschlägen zum Zeitpunkt des Freitagsgebets mehr als 100 Menschen ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt (AA 21.10.2021). Ein weiterer Anschlag am 3.10.2021 in Kabul zielte auf eine Trauerfeier, an der hochrangige Taliban teilnahmen und tötete mindestens fünf Personen (AA 21.10.2021; vgl. AnA 4.10.2021). Darüber hinaus verübt der ISKP gezielt Anschläge auf Sicherheitskräfte der Taliban, beispielsweise am 19.9.2021 in Nangarhar, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen (AA 21.10.2021). Zwischen 19.8.2021 und 31.12.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 152 Angriffe der Gruppe in 16 Provinzen, verglichen mit 20 Angriffen in 5 Provinzen im gleichen Zeitraum des Vorjahres (UNGASC 28.1.2022).

Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es auch einen Anstieg bei Straßenkriminalität und Entführungen. Lokale Medien berichten von mehr als 40 Entführungen von Geschäftsleuten in den zwei Monaten nach der Übernahme der Kontrolle durch die Taliban. Anderen Quellen zufolge ist die Zahl weitaus höher, doch da es keine funktionierende Bürokratie gibt, liegen nur spärliche offizielle Statistiken vor. Der Großteil der Entführungen fand in den Provinzen Kabul, Kandahar, Nangarhar, Kunduz, Herat und Balkh statt (FP 29.10.2021; vgl. TN 28.10.2021).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchen Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken im Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. Im Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7 % bzw. 70,7 % der Befragen an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z.B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 12.1.2022).

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse (AA 21.10.2021). Obwohl die Taliban eine "Generalamnestie" für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben (AI 9.2021). Es gibt auch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).

Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In vielen Städten suchten die Taliban nach ehemaligen Mitgliedern der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANDSF), Beamten der früheren Regierung oder deren Familienangehörigen, bedrohten sie und nahmen sie manchmal fest oder richteten sie hin (HRW 13.1.2022). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021). Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021). Weiters wird berichtet, dass die Taliban die Familienangehörigen der Geflüchteten bedrohen, unter anderem mit dem Tod, oder Lösegeld fordern, falls die Geflüchteten nicht zurückkehren (AI 9.2021; vgl. BBC 31.8.2021).

Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Nach Angaben der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) hat die Zahl der zivilen Opfer in der ersten Jahreshälfte 2021 einen Rekordwert erreicht, der im Mai mit dem Beginn des Abzugs der internationalen Streitkräfte stark anstieg. Bis Juni wurden 5.183 tote oder verletzte Zivilisten gezählt, darunter 2.409 Frauen und Kinder (UNAMA 26.7.2021; vgl. AI 29.3.2022). In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte (UNAMA 26.7.2021). Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das war ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).

Obwohl ein Rückgang von durch regierungsfeindlichen Elementen verletzte Zivilisten im Jahr 2020 festgestellt werden konnte, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, so gab es einen Anstieg an zivilen Opfern durch gezielte Tötungen, durch Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (VBIEDs) (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021). Auch im Jahr 2021 kommt es weiterhin zu Angriffen und gezielten Tötungen von Zivilisten. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (AP 15.6.2021; vgl. VOA 15.6.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.6.2021; vgl. AJ 16.6.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

High Profile Attacks (HPAs) vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Vor der Übernahme der Großstädte durch die Taliban kam es landesweit zu aufsehenerregenden Anschlägen (sog. High Profile-Angriffe, HPAs) durch regierungsfeindliche Elemente. Zwischen dem 16.5. und dem 31.7.2021 wurden 18 Selbstmordanschläge dokumentiert, verglichen mit 11 im vorangegangenen Zeitraum, darunter 16 Selbstmordattentate mit improvisierten Sprengsätzen in Fahrzeugen (UNGASC 2.9.2021), die in erster Linie auf Stellungen der afghanischen Streitkräfte (ANDSF) erfolgten (UNGASC 2.9.2021; vgl. USDOD 12.2020). Darüber hinaus gab es 68 Angriffe mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen (IEDs), darunter 14 in Kabul (UNGASC 2.9.2021).

Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': Der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar 2020 hatten die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Angriffe, die vom Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) beansprucht oder ihm zugeschrieben werden, haben zugenommen. Zwischen dem 16.5. und dem 18.8.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 88 Angriffe, verglichen mit 15 im gleichen Zeitraum des Jahres 2020. Die Bewegung zielte mit asymmetrischen Taktiken auf Zivilisten in städtischen Gebieten ab (UNGASC 2.9.2021).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.5.2020, USDOD 1.7.2020). Auch 2021 kam es zu einer Reihe von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen gegen religiöse Minderheiten, darunter eine Hazara-Versammlung in der Stadt Kunduz am 13.5.2021 und eine Sufi-Moschee in Kabul am 14.5.2021 sowie mehrere Personenkraftwagen, die entweder schiitische Hazara beförderten oder zwischen dem 1. und 12.6.2021 durch überwiegend von schiitischen Hazara bewohnte Gebiete in der Provinz Parwan und Kabul fuhren (UNGASC 2.9.2021). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.5.2020, USDOD 1.7.2020). Auch 2021 kam es zu einer Reihe von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen gegen religiöse Minderheiten, darunter eine Hazara-Versammlung in der Stadt Kunduz am 13.5.2021 und eine Sufi-Moschee in Kabul am 14.5.2021 sowie mehrere Personenkraftwagen, die entweder schiitische Hazara beförderten oder zwischen dem 1. und 12.6.2021 durch überwiegend von schiitischen Hazara bewohnte Gebiete in der Provinz Parwan und Kabul fuhren (UNGASC 2.9.2021). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen, solange diese sich ihnen nicht widersetzten und die Autorität der Taliban akzeptieren (AA 21.10.2021), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021; vgl. DW 20.8.2021). Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (FP 23.8.2021).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen (INS 17.8.2021) bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden (ROW 20.8.2021). Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (BBC 6.9.2021; vgl. ROW 20.8.2021, SKN 27.8.2021).

Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, die sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (GO 20.8.2021, vgl. MMM 20.8.2021).

Die Taliban haben bereits früher biometrische Daten genutzt, um Menschen ins Visier zu nehmen. In den Jahren 2016 und 2017 berichteten Journalisten, dass Taliban-Kämpfer biometrische Scanner einsetzten, um Buspassagiere, die sie für Mitglieder der Sicherheitskräfte hielten, zu identifizieren und summarisch hinzurichten; alle von Human Rights Watch (HRW) befragten Afghanen erwähnten diese Vorfälle (HRW 30.3.2022).

Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE ("Handheld Interagency Identity Detection Equipment")-Geräte] (TIN 18.8.2021; vgl. HO 8.9.2021, SKN 27.8.2021). Nach Angaben von HRW kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben, wodurch Tausende von Afghanen gefährdet sind. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Iris-Scans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten (HRW 30.3.2022). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium (HO 8.9.2021; vgl. SKN 27.8.2021). Informationen, die ein ehemaliger Regierungsberater mit Human Rights Watch geteilt hat, legen jedoch nahe, dass die Taliban möglicherweise keinen Zugang zu APPS haben (HRW 30.3.2022). Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenminsteriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (HO 8.9.2021; vgl. SKN 27.8.2021). Berichten zufolge verwenden die Taliban auch Listen ehemaliger Beamter (HRW 30.11.2021; vgl. FP 29.10.2021) und ziviler Aktivisten, um deren Kinder ausfindig zu machen (FP 29.10.2021).

Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine "wahre Fundgrube an Informationen" für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien "wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber" (TT 4.9.2021).

Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (SKN 27.8.2021).

Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen rund um Ausländer und afghanische Ortskräfte nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine "Todesliste" gesetzt (POL 26.8.2021), wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (NYP 26.8.2021).

Einem Bericht des Human Rights Watch nach, führen Taliban auch Durchsuchungsaktionen durch, einschließlich nächtlicher Razzien, um verdächtige ehemalige Beamte festzunehmen und zuweilen gewaltsam verschwinden zu lassen. Bei den Durchsuchungen bedrohen und misshandeln die Taliban häufig Familienmitglieder, um sie dazu zu bringen, den Aufenthaltsort der Untergetauchten preiszugeben. Einige der schließlich aufgegriffenen Personen wurden hingerichtet oder in Gewahrsam genommen, ohne dass ihre Inhaftierung bestätigt oder ihr Aufenthaltsort bekannt gegeben wurde (HRW 30.11.2021).

Regionen Afghanistan

Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AJ 12.8.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 40 Millionen Menschen (WoM 26.10.2021). Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; inwieweit die Talibanregierung landesweit über umfassende Kontroll- und Durchgriffsmöglichkeiten verfügt, kann gegenwärtig nicht bewertet werden (AA 21.10.2021).

Kabul-Stadt

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).

In Kabul-Stadt gibt es einen internationalen Flughafen über den, mit Stand November 2021, nationale und internationale Flüge abgefertigt werden (F 24 o.D.; vgl. RA KBL 8.11.2021), wenn auch in weit geringerem Ausmaß als vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 (RA KBL 8.11.2021).

Die Stadt kann als Kreis mit drei konzentrischen Kreisen gesehen werden: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er-Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Kart-e Se, Kart-e Chahar, Kart-e Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010).

In den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, ist eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Kart-e Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Kart-e Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010).

Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen

2021

Viele Bürger beklagen sich weiterhin über die hohe Kriminalitätsrate in Kabul (BAMF 29.11.2021). Lokale Medien berichten von mehr als 40 Entführungen von Geschäftsleuten in den zwei Monaten nach der Übernahme der Kontrolle durch die Taliban. Anderen Quellen zufolge ist die Zahl weitaus höher, doch da es keine funktionierende Bürokratie gibt, liegen nur spärliche offizielle Statistiken vor (FP 29.10.2021).

Anfang Oktober 2021 wurden mindestens fünf Zivilisten bei einer Bombenexplosion am Eingang einer Moschee im Zentrum Kabuls getötet (VOA 3.10.2021; vgl. France 24 3.10.2021). Bei einem komplexen Anschlag auf ein Militärkrankenhaus in der afghanischen Hauptstadt Kabul sind im November 2021 mehr als 20 Menschen getötet und mindestens 16 verletzt worden (BBC 3.11.2021; vgl. AJ 2.11.2021).

Mitte November 2021 explodierte eine Magnetbombe, die an einem Minivan befestigt war, in dem stark schiitisch geprägten Viertel Dasht-e Barchi, wobei unter anderen ein Journalist getötet wurde (AN 14.11.2021; vgl. NAT 13.11.2021).

Mitte Dezember 2021 kam es zu zwei Bombenanschlägen in hauptsächlich schiitischen Gegenden Kabuls, bei denen mindestens eine Person getötet wurde. Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (RFE/RL 17.11.2021; vgl. REU 18.11.2021).

Nach einem Sprecher der Taliban wurde am 7.11.2021 Qari Baryal als Gouverneur der Provinz Kabul ernannt (LWJ 9.11.2021; vgl. REU 7.11.2021), welcher nach früheren Berichten durch das US-Militär als ein "mit Al-Qaida verbundener Taliban-Führer" bezeichnet wurde (LWJ 9.11.2021).

2022

Das Innenministerium hat eine neue Polizeieinheit für Kontrollpunkte in Kabul gebildet und erklärte, dort würden 500 Soldaten stationiert (BAMF 28.2.2022).

Es gibt Berichte über zahlreiche Hausdurchsuchungen und Verhaftungen durch die Taliban in Kabul im ersten Quartal 2022. Im Februar starteten die Taliban mit mehreren unangekündigten Hausdurchsuchungen in Kabul, um - nach Angaben der Taliban - mutmaßliche Kriminelle und Terroristen aufzuspüren und für mehr Sicherheit in der Hauptstadt zu sorgen (BAMF 28.2.2022; vgl. REU 28.2.2022, HRW 1.3.2022). Ein Universtitäts-Professor gab zum Beispiel an, dass Mitglieder der Taliban sein Haus durchsucht und seine Frau und Tochter geschlagen hätten (8am 13.2.2022) und ein weiterer Professor, der die Taliban kritisierte, verschwand Anfang März (ANI 6.3.2022; vgl. TN 5.3.2022). Die im vergangenen Monat verschwundene afghanisch-kanadische Entwicklungshelferin, die in Kabul eine humanitäre Organisation leitet, wurde Anfang März aus der Haft der Taliban entlassen. Es wurde keine Anklage seitens der Taliban gegen sie erhoben (RFE/RL 9.3.2022).

Am 11.2.2022 verschwanden zehn Frauen in Kabul (BAMF 28.2.2022), während andere Quellen erklärten, dass bis zu 29 Frauen und ihre Familien Anfang des Monats aus einem sicheren Haus in Kabul verschwanden (RFE/RL 23.2.2022).

Am 1.4.2022 schlossen die Taliban eine schiitische Moschee in Kabul; Gründe für die Schließung wurden nicht genannt (BAMF 4.4.2022; vgl. 8am 1.4.2022).

Am 3.4.2022 starben bei einer Explosion in Kabuls größtem Devisenmarkt Sarai Shazadaa eine Person und bis zu 20 Personen wurden verletzt. Die Handgranate soll von einem Räuber gezündet worden sein (BAMF 4.4.2022; vgl. KP 3.4.2022).

Am 29.4.2022 wurden in einer sunnitischen Moschee in Kabul mindestens 10 Menschen bei einem Anschlag getötet, der offenbar auf Mitglieder der Minderheit der Sufi-Gemeinschaft abzielte, die gerade Rituale durchführten (France 24 25.5.2022; vgl. RFL/RL 29.4.2022).

Am 25.5.2022 starben bei einem Bombenangriff auf eine schiitische Moschee bis zu sechs Menschen und 18 weitere wurden verletzt (France 24 25.5.2022; vgl. AJ 25.5.2022).

Anfang August wurde der Al-Qaida-Führer Ayman al-Zawahiri durch einen US-Drohnenangriff in Kabul getötet (TN 2.8.2022; vgl. WZ 2.8.2022).

Nordafghanistan

Im Norden Afghanistans beginnt die zentralasiatische Steppe - grasbewachsene Ebenen, die bis nach Russland reichen. Bis zur Fertigstellung des Salang-Tunnels Mitte der 1960er-Jahre war diese Region durch den Hindukusch vom übrigen Afghanistan relativ isoliert. Mazar-e Sharif ist die größte Stadt in Nordafghanistan. In der Region leben u. a. viele Usbeken, Tadschiken und Turkmenen (NPS NA o.D.). Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017).

Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul (TD 5.12.2017). Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab (OSM o.D.; vgl. TD 5.12.2017). Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan (LCA 4.7.2018).

In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen (Mawlana Jalaluddin Mohammad Balkhi International Airport) über den nationale und internationale Flüge abgefertigt werden (F 24 o.D.; vgl. RA KBL 8.11.2021, IOM 12.4.2022), wenn auch im weit geringeren Ausmaß als vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 (RA KBL 8.11.2021).

Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen

2021

Die Widerstandsfront in Panjshir hat sich in die unwegsamen Seitentäler des Panjshir-Tals zurückgezogen und verübt von dort gezielte Angriffe auf Kämpfer der Taliban. Ähnliches gilt für weitere angrenzende Gebiete im Norden (AA 21.10.2021). Es wird von Kämpfen zwischen Guerilla-Gruppen, von denen angenommen wird, dass sie Teil der National Resistance Front (NRF) sind, und den Taliban in den Provinzen Baghlan, Balkh, Badakhshan und Faryab berichtet (RFE/RL 29.1.2022). Ende August 2021 gaben Anti-Taliban-Kräfte an, drei Distrikte in Baghlan, an der Grenze zu Panjshir eingenommen zu haben (REU 21.8.2021; vgl. VOA 20.8.2021). Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten von Anti-Talibangruppierungen in Parwan, Baghlan (IP 13.11.2021; vgl. NR 15.10.2021, 8am 30.1.2022) und Samangan berichtet (IP 1.12.2021). Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der NRF und anderen militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (IP 13.11.2021). Seit der Eroberung des Panjshir-Tals durch die Taliban im September 2021 haben Einheimische behauptet, die Kämpfer hätten Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung begangen, darunter außergerichtliche Tötungen, Folter, willkürliche Verhaftungen und gewaltsame Vertreibungen (RFE/RL 15.3.2022).

Bei einem Selbstmordattentat auf eine Moschee in der Stadt Kunduz sind Anfang Oktober 2021 nach offiziellen Angaben mindestens 50 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt wurden worden. Der ISKP (Islamic State – Khorasan Province) übernahm die Verantwortung für den Anschlag (BBC 9.10.2021; vgl. TG 8.10.2021).

Im Oktober 2021 berichtet Human Rights Watch (HRW) von Vertreibungen von Hazarafamilien durch Angehörige der Taliban in Balkh (HRW 22.10.2021) bzw. Amnesty International von Androhungen solcher Vertreibungen in Balkh und Kunduz (AI 29.3.2022). Taliban-Kämpfer werden beschuldigt, an der gewaltsamen Vertreibung von mehr als 1.000 Menschen in Jawzjan mitgewirkt zu haben, wobei sich die Vertreibungen gegen Angehörige der ethnischen Gemeinschaften der Usbeken und Turkmenen richteten (RFE/RL 9.12.2021).

Anfang November 2021 wurden bis zu vier Frauen in Mazar-e Sharif getötet, darunter eine Frauenrechtsaktivistin (France 24 6.11.2021; vgl. TG 5.11.2021).

Am 15.11.2021 äußerte der russische Präsident Wladimir Putin mit Verweis auf die russischen Geheimdienste, dass der "Islamischer Staat" (IS) über ca. 2.000 Kämpfer im Norden Afghanistans verfügen würde, die als Flüchtlinge getarnt in die Länder der ehemaligen Sowjetunion und Zentralasiens einreisen könnten (RFE/RL 15.11.2021; vgl. DW 20.10.2021).

2022

In der Provinz Faryab kam es im Januar 2022 zu Kämpfen innerhalb der Taliban entlang ethnischer Grenzlinien zwischen usbekischen und paschtunischen Kämpfern (BAMF 17.1.2022). Im Januar 2022 kam es außerdem nach Protesten wegen der Verhaftung eines lokalen Taliban-Kommandanten, die Berichten zufolge vom stellvertretenden Verteidigungsminister der Taliban vorgenommen worden war, zu Kämpfen (RFE/RL 29.1.2022; vgl. BAMF 17.1.2022). Nach viertägigen Verhandlungen wurde die Pattsituation beendet, die jedoch als Beispiel für zunehmende Spannungen zwischen den ethnischen usbekischen, turkmenischen und tadschikischen Gemeinschaften in Teilen Nordafghanistans und den hauptsächlich paschtunischen Taliban-Kämpfern, die in den letzten Monaten in das Gebiet gezogen sind, gesehen wird (RFE/RL 29.1.2022).

Am 18.1.2022 explodierte im Panjshir-Tal eine an einem Taliban-Fahrzeug angebrachte Magnetmine, wobei sieben Taliban-Kämpfer getötet und mehrere weitere verletzt wurden. Die NRF unter Führung von Ahmad Massoud hat sich zu dem Anschlag bekannt (BAMF 24.1.2022; vgl. 8am 18.1.2022). Sie hatte nach eigenen Angaben bereits am 16.1.2022 einen Kontrollpunkt der Taliban in der Provinz Takhar angegriffen und drei Menschen getötet (BAMF 24.1.2022; vgl. 8am 17.1.2022). Die Taliban bestätigten einen Angriff, gaben aber an, es habe keine Opfer gegeben (BAMF 24.1.2022; vgl. 8am 18.1.2022).

Am 24.1. und 25.1.2022 gab es in der Provinz Baghlan Zusammenstöße zwischen den Taliban und der NRF. Nach unbestätigten Aussagen eines Vertreters der NRF sind dabei 20 Kämpfer der Taliban und sechs Kämpfer der Widerstandsfront getötet worden (BAMF 31.1.2022; vgl. 8am 25.1.2022). Die Kämpfe sollen drei Tage angedauert haben und die Taliban hätten als Vergeltung für ihre Toten Familienmitglieder der Widerstandskämpfer als Geiseln genommen. Der außenpolitische Sprecher der NRF kündigte eine Offensive gegen die Taliban an, sobald der Winter zu Ende sei. Die NRF kämpft in den Provinzen Baghlan, Balkh, Faryab und Badakhshan gegen die Taliban (BAMF 31.1.2022; vgl. RFE/RL 29.1.2022).

Am 28.1.2022 wurden bis zu zwei ehemalige Soldaten durch Unbekannte in der Provinz Kunduz getötet. Die Taliban hätten Verdächtige verhaftet. Die Kriminalitätsrate war in der Provinz zuvor gestiegen (BAMF 31.1.2022; vgl. 8am 28.1.2022).

Berichten zufolge waren am 30.1.2022 Polizei- oder Regierungsgebäude in Panjshir und Parwan von Raketen getroffen worden. Der Taliban-Polizeichef aus Parwan machte die NRF für die Angriffe verantwortlich. Lokale Taliban-Vertreter in der Provinz Panjshir haben die beiden Vorfälle jedoch bestritten (BAMF 7.2.2022; vgl. 8am 30.1.2022).

Berichten zufolge wurden eine Frau und ein Mann am 14.2.2022 in Badakhshan öffentlich von den Taliban gesteinigt, weil sie "illegale Beziehungen" hatten (BAMF 21.2.2022).

Am 24.2.2022 wurden in den Provinzen Kunduz und Takhar acht Poliohelfer bei ihrer Arbeit getötet (USAID 28.2.2022; vgl. WHO 6.3.2022).

Die Taliban führen nach Medienberichten in Panjshir (BAMF 7.3.2022), Faryab (BS 5.3.2022) und Balkh umfangreiche Hausdurchsuchungen durch und beschlagnahmen dabei u. a. Waffen. Die Taliban geben an, dass sie es dabei auf Kriminelle und Terroristen abgesehen haben (BAMF 7.3.2022; vgl. TN 2.3.2022).

In der ersten Hälfte von 2022 kam es zu mehreren Zusammenstößen zwischen der NRF und den Taliban in Baghlan, Panjshir, Takhar und Badakhshan (RY 10.5.2022; vgl. BAMF 9.5.2022; vgl. BAMF 11.4.2022). In Baghlan wurden zum Beispiel elf bis 13 Taliban getötet und 18 weitere verletzt; zwei Widerstandskämpfer wurden ebenfalls getötet (BAMF 4.4.2022; vgl. 8am 29.3.2022). In Panjshir wurden nach dem dritten Tag der Kämpfe drei Taliban getötet und fünf weitere Kämpfer verletzt. Es liegen keine Informationen über NRF-Opfer vor (BAMF 4.4.2022). Einer anderen Quelle zufolge wurden in Panjshir acht Taliban-Mitglieder und acht NRF-Kämpfer bei Zusammenstößen getötet (ACLED 3.3.2022). In Badakhshan traf eine Landmine das Auto eines Taliban-Kommandeurs, verletzte ihn und tötete zwei seiner Leibwächter (BAMF 4.4.2022; vgl. 8am 3.4.2022).

Bei einem Angriff auf eine schiitische Moschee in Mazar-e Sharif am 21.4.2022 sind Dutzende von Menschen getötet oder verletzt worden. Eine Bombe explodierte in der Moschee, als die Gläubigen während des heiligen Fastenmonats Ramadan beteten. Am selben Tag kam es zu einem Bombenangriff auf ein Auto vor einer Polizeistation in Kunduz. Zu beiden Anschlägen bekannte sich der ISKP (DW 21.4.2022; vgl. BBC 21.4.2022).

Am 22.4.2022 wurden bei einem Bombenanschlag auf eine sunnitische Moschee in der Stadt Kunduz 33 Menschen getötet und 43 weitere verletzt, darunter auch Kinder (PAJ 23.4.2022; vgl. BBC 22.4.2022).

Am 28.4.2022 wurden bei zwei Explosionen in Mazar-e Sharif mindestens neun Menschen getötet und 13 verwundet. Der ISKP bekannte sich später in einem Posting auf seinem Telegram-Konto zu dem Anschlag. Taliban-Sicherheitskräfte riegelten das Gebiet ab, und Anwohner sagten, Angehörige der schiitischen Minderheit der Hazara seien offenbar das Ziel des Anschlags gewesen (AJ 28.4.2022; vgl. VOA 28.4.2022).

Anfang Mai 2022 haben die NRF zehn Dörfer in der Provinz Takhar eingenommen, nachdem sie lokalen Quellen zufolge mehrere Angriffe auf Taliban-Stützpunkte durchgeführt haben (8am 5.5.2022b; vgl. BAMF 9.5.2022).

Am 16.5.2022 berichteten lokale Quellen in der Provinz Kunduz von Zusammenstößen zwischen tadschikischen Grenzsoldaten und Taliban-Kräften an der Grenze zwischen den beiden Ländern (KP 16.5.2022; vgl. ANI 17.5.2022).

Tahreek-e-Azadi Afghanistan (die Afghanische Freiheitsbewegung) hat sich am 19.5.2022 zu einem Anschlag auf einen Konvoi des 209. Al-Fath-Taliban-Korps in Mazar-e Sharif bekannt (BAMF 1.7.2022; vgl. KP 20.5.2022).

Am 25.5.2022 wurden mindestens zehn Menschen getötet, als in Mazar-e Sharif drei an Bord von Kleinbussen platzierte Bomben explodierten (France 24 25.5.2022; vgl. AJ 25.5.2022).

Im Juni 2022 berichtet HRW, dass die Sicherheitskräfte der Taliban in der Provinz Panjshir Einwohner, die beschuldigt wurden, mit einer bewaffneten Oppositionsgruppe in Verbindung zu stehen, unrechtmäßig inhaftiert und gefoltert haben (HRW 10.6.2022; vgl. AI 16.6.2022). Seit Mitte Mai 2022 sind die Kämpfe in der Provinz eskaliert, da NRF-Kräfte Taliban-Einheiten und Kontrollpunkte angegriffen haben (HRW 10.6.2022). Die Taliban haben daraufhin Tausende von Kämpfern in die Provinz entsandt, die Durchsuchungsaktionen in Gemeinden durchführten, von denen sie behaupten, dass sie die NRF unterstützen (HRW 10.6.2022; vgl. WP 8.6.2022).

Mit Juni 2022 nehmen die Kämpfe in den Provinzen Baghlan und Panjshir zwischen den Taliban und der NRF zu. Auf beiden Seiten gibt es Tote und Verletzte. Viele Einwohner wurden in den umkämpften Gebieten von den Taliban aus ihren Häusern vertrieben, um diese als Basen zu benutzen. Einige von ihnen wurden aufgrund möglicher Verbindungen zur NRF von den Taliban verhaftet, gefoltert oder auch getötet (BAMF 1.7.2022; vgl. RFE/RL 7.6.2022). Die Taliban sollen zudem mit biometrischen Geräten an Checkpoints in Panjshir unter den Passierenden nach ehemaligen Soldaten suchen (BAMF 1.7.2022; vgl. 8am 5.6.2022).

Bei einer Explosion in einer Moschee am 17.6.2022 in der Provinz Kunduz wurde mindestens ein Gläubiger getötet und sieben weitere verletzt (HT 17.6.2022; vgl. AJ 17.6.2022).

Im Juni 2022 hat sich der bisher einzige Taliban-Kommandeur aus der Ethnie der Hazara, Maulawi Mehdi, laut Meldungen von den Taliban losgesagt und ist in seinen Heimatdistrikt Balkhab in der Provinz Sar-e Pul zurückgekehrt (dort war er vor der Machtübernahme seit 2018 Schattengouverneur der Taliban gewesen). Er hat sich laut lokalen Beobachtern mit ca. 500-1.000 Soldaten in Balkhab verschanzt und wird von ca. 3.000 Taliban belagert. Mit Ende Juni nahmen die Kämpfe an Intensität zu (BAMF 1.7.2022).

Ost-Afghanistan

Der Osten Afghanistans grenzt an Pakistan und ist ein wichtiger Teil des paschtunischen Heimatlandes, dessen Stammeseinfluss sich bis nach Westpakistan erstreckt. Jalalabad, die Hauptstadt der Provinz Nangahar, liegt auf halbem Weg zwischen Torkham (Ende des Khyber-Passes und Kabul/Grenze zu Pakistan) und ist die wichtigste afghanische Stadt im Osten und gilt als das Tor nach Afghanistan vom Khyber-Pass aus. Berge und Täler (oft sehr abgelegen) dominieren die Region (NPS EA o.D.).

In Kabul gibt es einen internationalen Flughafen über den nationale und internationale Flüge abgefertigt werden (F 24 o.D.; vgl. RA KBL 8.11.2021, IOM 12.4.2022), wenn auch im weit geringeren Ausmaß als vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 (RA KBL 8.11.2021).

Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen

2021

Der Islamische Staat in der Provinz Khorasan (ISKP) ist mit Anschlägen gegen Taliban-Kämpfer, die teilweise auch die Zivilbevölkerung treffen, vor allem in den östlichen Provinzen Kunar und Nangahar aktiv (AA 21.10.2021; vgl SP 12.11.2021).

Bewaffnete, die sich als Taliban zu erkennen gaben, griffen eine Hochzeit in Nangarhar an, um die Wiedergabe von Musik zu stoppen. Dabei wurden mindestens zwei Menschen getötet und zehn Weitere verletzt (BBC 31.10.2021). Ein Sprecher der Taliban erklärte, die Bewaffneten gehörten nicht zum "Islamischen Emirat", und fügte hinzu, der Vorfall sei auf einen persönlichen Streit zurückzuführen. Zwei Verdächtige wurden verhaftet (TN 30.10.2021; vgl. PAJ 31.10.2021).

Im Oktober 2021 gab es Berichte, wonach in Nangarhar in Jalalabad Leichen entdeckt wurden, einige mit handgeschriebenen Notizen in ihren Taschen, auf denen sie beschuldigt wurden, Mitglieder des ISKP zu sein. Die Taliban werden beschuldigt, für diese Tötungen verantwortlich zu sein (BBC 29.10.2021).

Im Oktober 2021 wurden mindestens sieben Personen getötet und 15 weitere verletzt, als in Khost ein Sprengsatz explodierte (XI 7.10.2021; vgl. ANI 7.10.2021). Ebenso kam es im selben Monat in Asadabad der Hauptstadt von Kunar zu einer Explosion (XI 14.10.2021) bei der der Polizeichef der Taliban der Provinz getötet wurde und elf weitere Personen verletzt wurden (RFE/RL 14.10.2021; vgl. TNI 15.10.2021).

Bei einer Explosion in einer Moschee in der Region Spin Ghar in der Provinz Nangarhar während des Freitagsgebets im November 2021 wurden nach Angaben von Anwohnern und Taliban-Beamten mindestens drei Menschen getötet und 15 weitere verletzt (AJ 12.11.2021; vgl VOA 12.11.2021, SP 12.11.2021).

Im November 2021 wurden hochrangige Mitglieder des Haqqani-Netzwerkes durch die Taliban-Regierung zu Gouverneuren von Logar und Khost ernannt (LWJ 10.11.2021).

2022

Am 19.1.2022 wurden ein Kommandeur der Taliban, sein Sohn und drei weitere Zivilisten im Osten der Provinz Kunar erschossen. Der Täter sei von den Taliban zum ISKP übergelaufen (BAMF 24.1.2022; vgl. RFE/RL 19.1.2022).

In der Provinz Paktia haben die Taliban am 18.1.2022 zwei Musikern die Haare geschnitten, sie verprügelt und ihre Musikinstrumente verbrannt, weil sie trotz generellem Musikverbot aufgetreten waren (BAMF 24.1.2022; vgl. RFE/RL 18.1.2022).

Bei zwei Luftangriffen der pakistanischen Streitkräfte entlang der Grenze zu Afghanistan wurden am 16.4.2022 in den Provinzen Kunar und Khost mindestens 47 Menschen getötet und 22 verletzt, hauptsächlich Frauen und Kinder (AOAV 22.4.2022; vgl. AJ 17.4.2022)

Am 20.6.2022 wurden in Nangarhar zwei Zivilisten getötet und 23 verletzt, als ein Fahrzeug, das einen Taliban-Distriktvertreter transportierte, auf einem belebten Markt explodierte. Fünf Taliban-Mitglieder wurden ebenfalls verletzt (AOAV 22.6.2022; vgl. RFE/RL 20.6.2022).

Am 22.6.2022 ereignete sich in den Provinzen Paktika und Khost ein Erdbeben der Stärke 5,9, das schätzungsweise 770 Todesopfer und etwa 1.500 Verletzte forderte (USAID 28.6.2022; vgl. WHO 3.7.2022).

Westafghanistan

Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans an der Grenze zwischen Afghanistan und dem Iran. Herat grenzt im Süden an die afghanischen Provinzen Farah, im Norden an Badghis und im Osten an Ghor und grenzt im Norden teilweise an Turkmenistan (NSP Herat o.D.). Herat City ist das größte und bedeutendste Stadtgebiet im Westen Afghanistans, in dem schätzungsweise 400.000 Heratis leben. Die Stadt ist mit Kandahar City und Kabul über den Highway 1 verbunden, der auch als Ring Road bezeichnet wird. Während Landwirtschaft und Viehzucht die Haupterwerbszweige in den ländlichen Distrikten der Provinz Herat sind, dominieren städtische Handels- und Industrieunternehmen die Wirtschaft von Herat-Stadt. Der Handel ist eng mit dem Iran verbunden (NPS Herat o.D.).

In Herat gibt es einen internationalen Flughafen über den nationale und internationale Flüge abgefertigt werden (F 24 o.D.; vgl. RA KBL 8.11.2021, IOM 12.4.2022), wenn auch im weit geringeren Ausmaß als vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 (RA KBL 8.11.2021).

Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen

2021

Die Klimakrise hat unter anderem auch auf die Provinzen Badghis (AJ 26.10.2021; vgl. France 24 25.10.2021) und Farah (RFE/RL 2.11.2021) große Auswirkungen. Hirten sind aufgrund der vorherrschenden Dürre gezwungen, ihr Vieh zu verkaufen, Bauern fliehen aus ihren Dörfern und Töchter werden von ihren Eltern zwangsverheiratet und verkauft, um die Familie zu ernähren (AJ 26.10.2021; vgl. France 24 25.10.2021). In Farah warten Tagelöhner auf den Straßen der Stadt auf die seltenen Arbeitsangebote und die Vertriebenen berichten, dass es kaum Soforthilfe gibt (RFE/RL 2.11.2021). In Herat beobachtet Ärzte ohne Grenzen (MSF) eine besorgniserregende Zunahme der Unterernährung. Die Gesundheitseinrichtungen in der Region werden entweder geschlossen oder bieten nur noch ein Minimum an Leistungen mit den verbleibenden Mitteln an (MSF 10.11.2021).

Kurz nach der Eroberung der Stadt Herat durch die Taliban im August 2021 wurde berichtet, dass viele Frauen von ihrem Arbeitsplatz ausgeschlossen wurden (AI 9.2021). Am 2.9.2021 protestierten Dutzende von Frauen in Herat gegen die Frauenpolitik der Taliban, unter anderem für das Recht auf Arbeit (AI 9.2021; vgl. AJ 2.9.2021). Die Leiterin des Frauengefängnisses von Herat, eine ethnische Hazara, wird mit Stand April 2022 seit mehr als sechs Monaten vermisst (HRW 20.4.2022). Sie kehrte nicht nach Hause zurück, nachdem sie am 2.10.2021 zur Arbeit gegangen war. Nach Angaben von Amnesty International wurde sie offenbar entführt (AI 21.1.2022).

Im September erschossen die Taliban nach eigenen Angaben vier mutmaßliche Entführer. Im Anschluss wurden ihre Leichen auf öffentlichen Plätzen in der Stadt Herat zur "Abschreckung" aufgehängt (BBC 25.9.2021; vgl. TG 25.10.2021).

Im Oktober gab der Grenzkommandant von Nimroz an, dass die Zahl der Menschen, die versuchen, die Grenze zu überqueren, auf 3.000 bis 4.000 pro Tag angestiegen ist, wobei die wenigsten die für die Überquerung der Grenze notwendigen Papiere hätten (France 24 9.10.2021).

Ende Oktober kam es zu einem Konflikt zwischen Taliban-Mitgliedern und bewaffneten Gruppen in Herat, wobei mehr als ein Dutzend Zivilisten getötet wurden. Nach Angaben der Taliban-Regierung geschah dies im Zuge einer Sonderoperation, die sich gegen lokale Kriminelle richtete, die an Entführungen beteiligt sind. Drei der Täter aus der Gruppe der bewaffneten Männer in Herat wurden während der Operation erschossen (ANI 25.10.2021; vgl. TN 26.10.2021).

Die Sicherheitskräfte der Taliban haben im November in Herat einen jungen Arzt getötet, wie lokale Quellen bestätigten, nachdem er an einem Sicherheitskontrollpunkt der Polizei nicht angehalten hatte, wie Familienmitglieder berichteten (KP 27.11.2021).

2022

Im Jänner bekannte sich der Islamische Staat Provinz Khorasan (ISKP) zu einem Anschlag auf einen Minibus in Herat (PAJ 24.1.2022), bei dem bis zu sieben Personen starben (BAMF 24.1.2022; vgl. REU 23.1.2022, TN 22.1.2022).

Bei einem Erdbeben in Badghis am 17.1.2022 sind mindestens 26 Menschen gestorben und ca. 800 Häuser zerstört worden (BAMF 24.1.2022; vgl. UNOCHA 21.1.2022).

Im Februar wurde in Qala e-Naw, der Provinzhauptstadt von Badghis, bei einer Explosion eine Person getötet und 15 weitere verletzt (TN 11.2.2022).

Am 21.2.2022 wurden in Herat drei Menschen erschossen und anschließend öffentlich aufgehängt. Lokalen Quellen zufolge handelte es sich dabei möglicherweise um eine Bestrafung durch die Taliban für eine Entführung. Die Taliban haben die Vorwürfe nicht bestätigt (BAMF 28.2.2022; vgl. 8am 22.2.2022).

Im März 2022 wurde von einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen iranischen und afghanischen Grenzschutzbeamten in Nimroz berichtet, wobei diese vom Verteidigungsminister der Taliban-Regierung später als "Missverständnis" bezeichnet wurde (TN 10.3.2022; vgl. TN 8.3.2022). Drei Monate zuvor war es schon zu einem ähnlichen Zwischenfall gekommen (TN 8.3.2022).

In Farah wurden am 30.3.2022 bei Kämpfen zwischen dem Islamischen Staat der Provinz Khorasan (ISKP) und den Taliban mehrere Leibwächter eines Taliban-Kommandeurs getötet (BAMF 4.4.2022; vgl. 8am 1.4.2022).

Bei zwei Bombenexplosionen in der Stadt Herat wurden Anfang April vier Zivilisten getötet und 25 weitere verletzt (BAMF 4.4.2022; vgl. DW 2.4.2022).

Zentrale Akteure

Die Geschichte Afghanistans ist seit Langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem [Zentral-] Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfern, die in den 1990er-Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. "re-hatting": wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen (AAN 1.7.2020). Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001-15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (AAN 4.6.2021; vgl. AP 25.6.2021).

Mitte August 2021 formierte sich die National Resistance Front (NRF), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021).

In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan (USDOD 12.2020), sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (CRS 17.8.2021).

Im ersten Halbjahr 2021 waren - damals noch als "regierungsfeindliche Elemente" bezeichnete - Gruppierungen wie die Taliban, ISKP und nicht näher definierte Elemente insgesamt für 64 % der zivilen Opfer verantwortlich. 39 % aller zivilen Opfer entfielen davon auf die Taliban, 9 % auf den ISKP und 16 % auf nicht näher definierte regierungsfeindliche Elemente. Vor der Machtübernahme der Taliban als "regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen" bezeichnete Akteure waren im selben Zeitraum für 2 % der von UNAMA erfassten zivilen Opfer verantwortlich. Auf Handlungen der [damals] regulären Streitkräfte der Afghan National Security and Defense Forces (ANDSF) wurden dagegen 23 % der zivilen Opfer zurückgeführt (UNAMA 26.7.2021).

Taliban

Letzte Änderung: 17.01.2022

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha (NYT 26.5.2020), im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben (NYT 29.2.2020), wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen (DP 31.8.2021). Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021). Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte (DW 31.8.2021). Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (NZZ 7.9.2021).

Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020). Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (FA 23.8.2021).

Widerstand gegen die Taliban

Letzte Änderung: 09.08.2022

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten afghanischen Streitkräfte der Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjshir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Massoud kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021; vgl. ANI 9.9.2021). Nach Angaben eines hochrangigen Mitglieds der NRF Angang Oktober 2021, kontrolliert die NRF entgegen Angaben der Taliban mehr als die Hälfte von Panjshir (France 24 5.10.2021).

Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten der NRF unter anderem in den Provinzen Parwan, Baghlan (IP 13.11.2021; vgl. NR 15.10.2021) und Samangan berichtet (IP 1.12.2021). Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der NRF und anderen militanten Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (IP 13.11.2021).

Am 1.11.2021 wurde berichtet, dass die NRF ein Verbindungsbüro in Washington DC eröffnet hat, nachdem sie beim US-Justizministerium registriert wurde, um Lobbyarbeit bei verschiedenen in der Stadt tätigen Politikern zu betreiben (VOA 1.11.2021; vgl. BBC 29.10.2021). Am 4.12.2021 veröffentlichte die NRF auf ihrem offiziellen Twitteraccount eine Stellungnahme, laut derer sie bereit ist, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, um das Leid der Menschen in Afghanistan zu lindern (NRF 4.12.2021).

Am 24.1. und 25.1.2022 gab es in der Provinz Baghlan Zusammenstöße zwischen den Taliban und der NRF. Nach unbestätigten Aussagen eines Vertreters der NRF sind dabei 20 Kämpfer der Taliban und sechs Kämpfer der Widerstandsfront getötet worden (BAMF 31.1.2022; vgl. 8am 25.1.2022). Die Kämpfe sollen drei Tage angedauert haben und die Taliban hätten als Vergeltung für ihre Toten Familienmitglieder der Widerstandskämpfer als Geiseln genommen. Der außenpolitische Sprecher der NRF kündigt eine Offensive gegen die Taliban an, sobald der Winter zu Ende sei. Die NRF kämpfe in den Provinzen Baghlan, Balkh, Faryab und Badakhshan gegen die Taliban (BAMF 31.1.2022; vgl. RFE/RL 29.1.2022).

Zwischen dem 27.2. und dem 3.4.2022 kam es zu mehreren Zusammenstößen zwischen der NRF und den Taliban in Baghlan, Panjshir und Badakhshan (BAMF 4.4.2022). In Baghlan wurden elf bis 13 Taliban getötet und 18 weitere verletzt; zwei Widerstandskämpfer wurden ebenfalls getötet (BAMF 4.4.2022; vgl. 8am 29.3.2022). In Panjshir wurden nach dem dritten Tag der Kämpfe drei Taliban getötet und fünf weitere Kämpfer verletzt. Es liegen keine Informationen über NRF-Opfer vor (BAMF 4.4.2022). Einer anderen Quelle zufolge wurden in Panjshir acht Taliban-Mitglieder und acht NRF-Kämpfer bei Zusammenstößen getötet (ACLED 3.3.2022). In Badakhshan traf eine Landmine das Auto eines Taliban-Kommandeurs, verletzte ihn und tötete zwei seiner Leibwächter (BAMF 4.4.2022; vgl. 8am 3.4.2022).

Am 5.5.2022 schlug der Anführer der NRF, Ahmad Massoud, die Bildung eines Hohen Rates der NRF vor, der offenbar alle zersplitterten Widerstandsgruppen vereinen soll (8am 5.5.2022a; vgl. BAMF 9.5.2022) Bei einem Treffen verschiedener ehemaliger afghanischer Politiker (darunter Abdul Raschid Dostum, Mohammed Mohaqiq, Abdul Rasul Sayyaf, Atta Mohammed Noor), am 17.5.2022 in Ankara (Türkei) (BAMF 1.7.2022; vgl. KP 18.5.2022), haben diese in einem Statement einen „Obersten Rat des nationalen Widerstands zur Rettung Afghanistans“ ausgerufen. Die Deklaration ruft zum Widerstand gegen die Taliban in den nördlichen Provinzen auf (BAMF 1.7.2022; vgl. FP 14.6.2022).

Am 8.5.2022 kämpften die NRF und die Nationale Befreiungsfront (NLF) in der Provinz Baghlan zum ersten Mal gemeinsam gegen die Taliban (8am 8.5.2022; vgl. BAMF 9.5. 2022), während die Kämpfe zwischen NRF und Taliban beispielsweise in den Provinzen Takhar (8am 5.5.2022b; vgl. BAMF 9.5.2022, RY 10.5.2022), Badakhshan und Panjshir (RY 10.5.2022; vgl. BAMF 9.5.2022) andauern.

Tahreek-e-Azadi Afghanistan (die Afghanische Freiheitsbewegung) hat sich am 19.5.2022 zu einem Anschlag auf einen Konvoi des 209. Al-Fath-Taliban-Korps in Mazar-e-Sharif in der Provinz Balkh bekannt (BAMF 1.7.2022; vgl. KP 20.5.2022).

Mit Juni 2022 nehmen die Kämpfe in den Provinzen Baghlan und Panjshir zwischen den Taliban und der NRF zu. Auf beiden Seiten gibt es Tote und Verletzte. Viele Einwohner wurden in den umkämpften Gebieten von den Taliban aus ihren Häusern vertrieben, um diese als Basen zu benutzen. Einige von ihnen wurden aufgrund möglicher Verbindungen zur NRF von den Taliban verhaftet, gefoltert oder auch getötet (BAMF 1.7.2022; vgl. RFE/RL 7.6.2022). Die Taliban sollen zudem mit biometrischen Geräten an Checkpoints in Panjshir unter den Passierenden nach ehemaligen Soldaten suchen (BAMF 1.7.2022; vgl. 8am 5.6.2022).

Im Juni 2022 hat sich außerdem der bisher einzige Taliban-Kommandeur aus der Ethnie der Hazara, Maulawi Mehdi, laut Meldungen von den Taliban losgesagt und ist in seinen Heimatdistrikt Balkhab in der Provinz Sar-e Pul zurückgekehrt (dort war er vor der Machtübernahme seit 2018 Schattengouverneur der Taliban gewesen). Er hat sich laut lokalen Beobachtern mit ca. 500-1.000 Soldaten in Balkhab verschanzt und wird von ca. 3.000 Taliban belagert. Am 23.6.2022 haben die Kämpfe zugenommen, bisher gibt es kaum Meldungen über Opfer. Mehdi war nach der Machtübernahme zunächst Chef des Taliban-Geheimdienstes für die mehrheitlich von Hazaras bewohnte Provinz Bamyan gewesen, hatte sich dort aber geweigert, Maßnahmen der Taliban gegen die Hazara durchzusetzen und wurde deswegen erst nach Kabul beordert, um dann auszuscheiden. Da die Taliban nicht noch mehr paschtunische Kämpfer bei der Bekämpfung von Aufständen verlieren wollen, versuchen sie derzeit erstmalig, Kämpfer des Islamischen Staats der Provinz Khorasan (ISKP) gegen Mehdi und seine Kämpfer zu mobilisieren (BAMF 1.7.2022;).

 

 

Rechtsschutz/Justizwesen

Letzte Änderung: 03.05.2022

Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia (EASO 1.2022). Beim Übergang der Taliban von einem Aufstand zu einer Regierung fehlten dem afghanischen Justizsystem eine offizielle Verfassung und offizielle Gesetze (EASO 1.2022; vgl. FH 28.10.2022). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet werden soll, das Regierungssystem solle auf der Scharia basieren. Sie blieben dabei allerdings sehr vage bezüglich der konkreten Auslegung. "Scharia" bedeutet auf Arabisch "der Weg" und bezieht sich auf ein breites Spektrum an moralischen und ethischen Grundsätzen, die sich aus dem Koran sowie aus den Aussprüchen und Praktiken des Propheten Mohammed ergeben. Die Grundsätze variieren je nach der Auslegung verschiedener Gelehrter, die Denkschulen gegründet haben, denen die Muslime folgen und die sie als Richtschnur für ihr tägliches Leben nutzen (AJ 23.8.2021; vgl. NYT 19.8.2021). Die Auslegung der Scharia ist in der muslimischen Welt Gegenstand von Diskussionen. Jene Gruppen und Regierungen, die ihr Rechtssystem auf die Scharia stützen, haben dies auf unterschiedliche Weise getan. Wenn die Taliban sagen, dass sie die Scharia einführen, bedeutet das nicht, dass sie dies auf eine Weise tun, der andere islamische Gelehrte oder islamische Autoritäten zustimmen würden (NYT 19.8.2021). Sogar in Afghanistan haben sowohl die Taliban, die das Land zwischen 1996 und 2001 regierten, als auch die Regierung von Ashraf Ghani behauptet, das islamische Recht zu wahren, obwohl sie unterschiedliche Rechtssysteme hatten (AJ 23.8.2021).

Bereits vor der Machtübernahme unterhielten die Taliban Schattengerichte unter strikter Auslegung der Scharia in den von ihnen kontrollierten Gebieten, die von der Bevölkerung zum Teil als effizienter und verlässlicher als das korruptionsbelastete Justizsystem der Republik empfunden wurden. Aktuell gibt es Berichte, wonach die Taliban auf lokaler Ebene gegen Kriminalität vorgehen und Täter öffentlich bestrafen (AA 21.10.2021; vgl. USDOS 12.4.2022). Darüber, was im Anschluss weiter mit den Tätern passiert, liegen keine Erkenntnisse vor (AA 21.10.2021). Während des Übergangs der Taliban von Aufständischen zu einer Regierung fehlte es dem afghanischen Justizsystem an einer offiziellen Verfassung und offiziellen Gesetze (FP 28.10.2022; vgl. EASO 1.2022).

Nach der Absetzung der gewählten Regierung im August 2021 übernahmen die Taliban die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes und ernannten Richter an Zivil- und Militärgerichten (FH 28.2.2022). Es wurden ein Justizminister und ein Oberster Richter und Leiter des Obersten Gerichtshofs durch die Taliban ernannt. Der geltende Rechtsrahmen ist nach wie vor unklar, obwohl eine Überprüfung der Vereinbarkeit der bestehenden Rechtsvorschriften mit dem mit dem islamischen Recht läuft. Am 16.12.2022 erließ die Taliban-Führung ein Dekret zur Ernennung von 32 Direktoren, Abteilungsleitern, Richtern und anderen wichtigen Beamten im Zusammenhang mit dem Obersten Gerichtshof. Am 25.12.2022 wurde ein Generalstaatsanwalt ernannt, der sich zur Rechenschaftspflicht und Unabhängigkeit seines Amts nach der Scharia verpflichtet (UNGASC 28.1.2022). Richter, die unter der ehemaligen Regierung gedient haben, insbesondere Richterinnen, sind arbeitslos; eine beträchtliche Anzahl ist untergetaucht (FH 28.2.2022). Während in den Provinzen zahlreiche Richterstellen neu besetzt wurden, wurden ehemalige Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte nicht in das Justizsystem der Taliban-Behörden integriert. Frauen sind nach wie vor von der Arbeit im Justizsektor ausgeschlossen (UNGASC 28.1.2022).

Unter der Republik waren informelle Rechtssysteme, die sich auf Varianten des Gewohnheitsrechts und der Scharia stützten, zur Schlichtung von Streitigkeiten weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versuchen, einige lokale Streitbeilegungsverfahren zu kontrollieren (FH 28.2.2022).

Die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban entstammt nach Angaben eines Experten dem Deobandi-Strang der Hanafi-Rechtsprechung - einem Zweig, der in mehreren Teilen Südostasiens, darunter Pakistan und Indien, anzutreffen ist - und der eigenen gelebten Erfahrung als überwiegend ländliche und stammesbezogene Gesellschaft (AJ 23.8.2021; vgl. WTN 3.9.2021). Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, setzten sie strenge Kleidervorschriften für Männer und Frauen durch und schlossen Frauen weitgehend von Arbeit und Bildung aus. Die Taliban führten auch strafrechtliche Bestrafungen (hudood) im Einklang mit ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts ein, darunter öffentliche Hinrichtungen von Menschen, die von Taliban-Richtern des Mordes oder des Ehebruchs für schuldig befunden wurden, und Amputationen für diejenigen, die aufgrund von Diebstahl verurteilt wurden (AJ 23.8.2021; vgl. VOA 24.8.2021).

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 03.05.2022

Die Taliban haben mit ihrer Machtübernahme im August 2021 faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Die Ein- und Zuteilung der bisherigen Kämpfer für diese Aufgaben folgt keiner einheitlichen Regelung. Neben bewaffneten Talibankämpfern in Uniform gibt es auch weiter eine Vielzahl von Talibankämpfern in zivil, die Sicherheitsaufgaben wahrnehmen, ohne dass klar wäre, in wessen Auftrag oder auf welcher Grundlage sie dies tun (AA 21.10.2021). Die Einrichtung und der Betrieb der Sicherheitsministerien, insbesondere des Innenministeriums und des Verteidigungsministeriums, gelten als eine der Prioritäten der Taliban-Verwaltung. Sirajuddin Haqqani und Mohammad Yaqoub Omar, der Sohn des verstorbenen Taliban-Führers Mullah Omar, wurden zum Innenminister bzw. zum Verteidigungsminister ernannt. Die Taliban-Behörden erklärten, zu den Prioritäten im Sicherheitssektor gehören die Bekämpfung des Islamischen Staates (ISKP), des bewaffneten Widerstandes in und um die Provinz Panjshir und die Bekämpfung von Kriminalität sowie die Sicherung der Grenzen und die Drogenbekämpfung. Frauen in Uniform, die früher im Sicherheitssektor gedient haben, wurden vom Dienst ausgeschlossen. Am 11.11.2021 hat das Taliban-Regime eine Säuberungskommission eingerichtet, um "unerwünschte Personen" aus den Reihen der Taliban zu entfernen, die kriminelles Verhalten an den Tag legen oder die nicht die Werte der Taliban vertreten. Berichten zufolge wurden bisher etwa 700 Personen entlassen (UNGASC 28.1.2022).

Wachsende Kriminalität war bereits in den vergangenen Jahren ein Problem, insbesondere in den Städten. Die Taliban nehmen für sich in Anspruch, dem entgegenzuwirken. Ihnen nahestehende Medien veröffentlichen beispielsweise Berichte über die Befreiung von Entführungsopfern oder die Gefangennahme von Dieben und Drogenschmugglern. Gleichzeitig existieren Berichte über öffentliche Strafmaßnahmen gegen und Zurschaustellung von Verbrechern durch die Taliban. Dies entspricht auch dem gängigen Vorgehen des ersten Talibanregimes (AA 21.10.2021).

Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse (AA 21.10.2021). Obwohl die Taliban eine "Generalamnestie" für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben (UNGASC 28.1.2022; vgl. AI 9.2021, USDOS 12.4.2022). Es wurde berichtet, dass die Taliban eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet hätten (CNN 8.9.2021; vgl. BBC 5.9.2021). Es gibt weitere Berichte wonach ehemalige Polizisten (PAJ 21.10.2021) oder Dolmetscher getötet wurden (ABC News 20.10.2021).

Während im Oktober afghanische Militärpiloten noch berichteten, dass ihre in Afghanistan verbliebenen Verwandten mit dem Tod bedroht würden, sollten sie nicht zurückkehren (RFE/RL 23.10.2021), forderte der Sprecher der Talibanregierung diese auf, im Land zu bleiben bzw. zurückzukehren. Sie würden durch eine Amnestie geschützt und nicht verhaftet werden. Dies geschah, nachdem Dutzende von in den USA ausgebildeten afghanischen Piloten Tadschikistan im Rahmen einer von den USA vermittelten Evakuierung verlassen hatten, wohin sie zuvor geflüchtet waren (AP 10.11.2021; vgl. TD 10.11.2021).

Nach einem Bericht von Human Rights Watch (HRW) vom November 2021 wurden seit der Machtübernahme der Taliban mehr als 100 ehemalige Polizei- und Geheimdienstmitarbeiter in nur vier Provinzen (Ghazni, Helmand, Kandahar, and Kunduz) exekutiert oder waren gewaltsamem "Verschwindenlassen" ausgesetzt (HRW 30.11.2021).

Angaben des amtierenden Oberbefehlshabers der Taliban Qari Fasihuddin zufolge planen die Taliban den Aufbau einer regulären Armee unter Einbeziehung bisheriger Sicherheitskräfte, deren gute Ausbildung man nutzen wolle. Gleiches soll auch für die Polizei gelten. Erkenntnisse über die Umsetzung dieser Planungen liegen bisher nicht vor (AA 21.10.2021).

Nach Angaben von BBC Pashto erließen die Taliban am 8.11.2021 einen Erlass, der die Namen der bisherigen Armeekorps (Qol-e Ordou) wie folgt änderte (BBC 8.11.2022; vgl. KP 8.11.2022, EASO 1.2022):

Korps Kabul wird in Korps Kabul Central umbenannt

 209. Shaheen-Korps in Mazar wird in Al-Fatha-Korps umbenannt

 17. Pamir-Korps in Kunduz wird in Omary-Korps umbenannt

 205. Attal-Korps in Kandahar geändert in Badar-Korps

 201. Silab-Korps in Laghman geändert in Khalid Ibn-e Walid-Korps

 203. Tander-Korps in Paktia geändert in Mansouri-Korps

 207. Zafar-Korps in Herat geändert in Al-Farooq-Korps

 215. Maiwand-Korps in Helmand wurde in Azm-Korps umbenannt

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 03.05.2022

Unter der vormaligen Regierung war laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) Folter verboten (UNAMA 2.2021b; vgl. AA 16.7.2021). Die Regierung erzielte Fortschritte bei der Verringerung der Folter in einigen Haftanstalten, versäumte es jedoch, Mitglieder der Sicherheitskräfte und prominente politische Persönlichkeiten für Misshandlungen, einschließlich sexueller Übergriffe, zur Rechenschaft zu ziehen (HRW 4.2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Obwohl die Verfassung von 2004 und die Gesetze der früheren Regierung solche Praktiken untersagten, gab es zahlreiche Berichte über Misshandlungen durch Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte, Behörden von Haftanstalten und die Polizei (USDOS 12.4.2022).

Über systematische staatliche Folter ist bislang nichts bekannt (AA 21.10.2021). Es gibt jedoch zahlreiche Berichte über Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafung durch die Taliban, ISKP und andere regierungsfeindliche Gruppen. UNAMA berichtet, dass zu den von den Taliban durchgeführten Bestrafungen Schläge, Amputationen und Hinrichtungen gehörten. Die Taliban hielten UNAMA zufolge Häftlinge unter schlechten Bedingungen fest und setzten sie Zwangsarbeit aus (UNAMA 26.5.2019; vgl. USDOS 12.4.2022). Auch gibt es Berichte über die Folter von Journalisten (AA 21.10.2021; vgl. HRW 8.9.2021).

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 09.08.2022

Es ist nicht davon auszugehen, dass die Verfassung der afghanischen Republik aus Sicht der Taliban aktuell fortbesteht. Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht; politische Aussagen der Taliban, übergangsweise die Verfassung von 1964 in Teilen nutzen zu wollen, blieben bislang ohne unmittelbare Auswirkungen (AA 21.10.2021). Die gewählte Regierung Afghanistans, die durch einen von den Taliban geführten Aufstand sowie durch Gewalt, Korruption und mangelhafte Wahlverfahren unterminiert wurde, bot vor ihrem Zusammenbruch im Jahr 2021 dennoch ein breites Spektrum an individuellen Rechten. Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban den politischen Raum des Landes geschlossen; Opposition gegen ihre Herrschaft wird nicht geduldet, während Frauen und Minderheitengruppen durch das neue Regime in ihren Rechten beschnitten wurden (FH 28.2.2022). Unter der Taliban-Herrschaft werden die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Versammlungsfreiheit zunehmend eingeschränkt, und jede Form von Dissens wird mit Verschwindenlassen, willkürlichen Verhaftungen und unrechtmäßiger Inhaftierung bestraft (AI 21.3.2022).

Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 23.8.2021; vgl. AA 21.10.2021, USDOS 12.4.2022), wobei diese im Einzelfall nur schwer zu verifizieren sind, darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Erschießungen (AA 21.10.2021). Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet (HRW 30.11.2021; vgl. USDOS 12.4.2022). Ebenso deuteten seit August zahlreiche Berichte darauf hin, dass die Taliban gewaltsam in Wohnungen und Büros eindrangen, um nach politischen Gegnern und nach Personen zu suchen, die die NATO- und US-Missionen unterstützt hatten (USDOS 12.4.2022). Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, dass sie Repressalien fürchten (BBC 20.8.2021), und es gibt Berichte über das gewaltsame Verschwindenlassen von Frauen, willkürliche Verhaftungen von Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft durch die Taliban (AI 21.3.2022) sowie über Einzeltäter oder kriminelle Gruppen, die sich als Taliban ausgeben und Hausdurchsuchungen, Plünderungen und Ähnliches durchführen (AA 21.10.2021). Im Juni 2022 wurde berichtet, dass einige der Männer, die in der britischen Botschaft in Afghanistan arbeiteten und im Land geblieben waren, geschlagen und gefoltert wurden (BBC 16.7.2022, AN 16.7.2022).

UNAMA, AIHRC und andere Beobachter berichteten, dass es sowohl unter der früheren Regierung als auch unter den Taliban im ganzen Land zu willkürlichen und lang andauernden Inhaftierungen kam, einschließlich von Personen, die ohne richterliche Genehmigung festgehalten wurden. Die ehemaligen Regierungsbehörden informierten die Inhaftierten häufig nicht über die gegen sie erhobenen Anschuldigungen (USDOS 12.4.2022).

Beispielsweise wurde Berichten zufolge ein beliebter Komiker, der früher für die Polizei gearbeitet hatte, aus seinem Haus entführt und von den Taliban am oder um den 28.7.2021 getötet (AI 9.2021; vgl. WP 28.7.2021), ein Folksänger von den Taliban erschossen (AI 9.2021; vgl. RFE/RL 29.8.2021) und eine frühere Polizeiangestellte, die im achten Monat schwanger war, vor ihren Kindern erschossen (AI 9.2021; vgl. BBC 5.9.2021).

Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (MPI 2.9.2021; vgl. REU 3.9.2021).

Internet und Mobiltelefone

Eine schnelle Verbreitung von Mobiltelefonen, Internet und sozialen Medien hat vielen Bürgern einen besseren Zugang zu unterschiedlichen Ansichten und Informationen ermöglicht (USDOS 30.3.2021). Es gibt Mobiltelefone in 90% der afghanischen Haushalte, wobei sich oft mehrere Personen eines teilen (DFJP/SEM 30.6.2020). Während die Anzahl der Mobiltelefonnutzer auf 23 Mio. geschätzt wird, gibt es weniger als neun Millionen Internetnutzer, was unter anderem auf die hohen Kosten und mangelnde Infrastruktur zurückgeführt wird (GBL 26.11.2021; vgl. BBC 6.9.2021). Internet- und Telekommunikationsdienste sind in allen 34 Provinzen Afghanistans verfügbar, und die Dienste werden von verschiedenen Unternehmen angeboten. In einigen abgelegenen Gebieten ist die Qualität des Internets schlecht. Im Allgemeinen ist die Qualität der Internetdienste in den Städten besser als in den ländlichen Gebieten. Die Weltbank schätzt, dass derzeit nur 13,5 % der Afghanen Zugang zum Internet haben (IOM 12.4.2022; vgl. DW 30.8.2021).

Fünf GSM-Betreiber decken zwei Drittel der bevölkerungsreichsten Gebiete ab. Ungefähr jeder zweite Einwohner hat im Jahr 2020 eine aktive SIM-Karte. Weniger als einer von zehn Nutzern geht mit einem Mobiltelefon ins Internet (DFJP/SEM 30.6.2020).

Im Laufe des Jahres 2021 gab es viele Berichte über Versuche der Taliban, den Zugang zu Informationen einzuschränken, oft durch die Zerstörung oder Abschaltung von Telekommunikationsantennen und anderen Geräten (USDOS 12.4.2022).

Aus strategischen Gründen schnitten die Taliban im Zuge der Kampfhandlungen die Internetverbindungen nach Panjshir zeitweise ab (AAN 1.7.2021) und es gibt auch Berichte wonach die Taliban in Kabul das Internet an- und abschalten würden (DW 30.8.2021). Am 9.9.2021 forderten die Taliban die Telekommunikationsbetreiber auf, die Internetverbindung in mehreren Bezirken Kabuls abzuschalten, darunter auch in Gebieten wie Dasht-e-Barchi, wo in den Tagen zuvor Proteste stattgefunden hatten (AI 9.2021; vgl. IT 9.9.2021, AA 21.10.2021).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv und nutzen diese zur Außenkommunikation (BBC 6.9.2021; vgl. USDOS 12.4.2022). Viele afghanische Bürger, die für internationale Streitkräfte, Organisationen und Medien gearbeitet haben, wie auch andere Personen, die sich in den sozialen Medien kritisch über die Taliban äußerten, deaktivierten nach der Machtübernahme der Taliban ihre Konten, da sie befürchteten, dass die Informationen dazu verwendet werden könnten, sie ins Visier zu nehmen (BBC 6.9.2021).

Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung: 09.08.2022

Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D.). Afghanistan ist mit mehreren Krisen konfrontiert: einer wachsenden humanitären Notlage, massiver wirtschaftlicher Rückgang, die Lähmung des Banken- und Finanzsystems und die Tatsache, dass eine inklusive Regierung noch gebildet werden muss (UNGASC 28.1.2022).

Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7 % am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1 %, tertiärer Sektor: 53,1 %; WB 7.2019). Rund 45 % aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20 % sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).

Die afghanische Wirtschaft war bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban schwach, wenig diversifiziert und in hohem Maße von ausländischen Einkünften abhängig. Diese umfasste zivile Hilfe, finanzielle Unterstützung für die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) und Geld, das von ausländischen Armeen im Land ausgegeben wurde (AAN 11.11.2021).

Bevor sie die Macht übernahmen, hatten die Taliban große Teile des Landes kontrolliert oder in ihrem Einfluss und konnten die Bevölkerung und die verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten, denen die Menschen dort nachgingen, "besteuern". Dazu gehörten unter anderem: die landwirtschaftliche Ernte (Ushr) [Anm.: 10 % Steuer auf landwirtschaftliche Produkte nach islamischem Recht], insbesondere Opium; der grenzüberschreitende Handel, sowohl legal als auch illegal; Bergbau; Gehälter, auch von Beamten und NGO-Mitarbeitern. Sie erzielten auch Einnahmen in Form von Schutzgeldern sowie durch die Einhebung von Geld von Reisenden an Kontrollpunkten. Die Taliban erhielten auch Spenden von afghanischen und ausländischen Anhängern (AAN 11.11.2021).

Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen, so haben die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. USD (7,66 Mrd. EUR) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt (DW 24.8.2021; vgl. AAN 11.11.2021). Im November 2021 sagte der Präsident der Weltbank, dass es unwahrscheinlich sei, dass sie die direkte Hilfe für Afghanistan wieder aufnehmen werde, da das Zahlungssystem des Landes Probleme aufweise (KP 9.11.2021; vgl. ANI 9.11.2021).

Die Regierung der Taliban hat einige kleine Schritte zur Bewältigung der Krise unternommen und teilweise die Arbeit mit NGOs und UN-Organisationen aufgenommen (AAN 11.11.2021). Anfang Dezember wurde berichtet, dass die Taliban begonnen haben, landesweit eine Ushr einzutreiben (BAMF 6.12.2021).

Die Vereinten Nationen warnen nachdrücklich vor einer humanitären Katastrophe, falls internationale Hilfsleistungen ausbleiben oder nicht implementiert werden können. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen ist ebenso wie eine Reihe von UN-Unterorganisationen (z. B. WHO, WFP, UNHCR, IOM) vor Ort – mit Abstrichen – weiter arbeitsfähig. Bei einer internationalen Geberkonferenz am 13. September 2021 hat die internationale Gemeinschaft über 1 Milliarde USD an Nothilfen für Afghanistan zugesagt (AA 21.10.2021).

Die Haushalte haben Einkommensverluste erlitten und kämpfen ums Überleben, was dazu führt, dass die Familien auf problematische Bewältigungsmechanismen zurückgreifen. Eine derart ernste sozioökonomische Situation führt zu psychosozialen Problemen, geschlechtsspezifischer Gewalt und schwerwiegenden Kinderschutzproblemen, einschließlich Kinderarbeit und Ausbeutung, und verhindert den Zugang zu Bildung, da Kinder gezwungen sein können, zu arbeiten oder zu betteln (UNHCR 12.4.2022).

Laut einer Studie des UNHCR, die vom 10.10.2021 bis 31.12.2021 durchgeführt und bei der 142.182 Personen in 34 Provinzen befragt wurden, gab die Mehrheit der untersuchten Haushalte an, zum Zeitpunkt der Befragung keine humanitäre Hilfe erhalten zu haben. Von denjenigen, die Hilfe erhalten hatten, gab die Mehrheit (53 %) an, die Hilfe vor mehr als drei Monaten erhalten zu haben, und zwar in erster Linie in Form von Nahrungsmitteln, während Bargeld (das zur Deckung einer Vielzahl anderer Grundbedürfnisse verwendet werden könnte) nur für 10 % der insgesamt untersuchten Haushalte bereitgestellt wurde (UNHCR 12.4.2022).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 4 % der Befragten an, dass sie in der Lage sind, ihre Familien mit den grundlegendsten Gütern zu versorgen. In Kabul gaben 80 % der Befragten an, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Haushalt zu versorgen, gefolgt von 66 % in Mazar-e Sharif und 45 % in Herat. Ebenso gaben 8 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien mit grundlegenden Gütern zu versorgen, gefolgt von 24 % in Mazar-e Sharif und 42 % in Herat (ATR/STDOK 18.1.2022).

 

Naturkatastrophen

Zu Beginn des Frühjahrs 2022 gibt es Berichte über schwere Regenfälle und Sturzfluten in Nangarhar (XI 20.3.2022; vgl. ANI 20.3.2022) und auch am 4.5.2022 wurden schwere Regenfälle und Sturzfluten in vielen Provinzen gemeldet (BAMF 9.5.2022; vgl. UNOCHA 7.5.2022), z.B. in Badakhshan, Badghis, Baghlan, Bamyan, Faryab, Herat, Jawzjan, Kunar, Kunduz, Samangan und Takhar (UNOCHA 7.5.2022).

Am 22.6.2022 ereignete sich in den Provinzen Paktika und Khost ein Erdbeben der Stärke 5,9, das schätzungsweise 770 Todesopfer und etwa 1.500 Verletzte forderte (USAID 28.6.2022; vgl. WHO 3.7.2022). Zusätzlich zu dem Erdbeben haben Sturzfluten nach schweren Regenfällen am 21.6.2022 in mindestens vier Provinzen Häuser und Lebensgrundlagen zerstört (WFP 23.6.2022).

Armut und Lebensmittelunsicherheit

Afghanistan kämpft weiterhin mit den Auswirkungen einer Dürre, der Aussicht auf eine weitere schlechte Ernte in diesem Jahr, einer Banken- und Finanzkrise, die so schwerwiegend ist, dass mehr als 80 % der Bevölkerung verschuldet sind, und einem Anstieg der Lebensmittel- und Kraftstoffpreise (UNOCHA 15.3.2022). 18,9 Millionen Menschen - fast die Hälfte der Bevölkerung - werden Schätzungen zufolge zwischen Juni und November 2022 von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sein. In allen 34 Provinzen herrschte im April 2022 akute Ernährungsunsicherheit auf Krisen- oder Notfallniveau (WFP 23.6.2022). Für die breite Bevölkerung waren seit Februar jeden Monat allmähliche Verbesserungen zu beobachten. Allerdings sind Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand immer noch weitgehend auf Bewältigungsstrategien angewiesen (87 %), wobei seit fast neun Monaten keine klare Tendenz zur Verbesserung zu erkennen ist (WFP 5.2022). Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mit März 2022 die Krankenhäuser voll mit Kindern, die an Unterernährung leiden (UNOCHA 15.3.2022). Der Hunger geht weiterhin über die Kluft zwischen Stadt und Land hinaus, wobei beide Gruppen gleichermaßen betroffen sind: 92 % der Menschen in Afghanistan sind mit unzureichender Nahrungsaufnahme konfrontiert. Beide Gruppen verzeichneten im Mai einen Anstieg der ernsten Ernährungsunsicherheit (WFP 5.2022).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban sind die Lebensmittel- und Kraftstoffpreise in die Höhe geschossen und stiegen im Mai 2022 weiter an. Da die Lebensmittelpreise steigen, wird noch mehr Haushaltseinkommen für Lebensmittel ausgegeben. Die Haushalte geben jetzt 87 % ihres Einkommens für Lebensmittel aus - gegenüber 85 % und 83 % im April bzw. März 2022. Dies geschieht vor dem Hintergrund steigender Preise für wichtige Rohstoffe, wobei Weizenmehl um 4 % und Speiseöl um 8 % im Mai 2022 gestiegen sind (WFP 5.2022).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6 % der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53 % der Befragten in Herat, 26 % in Balkh und 12 % in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33 % der Befragten in Herat und Balkh und 57 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien ausreichend zu ernähren (ATR/STDOK 18.1.2022).

Laut dem jüngsten Food Security Update vom März 2022 erreicht die humanitäre Hilfe von Monat zu Monat mehr Menschen. Einer von fünf Haushalten (21 Prozent) meldete, dass er im März humanitäre Nahrungsmittelhilfe erhalten hat - hauptsächlich von UN/NGOs - was einen deutlichen Anstieg gegenüber den Vormonaten darstellt. Diese Hilfe trägt dazu bei, die gravierende Ernährungsunsicherheit in mehreren Regionen (Herat, Kabul, Nordost- und Südostafghanistan) zu verringern. Bei Familien, die in diesen Regionen keine humanitäre Hilfe erhalten haben, hat sich das Niveau der schweren Ernährungsunsicherheit nicht verbessert (WFP 3.2022).

Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten

Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 lag die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul durchschnittlich zwischen 200 und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard musste zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden (IOM 2020). Auch in Mazar-e Sharif standen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankte unter anderem je nach Lage zwischen 100 und 300 USD monatlich (STDOK 21.7.2020). Einer anderen Quelle zufolge lagen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließendem Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 und 100 USD im Monat (Schwörer 30.11.2020).

Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden (STDOK 21.7.2020). Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel (Schwörer 30.11.2020; vgl. STDOK 21.7.2020). Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen (IOM 2020).

Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (IOM 2020).

Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosteten vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat, wobei abhängig vom Verbrauch diese Kosten auch höher liegen konnten. In ländlichen Gebieten konnte man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen als in den Städten (IOM 2020).

Seit der Machtübernahme der Taliban sind die Mieten um 20-40 % gesunken. Die durchschnittliche Miete für eine Wohnung wird mit November 2021 auf 110 bis 550 USD (10.000 bis 50.000 AFN) für Kabul, Herat und Mazar-e Sharif geschätzt. Je nach Standort und Art der Einrichtung (RA KBL 8.11.2021). Einer anderen Quelle zufolge liegt die durchschnittliche Monatsmiete für eine Wohnung mit drei Schlafzimmern in Kabul im April 2022 bei 120 bis 150 USD. Die monatliche Miete für ein einfaches Haus mit drei Schlafzimmern in einem Vorort liegt bei etwa 100 USD. In Mazar-e Sharif und Herat liegt dieser Satz bei 150 USD pro Monat für eine Wohnung mit drei Schlafzimmern, und für eine Lage weitab vom Stadtzentrum beträgt er 80 USD pro Monat (IOM 12.4.2022). Allerdings steigt wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage die Gefahr der Zwangsräumung, da die Haushalte möglicherweise nicht in der Lage sind, die Miete zu zahlen (UNHCR 12.4.2022).

In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 durchgeführten Studie gaben die meisten der Befragten in Herat (66 %) und Mazar-e Sharif (63 %) an, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben, während weniger als 50 % der Befragten in Kabul angaben, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben. Von jenen, die Miete bezahlten, gaben 54,3 % der Befragten in Kabul, 48,4 % in Balkh und 8,7 % in Herat an, dass sie 5.000 bis 10.000 AFN (ca. 40 bis 80 Euro) pro Monat Miete zahlten. In Kabul mieteten 41,3 % der Befragten Wohnungen/Häuser für weniger als 5.000 AFN pro Monat, in Herat 91,3 % und in Balkh 48,4 %. Nur 4,3 % der Befragten in Kabul mieteten Immobilien zwischen 10.000 und 20.000 AFN, während kein Befragter in Herat und Balkh mehr als 10.000 AFN für Miete zahlte (ATR/STDOK 18.1.2022).

Arbeitsmarkt

Jeder vierte Afghane ist offiziell arbeitslos, viele sind unterbeschäftigt. Rückkehrer - etwa 1,5 Millionen in den letzten zwei Jahren - und eine ähnliche Zahl von Binnenvertriebenen erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt zusätzlich (UNDP 30.11.2021).

Vor der Machtübernahme durch die Taliban war der Arbeitsmarkt durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vgl. Ahmend 2018; CSO 2018). 80% der afghanischen Arbeitskräfte befanden sich in "prekären Beschäftigungsverhältnissen", mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen (AAN 3.12.2020; vgl.: CSO 2018). Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten waren Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (AAN 3.12.2020).

Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.7.2020; vgl. IOM 18.3.2021) ebenso wie die Anzahl der prekär Beschäftigten (AAN 3.12.2020).

Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 1.6.2020; vgl STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssen jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten bislang aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020, CSO 2018).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 8.6.2017). Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.6.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018).

Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor (CSO 2018; vgl. Haider/Kumar 2018): Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (CSO 2018).

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag (IOM 18.3.2021). Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden (IOM 18.3.2021).

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Das Personal der Streitkräfte, vor allem des Verteidigungsministeriums, des Innenministeriums und des nationalen Sicherheitsministeriums, das auf etwa eine halbe Million Personen geschätzt wird, hat nach der Machtübernahme durch die Taliban keine Arbeit mehr (IPC 10.2021; vgl. RA KBL 8.11.2021). Auch viele Mitarbeiter des Gesundheitssystems haben mit Stand November 2021 seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten (MSF 10.11.2021; vgl. IPC 10.2021). Viele Unternehmen und NGOs haben ihre Arbeit eingestellt oder ihre Aktivitäten auf ein Minimum reduziert. Die Bargeldknappheit und die Unterbrechung der Versorgungsketten in Verbindung mit dem Verlust von Investitionen und Kunden haben den privaten Sektor stark beeinträchtigt und zwingen die Unternehmen, in Nachbarländer auszuweichen, ihre Türen zu schließen oder ihre Mitarbeiter zu entlassen, um die Kosten zu senken. Ein Tagelöhner verdient bis zu 350 AFN (3,55 EUR) pro Tag. Tagesarbeit ist jedoch meist nur für zwei Tage in der Woche zu finden. Es ist schwierig geworden, Tagesarbeit zu finden, da viele, die zuvor für Unternehmen, NGOs oder die Regierung gearbeitet haben, jetzt nach Tagesarbeit suchen, um die Einkommensverluste auszugleichen (IOM 12.4.2022).

Das UNDP (United Nations Development Program) erwartet, dass sich die Arbeitslosigkeit in den nächsten zwei Jahren fast verdoppeln wird, während die Löhne Jahr für Jahr um 8 bis 10 % sinken werden (UNDP 30.11.2021). Afghanische Arbeitnehmerinnen machten vor der Krise 20 % der Beschäftigten aus. Die Beschränkungen für die Beschäftigung von Frauen werden sich sowohl auf die Wirtschaft als auch auf die Gesellschaft auswirken. Außerdem wird das Einkommen der Haushalte verringern, deren weibliche Mitglieder nun nicht mehr arbeiten, weniger arbeiten bzw. weniger verdienen, was zu einem Rückgang des Konsums auf der Mikroebene und der Nachfrage auf der Makroebene führen wird (UNDP 30.11.2021).

Die Markt- und Preisbeobachtung des Welternährungsprogramms (WFP) ergab einen drastischen Rückgang der Zahl der Arbeitstage für Gelegenheitsarbeiter in städtischen Gebieten: Im Juli waren es zwei Tage pro Woche, im August nur noch 1,8 Tage und im September nur noch ein Arbeitstag (IPC 10.2021). Die durchschnittliche Anzahl der Tage, an denen Gelegenheitsarbeiter Arbeit finden, lag Ende November 2021 bei 1,4 Tagen pro Woche (BAMF 29.11.2021).

Laut der saisonalen Bewertung der Ernährungssicherheit (SFSA) für das Jahr 2021 meldeten 95 % der Bevölkerung Einkommenseinbußen, davon 76 % einen erheblichen Einkommensrückgang (83 % bei städtischen und 72 % bei ländlichen Haushalten) im Vergleich zum Vorjahr. Die Hauptgründe waren ein Rückgang der Beschäftigung (42 %) und Konflikte (41 %) (IPC 10.2021).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie mit 300 Befragten gaben 58,3 % der Befragten an, keine Arbeit zu haben oder bereits längere Zeit arbeitslos zu sein (Männer: 35,3 %, Frauen: 81,3 %). Was die Art der Beschäftigung betrifft, so gaben 62 % der Befragten an, entweder ständig oder gelegentlich eine Vollzeitstelle zu haben, während 25 % eine Teilzeitstelle hatten, 9 % als Tagelöhner arbeiteten und 2 % mehrere Teilzeit- oder Saisonstellen hatten. Die Mehrheit der Befragten (89,1 %) gaben an, ein Einkommensniveau von weniger als 10.000 AFN (100 US$) pro Monat zu haben. 8,7 % der Befragten gaben an, ein Einkommensniveau zwischen 10.000 und 20.000 AFN (100-200 US$) pro Monat zu haben, und 2,2 % stuften sich auf ein höheres Niveau zwischen 20.000 und 50.000 AFN (200-500 US$) pro Monat ein (ATR/STDOK 18.1.2022).

Es wird geschätzt, dass mehr als eine halbe Million Arbeitnehmer im dritten Quartal 2021 ihren Arbeitsplatz verloren haben und dass der Verlust von Arbeitsplätzen bis zum zweiten Quartal 2022 auf fast 700.000 ansteigen wird. Wenn sich die Situation der Frauen weiter verschlechtert und die Abwanderung zunimmt, könnten die Beschäftigungsverluste bis zum zweiten Quartal 2022 auf mehr als 900.000 Arbeitsplätze ansteigen. Die sich verschärfende Wirtschaftskrise hat sich besonders stark auf einige der wichtigsten Sektoren der afghanischen Wirtschaft ausgewirkt, darunter Landwirtschaft, öffentliche Verwaltung, soziale Dienstleistungen und das Baugewerbe, wo Hunderttausende von Arbeitnehmern, ihren Arbeitsplatz verloren oder keinen Lohn erhielten (ILO 1.2022).

Bank- und Finanzwesen

Letzte Änderung: 04.05.2022

Nach der Machtübernahme der Taliban wurden Bank- und Geldüberweisungsdienste weithin ausgesetzt. Aus Kabul wird berichtet, dass die Geldautomaten leer sind und Geldwechsel nicht möglich ist und dass einige Menschen seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten hätten. Vor den Banken bilden sich lange Schlangen, aber diese bleiben geschlossen. Die Taliban haben einen kommissarischen Leiter der Zentralbank ernannt, der helfen soll, die wirtschaftlichen Turbulenzen zu lindern (DW 24.8.2021). Laut einem Sprecher der Taliban sollen die Banken bald wieder öffnen (REU 25.8.2021). Nach Aussagen des Vorsitzenden der Bankiersgewerkschaft in der Hauptstadt Kabul, hätten die Banken ihren Betrieb aufgrund technischer Probleme noch nicht wieder aufgenommen. Gerüchte, dass die Banken kein Bargeld mehr hätten dementiert er, und fügte hinzu, dass die Banken voraussichtlich in den nächsten Tagen wieder normale Dienstleistungen anbieten würden (AnA 28.8.2021).

Ab November 2021 haben die Banken wieder geöffnet. Bargeldabhebungen und Kundendienste wie Kontoeröffnungen und -schließungen sind derzeit möglich. Einzahlungsmöglichkeiten, z. B. für Stromrechnungen, sind ebenfalls möglich. Die Online-Banking-Systeme funktionieren mit Stand 4.2022 nicht (IOM 12.4.2022). Derzeit kann man 30.000 AFN (ca. 400 USD) pro Woche abheben (RA KBL 11.8.2021; vgl. BAMF 11.8.2021, IOM 12.4.2022). Allerdings kann derzeit nur die Afghanistan International Bank (AIB) in Kabul 400 USD oder 30.000 AFN (367,31 EUR) pro Kunde und Woche auszahlen. In den Provinzen zahlen einige Banken nur den Gegenwert von 100-200 USD (91,83-183,66 EUR) pro Woche aus, je nach Verfügbarkeit der Mittel (IOM 12.4.2022). Anfang November 2021 verbot die Taliban-Regierung die Verwendung von Fremdwährungen im Land. Nur der Afghani dürfe für Zahlungen verwendet werden (BBC 2.11.2021; vgl. REU 2.11.2021). Das Bezahlen der täglichen Ausgaben in USD ist nur in größeren Geschäften möglich, die meisten täglichen Einkäufe werden in der Landeswährung getätigt (IOM 12.4.2022).

Firmenkunden können Inlandsüberweisungen an andere Banken vornehmen; Abhebungen sind auf bis zu 5% ihres Guthabens oder 25.000 USD pro Monat (22.957 EUR) begrenzt, je nachdem, welcher Betrag niedriger ist. Diese Begrenzung gilt jedoch nicht für neue Bareinlagen, die vollständig abgehoben werden können. Was internationale Überweisungen betrifft, so hat die DAB (Da Afghanistan Bank) die Banken angewiesen, am 28.12.2021 die Bearbeitung ausgehender internationaler Überweisungen an Firmenkunden wieder aufzunehmen, vorbehaltlich der vorherigen Genehmigung durch die DAB und der unten aufgeführten Einschränkungen (IOM 12.4.2022).

Ausgehende internationale Überweisungen sind auf den Kauf der folgenden Artikel beschränkt (die durch entsprechende Dokumente nachgewiesen werden müssen) (IOM 12.4.2022):

 Lebensmittel

 Medikamente

 Treibstoff (einschließlich Gas)

 Hygieneartikel

 Elektrizität

 Rohmaterial und Ersatzteile für die Produktion

 Transport und Kommunikation

 Wartung des Systems

 Andere von der DAB für notwendig erachtete Zahlungen

Überweisungen sind auf 25 % des gesamten Kontosaldos eines jeden Lieferanten begrenzt. Wenn die 25 %-Grenze erreicht ist, sind keine weiteren Abhebungen mehr zulässig. Die Obergrenze von 25 % gilt jedoch nicht für neue Bareinlagen (IOM 12.4.2022).

Mitte März 2022 haben die Taliban die Tätigkeit der Versicherungsgesellschaften in Afghanistan bis auf weiteres eingestellt. In einem offiziellen Schreiben an die Versicherungsgesellschaften kündigte die amtierende Regierung die Aussetzung aller Aktivitäten der öffentlichen und privaten Versicherungsunternehmen an. In dem Schreiben heißt es, dass die Wissenschaftsakademie Afghanistans den Geist des Versicherungswesens diskutiert, um zu entscheiden, ob es gegen islamische Praktiken verstößt oder nicht (KP 16.3.2022; vgl. ANI 18.3.2022).

Hawala-System

Derzeit nutzen viele Einwohner das "Hawala"-System (IOM 12.4.2022), eine Form des Geldtausches. Dieses System, welches auf gegenseitigem Vertrauen basiert, funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich. Hawala wird von den unterschiedlichsten Kundengruppen in Anspruch genommen: Gastarbeiter, die ihren Lohn in die Heimat transferieren wollen, große Unternehmen und Hilfsorganisationen bzw. NGOs, aber auch Terrororganisationen (WKO 2.2017; vgl. WB 2003, FA 7.9.2016).

Das System funktioniert folgendermaßen: Person A übergibt ihrem Hawaladar (X) das Geld, z.B. 10.000 Euro und nennt ihm ein Passwort. Daraufhin teilt die Person A der Person B, die das Geld bekommen soll, das Passwort mit. Der Hawaladar (X) teilt das Passwort ebenfalls seinem Empfänger-Hawaladar (Y) mit. Jetzt kann die Person B einfach zu ihrem Hawaladar (Y) gehen. Wenn sie ihm das Passwort nennt, bekommt sie das Geld, z.B. in Afghani, ausbezahlt (WKO 2.2017; vgl. WB 2003).

So ist es möglich, auch größere Geldsummen sicher und schnell zu überweisen. Um etwa eine Summe von Peshawar, Dubai oder London nach Kabul zu überweisen, benötigt man sechs bis zwölf Stunden. Sind Sender und Empfänger bei ihren Hawaladaren anwesend, kann die Transaktion binnen Minuten abgewickelt werden. Kosten dafür belaufen sich auf ca. 1-2 %, hängen aber sehr stark vom Verhandlungsgeschick, den Währungen, der Transaktionssumme, der Vertrauensposition zwischen Kunde und Hawaladar und nicht zuletzt von der Sicherheitssituation in Kabul ab. Die meisten Transaktionen gehen in Afghanistan von der Hauptstadt Kabul aus, weil es dort auch am meisten Hawaladare gibt. Hawaladare bieten aber nicht nur Überweisungen an, sondern eine ganze Auswahl an finanziellen und nicht-finanziellen Leistungen in lokalen, regionalen und internationalen Märkten. Beispiele für das finanzielle Angebot sind Geldwechsel, Spendentransfer, Mikro-Kredite, Tradefinance oder die Möglichkeit, Geld anzusparen. Als nichtmonetäre Leistungen können Hawaladare Fax- oder Telefondienste oder eine Internetverbindung anbieten (WKO 2.2017; vgl. WB 2003).

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 04.05.2022

In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten (EASO 8.2020b; vgl. UKHO 12.2020). Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Behandlung durch Mangel an gut ausgebildetem medizinischem Personal und Medikamenten, Missmanagement und maroder Infrastruktur begrenzt und korruptionsanfällig (AA 16.7.2021).

Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87 % der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt (WHO 12.2018). Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser waren. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (RA KBL 20.10.2020). Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken bestand, war es in den ländlichen Gebieten für viele Afghaninnen und Afghanen schwierig, überhaupt eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (AA 16.7.2021). Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material (IWA 8.2017).

Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (AA 16.7.2021; vgl. WHO 8.2020).

Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wurde berichtet, dass über 60 % der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzten. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte lebten, bevorzugten die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität war als in öffentlichen Einrichtungen (MedCOI 5.2019).

Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (AA 16.7.2021).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021

Schon vor der Machtübernahme durch die Taliban war das afghanische Gesundheitssystem fragil. Es wies jahrelang große Lücken auf, wurde nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 schwer in Mitleidenschaft gezogen (IOM 12.4.2022) und ist nun nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen (MSF) (MSF 10.11.2021) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom Zusammenbruch bedroht (WHO 24.1.2022).

Das Programm der Weltbank, das unter der vorherigen Regierung im Rahmen des Sehatmandi-Projekts für Afghanistan Finanzmittel für wichtige Gesundheitseinrichtungen bereitstellte und die Gehälter des medizinischen Personals bezahlte, hatte seine Aktivitäten zunächst weitestgehend eingestellt (WHO 28.8.2021; vgl. HRW 3.9.2021, IOM 12.4.2022). Mehr als 2.500 Gesundheitseinrichtungen und die Gehälter von mehr als 2.000 Gesundheitsfachkräften, die im Rahmen des von der Weltbank finanzierten Sehatmandi-Projekts unterstützt wurden, waren davon betroffen. Mehr als 3.800 Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, waren ganz oder teilweise nicht funktionsfähig. Die reduzierte Unterstützung durch das Projekt führte zur sofortigen Einstellung einiger Dienste in den Gesundheitseinrichtungen, darunter Überweisungen und ambulante Essensausgabe. Einige wenige Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, verfügten über ausreichende medizinische Vorräte, um die Versorgung für mehrere Monate aufrechtzuerhalten (WHO 28.8.2021). Das Sehatmandi-Projekt, das von der WHO und UNICEF gemeinsam durchgeführt und von dem von der Weltbank geleiteten Treuhandfonds für den Wiederaufbau Afghanistans (ARTF) finanziert wird, geht jedoch vom 2.2022 bis 6.2022 in seine zweite Phase (WHO 21.3.2022).

Anfang November 2021 meldete das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), dass 15 Mio. USD für die Aufrechterhaltung des Sehatmandi-Projekts und die Bezahlung von Medikamenten für die Kranken verwendet worden seien und dass alle Gehälter für Ärzte und Personal direkt auf deren Konten überwiesen worden seien (insgesamt 8 Mio. USD für 23.500 Mitarbeiter in 31 Provinzen) (BAMF 15. 11.2021; vgl. UN 10.11.2021, NPR 21.12.2021) und bis zum 15.1.2022 haben UNICEF und die WHO den Zugang zu 100 Mio. USD gesichert, um Einrichtungen der primären und sekundären Gesundheitsversorgung in 34 Provinzen zu unterstützen (WHO 15.1.2022, vgl. IOM 12.4.2022). Allerdings gibt es noch viele Lücken zu schließen (IOM 12.4.2022).

Vor allem außerhalb der großen Städte ist die Lage der medizinischen Einrichtungen sehr schlecht. Zwar erhielten viele Mitarbeiter der Krankenhäuser im Dezember nach fünf Monaten erstmalig ihr Gehalt, jedoch waren die Medikamentenvorräte noch gefährlich knapp (BBC 15.12.2021; vgl. NPR 21.12.2021). Die meisten Patienten sind angewiesen, ihre eigenen Medikamente in nahe gelegenen Apotheken zu kaufen (BBC 15.12.2021). Aber auch größere Krankenhäuser, die ein höheres Versorgungsniveau bieten, wie beispielsweise 39 COVID-19 Krankenhäuser, leiden an Unterfinanzierung. Den meisten fehlt es an grundlegenden Leistungen wie Sauerstoff und den für die Behandlung von COVID-19 wichtigen intravenösen Medikamenten (NPR 21.12.2021). Das COVID-19-Krankenhaus in Kabul (Afghan-Japan-Hospital) leidet beispielsweise an einem Mangel an lebenswichtigen Medikamenten, und das Verfallsdatum der verfügbaren Arzneimittel ist weit überschritten (TD 17.12.2021).

In ganz Afghanistan wurde mit viertem Quartal 2021 ein starker Anstieg der Fälle von Unterernährung, vor allem betreffend Mütter und Kleinkinder, (BBC 15.12.2021) sowie schwerer Lungenentzündung verzeichnet (NPR 21.12.2021). Die Vereinten Nationen (BBC 15.12.2021) und NGOs warnten davor, dass eine Million Kinder in den folgenden Monaten an den Auswirkungen des Hungers zu sterben drohten (IPC 10.2021; vgl. WFP/FAO 25.10.2021).

Ab dem 8.11.2021 war geplant, in Afghanistan landesweit gegen Kinderlähmung zu impfen. Zum ersten Mal seit drei Jahren sollte die Tür-zu-Tür-Impfkampagne auch Kinder in bisher nicht zugänglichen Gebieten erreichen. Die Taliban-Führung unterstützte das Vorhaben (UNICEF 18.10.2021; vgl. BBC 18.10.2021). In einigen Gebieten werden Impfungen allerdings nicht mehr im Rahmen von Haus-zu-Haus-Kampagnen durchgeführt, da die Taliban den Aufenthalt von Männern und nicht verwandten Frauen in Häusern verbieten. In diesen Gebieten werden die Menschen gebeten, zur Impfung in die nächste Moschee zu gehen, wobei die Frauen von einem männlichen Verwandten begleitet werden. Die erneute Bereitstellung von Mitteln bedeutet auch, dass Ausbrüche von Denguefieber, Cholera und Malaria wieder bekämpft werden können (NPR 21.12.2021).

Die WHO bestätigte am 8.11.2021, dass sie sieben Tonnen an Medizin und medizinischem Gerät nach Kabul geliefert hat. Dies beinhalte Hilfe für 5.000 unterernährte afghanische Kinder (BAMF 15.11.2021; vgl. AN 8.11.2021).

Gemäß einer im Auftrag der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie, haben 43,3 % (45 % der männlichen und 42,3 % der weiblichen) Befragten, Zugang zu Ärzten. 42,3 % haben Zugang zu Fachärzten, 37,3 % zu Zahnärzten und 31,3 % zu Krankenhäusern, während der Rest nur begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu medizinischen Leistungen hat. Insgesamt 17,7 % der Befragten haben Zugang zu Impfungen. Dies bezieht sich jedoch auf ein rein städtisches Publikum. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung in städtischen Ballungszentren ist aufgrund einer umfangreicheren medizinischen Infrastruktur, nachhaltiger öffentlicher und privater Investitionen, der Verfügbarkeit von Ärzten und Krankenschwestern, der Beschäftigungsmöglichkeiten für Ärzte und medizinisches Hilfspersonal, sowie der höheren Entlohnung, deutlich besser ist als in ländlichen oder halbländlichen Gebieten des Landes (ATR/STDOK 18.1.2022).

Rückkehr

Letzte Änderung: 04.05.2022

IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.2.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (USAID 12.1.2021; vgl. NH 26.1.2021). Im Jahr 2021 wurden bis November 1.2 Mio. Rückkehrer verzeichnet, welche die Grenze aus dem Iran und Pakistan überquerten (USAID 28.2.2022).

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vgl. IOM KBL 30.4.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017), da es ohne familiäre Netzwerke sehr schwer sein kann, sich selbst zu erhalten. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019, IOM KBL 30.4.2020). Einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019).

Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte (STDOK 4.2018; vgl. VIDC 1.2021). Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren (VIDC 1.2021; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018).

"Erfolglosen" Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des "Versagens" an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa (VIDC 1.2021; vgl. SFH 26.3.2021, Seefar 7.2018), was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird (VIDC 1.2021). Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen (AA 16.7.2021; vgl. SFH 26.3.2021). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich (STDOK 13.6.2019; vgl. SFH 26.3.2021, VIDC 1.2021) und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.6.2019).

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. Zu Tätigkeiten vor Ort im Rahmen anderer Projekte (RADA, etc.) kann derzeit noch keine Rückmeldung gegeben werden (IOM AUT 8.9.2021; vgl. IOM 19.8.2021).

Während IOM derzeit in allen 34 Provinzen Afghanistans tätig ist, konzentrieren sich ihre Hauptaktivitäten vor allem auf lebensrettende humanitäre Hilfe für die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen, wie z.B. die Bereitstellung von Non-Food-Items (NFIs), Bargeldhilfe sowie Gesundheits- und Schutzleistungen. Aufgrund der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 und der daraus resultierenden Sicherheitsbedenken hat IOM mit Wirkung vom 16.8.2021 eine vollständige Aussetzung aller unterstützten freiwilligen Rückkehr- und Wiedereingliederungsmaßnahmen (AVRR) nach Afghanistan verfügt. Daher wurde seither keine Unterstützung für die freiwillige Rückkehr im Rahmen des Projekts RESTART III mehr geleistet. Projektteilnehmer, die vor dem 16.8.2021 nach Afghanistan zurückkehrten, wurden mit Beratung und Geld- bzw. Sachleistungen bis zur Höhe des ausstehenden förderfähigen Betrags unterstützt. Darüber hinaus sah sich IOM gezwungen, die Aktivitäten im Bereich der Soforthilfe bei der Aufnahme einzustellen, da die Flüge nach Afghanistan eingestellt wurden (IOM 12.4.2022).

Die Taliban haben in öffentlichen Verlautbarungen im Ausland lebende Afghanen aufgefordert, nach Afghanistan zurückzukehren. Zum Umgang der Taliban mit Rückkehrern [Anm.: aus Europa] liegen keine Erkenntnisse vor (AA 21.10.2021).

Am 30.8.2021 gab Taliban-Sprecher Zabihulla Mujahid ein Interview. Laut Mujahid seien viele aus Angst aufgrund von Propaganda aus Afghanistan ausgereist, und die Taliban seien nicht glücklich darüber, dass Menschen Afghanistan verlassen, obwohl jeder, der über Dokumente verfüge, zur Ausreise berechtigt sein sollte. Auf die Frage, ob afghanische Asylbewerber in Deutschland oder Österreich mit abgelehnten Asylanträgen, die möglicherweise auch Straftaten begangen haben, wieder aufgenommen würden, antwortete Mujahid, dass sie aufgenommen würden, wenn sie abgeschoben und einem Gericht zur Entscheidung über das weitere Vorgehen vorgelegt würden (KrZ 30.8.2021). Es war nicht klar, ob sich Mujahid mit dieser Aussage auf Rückkehrer im Allgemeinen oder nur auf Rückkehrer bezog, die Straftaten begangen hatten (EASO 1.2022).

Einem afghanischen Menschenrechtsexperten zufolge gab es unter Taliban-Sympathisanten und einigen Taliban-Segmenten ein negatives Bild von Afghanen, die Afghanistan verlassen hatten. Menschen, die Afghanistan verlassen hatten, würden als Personen angesehen, die keine islamischen Werte vertraten oder auf der Flucht vor Dingen seien, die sie getan haben. Auf der anderen Seite haben die Taliban den Pässen für afghanische Arbeiter, die im Ausland arbeiten, Vorrang eingeräumt, da dies ein Einkommen für das Land bedeuten würde. Auf einer Ebene mögen die Taliban also den wirtschaftlichen Aspekt verstehen, aber sie wissen auch, dass viele derjenigen Afghanen, die ins Ausland gehen, nicht mit ihnen sie nicht einverstanden sind. Ein afghanischer Rechtsprofessor beschrieb zwei Darstellungen der Taliban über Personen, die Afghanistan verlassen, um in westlichen Ländern zu leben. Einerseits jene, die Afghanistan aufgrund von Armut, nicht aus Angst vor den Taliban, verlassen und auf eine bessere wirtschaftliche Lage in westlichen Ländern hoffen. Die andere Darstellung bezog sich auf die "Eliten" die das Land verließen. Sie würden nicht als "Afghanen", sondern als korrupte "Marionetten" der "Besatzung" angesehen, die sich gegen die Bevölkerung stellten. Dieses Narrativ könnte beispielsweise auch Aktivisten, Medienschaffende und Intellektuelle einschließen und nicht nur ehemalige Regierungsbeamte. Der Quelle zufolge sagten die Taliban oft, dass ein "guter Muslim" nicht gehen würde und dass viele, die in den Westen gingen, nicht "gut genug als Muslime" seien. Zwei Anthropologen an der Zayed-Universität, beschrieben ein ähnliches Narrativ, nämlich dass Menschen, die das Land verlassen wollen, nicht als "die richtige Art von Mensch" bzw. nicht als "gute Muslime" wahrgenommen werden. Sie unterschieden jedoch die Tradition der paschtunischen Männer, die ins Ausland gehen, um dort zu arbeiten, was eine lange Tradition hat, von anderen Afghanen, die weggehen und sich in nicht-muslimischen Ländern aufhalten - was nicht "der richtige Weg" sei. Sie erklärten ferner, dass in ländlichen paschtunischen Gebieten eine Person, die nach Europa oder in die USA gehen will, im Allgemeinen mit Misstrauen betrachtet wird, auch wenn es sich nur um Personen mit westlichen Kontakten handelt (EASO 1.2022). Dokumente

Letzte Änderung: 27.01.2022

Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.7.2020). Sämtliche Urkunden in Afghanistan waren problemlos gegen finanzielle Zuwendungen oder aus Gefälligkeit erhältlich (ÖB 28.11.2018; vgl. AG DFAT 27.6.2019).

Des Weiteren kamen verfahrensangepasste Dokumente häufig vor. Im Visumverfahren wurden teilweise gefälschte Einladungen oder Arbeitsbescheinigungen vorgelegt. Medienberichten zufolge sollen insbesondere seit den Parlamentswahlen 2018 zahlreiche gefälschte Tazkira [Anm.: nationale Personalausweise] im Rahmen der Wählerregistrierung in Umlauf sein (AA 16.7.2020). Personenstands- und weitere von Gerichten ausgestellte Urkunden wurden zentral vom Afghan State Printing House (SUKUK) ausgestellt (ÖB 28.11.2018).

Auf Grundlage bestimmter Informationen konnten echte Dokumente ausgestellt werden. Dafür notwendige unterstützende Formen der Dokumentation wie etwa Schul-, Studien- oder Bankunterlagen konnten leicht gefälscht werden. Dieser Faktor stellte sich besonders problematisch dar, wenn es sich bei dem primären Dokument um eine Tazkira handelte, welches zur Erlangung anderer Formen der Identifizierung verwendet wurde. Es bestand ein Risiko, dass echte, aber betrügerisch erworbene Tazkira zur Erlangung von Reisepässen verwendet wurden (AG DFAT 27.6.2019).

Eine Tazkira wurde nur afghanischen Staatsangehörigen nach Registrierung und dadurch erfolgtem Nachweis der Abstammung von einem Afghanen ausgestellt. In der Regel erfolgte der Nachweis der Abstammung durch die Vorlage der Tazkira eines Verwandten 1. Grades oder durch Zeugenerklärungen in Afghanistan (AA 16.7.2020). In einem Bericht der afghanischen Regierung vom April 2019 über die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention findet sich die Information, dass für die Ausstellung einer Tazkira die Zeugenaussagen von zwei Personen nötig waren, die Inhaber von einer Tazkira sein müssen. Darüber hinaus musste die Identität des Antragstellers von lokalen Behörden bestätigt werden (ACCORD 15.6.2020). Eine andere Quelle wies darauf hin, dass man bei Beantragung einer Tazkira eine Geburtsurkunde vorweisen musste, dass allerdings die Mehrheit der Afghanen noch immer nicht im Besitz einer solchen waren.

Wenn keine Geburtsurkunde vorgewiesen werden konnte, war es erforderlich, die Tazkira eines männlichen Familienmitglieds väterlicherseits (Vater, Bruder, Onkel oder Cousin) vorzuweisen (LI 22.5.2019; vgl. ACCORD 15.6.2020). Wollte jemand sich beispielsweise in Kabul eine Tazkira ausstellen lassen und konnte seine Identität nicht beweisen, so musste diese Person in das Heimatgebiet ihres Vaters oder Großvaters zurückkehren. Dort konnte versucht werden, einen Identitätsnachweis vonseiten des lokalen Dorfvorstehers zu erhalten. Dieser konnte dann bei den örtlichen Behörden eingereicht werden, die auf dessen Grundlage eine Tazkira ausstellten (ACCORD 15.6.2020).

Kinder unter sieben Jahren waren von der Pflicht befreit, persönlich zu erscheinen, um sich eine Tazkira ausstellen zu lassen. Eine Geburtsurkunde wurde als Nachweis akzeptiert. War eine solche nicht vorhanden, waren zwei Zeugen erforderlich. Bis zum Alter von 18 Jahren, war für die Ausstellung der Tazkira die Zustimmung des Vaters erforderlich (ACCORD 15.6.2020). In der Tazkira waren Informationen zu Vater und Großvater, jedoch nicht zur Mutter enthalten.

Erst seit ca. 2014 gab es die Möglichkeit, eine Birth Registration Card zu beantragen, in der ein konkretes Geburtsdatum und die Mutter eines Kindes genannt wurden. Diese konnte aber auch jederzeit nachträglich für Personen ausgestellt werden, die vor 2014 geboren wurden. Es konnte davon ausgegangen werden, dass die Ausstellung daher ohne weitere Prüfung vorgenommen wird (AA 16.7.2020).

Eintragungen in der Tazkira waren oft ungenau. Geburtsdaten wurden häufig lediglich in Form von „Alter im Jahr der Beantragung“, z. B. „17 Jahre im Jahr 20xx“ erfasst, genauere Geburtsdaten wurden selten erfasst und wenn, dann meist geschätzt (AA 2.9.2019). Insgesamt waren in Afghanistan sechs Tazkira-Varianten im Umlauf (AAN 22.2.2018). Es gab keine einheitlichen Druckverfahren oder Sicherheitsmerkmale für die Tazkira in A4-Format. Im Februar 2018 wurde die e-Tazkira (elektronischer Personalausweis) mit der symbolischen Beantragung u.a. durch Präsident Ghani gestartet (AAN 22.2.2018). Nach dem 3.5.2018 wurden e-Tazkira (auch electronic Tazkira) in Form einer Chipkarte ausgestellt, die Einführung lief jedoch nur sehr schleppend (AA 16.7.2020). Im September 2020 verabschiedete die ehemalige Regierung ein Gesetz, das die Aufnahme des Namens der Mutter in die Tazkira erlaubte (HRW 13.1.2021; vgl. TN 2.9.2020). Die Vorlage einer Tazkira war Voraussetzung für die Ausstellung eines Reisepasses. Seit Ausstellung maschinenlesbarer Reisepässe im Jahr 2014 musste bei Passbeantragung ein Familienname bestimmt werden. Die Bestimmung erfolgte ohne rechtliche Grundlage und ohne Dokumentation. Die Angaben, insbesondere Namen und Geburtsdatum, in Tazkira und Reisepass einer Person stimmten daher häufig nicht miteinander überein (AA 16.7.2020).

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Im Oktober 2021 gab der Leiter des Passamtes an, dass Afghanistan wieder Reisepässe ausstellen würde (REU 5.10.2021; vgl. AN 5.10.2021), dass zwischen 5.000 und 6.000 Exemplare pro Tag ausgestellt werden würden und dass weibliche Mitarbeiter die Anträge von Frauen bearbeiten würden (AN 5.10.2021). Es ist demnach möglich, einen Reisepass zu beantragen und zu erhalten, aber die Beantragung und Bearbeitung neuer Tazkira-Anträge hat noch nicht begonnen. Die Nationale Statistikbehörde Afghanistans (NSIA) ist für die Verteilung der bereits bearbeiteten und gedruckten Tazkira geöffnet, nimmt aber derzeit keine neuen Anträge an und bearbeitet sie nicht (RA KBL 8.11.2021).

Die Anforderungen zur Ausstellung eines Reisepasses haben sich nicht wesentlich geändert, allerdings gibt es leichte Änderungen bei den Verfahren (RA KBL 8.11.2021). Zunächst nahm nur die Passabteilung in Kabul Anträge an und bearbeitete sie (RA KBL 8.11.2021). Mit Ende November begann die Ausstellung von Pässen in 17 weiteren Provinzen, darunter Balkh, Herat und Kandarhar (TTI 24.11.2021; TN 30.11.2021). Jeden Tag steht eine große Anzahl von Antragstellern oft bereits in der Nacht in der Warteschlange. Vor der Machtübernahme durch die Taliban mussten die Antragsteller ihre Daten in ein Online-System eingeben, welches aktuell gesperrt ist. Es werden jedoch weiterhin Anträge von Personen entgegengenommen, die einen Termin für ein Visumgespräch vereinbart haben, sowie von Personen, die zur Behandlung schwerer Krankheiten ins Ausland reisen (RA KBL 8.11.2021). Seit Mitte Oktober ist die Ausgabe von Reisepässen in der Hauptstadt Kabul ausgesetzt, während die Büros in den Provinzen weiterhin geöffnet sind (TN 29.11.2021). Allerdings gibt es Berichte von starken Überlastungen der Passabteilungen, beispielsweise in Nangarhar (ANI 19.11.2021). Mit Stand Anfang Dezember werden in 32 der 34 Provinzen Reisepässe ausgestellt (ANI 6.12.2021). Bislang (mit Stand November 2021) haben Reisepässe und Tazkira dasselbe Aussehen und Layout wie vor der Machtübernahme der Taliban. Es ist noch nicht bekannt, ob die Taliban die Formate beibehalten oder Änderungen vornehmen werden und ob sie überhaupt die Kapazität haben, neue Pässe und Tazkira zu drucken (RA KBL 8.11.2021).

Aktuell [Stand September 2021] werden von der afghanischen Botschaft in Wien keine neuen Tazkira und Reisepässe ausgestellt. Davon betroffen sind auch jene Personen, die bereits einen Antrag gestellt haben bzw. eine Bestätigung zur Ausstellung erhalten haben. Hier kann seitens der afghanischen Botschaft nicht abgeschätzt werden, wie lange dieser Umstand noch vorherrschen wird. Abgelaufene biometrische Reisepässe können in Zukunft bei der Botschaft verlängert werden (AFB WIE 22.9.2021). Ende November erklärte der Leiter der Passabteilung, die Abteilung habe dem Außenministerium mindestens 20.000 Pässe zur Verteilung an afghanische Staatsbürger außerhalb des Landes vorgelegt. Nach Angaben der Abteilung werden die Pässe an die Afghanen außerhalb des Landes ausgegeben, deren Pässe abgelaufen sind (TN 30.11.2021).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Der im Spruch angeführte Name und das angeführte Geburtsdatum dienen mangels Vorlage eines geeigneten Identitätsnachweises lediglich zur Identifizierung des BF als Verfahrenspartei. Diese im Spruch angeführten Daten wurden auch schon von der belangten Behörde verwendet, was in der Beschwerde nicht beanstandet wurde.

Auch die weiteren Feststellungen zur Person des BF - sohin zu seiner Volljährigkeit, seiner Herkunftsregion, seiner Familie, seiner Volksgruppen- sowie Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache und seinem Familienstand - traf bereits das BFA. Diese blieben in der Beschwerde unbestritten und konnten der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden. Auch der länderkundige SV erachtete die im Rahmen der Beschwerdeverhandlung vom BF getätigten Angaben zu seiner Herkunft als glaubhaft, weshalb daran nicht zu zweifeln ist.

Aufgrund der wiederholten Angaben des BF, dass er gesund sei und keine Medikamente einnehme, konnte sein guter Gesundheitszustand festgestellt werden. Entgegenstehendes ist im sonstigen Verfahren nicht hervorgekommen.

Die Feststellung, dass der BF in Afghanistan zehn Jahre lang eine Schulbildung erhielt und seinen Vater nebenbei bei der landwirtschaftlichen Bearbeitung der familieneigenen Felder unterstützte, gründet ebenso auf seinen im gesamten Verfahren gleichbleibenden Angaben.

Die Feststellungen zur Tätigkeit des BF als Sanitäter bei der afghanischen Nationalarmee beruhen auf seinen diesbezüglichen Ausführungen vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG. Insbesondere konnte er seine Ausbildung und die damit erlernte Tätigkeit beim Militär schlüssig schildern. In der gutachterlichen Stellungnahme des länderkundigen SV wird diesbezüglich nachvollziehbar ausgeführt: „Der BF hat seine Ausbildung in Kabul spontan und den Ausbildungsmethoden der afghanischen Armee entsprechend wiedergegeben (wie und wie lange ein Soldat ausgebildet wird). Der BF ist nur als einfacher Soldat ausgebildet worden und hat damit auch keine Aufstiegsmöglichkeiten in einen höheren militärischen Rang. Solche Soldaten sind Vertragssoldaten, die nach Ablauf ihres Vertrages die Armee verlassen.“

Die Feststellungen zur Sanitäterausbildung des BF basieren auf den schlüssigen und nachvollziehbaren gutachterlichen Ausführungen des länderkundigen SV: „Jede Armeeeinheit in Afghanistan hatte und hat auch aktuell eine Sanitätsgruppe, die im Hintergrund zu den Soldaten an der Front anwesend und für die Versorgung der verletzten Soldaten im Krieg zuständig sind. Aber sie erledigen ihre Arbeit insofern an der Front, als sie einen Verletzten notversorgen. […] Der BF hat seine Ausbildung als Sanitäter, aber auch seinen Einsatz in Logar, nach meinen Kenntnissen betreffend die Armee Afghanistans, den Tatsachen entsprechend wiedergegeben. Der BF hat zwar die Armeeeinheiten begleitet, er war auch in verschiedenen Stationen stationiert. Allerdings hatte er seinen Dienst lediglich als Sanitäter für die Armeeeinheit wahrgenommen. Er hat sich nicht aktiv am Kampf beteiligt; er war dafür auch nicht zuständig. Auch die Sanitäter haben Waffen zu ihrem eigenen Schutz und sie sind in militärische Uniformen gekleidet.“

Die Feststellung, dass der BF an keinen Kampfhandlungen beteiligt war, ergibt sich aus seinen Angaben vor dem BVwG: „Nein, ich habe weder die Waffe verwendet noch jemanden erschossen.“ Dies deckt sich mit den gutachterlichen Ausführungen des länderkundigen SV.

Festgestellt wird mit den nachvollziehbaren gutachterlichen Ausführungen des SV:

„Die Taliban haben bis jetzt die Verfolgung bestimmter Offiziere damit begründet, dass diese Personen an der Front gegen sie eingesetzt waren. Grundsätzlich ist nicht ausgeschlossen, dass die Taliban jene Soldaten und Offiziere ins Visier nehmen, wenn sie an der Front auf die Taliban geschossen haben und diese von den Taliban gesehen wurden. Es kann nicht gesagt werden, dass alle afghanischen Soldaten und Offiziere von den Taliban verfolgt werden, auch wenn sie an den Kämpfen beteiligt waren. Nach meinen Kenntnissen sind die meisten verbliebenen paschtunischen Offiziere und Soldaten aktuell wieder in die Taliban-Armee eingegliedert worden. Die anderen werden selektiv von den Taliban aufgenommen. Am meisten werden von den Taliban tadschikische Offiziere ins Visier genommen, da die Tadschiken den bewaffneten Widerstand gegen die Taliban führen.

Es ist mir nicht bekannt, dass die Taliban Sanitäter vor 2015, die den Taliban zudem keinen schweren Schaden körperlicher oder die Ehre betreffender Natur zugefügt haben, von den Taliban verfolgt worden wären […]. Der BF ist kein exponierter Offizier der afghanischen Armee und auch nicht jemand, der sich mit den Taliban angelegt hat.“

Die Feststellung, dass der BF keine Feindschaft hat mit den Taliban gründet auf der Tatsache, dass die gesamte Familie nach wie vor völlig unbehelligt im Heimatdorf lebt, was von den schlüssigen gutachterlichen Ausführungen des länderkundigen SV gestützt und vom BF nicht bestritten wird.

2.2. Zu den Feststellungen zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat:

2.2.1. Der BF wurde im Laufe des Verfahrens mehrmals niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen und hatte ausreichend Zeit und Gelegenheit, seine Fluchtgründe umfassend und im Detail darzulegen. Aus dem Protokoll der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA geht hervor, dass die belangte Behörde Rückfragen tätigte und dem BF mehrmals Gelegenheit gab, sein Vorbringen zu konkretisieren. Ihm wurde die Niederschrift vollständig rückübersetzt und vom BF als vollständig und richtig – ohne Einwendungen gegen die Niederschrift oder gegen den Dolmetscher zu erheben – unterfertigt. Er wurde mehrmals zur detaillierten Schilderung aufgefordert sowie über die Folgen unrichtiger Angaben belehrt. Die erkennende Richterin konnte sich zudem im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht einen persönlichen Eindruck vom BF verschaffen.

Die Feststellung, dass der BF von Angehörigen der Taliban nie persönlich bzw. telefonisch bedroht wurde, beruht auf den folgenden Erwägungen:

Der BF gab zunächst selbst zu Protokoll, dass nie persönlich von den Taliban bedroht worden sei. Im Übrigen gestalten sich seine Ausführungen betreffend die vier Drohanrufe als sehr vage und völlig unglaubwürdig, wenn er zunächst ausführt, er habe sein Handy nach dem ersten Anruf verloren, aber die Taliban hätten es wohl gefunden und die Nummer des neuen Handys herausgefunden, obwohl. so der BF, er diese neue Nummer nur seinen Freunden gegeben habe. Auch der Einwand der Rechtsvertreterin des BF in der mündlichen Verhandlung, die Taliban hätten dem BF das Handy weggenommen und er sich somit mit den Taliban „angelegt“ erweisen sich nicht nur als unglaubwürdig, sondern zeigt auf, dass das widersprüchliche Vorbringen – der BF hatte laut eigenen Angaben nie persönlichen Kontakt mit den Taliban - allein auf Asylerlangung ausgerichtet ist. Da der BF, wie dieser selbst ausführt, nicht an Kampfhandlungen gegen die Taliban beteiligt, sondern als Sanitäter für die afghanische Armee tätig war, kann auch kein nachvollziehbarer Grund erkannt werden, wonach der das Ziel der Taliban gewesen wäre. Die Taliban sind, wie notorisch bekannt, keine Gruppierung, die vor Gewalt – auch gegen Zivilisten oder bei Zwangsrekrutierungen – zurückschrecken, weshalb es auch logisch nicht nachvollziehbar ist, dass sie den BF zwar viermal- auf unterschiedlichen Handys mit jeweils anderen Nummern - anrufen, ihn jedoch nie persönlich bedrohen.

Zudem verwickelte sich der BF bei seinen Angaben über die Tatsache, dass die Taliban sein erstes Handy gefunden und dann in den Besitz der Nummer seines neuen Handys gekommen seien in unauflösbare Widersprüche. Insgesamt kann aufgrund der dargelegten Erwägungen und der vagen sowie zum Teil widersprüchlichen Angaben des BF nicht davon ausgegangen werden, dass es tatsächlich zu dem BF geltenden Verfolgungshandlungen oder Drohanrufen gekommen ist.

Auch das sonstige Fluchtvorbringen, dass der BF vor dem BFA erstmals äußerte und in der Beschwerdeverhandlung aufrechthielt, erweist sich als sehr unkonkret. Der BF brachte vor, dass ein Militärfahrzeug, mit dem er normalerweise fahre, von einer Bombe getroffen worden sei. Auch hätten Taliban ihm auf einer Straße aufgelauert, dieser Kontrolle ist er aufgrund des Hinweises seines Taxifahrers entgangen.

Nicht nur in Anbetracht der schon zuvor dargelegten Unglaubwürdigkeiten im Fluchtvorbringen des BF kann dem Vorbringen zum Bombenattentat auf das Auto kein Glauben geschenkt werden. So erwähnte der BF diesen Aspekt in freier Erzählung zu seinen Fluchtgründen lediglich nebenbei und konnte keine Details dazu angeben. Auf mehrere Fragen des BFA zu diesem Fluchtvorbringen ging der BF kaum ein und antwortete jeweils lediglich in sehr kurzen Sätzen, ohne relevante Informationen zu liefern. Selbiges ist auch betreffend das Fluchtvorbringen des BF zu seiner Fahrt mit dem Linientaxi. Diesbezüglich gab er an, dass er vom Militärstützpunkt mit einem Linientaxi Richtung Heimatdorf abgereist sei. Sie seien bis 800 Meter zu einem Kontrollpunkt der Taliban zugefahren. Der Fahrer sei ein Bekannter der Familie gewesen und habe davon Bescheid gewusst, weswegen sie umgedreht hätten. Insgesamt ist aus Sicht des erkennenden Gerichts nicht ersichtlich, wieso jemand, der – nach eigenen Angaben – nur durch Zufall einem Bombenattentat und einer Kontrolle durch die Taliban entkommen ist, lediglich vage, undetailliert und lapidar über diese Geschehnisse berichtet, sodass davon auszugehen ist, dass der BF diese Geschehnisse nicht selbst erlebt hat.

Zum Fluchtvorbringen betreffend die Straßenkontrolle der Taliban ist hinzuzufügen, dass die vagen Ausführungen des BF auch logisch nicht nachvollziehbar sind. So ist nicht verständlich, wieso der BF mit dem Taxifahrer bis 800 Meter zu den Taliban vorgefahren ist, wenn doch dem Fahrer von Anfang an bekannt war, dass sich die Taliban dort aufhalten bzw. dort auflauern würden. Der diesbezüglichen Frage der belangten Behörde versuchte der BF auszuweichen und antwortete, dass man den Posten „auch gesehen“ habe. Eine verständliche Erklärung blieb der BF schuldig, weshalb seinem Fluchtvorbringen auch aus diesem Grund kein Glauben zu schenken ist. Aufgrund der ausführlich dargelegten Erwägungen kann nicht festgestellt werden, dass es in Afghanistan bereits Verfolgungshandlungen der Taliban gegenüber dem BF gegeben hat.

Auch insgesamt ist es dem BF nicht gelungen, eine Verfolgung seiner Person aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung (oder aus anderen Gründen) glaubhaft zu machen. Dies aus den folgenden Gründen:

Die vom BF im gesamten Verfahren mehrfach ins Treffen geführten Verfolgungshandlungen der Taliban werden seitens des erkennenden Gerichts als nicht glaubhaft beurteilt.

Weiters vom BF vorgebracht wurde allerdings eine ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohende Verfolgung aufgrund seiner Eigenschaft als ehemaliger Soldat der afghanischen Nationalarmee. Deswegen könnte er ein Ziel der nunmehr an der Macht stehenden Taliban werden. Diesem Vorbringen sind jedoch die aktuellen Länderberichte zu Afghanistan und die gutachterliche Stellungnahme des länderkundigen SV betreffend die Rückkehrsituation des BF gegenüberzustellen.

Als ehemaliger Soldat der Nationalarmee könnte der BF tatsächlich ein Risikoprofil nach der EASO Country Guidance Afghanistan erfüllen, doch ist auch nach einer Einzelfallprüfung unter Betrachtung jeglicher Umstände des Einzelfalles nicht ersichtlich, inwiefern ihm wegen dieser Tätigkeiten eine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan durch die Taliban drohen sollte.

Maßgeblich ist zu berücksichtigen, dass nicht jede Person, die jemals Teil der Sicherheitskräfte der ehemaligen afghanischen Regierung war, automatisch eine wohlbegründete und asylrelevante Furcht vor Verfolgung unterliegt. Bei einer Gesamtbetrachtung ist nämlich miteinzubeziehen, dass sich der BF seit etwa sieben Jahren nicht mehr in Afghanistan aufhält, keine höhere exponierte Funktion bei der afghanischen Nationalarmee innehatte und insbesondere nie an direkten Kämpfen mit den Taliban beteiligt war. Vielmehr war der BF als reiner Sanitäter bei der Armee aktiv und dies – unter Einbeziehung der Ausbildungszeit in Kabul - lediglich zwei Jahre. Es gab weder direkte Konfrontationen noch benutzte er seine Waffe im Kampf. Der BF hatte auch keine Möglichkeit im militärischen Rang aufzusteigen.

Aus den aktuellen Länderberichten ist auch nicht ersichtlich, dass eine systematische und generelle Verfolgung für alle früheren (einfachen) Soldaten bzw. Sicherheitskräfte der afghanischen Regierung erfolgt. Vielmehr sprachen die Taliban eine Generalamnestie für diese Personen aus. Wenngleich das BVwG nicht verabsäumt, dass es sehr wohl zu Racheakten gegenüber ehemaligen Kämpfern der afghanischen Regierung gab und wohl auch aufgrund der schlechten Kontrolle der Taliban-Führung über ihre eigenen Kämpfer kommen wird, kann nicht von einem systematischen und maßgeblich wahrscheinlichen Vorgehen ausgegangen werden, sodass jeden ehemaligen Soldaten automatisch eine Verfolgung durch die Taliban droht.

Wie schon aus früheren Länderberichten (EASO Country Guidance, UNHCR-Richtlinien, etc.) bekannt, ist aus Sicht der erkennenden Richterin weiterhin davon auszugehen, dass primär bei Personen, die höhere Funktionen beim Militär, bei der der Polizei oder bei Nachrichteneinheiten innegehabt haben, wohlbegründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen ist. Wieso die Taliban hinter dem BF, der – unter Einbeziehung der Ausbildungszeit in Kabul - lediglich rund 2 Jahre bei der Armee im Rang eines einfachen Soldaten als Sanitäter tätig war und sich seit sieben Jahren nicht mehr in Afghanistan aufhält, ist nicht ersichtlich.

Die gutachterlichen Ausführungen des länderkundigen SV stützen diese Ansicht:

„Schlussfolgernd möchte ich darauf hinweisen, dass der BF zwar in Armeeeinheiten als Sanitäter anwesend war und sie begleitet hat, wenn sie zu Kampfeinsatzhandlungen geschickt wurden, aber er hat selber nicht aktiv an den Kämpfen teilgenommen. Er war lediglich für Sanitäter-Fragen zuständig.

Die Taliban haben bis jetzt die Verfolgung bestimmter Offiziere damit begründet, dass diese Personen an der Front gegen sie eingesetzt waren. Grundsätzlich ist nicht ausgeschlossen, dass die Taliban jene Soldaten und Offiziere ins Visier nehmen, wenn sie an der Front auf die Taliban geschossen haben und diese von den Taliban gesehen wurden. Es kann nicht gesagt werden, dass alle afghanischen Soldaten und Offiziere von den Taliban verfolgt werden, auch wenn sie an den Kämpfen beteiligt waren. Nach meinen Kenntnissen sind die meisten verbliebenen paschtunischen Offiziere und Soldaten aktuell wieder in die Taliban-Armee eingegliedert worden. Die anderen werden selektiv von den Taliban aufgenommen. Am meisten werden von den Taliban tadschikische Offiziere ins Visier genommen, da die Tadschiken den bewaffneten Widerstand gegen die Taliban führen.

Es ist mir nicht bekannt, dass die Taliban Sanitäter vor 2015, die den Taliban zudem keinen schweren Schaden körperlicher oder die Ehre betreffender Natur zugefügt haben, von den Taliban verfolgt worden wären. Ich möchte darauf hinweisen, dass Sanitäter auch zu den Truppen zählen, allerdings hat der BF selber angegeben, dass er nicht am kriegerischen Einsatz beteiligt war. Der BF ist kein exponierter Offizier der afghanischen Armee und auch nicht jemand, der sich mit den Taliban angelegt hat […].“

An der Richtigkeit der schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen des länderkundigen SV, welcher aufgrund seiner profunden Sachkenntnis bereits in vielen Verfahren als Gutachter herangezogen wurde und schon in früheren Verfahren im Auftrag des Unabhängigen Bundesasylsenates, des Asylgerichtshofes und des BVwG zahlreiche nachvollziehbare und schlüssige Gutachten zur Lage in Afghanistan erstattet hat, in regelmäßigen Abständen die Lage im Herkunftsstaat des BF erkundet und bestens mit den Sitten und Bräuchen in Afghanistan vertraut ist, sind keine Zweifel entstanden. Der länderkundige SV ging auf das Vorbringen und die Fragen des BF bzw. seines Rechtsvertreters ausführlich ein und erscheinen seine Ausführungen in sich schlüssig und plausibel.

Aufgrund der dargelegten Erwägungen sowie der gutachterlichen Stellungnahme kann keine dem BF in Afghanistan drohende asylrelevante Verfolgungsgefahr festgestellt werden.

2.2.2. Die Feststellung, dass nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage, den Versorgungsengpässen sowie der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit droht, gründet auf den folgenden Erwägungen:

Bis zum Sommer 2021 war die Sicherheitslage - jedenfalls in einigen Gebieten Afghanistans - nicht derart, dass sie einer Rückkehr automatisch entgegenstanden wäre. Die Familie des BF stammt aus der Provinz XXXX , Distrikt XXXX , Dorf XXXX , und der BF lebte dort sowie in der Provinz XXXX bis zu seiner Ausreise im November 2015, als er etwa 18 Jahre alt war. Er besuchte dort für zehn Jahre die Schule und lebte gemeinsam mit seiner Familie. Insofern ist davon auszugehen, dass der BF nach wie vor mit den dortigen örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten bestens vertraut ist. Es ist insgesamt nicht auszuschließen, dass es dem BF insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich bei ihm um einen alleinstehenden, jungen, arbeitsfähigen afghanischen Staatsangehörigen handelt, der die dortigen Gegebenheiten kennt, noch bis vor einem Jahr möglich gewesen wäre, nach einer Rückkehr nach Afghanistan rasch Fuß zu fassen und somit nicht in eine aussichtslose Lage geraten wäre.

Mittlerweile hat sich die Lage in Afghanistan jedoch grundlegend geändert. So haben die Taliban die Macht übernommen, während die frühere afghanische Regierung wie auch die Streitkräfte zusammengebrochen sind und teilweise das Land verlassen haben. Die in das Verfahren eingebrachten Länderinformationen zeigen, dass dem BF derzeit durchaus eine reale Gefahr einer Verletzung seiner in der EMRK garantierten Rechte droht und ihm aktuell eine Neuansiedelung nicht möglich ist. Die Taliban geben sich zwar nach außen und im Vergleich zu früher als moderater, allerdings wurden diese Versprechen den oben zitierten Berichten zufolge, in den länger kontrollierten Gebieten schon nach einer kurzen Anfangsphase nicht eingehalten.

Die neuesten Länderberichte legen insbesondere dar, dass die wirtschaftliche Situation in Afghanistan extrem angespannt ist. Es sind eklatante Versorgungsengpässe bemerkbar, wobei nicht klar ist, ob die Nichtregierungsorganisationen weiterarbeiten können und werden. Zudem besteht derzeit kein Zugriff auf die Reserven der Nationalbank bzw. Devisen, wobei dieser Umstand als umso prekärer anzusehen ist, da die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen ist und die Preise für Grundnahrungsmittel rasant steigen. Zugleich setzte 2021 die zweite extreme Dürre innerhalb weniger Jahre ein, die die Nahrungsmittelproduktion stark einschränkte. Im März 2022 sind nach Angaben der Vereinten Nationen 23 Millionen Afghanen von akutem Hunger betroffen - gegenüber 14 Millionen im Juli 2021 - und 95 % der Bevölkerung haben nicht genug zu essen. Die ohnehin schon hohe Arbeitslosigkeit soll sich nach neuen Einschätzungen in den nächsten zwei Jahren verdoppeln.

Den aktuellen Berichten zufolge, stellt die Grundversorgung für große Teile der Bevölkerung und insbesondere für Rückkehrer zum gegenständlichen Entscheidungszeitpunkt eine kaum bewältigbare Aufgabe dar. Aufgrund der aufgezeigten Umstände und der aktuell besonders angespannten Situation, ist es dem BF derzeit nicht möglich und zumutbar, in Afghanistan eine Existenz aufzubauen, ohne eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner körperlichen Unversehrtheit zu riskieren.

2.3. Zu den Feststellungen zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Die Feststellungen zum Leben des BF in Österreich entspringen den im Laufe des Verfahrens vorgelegten Unterlagen, den diesbezüglichen Angaben des BF in der mündlichen Verhandlung und der hiergerichtlich eingeholten Abfrage aus der Speicherdatenbank des Grundversorgungssystems-GVS. Der BF legte auch ein Deutschzertifikat des Levels A2 vor. Die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus einem eingeholten Strafregisterauszug.

Dass der BF im Bundesgebiet Angehörige oder sonstige Personen hat, zu denen ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht, ist im Verfahren nicht hervorgekommen. Die Feststellungen zu den Deutschkenntnissen beruhen auf dem im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 14.06.2022 von der erkennenden Richterin gewonnenen persönlichen Eindrucks des BF. Dass der BF ehrenamtlich aktiv oder erwerbstätig ist, kam im Verfahren nicht hervor und wurde von ihm auch nicht behauptet.

2.4. Zu den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat – Afghanistan:

Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan stützen sich auf objektives, in das Verfahren eingebrachtes Berichtsmaterial. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Diese Berichte sind aktuell und setzen sich aus Informationen aus regierungsoffiziellen und nichtregierungsoffiziellen Quellen zusammen.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Beschwerdegegenstand ist demnach der Bescheid des BFA vom 13.04.2018. Die dagegen erhobene Beschwerde erweist sich als rechtzeitig und zulässig. Sie ist teilweise auch begründet.

3.2. Zu Spruchpunkt A) I. – Abweisung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates oder wegen Schutzes in einem EWR-Staat oder in der Schweiz zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).

Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offen steht oder, wenn er einen Ausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) – deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben – ist ein Flüchtling, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist somit die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.).

Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. zB. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; VwGH 25.1.2001, Zl. 2001/20/0011).

Für eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, Zl. 95/01/0454, VwGH 09.04.1997, Zl. 95/01/055), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse, sondern erfordert eine Prognose (vgl. VwGH 16.02.2000, Zl. 99/01/0397). Verfolgungshandlungen die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 15.03.2001, Zl. 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (vgl. VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).

Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht gemäß § 3 AsylG 2005 setzt positiv getroffene Feststellungen von Seiten der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, Zl. 95/01/0627). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt im Asylverfahren das Vorbringen des Asylwerbers die zentrale Entscheidungsgrundlage dar. Dabei genügen aber nicht bloße Behauptungen, sondern bedarf es, um eine Anerkennung als Flüchtling zu erwirken, hierfür einer entsprechenden Glaubhaftmachung durch den Asylwerber (vgl. VwGH 04.11.1992, Zl. 92/01/0560).

Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.

So entspricht es der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass Gründe, die zum Verlassen des Heimatlandes bzw. Herkunftsstaates geführt haben, im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen (VwGH 06.03.1996, 95/20/0650; vgl. auch Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2004/83/EG - StatusRL, ABl. L Nr. 304, 12, sowie Putzer, Leitfaden Asylrecht2, [2011], Rz 31).

Festzuhalten ist, dass es Aufgabe des Asylwerbers ist, durch ein in sich stimmiges und widerspruchsfreies Vorbringen, allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel, einen asylrelevanten Sachverhalt glaubhaft zu machen (vgl. VwGH 25.03.1999, 98/20/0559). Kann ein BF sein Vorbringen nicht durch Bescheinigungsmittel untermauern, ist es umso wichtiger, sein Vorbringen gleichbleibend, konkret und nachvollziehbar zu gestalten.

Allgemein gehaltene Behauptungen reichen jedenfalls für eine Glaubhaftmachung nicht aus (vgl. VwGH 17.10.2007, 2006/07/0007). Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem in mehreren Erkenntnissen betont, dass die Aussage des Asylwerbers die zentrale Erkenntnisquelle darstellt und daher der persönliche Eindruck des Asylwerbers für die Bewertung der Glaubwürdigkeit seiner Angaben von Wichtigkeit ist (VwGH 24.06.1999, 98/20/0453; VwGH 25.11.1999, 98/20/0357).

Grundsätzlich obliegt es dem Asylwerber, alles Zweckdienliche, insbesondere seine wahre Bedrohungssituation in dem seiner Auffassung nach auf ihn zutreffenden Herkunftsstaat, für die Erlangung der von ihm angestrebten Rechtsstellung vorzubringen (Vgl. VwGH 31.05.2001, Zl. 2001/20/0041; VwGH 23.07.1999, Zl. 98/20/0464). Nur im Fall hinreichend deutlicher Hinweise im Vorbringen eines Asylwerbers auf einen Sachverhalt, der für die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention in Frage kommt, hat die Behörde gemäß § 28 AsylG 1997 in geeigneter Weise auf eine Konkretisierung der Angaben des Asylwerbers zu dringen. Aus dieser Gesetzesstelle kann aber keine Verpflichtung der Behörde abgeleitet werden, Asylgründe, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat, zu ermitteln (Vgl. VwGH 14.12.2000, Zl. 2000/20/0494; VwGH 06.10.1999, Zl. 98/01/0311; VwGH 14.10.1998, Zl. 98/01/0222). Die Ermittlungspflicht der Behörde geht auch nicht soweit, den Asylwerber zu erfolgversprechenden Argumenten und Vorbringen anzuleiten (vgl. VwGH vom 21.09.2000, Zl. 98/20/0361; VwGH 04.05.2000, Zl. 99/20/0599).

Gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 und § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann („innerstaatliche Fluchtalternative"). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK vorliegen kann (vgl. zur Rechtslage vor dem AsylG 2005 z.B. VwGH 15.03.2001, 99/20/0036; 15.03.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen). Damit ist - wie der Verwaltungsgerichtshof zur GFK judiziert - nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer „internen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal wirtschaftliche Benachteiligungen auch dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.11.2007, 2006/19/0341, m.w.N.).

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, Zl. 98/20/0233). So kommt es aber nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bei der Beurteilung des Vorliegens von Fluchtgründen immer auf die konkrete Situation des jeweiligen Asylwerbers, nicht aber auf die allgemeinen politischen Verhältnisse an. Es bestehen keine ausreichenden Hinweise dafür, dass sich aus der allgemeinen Situation allein etwas für den BF gewinnen ließe, zumal keine ausreichenden Anhaltspunkte bestehen, dass der BF schon allein auf Grund der Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung zu fürchten habe.

Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des BF, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist. Es ist ihm mit seinem Vorbringen nicht gelungen, eine wohlbegründete, aktuelle und damit asylrelevante Verfolgungsgefahr innerhalb dseines Herkunftsstaates den Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm Art. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK entsprechend glaubhaft zu machen.

Die im Rahmen der Fluchtgeschichte geschilderte Verfolgung durch die Taliban war nicht glaubhaft, weshalb das erkennende Gericht davon ausgeht, dass der BF keiner Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt war. Da der BF somit bisher nicht verfolgt wurde, er in keine direkten Kämpfe mit den Taliban verwickelt war und er lediglich als Sanitäter im Rang eines einfachen Soldaten bei der afghanischen Armee tätig war, geht das Gericht auf der Grundlage der wiedergegebenen Länderberichte und der schlüssigen Ausführungen des länderkundigen SV davon aus, dass dem BF im Falle einer Rückkehr keine Verfolgung aus Gründen seiner etwa zweijährigen Tätigkeit bei der afghanischen Armee drohen wird. Wie bereits umfassend in der Beweiswürdigung ausgeführt, gehörte der BF aufgrund seines einfachen Ranges im afghanischen Militär, seiner ausschließlichen Tätigkeit als Sanitäter sowie seiner fehlenden Teilnahme bzw. Verwicklung in Kampfhandlungen mit den Taliban keiner Gruppe an, die von den Taliban gezielte Repressionen zu befürchten hat. Hinzuzufügen ist auch, dass seit der Tätigkeit des BF bei der afghanischen Armee mehr als sieben Jahre vergangen sind, weshalb auch an der Aktualität einer Verfolgungsgefahr zu zweifeln wäre. Eine asylrelevante Verfolgungsgefahr aufgrund der früheren Tätigkeit des BF bei der afghanischen Nationalarmee kann mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Andere Anhaltspunkte, die eine mögliche, individuelle, Verfolgung des BF im Herkunftsstaat für wahrscheinlich erscheinen lassen, sind im gesamten Verfahren nicht hervorgekommen.

Im Ergebnis droht somit dem BF im Herkunftsstaat weder eine individuelle Verfolgung noch eine aktuelle und konkrete Verfolgungsgefahr aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung iSd Art. 1 Abschnitt 1 Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention.

Auch aus der allgemeinen Lage in Afghanistan lässt sich für den BF eine Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten auch nicht herleiten: Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation stellt nach ständiger Judikatur des VwGH keinen hinreichenden Grund für eine Asylgewährung dar (vgl. etwa VwGH vom 14.3.1995, 94/20/0798; 17.6.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 09.5.1996, 95/20/0161; 30.4.1997, 95/01/0529; 8.9.1999, 98/01/0614).

Es war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides abzuweisen und folglich spruchgemäß zu entscheiden.

3.3. Zu Spruchpunkt A) II. – Stattgabe der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.§ 8 AsylG beschränkt den Prüfungsrahmen auf den "Herkunftsstaat" des Asylwerbers. Dies ist dahingehend zu verstehen, dass damit derjenige Staat zu bezeichnen ist, hinsichtlich dessen auch die Flüchtlingseigenschaft des Asylwerbers auf Grund seines Antrages zu prüfen ist (VwGH 22.4.1999, 98/20/0561; 20.5.1999, 98/20/0300)

Gemäß § 8 Abs. 3 und 6 AsylG 2005 ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich dieses Status abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offensteht oder wenn der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden kann.

Wie bereits oben ausgeführt, wurde die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides abgewiesen. Zu prüfen bleibt somit, ob es begründete Anhaltspunkte dafür gibt, dass durch die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF in seinen Herkunftsstaat Art. 2 oder 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 zur EMRK verletzt würde.

Gemäß Art. 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. Letzteres wurde wiederum durch das Protokoll Nr. 6 beziehungsweise Nr. 13 zur Abschaffung der Todesstrafe hinfällig. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Unter "realer Gefahr" ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen ("a sufficiently real risk") im Zielstaat zu verstehen. Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein sowie ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu fallen (siehe VwGH 30.5.2001, 97/21/0560).

Die dabei anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen. Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, welche dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung betreffend die persönliche Situation des BF (Gesundheitszustand, Arbeitsfähigkeit und Arbeitserfahrung, Schulbildung, im Herkunftsstaat ausgeübte Tätigkeiten, Vorhandensein familiärer und sozialer Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat, allgemeine Sicherheitslage und Menschenrechtslage im Herkunftsstaat sowie Erreichbarkeit des Herkunftsstaats bzw. Herkunftsort) ist im Allgemeinen – wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde – nicht revisibel (VwGH 29.11.2017, Ra 2017/18/0323 mHa VwGH 12.10.2016, Ra 2016/18/0039 mwN).

Es bedarf somit einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 23.1.2018, Ra 2017/20/0361, mit Verweis auf VwGH 25.5.2016, Ra 2016/19/0036, und 8.9.2016, Ra 2016/20/0063, jeweils mwN).

Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewalt-aktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (VwGH 21.2.2017, Ra 2016/18/0137).

Die Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (im Folgenden: UNHCR-RL vom 30.08.2018), welchen Indizienwirkung zukommt (vgl. VwGH 16.07.2013, 2003/01/0059), halten zum subsidiären Schutz fest, dass afghanische Asylsuchende im Einzelfall subsidiären Schutzes nach Art. 15 lit. b der Status-richtlinie bedürfen, „wenn sie der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne des Artikel 15 (Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung) durch den Staat oder seine Vertreter oder durch regierungs-feindliche Kräfte (AGEs) ausgesetzt sind“.

Auch unter diesen Voraussetzungen ist aber bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz nach wie vor eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk") einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0063; 21.2.2017, Ra 2016/18/0137).

Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG grundsätzlich gegeben sind:

Neben der Prüfung, ob in dem betreffenden Gebiet Verhältnisse herrschen, die Art. 3 EMRK widersprechen, setzt die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative voraus, dass dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann (vgl VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001). Im Sinne einer unionsrechtskonformen Auslegung ist das Kriterium der „Zumutbarkeit“ nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 gleichbedeutend mit dem Erfordernis nach Art. 8 Abs. 1 Statusrichtlinie, dass vom Asylwerber vernünftigerweise erwartet werden kann, sich im betreffenden Gebiet seines Herkunftslandes niederzulassen (vgl. VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; vgl. auch jüngst VwGH 06.11.2018, Ra 2018/01/0106).

Nach allgemeiner Auffassung soll die Frage der Zumutbarkeit danach beurteilt werden, ob der in einem Teil seines Herkunftslands verfolgte oder von ernsthaften Schäden (iSd Art. 15 Statusrichtlinie) bedrohte Asylwerber in einem anderen Teil des Herkunftsstaates ein „relativ normales Leben“ ohne unangemessene Härte führen kann. Dabei ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände des Asylwerbers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).

Es muss dem BF möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).

Bis zu den Umstürzen in Afghanistan im Sommer 2021 judizierte der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass die Sicherheitslage in bestimmten Gebieten eine Rückkehr nicht ausschließt und auch keine Situation vorliegt, die eine reale Gefahr von Art. 3 EMRK begründet. Einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrscht, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut ist und die Möglichkeit hat, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, konnte die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans, insbesondere in Herat und Mazar-e Sharif, zugemutet werden, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat, sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen ist (VwGH 26.02.2020, Ra 2019/18/0017; 13.02.2020, Ra 2018/19/0628; 12.12.2019, Ra 2019/01/0243 mit zahlreichen Hinweisen aus der Rechtsprechung).

Den aktuellen Länderberichten ist allerdings zu entnehmen, dass mittlerweile das gesamte Staatsgebiet, somit auch die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, an die Taliban gefallen sind. Diese haben zwar den Krieg in Afghanistan für beendet erklärt und zugesichert, Minderheitenrechte zu achten. Erste Berichte aus Gebieten, die bereits länger unter der Herrschaft der Taliban stehen, zeugen jedoch bereits von massiven Menschenrechtsverletzungen.

Dementsprechend stellte auch der Verfassungsgerichtshof jüngst (erneut) fest, dass von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen ist und verneinte das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharf (vgl VfGH 16.12.2021, E 4227/2021-9; VfGH 30.09.2021, E 3445/2021-8).

Ungeachtet der Tatsache, dass der BF in Afghanistan über familiäre Anknüpfungspunkte verfügt, würde eine Rückkehr bereits aufgrund der volatilen Sicherheitslage und Versorgungslage eine reale Gefahr einer Verletzung nach Art. 3 EMRK für den BF mit sich bringen.

Darüber hinaus ist den zugrunde gelegten Länderinformationen zu entnehmen, dass die wirtschaftliche Situation in Afghanistan derzeit extrem angespannt ist und erhebliche Versorgungsengpässe zu verzeichnen sind. Einerseits ist dieser Umstand im Rückzug der ausländischen Unterstützer begründet, andererseits auch mit einer erheblichen Dürre in Teilen des Landes. Mehrere Organisationen warnen bereits vor einer humanitären Katastrophe, zumal auch nicht klar ist, ob Nichtregierungsorganisationen infolge der jüngsten Ereignisse noch weiterarbeiten können bzw. wollen. Zudem besteht derzeit kein Zugriff auf die Reserven der Nationalbank bzw. Devisen. Dieser Umstand ist zweifellos als umso prekärer anzusehen, als die afghanische Währung mittlerweile auf ein Rekordtief gefallen ist und die Preise für Grundnahrungsmittel rasant steigen, sodass die Grundversorgung für erhebliche Teile der Bevölkerung - insbesondere für Rückkehrer - eine kaum bewältigbare Aufgabe darstellt.

Unter Berücksichtigung der Länderberichte, der derzeitigen Sicherheits- und Versorgungslage und der individuellen Situation des BF gelangt das Bundesverwaltungsgericht somit zu dem Ergebnis, dass eine Rückverbringung des BF nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die reale Gefahr einer Verletzung nach Art. 3 EMRK darstellen würde.

Für das Vorliegen eines Ausschlussgrunds gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 AsylG kamen keine Anhaltspunkte hervor. Der BF wurde auch nie strafgerichtlich verurteilt.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Falle des BF sind folglich gegeben, da eine Rückverbringung des BF nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die reale Gefahr einer Verletzung nach Art. 3 EMRK darstellen würde und keine Ausschlussgründe im Sinne von § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 AsylG vorliegen.

Es war spruchgemäß zu entscheiden.

3.4. Zu Spruchpunkt A) III. – Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung:

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, von der zuerkennenden Behörde gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom BFA für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

Im gegenständlichen Fall war dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuzuerkennen.

Dem BF war daher gemäß § 8 Abs. 4 AsylG gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres zu erteilen. Die einjährige Gültigkeitsdauer beginnt mit dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses zu laufen, da erst mit der Zustellung die rechtlichen Wirkungen des Erkenntnisses eintreten (VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0281).

3.5. Zu Spruchpunkt A) IV. – Ersatzlose Behebung der Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides:

Da die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung und die Festsetzung einer Frist für die freiwillige Ausreise infolge der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorliegen, waren die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos zu beheben (vgl. dazu auch VfGH 13.09.2013, U 370/2012; VwGH 04.08.2016, Ra 2016/21/0162).

 

 

 

Zu Spruchpunkt B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung (siehe die oben zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, aber auch des Verfassungsgerichtshofes, des EuGH und des EGMR); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind somit weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen, zumal im vorliegenden Fall vornehmlich die Klärung von Sachverhaltsfragen maßgeblich für die zu treffende Entscheidung war.

Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

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