B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs5
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:L507.2237521.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. HABERSACK über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Mag. Volkert SACKMANN, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenrecht und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.12.2021 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Spruchpunkte II. und III. folgendermaßen zu lauten haben:
„II. Es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig ist.
III. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wird gegen Sie ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.“
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 08.04.2019 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von drei Jahren die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG beabsichtigt sei. Zur Beurteilung des Sachverhaltes wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, Fragen zu seinen persönlichen Verhältnissen in Österreich und der Türkei sowie zu seinen Bedenken im Falle einer Rückkehr in die Türkei zu beantworten.
2. Mit Schreiben vom 22.08.2019 erfolgte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers und wurden Beweismittel in Vorlage gebracht.
3. Mit Schreiben des BFA vom 07.09.2020 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass gegen ihn aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen vom 27.09.2018 und 13.03.2019 die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm einem Einreiseverbot gemäß § 53 FPG beabsichtigt sei. Dem Beschwerdeführer wurde eine Frist von 14 Tagen zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme dazu eingeräumt.
4. Mit Schriftsatz der Vertretung des Beschwerdeführers vom 21.09.2020 wurde eine Stellungnahme zu der Verständigung vom 07.09.2020 erstattet.
5. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom XXXX , Zl. XXXX , wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach … [gemeint wohl: in die Türkei] zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
Das BFA führte begründend aus, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers aufgrund seines bisher gesetzten Gesamtverhaltens öffentlichen Interessen widerstreite und kein schützenswertes Privat- und Familienleben vorliege. Es lägen auch keine Umstände vor, die gegen eine Abschiebung in die Türkei sprechen würden.
Bezüglich der Verhängung eines Einreiseverbotes wurde ausgeführt, dass mit den Verurteilungen des Beschwerdeführers die Tatbestandsvoraussetzungen des § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG erfüllt seien und aufgrund des Verhaltens des Beschwerdeführers davon auszugehen sei, dass er eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Eine Gefährlichkeitsprognose gehe zu Lasten des Beschwerdeführers. Die Erlassung eines auf acht Jahre befristeten Einreiseverbotes sei daher angemessen.
6. Gegen den am 27.10.2020 ordnungsgemäß zugestellten Bescheid wurde mit Schreiben vom 23.11.2020 fristgerecht Beschwerde erhoben. Darin wurde darauf hingewiesen, dass seitens des BFA festgestellt wurde, dass vom Beschwerdeführer eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgehe. Bei der Prüfung einer solchen Gefährdung sei aber eine sein Gesamtverhalten berücksichtigende Prognoseentscheidung vorzunehmen. Das BFA habe eine negative Zukunftsprognose gestellt, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Beschwerdeführer erneut straffällig werde. Daraus könne nicht automatisch geschlossen werden, dass er eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Der Beschwerdeführer bereue sein Verhalten und sei dieses ausschließlich auf seine (mittlerweile geheilte) Spielsucht zurückzuführen. Bis 2019 habe sich der Beschwerdeführer stets wohl verhalten. Zudem würden die privaten und familiären Interessen jene an der Aufenthaltsbeendigung überwiegen. Eine Fortsetzung seines Familienlebens von der Türkei aus sei weder möglich noch zumutbar. Der Familie des Beschwerdeführers sei es auch nicht zumutbar, ihn in die Türkei zu begleiten.
7. Am 09.12.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. Dabei wurde dem Beschwerdeführer die Gelegenheit gegeben, seine privaten und persönlichen Angelegenheiten darzulegen. Zudem wurde der Beschwerdeführer zu seinen Integrationsbemühungen sowie Rückkehrbefürchtungen befragt und ihm die aktuellen Länderfeststellungen zur Türkei ausgehändigt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Er ist Staatsangehöriger der Türkei, muslimischen Glaubens und Angehöriger der türkischen Volksgruppe.
Der Beschwerdeführer wurde in XXXX in der gleichnamigen Provinz geboren, besuchte in XXXX ein Gymnasium und wohnte zuletzt in XXXX , wo er nach dem Schulabschluss drei Semester lang ein technisches Studium betrieb.
Im März 2003 kam der Beschwerdeführer zum Zwecke eines Studiums an der Technischen Universität in Wien nach Österreich. Dieses Studium hat er im Sommersemester 2008 abgebrochen. Der Beschwerdeführer verfügte zuletzt über einen Aufenthaltstitel Daueraufenthalt EU (ab 25.08.2014, gültig bis 25.08.2019) und stellte dahingehend am 22.08.2019 einen Verlängerungsantrag. Von 09.11.2011 bis 09.22.2014 wurde dem Beschwerdeführer der Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte-plus“ ausgestellt.
Nach dem Abbruch seines Universitätsstudiums in Österreich hat der Beschwerdeführer ein Studium für Tourismusmanagement in Form eines Fernstudiums in Ungarn absolviert.
Am XXXX hat der Beschwerdeführer in der Türkei eine türkische Staatsangehörige geheiratet, die seit XXXX in Österreich lebt und über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ (unbefristet am 10.11.2020) verfügt.
Der Ehe entstammen drei gemeinsame Kinder, die am XXXX und XXXX in Österreich geboren wurden. Die Kinder des Beschwerdeführers sind türkische Staatsangehörige, besuchen in Österreich den Kindergarben bzw. die Volksschule und verfügen über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“.
Der Beschwerdeführer war von September 2004 bis August 2018 mit Unterbrechungen durch Arbeitslosigkeit und Bezug von Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe tageweise bzw. längstens sechs Monate immer wieder in der Gastronomie tätig. Von 24.10.2011 bis 04.04.2013 (geringfügige Beschäftigung) und von 09.07.2009 bis 31.03.2010 (Arbeiter) war der Beschwerdeführer über einen längeren Zeitraum beschäftigt.
Die Ehegattin des Beschwerdeführers hat in Österreich zunächst studiert, dieses Studium aber mit der Geburt ihres ersten Kindes aufgegeben. Seit 13.12.2019 ist die Ehegattin des Beschwerdeführers als Heimhelferin im Ausmaß von 22,5 Wochenstunden berufstätig.
Der Beschwerdeführer hat 2013 damit begonnen, Casinos zu besuchen und in weiterer Folge Spielschulden angehäuft. Aufgrund seiner prekären finanziellen Situation sowie einer gescheiterten Spielsuchtherapie hat der Beschwerdeführer Mitte 2018 beschlossen Banken auszurauben, um seine triste finanzielle Situation aufzubessern.
Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 17.12.2018, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des schweren Raubes (Bankraub 16.06.2018 – € 16.000) gemäß §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahre verurteilt, wobei zwei Jahre unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden. Mildernd wurden die reumütige geständige Verantwortung und die teilweise Schadensgutmachung sowie die Unbescholtenheit des Beschwerdeführers gewertet; erschwerend wurde kein Umstand gewertet.
Der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung wurde mit Urteil des Oberlandesgerichtes XXXX vom 13.03.2019, Zl. XXXX keine Folge gegeben und ausgesprochen, dass die bedingte Strafnachsicht gemäß § 43a Abs. 4 StGB aus dem Urteil ausgeschaltet wird. Begründend wurde unter anderem ausgeführt, dass der Milderungsgrund der Schadensgutmachung nicht vorliegt und das Geständnis in seiner mildernden Wirkung abgeschwächt ist. Ein Bankraub unter Verwendung einer Waffe ist der Schwerkriminalität zuzuordnen und erfordert trotz eines ordentlichen Lebenswandels der Verhängung einer unbedingten Freiheitsstrafe.
Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 28.05.2019, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB, des Verbrechens der Brandstiftung nach § 169 Abs. 1 StGB, der Vergehen der Nötigung nach §§ 15 Abs. 1, 105 Abs. 1 StGB, der Vergehen der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 1 und 4 StGB und des Vergehens der Vortäuschung einer mit Strafe bedrohten Handlung nach § 298 Abs. 1 StGB zu einer Zusatzstrafe in der Dauer von drei Jahren verurteilt. Zudem wurde ausgesprochen, dass der Beschwerdeführer den Privatbeteiligten binnen 14 Tagen zu bezahlen hat: Deniz Bank € 16.200; Donau Versicherung € 31.140; NÖ Versicherungs AG € 91.480. Mildernd wurde das reumütige Geständnis, der ordentliche Lebenswandel und der Umstand, dass es teilweise am Versuch geblieben ist gewertet. Erschwerend wurde das Zusammentreffen von drei Verbrechen und dreier Vergehen gewertet.
Der Beschwerdeführer befindet sich seit 29.08.2018 in Haft und steht auf einer Warteliste für die Absolvierung einer Spielsuchttherapie.
Einmal in der Woche findet mit der Ehegattin und den Kindern ein Videotelefonat statt.
Die Ehegattin des Beschwerdeführers bewohnt mit den Kindern nach wie vor die eheliche Mietwohnung und finanziert den Lebensunterhalt für sich und die Kinder (VS 6).
Der Beschwerdeführer hat Schulden in Höhe von ca. € 200.000,-- und besteht für ihn nach seiner Haftentlassung eine Einstellungszusage.
In Österreich wohnen keine Verwandten des Beschwerdeführers. Die Eltern sowie eine Schwester des Beschwerdeführers leben nach wie vor in der Türkei (Eltern in XXXX und Schwester in XXXX ). Der Vater des Beschwerdeführers ist pensionierter Eisenbahnmitarbeiter, die Mutter ist Hausfrau und die Schwester ist Beamtin beim Bildungsministerium (VS 4).
Der Beschwerdeführer, seine Ehegattin sowie die Kinder verfügen über gute Deutsch- und Türkischkenntnisse und pflegten (bis zur Inhaftierung) bzw. pflegen soziale und freundschaftliche Kontakte. Die Ehegattin des Beschwerdeführers sowie seine Kinder waren zuletzt im Sommer 2018 zu Besuchs- und Urlaubszwecken in der Türkei aufhältig (VS 5).
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
Es konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer umfassenden und fortgeschrittenen Integration des Beschwerdeführers in Österreich in beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden, welche die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen würden.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in die Türkei in eine seine Existenz gefährdende Notlage geraten würde.
Weiters konnten keine Umstände festgestellt werden, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat gemäß § 46 FPG unzulässig wäre.
1.2. Zur Lage in der Türkei wird festgestellt:
Politische Lage
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident (AA 3.6.2021, S.6; vgl. DFAT 10.9.2020, S.14).
Das Funktionieren der demokratischen Institutionen weist gravierende Mängel auf. Der Demokratieabbau hat sich ebenso fortgesetzt wie die tiefe politische Polarisierung. Die strukturellen Mängel des Präsidialsystems bleiben bestehen. Das Parlament verfügt weiterhin nicht über die notwendigen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die verfassungsmäßige Architektur zentralisiert weiterhin die Befugnisse auf der Ebene der Präsidentschaft, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten. Da es keinen wirksamen Mechanismus der gegenseitigen Kontrolle gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt, u.a. indem das Verfassungsgericht die Annahme einer Anklage durch den Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts entgegennahm, die darauf abzielt die zweitgrößte Oppositionspartei zu verbieten, was zur Schwächung des politischen Pluralismus in der Türkei beigetragen hat (EC 19.10.2021, S.3, 10f).
Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei zugunsten des neuen präsidialen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert, die Institutionen verkrüppelt und es herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Selbst das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 „beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert“, und „dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist“. Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidialdekrete verletzt (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art.8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der „Souveräne Wohlfahrtsfond“, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S.14).
Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S.20, Pt.57). Insgesamt fehlt es an einer umfassenden Reformagenda für die öffentliche Verwaltung. Nach wie vor bestehen Bedenken hinsichtlich der Rechenschaftspflicht der Verwaltung. Es fehlt der politische Wille zur Reform. Die Politikgestaltung ist weder faktenbasiert noch partizipativ (EC 19.10.2021, S.18). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020, S.12).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und PACE kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1; vgl. EP 19.5.2021, S.7-14).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteilisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZEMitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt. Die noch unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem damals noch geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt, da die regierende AKP erfolgreich eine Annullierung durch die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 erwirkte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). Diese Wahl war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).
Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weit verbreiteten Verwendung von Präsidialdekreten und -entscheidungen (EC 19.10.2021, S.11; vgl. ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments (EC 6.10.2020, S.12), nichtsdestotrotz hat das Parlament nur 61 von 821 vorgeschlagenen Gesetzen (im Berichtszeitraum der Europäischen Kommission) verabschiedet. Dem gegenüber stehen 77 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 19.10.2021, S.11). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S.14). Der Präsident kann einen Ausnahmezustand selbständig ausrufen. Die zulässigen Gründe sind extrem weit gefasst. Im Ausnahmezustand gibt es keine Grenzen für die Reichweite von Präsidialdekreten. Gegen diese ist kein Einspruch beim Verfassungsgericht möglich (SWP 4.2021, S.9).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft, im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021). Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, bleiben ungelöst (EC 6.10.2020, S.11).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vomApril 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend Parlamentarier der Opposition sind von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum die Parlamentarier der HDP mehrheitlich betroffen sind. Auf letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der „Kobane-Proteste“ im Oktober 2014 rechnen müssen. In der Besorgnis, dass die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Oppositionsmandataren zur Routine wird, forderte PACE daher die türkischen Behörden auf, die gerichtlichen Schikanen gegen Parlamentarier zu beenden und von der Einleitung zahlreicher Verfahren zur unzulässigen Aufhebung ihrer Immunität abzusehen, die die Ausübung ihres politischen Mandats ernsthaft behindern (PACE 22.4.2021, S.2f).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 19.10.2021, S.3, 10). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um ein weiteres Jahr (EC 19.10.2021, S.3; vgl. HDN 19.7.2021). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit AntiTerrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäischen Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 19.10.2021, S.5). - In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie „die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören“, bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt auch im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018). Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen.
Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands verhaftet und mehr als 78.000 aufgrund Vorwürfen mit Terrorismusbezug festgenommen (EC 29.5.2019, S.9). Hunderte Lokalpolitiker und gewählte Mandatsträger wurden aufgrund von Anschuldigungen im Zusammenhang mit Terrorismus verhaftet (EC 19.10.2021, S.4).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von „Treuhändern“ anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S.15). Mit Stand Oktober 2021 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Seit Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-BürgermeisterIn] verhaftet, sechs von ihnen befinden sich im Gefängnis und fünf unter Hausarrest (Stand Oktober 2021). Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen hätten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 19.10.2021, S.16). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben wurde, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S.13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 4.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 19.10.2021, S.11).
Quellen:
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Sicherheitslage
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S.18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die „Terrorbekämpfung“ und die Sicherung „nationaler Interessen“ hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht, verbunden mit erheblichen Einschränkungen der Grundfreiheiten (AA 3.6.2021). Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau. Dennoch kommt es mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 18.3.2021, S.12), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 19.10.2021, S.4, 15). Der Konflikt zwischen der Regierung und der PKK dauert an. Bestehende Spannungen werden durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak beeinflusst. Vereinzelt kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen (EDA 11.11.2021), wenn auch auf einem geringeren Niveau als in den Vorjahren. Diese führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 19.10.2021, S.15). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vorgängig weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 11.11.2021).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2020 230 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen (2019: 440) ums Leben, davon mindestens 55 Angehörige der Sicherheitskräfte (2019: 98), 167 bewaffnete Militante (2019: 324) und acht Zivilisten (2019:18) (İHD 4.10.2021, S.9, İHD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (İHD 19.4.2019). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe rund 5.700 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis Mitte Oktober 2021. Vom 1.1.2021 bis 15.10.2021 wurden 308 Opfer registriert. Besonders der Monat Mai mit 74 Opfern stach heraus (ICG 11.11.2021). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 19.10.2021, S.15).
Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Şanlıurfa, Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mit Ausgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (AA 11.11.2021; vgl. USDOS 30.3.2021, S.25). Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak, in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Aǧrı (AA 11.11.2021).
Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).
Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vgl. Duvar 26.10.2021).
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Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Die Rückschritte bei den Grundfreiheiten sind schwerwiegend und die Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hält an. Die Verschlechterung der Grundfreiheiten hat bereits vor dem infolge des Putschversuchs von 2016 verhängten Ausnahmezustands eingesetzt (EP 19.5.2021, S.7, Pt.10, 12; vgl. BS 29.4.2020) und markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschen- und Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam gar zu Rückschritten (EC 19.10.2021, S.2, 21). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 19.10.2021, S.21, USDOS 30.3.2021, S.1;14f.). Das Europäische Parlament sah in seiner Entschließung vom Mai 2021 in der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und im systemischen Mangel an der Unabhängigkeit der Justiz die zwei dringlichsten und besorgniserregendsten Probleme und verurteilte die zunehmende Kontrolle durch die Exekutive sowie den politischen Druck, durch den die Tätigkeit von Richtern, Staatsanwälten, Rechtsbeiständen und Anwaltskammern beeinträchtigt wird (EP 19.5.2021, S.9, Pt.17).
Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).
Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zahlreiche Maßnahmen des Ausnahmezustandes, darunter insbesondere die Verleihung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden und Einschränkungen der Grundfreiheiten, wurden nunmehr gesetzlich verankert. Besonders problematisch sind der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 10.2020). Das Europäische Parlament (EP) betrachtet die aktuellen Bestimmungen zur Terrorismusbekämpfung als zu weit gefasst, sodass „der Missbrauch der Antiterrormaßnahmen zum Fundament dieser staatlichen Politik der Unterdrückung der Menschenrechte und jeglicher kritischen Stimme im Land geworden sind, unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen“, und „fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen“ (EP 19.5.2021, S.9, Pt.14).
Unter anderem auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht. Das EP verurteilt „die Auslieferung [durch Drittstaaten] bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger in die Türkei aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte“ (EP 19.5.2021, S.16, Pt.40). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die EK besorgt ob der hohen Zahl der sogenannten Red Notices bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S.44).
Das Europäische Parlament forderte in seiner Entschließung vom 19.5.2021 auch eine Reform des Artikels 299 des Strafgesetzbuches (über die Beleidigung des Präsidenten), der ständig zur Verfolgung von, insbesondere Schriftstellern, Reportern, Kolumnisten und Redakteuren missbraucht wird (EP 19.5.2021, S.11, Pt.25). Laut eines Berichtes der Tageszeitung Sözcü unter Berufung auf Zahlen des Justizministeriums wurden in den Jahren 2018 bis 2020 über 29.000 Personen wegen Beleidigung des Staatspräsidenten strafrechtlich verfolgt. 2020 waren es 9.773, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021)
Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 10.2020). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen (ÖB 10.2019).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah in seiner Entschließung vom 19.5.2021 darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem sah das EP darin „einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen“ (EP 19.5.2021, S.10, Pt.19).
Im vom World Justice Project jährlich erstellten „Rule of Law Index“ rangierte die Türkei im Jahr 2021 auf Rang 117 von 139 Ländern (2020: Platz 107 von 128 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator verschlechterte sich von 0,43 auf 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien „Grundrechte“ mit 0,31 (Rang 133 von 139) und „Einschränkungen der Macht der Regierung“ mit 0,28 (Platz 134 von 139) sowie bei der Strafjustiz mit 0,36 ab. Gut war der Wert für „Ordnung und Sicherheit“ mit 0,70, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 29.10.2021).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfachgesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren (insgesamt 13 im Jahr 2019), obwohl dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten HSK infrage gestellt. Der Rat ist u.a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).
Die Ernennung Tausender loyaler Richter, die potenziellen beruflichen Kosten einer richterlichen Entscheidung in einem wichtigen Fall entgegen den Interessen der Regierung sowie die Auswirkungen der Säuberungen nach dem Putsch haben die richterliche Unabhängigkeit in der Türkei stark geschwächt (FH 3.3.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission 3.968 Richter und Staatsanwälte wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen (EC 19.10.2021, S.23). Andere Quellen (ohne sich jedoch explizit und ausschließlich auf vermeintliche Gülen-Mitglieder zu beziehen) zählten rund 4.400 entlassene Richter und Staatsanwälte seit dem Putschversuch (ÖB 10.2020). Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken (EC 19.10.2021, S.4f, 24).
Die in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 festgestellten Mängel in Bezug auf die Mindeststandards für die Entlassung von Richtern sowie die rechtlichen Garantien für die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten wurden nicht behoben. Einsprüche gegen solche Versetzungen sind möglich, aber in der Regel erfolglos. Während des gesamten Jahres 2020 wurden weiterhin Richter und Staatsanwälte ohne ihre Zustimmung und ohne jegliche Rechtfertigung, abgesehen von dienstlichen Erfordernissen, versetzt. Im Mai 2021 versetzte der Rat der Richter und Staatsanwälte 3.070 Richter und Staatsanwälte, kurz vor dem Ende der Amtszeit des Rates (EC 19.10.2021, S.23). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch just am Tag nach Bekanntwerden dieser Garantie erließ der HSK ein Dekret, durch das die Stellen von 3.358 Richtern und Staatsanwälten im Zivil- und Strafrechtsbereich sowie von 364 weiteren Magistraten im Verwaltungsbereich geändert wurden (ÖB 10.2020). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weitverbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten.
Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020, S.6, 21). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, die sich nicht an die Urteile des Verfassungsgerichts gehalten haben (EC 19.10.2021, S.23). Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im „European Network of Councils for the Judiciary“ seit Ende 2016 ruhend gestellt. Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch 12 der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 10.2020). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP 10.6.2021, S.3).
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 10.2020).
Obwohl die Autonomie der Justiz eingeschränkt ist, entschieden die Richter in wichtigen Fällen manchmal auch gegen die Regierung, beispielsweise bei der Freilassung des prominenten Philantropen Osman Kavala im Februar 2020, der jedoch auf der Basis einer neuen Anklage im Oktober 2020 wieder festgenommen wurde, oder anderer Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft (FH 3.3.2021).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) [Anm.: entspricht etwa dem Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 10.2020). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 3.6.2021), eingeführt u.a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern. Seit der Einführung im September 2012 machten bis 31.12.2020 300.000 Personen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Über 63% der Individualbeschwerden bezogen sich auf die vermeintliche Verletzung hinsichtlich der Gewährung eines fairen Gerichtsverfahrens (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts ist bei 14.973 Anträgen zwischen dem 23.9.2012 und dem 30.6.2021 mindestens eine Rechtsverletzung durch das Verfassungsgericht feststellt worden, alleine 9.332 betrafen die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren. Mit Stand Juni 2021 sind fast 52.000 Anträge beim Verfassungsgerichtshof anhängig. In 89% seiner Entscheidungen hat das Gericht die Individualbeschwerden für unzulässig erklärt (TM 17.9.2021, vgl. Anayasa 6.2021).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht (ÖB 10.2020). Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (ÖB 10.2020; vgl. EC 6.10.2020, S.24). Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium im Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2020). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S.24).
Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind, und durch die etwa im Jahr 2019 bereits 213.000 Fälle gelöst werden konnten. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100%, so dass es nun in dieser Instanz zu einem erheblichen Rückstau kommt. Im Zuge der COVID-19-Krise wurden zwischen März und Mitte Juni 2020 keine Gerichtstermine vergeben und sämtliche Fristenläufe gehemmt, sodass es zu weiteren Arbeitsrückständen und Verfahrensverzögerungen kam (ÖB 10.2020).
Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nichtbeachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte (USDOS 30.3.2021, S.16; vgl. IPI 18.11.2019), wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 30.3.2021, S.16.). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Justizminister Abdulhamit Gül nahm das nochmalige Urteil des Verfassungsgerichts - infolge der Nichtbeachtung durch ein lokales Gericht - zugunsten des ehemaligen CHP-Abgeordneten Berberoğlu zum Anlass, darauf hinzuweisen, dass die Entscheidungen des Verfassungsgerichts laut Rechtsordnung „verbindlich“ sind, und das Gesetz es den lokalen Gerichten zwingend vorschreibt, sich daran zu halten (Duvar 22.1.2021).
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 3.6.2021).
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden (USDOS 30.3.2021, S.17). Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 30.3.2021, S.12). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (HRW 13.1.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurdenAnwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Es wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und bis September 2019 321 Anwälte wegen ihrer vermeintlichen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (ALI 1.9.2019). Die Verhaftungen hielten auch 2020 an. Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47Anwälte in Ankara und 7 weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen „Terrorismus“-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben. Da die Ermittlungen einer Geheimhaltungsanordnung unterlagen, war es den Anwälten und ihren Rechtsvertretern nicht gestattet, die Ermittlungsakten einzusehen oder Informationen über den Inhalt der Vorwürfe zu erhalten, bis ihre Mandanten im Sicherheitsdirektorat von Ankara verhört wurden, wodurch ihnen das Recht auf angemessene Zeit zur Vorbereitung einer Verteidigung verweigert wurde (AI 26.10.2020).
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 10.2020). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 19.10.2021, S.31).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 10.2020).
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es zur Suspendierung und Entlassung von über 152.000 öffentlich Bediensteten, welche per Dekret unehrenhaft entlassen oder suspendiert wurden, und deren Namen im Amtsblatt veröffentlicht wurden (ÖB 10.2020).
Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidialdekrete zu erlassen. Das Präsidialdekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidialverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war. [Siehe auch Kapitel: Politische Lage] Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen bestimmte Bestimmungen von Präsidialdekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (6.2021).
Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen
Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB 10.2019). Bis zum 28.10.2021 waren 126.758 Anträge gestellt worden. Davon hatte die Untersuchungskommission 118.415. Nur 15.050 wurden positiv gelöst, während 103.365 Beschwerden abgelehnt wurden. 61 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen und Fernsehstationen. Ende Oktober waren noch 8.343 Anträge anhängig (ICSEM 28.10.2021). Die Bearbeitungsrate der Anträge gibt laut Europäischer Kommission Anlass zur Sorge, ob jeder Fall einzeln geprüft wird (EC 19.10.2021; S.20).
Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten, hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen, ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen (AI 25.10.2018; vgl. ÖB 10.2020). Betroffene haben keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrecht erhalten wird, stützt sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zieht an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB 10.2020; vgl. EC 19.10.2021, S.20). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen (einige warten nach über einem Jahr immer noch auf eine Entscheidung) kritisiert (ÖB 10.2020).
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Wehrdienst
In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden. Türkische Staatsbürger, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Ausland haben, sind ab dem Jahr, in dem sie 19 Jahre alt werden, bis zum Ende des Jahres, in dem sie 38 Jahre alt werden, verpflichtet, der Einberufung zu folgen. Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun. Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke oder Behinderte und für Einberufungspflichtige, deren Bruder, während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor. Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes 1111, Artikel 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (MFA-NL 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt (ÖB 10.2020). Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MFA-NL 11.7.2019).
Mit dem Gesetz 7179 vom Juni 2019 wurde der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt, und die Möglichkeit des Freikaufs vom Wehrdienst permanent geregelt. Bis dahin gab es nur befristete Regelungen (ÖB 10.2020). Dem Staatspräsidenten obliegt es, die Dauer festzulegen. Allerdings dürfen die sechs Monate nicht unterschritten werden (HDN 25.6.2019). Nach dem Freikauf aus dem Wehrdienst muss lediglich eine Grundausbildung von 21 Tagen abgeleistet werden. Wehrpflichtige Auslandstürken absolvieren statt dieser verkürzten Grundausbildung einen Fernkurs gemäß den Vorgaben des Verteidigungsministeriums und müssen nicht mehr einrücken. Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlende Summe beläuft sich mit Stand Oktober 2020 auf rund € 5.560 (ÖB 10.2020). Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger gilt als Voraussetzung, dass sie seit mindestens drei Jahre arbeiten, exklusive der Zeit, die sie im Inland verbracht haben. Dies gilt auch für Doppelstaatsbürger - für sie gilt ebenfalls die türkische Wehrpflicht - jedoch auch ohne Arbeitsverhältnis als Bedingung (ÖB 10.2020). Nebst Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren (Connection e.V. 11.7.2019; vgl. DFAT 10.9.2020) sind u.a. auch jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufsoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrages erhalten haben (ÖB 10.2020).
Gemäß Bestimmungen der Disziplinarordnung sowie der Gesundheitsrichtlinie des türkischen Militärs fällt Homosexualität immer noch unter „fortgeschrittene psychosexuelle Störungen“. Angehörige sexueller Minderheiten gelten als untauglich bzw. werden bei Bekanntwerden ihrer Orientierung aus der Armee entfernt. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass „abnormale bzw. perverse“ Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (ÖB 10.2020; vgl. EC 6.10.2020, S.40). Die Homosexualität oder Transsexualität muss dabei durch psychologische Tests und Behandlungen sowie manchmal durch visuelle „Beweismittel“ nachgewiesen werden (ÖB 10.2020; vgl. AA 24.8.2020).
Berichten zufolge erlitten einige Rekruten, die ihren Wehrdienst ableisteten, schwere Schikanen, körperliche Misshandlungen und Folterungen, die manchmal zu Selbstmord führten. Menschenrechtsgruppen berichten, dass verdächtige Todesfälle im Militär weit verbreitet sind. Die Regierung untersuchte sie nicht systematisch und gibt keine Informationen hierzu frei. Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) und Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) meldeten mindestens 18 verdächtige Todesfälle im Jahr 2020 (USDOS 30.3.2021, S.7).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 19.11.2020
• Connection e.V. (11.7.2019): Freikaufsregelung, Ausbürgerung, Ausmusterung und Asyl, https://de.connection-ev.org/article-1609 , Zugriff 19.11.2020
• DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information -report-turkey.pdf , Zugriff 19.11.2020
• EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final],
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• HDN – Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, http://www.hurriyetdailynews.com/turk ish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475 , Zugriff 19.11.2020
• MFA-NL – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstpli cht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijk e+bronnen.pdf , Zugriff 19.11.2020
• ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020 . pdf , Zugriff 19.11.2020
• USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 2.4.2021
Allgemeine Menschenrechtslage
Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam zu weiteren Rückschritten, vor allem in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Verfahrensrechte, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 19.10.2021, S.18, 21,
28, 31, 36, 40). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021; vgl. EC 19.10.2021, S.4, 13). Menschenrechtsverteidiger sehen sich zunehmendem Druck durch Einschüchterung, gerichtliche Verfolgung, gewalttätige Angriffe, Drohungen, Überwachung, längere willkürliche Inhaftierung und Misshandlung ausgesetzt (EC 19.10.2021, S.29f). Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 19.10.2021, S.5). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 3.6.2021, S.16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S.10).
Das harte Durchgreifen gegen tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende wurde trotz des Endes des zweijährigen Ausnahmezustands fortgesetzt. Tausende Menschen werden in langer Untersuchungshaft mit Sanktionscharakter festgehalten, oft ohne glaubwürdige Beweise dafür, dass sie eine völkerrechtlich anerkannte Straftat begangen hatten. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Personen, die als kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung gelten – vor allem Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger – werden inhaftiert oder mit erfundenen Anklagen konfrontiert. Die Behörden verbieten auch weiterhin willkürlich Demonstrationen und wenden bei der Auflösung friedlicher Protestaktionen unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an. Es gibt glaubwürdige Berichte über Folter und Verschwindenlassen (AI 7.4.2021).
Eine Reihe negativer Entwicklungen, insbesondere die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen, haben einen abschreckenden Effekt erzeugt und zu einem zunehmend feindseligen Umfeld für Menschenrechtsverteidiger beigetragen. Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020).
Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlamanets vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach „die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen“ (EP 19.5.2021, S.17, Pt.45).
Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z.B. Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 10.2020, S.26) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen im großen Umfang hält an. Neben tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen [siehe Kapitel Gülen- oder Hizmet-Bewegung], befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021).
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S.20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert. Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei zuletzt im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S.16f).
Im Jahr 2020 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 104) Verletzungen der EMRK fest (EC 19.10.2021, S.28). Mit Stand 31.10.2020 waren 10.150 Verfahren aus der Türkei, das waren 16,6% aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 31.10.2020). Dies bedeutet im Vergleich zu den Werten von Ende November 2019 - 8.700 Verfahren und 14,5% aller Fälle - eine nennenswerte Steigerung (ECHR 30.11.2019).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 14.6.2021
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschaland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29 %2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 14.6.2021
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• EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final],
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• ECHR – European Court of Human Rights (31.10.2020): Pending Applications Allocated To A Judicial Formation 30/10/2020, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending _month_2020_BIL.PDF , Zugriff 20.11.2020
• ECHR – European Court of Human Rights (30.11.2019): Pending Applications Allocated To A Judicial Formation 30/11/2019, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending _month_2019_BIL.pdf , Zugriff 20.11.2020
• EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https:
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• EP - European Parliament (21.1.2021): Human rights situation in Turkey, in particular the case of Selahattin Demirtaş and other prisoners of conscience [(2021/2506(RSP)], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0028_EN.pdf , Zugriff
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• ÖB – Österreichische Botschaft - Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf , Zugriff 18.11.2020
Bewegungsfreiheit
Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern. In der Türkei sind die Richter befugt, ein Ausreiseverbot zu verhängen (ÖB 10.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45). Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten. Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MFA-NL 18.3.2021, S.27f).
Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das galt auch für deren Familienangehörige. Die Behörden haben auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran gehindert, das Land zu verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 30.3.2021, S.45f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45). Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 3.6.2021, S.23, 26). Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde (AA 24.8.2020, S.27).
Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 10.2020).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Der Innenminister und die Provinzbehörden schränkten den Reiseverkehr zwischen den Provinzen zwischen März und Mai 2020 ein, gefolgt von begrenzten Bewegungseinschränkungen in und aus den Großstädten als Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie. Einige Gouverneure, insbesondere im Nordwesten und Südosten, verhängten weitere Reiseverbote als Maßnahmen gegen COVID-19 während des ganzen Jahres 2020 (USDOS 30.3.2021, S.45).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_d ie_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stan d_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 15.6.2021
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 15.6.2021
• HDN – Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-pas sports-135000 , Zugriff 16.10.2019
• MFA-NL – Netherlands Ministry of ForeignAffairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report
Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/
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16.11.2021
• ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderberich t_10_2020.pdf , Zugriff 11.12.2020
• TM – Turkish Minute (22.6.2020): Turkey removes passport restrictions for 28,000 more citizens, https://www.turkishminute.com/2020/06/22/turkey-removes-passport-restrictionsfor-28000-more-citizens/ , Zugriff 11.12.2020
• TM – Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects’ spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regul ation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/ , Zugriff 16.10.2019
• TM – Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkey-lifts-restrictions-on-more-than-50000passports/ , Zugriff 16.10.2019
• TM – Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictions-from-155350-pas sports/ , Zugriff 16.10.2019
• USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TUR KEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 12.4.2021
• USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 16.10.2019
Grundversorgung / Wirtschaft
Die türkische Wirtschaft war eine der wenigen in der G20-Gruppe und der OECD, die 2020 ein positives Wachstum verzeichnete. Ein günstiger Basiseffekt, eine Lockerung der Beschränkungen durch beschleunigte Impfungen und eine unterstützende Auslandsnachfrage führten zu einem zweistelligen BIP-Wachstum in der ersten Hälfte des Jahres 2021, wodurch die Wirtschaft und die Beschäftigungsquote wieder das Vorkrisenniveau erreichten. Für 2021 wird mit einem BIP-Wachstum von 8,5 % gerechnet, aber die Wiederherstellung der geldpolitischen Glaubwürdigkeit und die Eindämmung der hohen und rasch steigenden Inflation - über 19% bereits im August 2021, sowie 29% bei Lebensmitteln - werden die größten Herausforderungen sein (WB 12.10.2021). Dieses Wachstum wurde allerdings auch mit Zinsen unter der Inflationsrate und einer starken Kreditexpansion (+35%) erkauft. Eine Konsequenz war die starke Abwertung der türkischen Lira. Das Risiko einer Zahlungsbilanzkrise steigt. Investoren mahnen bereits seit Längerem strukturelle Reformen an. Die Währungsreserven sind niedrig und drohen weiter zu sinken. Die ausufernde expansive Wirtschaftspolitik der letzten Jahre begrenzt den Handlungsspielraum für weitere Maßnahmen zum Ankurbeln der Konjunktur. Außenpolitische Spannungen verstärken die Unsicherheiten (GTAI 27.5.2021).
2020 mussten rund hunderttausend kleine Betriebe schließen. In den ersten drei Monaten von 2021 machten 30.000 Gewerbebetriebe zu, neun Millionen Menschen sind erwerbslos. In jedem Haushalt sucht mindestens eine Person Arbeit. Laut Umfragen im April können 53,6% der Bürger gerade ihre Bedürfnisse decken. 26,6% haben nicht genug für ihre Grundbedürfnisse. Wer in der Lage ist, Lebensmittel zu kaufen, hat aus Mangel seine Ernährungsgewohnheiten umgestellt. Laut einer von der EU finanziell unterstützten Studie ist in den letzten zwölf Monaten der Konsum von Hühnerfleisch von 18,5% auf 4% gesunken, der von Fisch von 10,4% auf 2,9%. Der Konsum von Pflanzenöl ging um 32% zurück (FAZ 20.5.2021).
Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5% aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Eine Simulationsanalyse der Auswirkungen der Pandemie deutet darauf hin, dass es in der Türkei im Jahr 2021 1,6 Millionen mehr arme Menschen geben wird als 2020, womit die höchste Armutsquote seit 2012 erreicht wird. Rasches und frühzeitiges Handeln der Regierung, einschließlich Maßnahmen zur Unterstützung der Haushalte, verhinderte laut Weltbank Schlimmeres. Diese Maßnahmen liefen jedoch im Juli 2021 aus, und die zunehmenden COVID-19-Fälle und Schließungen werden zusätzliche Unterstützung zum Schutz gefährdeter Haushalte erfordern. Der starke Aufschwung des Wirtschaftswachstums, des Arbeitsmarktes und der Haushaltseinkommen wird die Armutsquote voraussichtlich von 12,2% im Jahr 2020 auf 11,6% im Jahr 2021 senken. Die weitere Verringerung der Armut hängt davon ab, so die Weltbank, ob ein umfassender Aufschwung mit angemessener Unterstützung für gefährdete Gruppen gewährleistet wird (WB 12.10.2021).
Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).
In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1% des BIP (ÖB 10.2020).
Quellen:
• AM - Al Monitor (27.1.2021): COVID-19 pandemic expands poverty in Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2021/01/turkey-pandemic-pandemic-expands-poverty-high-inflation.html , Zugriff 17.11.2021
• FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung [Mumay Bülent] (20.5.2021): Brief aus Istanbul : Du gehörst mir oder der schwarzen Erde, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istan bul/brief-aus-istanbul-erdogans-politische-taktik-in-der-tuerkei-17348835-p2.html , Zugriff 17.11.2021
• GTAI – Germany Trade and Invest (27.5.2021): Türkische Wirtschaft wächst trotz Coronakrise, https://www.gtai.de/gtai-de/trade/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsausblick/tuerkei/tuer kische-wirtschaft-waechst-trotz-coronakrise-247908 , Zugriff 17.11.2021
• OECD – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2019): Society at a Glance 2019: OECD Social Indicators, https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/soc_g lance-2019-en.pdf ?expires=1573813322&id=id&accname=guest&checksum=2EE74228
759055A97295ED4460FC22E0 , Zugriff 16.12.2020
• ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderberich t_10_2020.pdf , Zugriff 16.12.2020
• WB – World Bank (12.10.2021): The World Bank in Turkey - Overview - Recent Economic Developments, https://www.worldbank.org/en/country/turkey/overview#3 , Zugriff 17.11.2021
Sozialbeihilfen / -versicherung
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 3.6.2021, S.21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 3.6.2021, S.21f.). Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. „Milchgeld“ in einmaliger Höhe von 202 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 567 TL und 854 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.544 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2020 alle zwei Monate Anspruch auf 587 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 10.2020).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 15.6.2021
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 16.12.2020
• ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei, per E-Mail, Zugriff 16.12.2020
• SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016a): Das Türkische Soziale Sicherheitssystem, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/de/detail/da s_turkische , Zugriff 16.12.2020
• SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016b): Financing of Social Security, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/social_security_system/social_security_system , Zugriff 16.12.2020
• SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 16.12.2020
Arbeitslosenunterstützung
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40% des Durchschnittslohns, maximal jedoch 80% des Bruttomindestlohns. Nach Erhöhung des Mindestlohns im Jänner 2020 beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 1.177 TL, der Maximalbetrag 2.853 TL. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (ÖB 10.2020). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2021; vgl. ÖB 10.2020).
COVID-19-Pandemie
Der Gesetzgeber hatte mit Gesetz Nr. 7226 vom 25.3.2020 den Übergangs-Artikel 23 in das Arbeitslosenversicherungsgesetz aufgenommen. Durch diese Regelung sind die Leistungsvoraussetzungen bei Kurzarbeitergeldanträgen gelockert geworden. Die Regelung war bis zum 20.6.2020 gültig. Nach dieser Regelung genügte es, wenn die versicherte Person in den letzten drei Jahren statt für 600 Tage nur für 450 Tage Beiträge entrichtet hat und vor dem Leistungsantrag lediglich für 60 statt 120 Tage ununterbrochen beschäftigt war. Mit Gesetz Nr. 7252 vom 23.7.2020 wurde Übergangs-Artikel 23 Abs. 3 umgeschrieben: Der Staatspräsident wurde hierdurch ermächtigt die Regelung bis zum 30.6.2021 branchenübergreifend oder auf Branchenebene zu verlängern (MPI-SR 3.2021, S. 6f).
Quellen:
• IOM – International Organization for Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf , Zugriff 23.11.2021
• IOM – International Organization for Migration (Autor), veröffentlicht von ZIRF – Zentralstelle für Informationsvermittlung zur Rückkehrförderung (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 16.12.2020
• MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (3.2021): Social Law Report No. 4/2021 - Sozialrechtliche Entwicklungen in der Türkei Berichtszeitraum: April 2020 – März 2021, https://www.mpisoc.mpg.de/sozialrecht/publikationen/detail/publication/sozia lrechtliche-entwicklungen-in-der-tuerkei-20202021/ , Zugriff 17.11.2021
• ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei,https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020.pd f , Zugriff 16.12.2020
Medizinische Versorgung
Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der „Nationalen Gesundheitsfürsorge“ und der „Sozialen Krankenkasse“ etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Rentner ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10% tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei Geburt um 70%, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3% des Bruttomindestlohnes der Türkei. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 10.2020).
Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).
Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden (MPI-SR 3.2021). Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen (MPI-SR 20.6.2020). Mit Stand März waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SR 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020). Die neuen Stadtkrankenhäuser leisten mit ihren Kapazitäten einen großen Beitrag in der Corona-Krise. In einigen davon wurden sogenannte Corona-Zentren eingerichtet (MPI-SR 3.2021).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und postoperationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften sanitären Zustände und Hygienestandards in den staatlichen Spitälern, vor allem in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten. NGOs, die sich um Bedürftige kümmern, sind in der Türkei vereinzelt in den Großstädten vorhanden, können jedoch kaum die Grundbedürfnisse der Bedürftigen abdecken (ÖB 10.2019). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 3.6.2020, S.22). Zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wird allerdings nicht Methadon, sondern entweder eine Kombination aus Buphrenorphin+Naloxan oder Morphin angewandt (MedCOI 18.2.2020)
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Das Gesundheitsministerium plant, bis 2021 in weiteren 19 Provinzen noch jeweils ein AMATEM Zentrum mit einer Gesamtkapazität von 725 Betten einzurichten. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 3.6.2020, S.22f.).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Die Beiträge für die allgemeine Krankenversicherung (GSS) hängen vom Einkommen des/der Begünstigten ab und beginnen bei 107,32 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 2021).
Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (IOM 2021).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_d ie_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stan d_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 15.6.2021
• IOM – International Organization for Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf , Zugriff 23.11.2021
• MedCOI (18.2.2020): BMA 13335, Zugriff 16.12.2020
• MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (3.2021): Social Law Report No. 4/2021 - Sozialrechtliche Entwicklungen in der Türkei Berichtszeitraum: April 2020 – März 2021,https://www.mpisoc.mpg.de/sozialrecht/publikationen/detail/publication/sozialrechtlicheentwicklungen-in-der-tuerkei-20202021/ , Zugriff 15.11.2021
• MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April 2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publika tionen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_T%C3%BCrkei__final.pdf , Zugriff 16.12.2020
• ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020 . pdf , Zugriff 16.12.2020
• ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 16.12.2020
• SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016c): Universal Health Insurance, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins , Zugriff 16.12.2020
Behandlung nach Rückkehr
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das Allgemeine Informationssammlungssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das Zentrale Melderegistersystem (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S.49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S.27).
Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbollah, Al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern von der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden
(eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 10.2020). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in Sozialen Medien, und Handlungen (z.B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 3.6.2021, S.16; vgl. AA 16.11.2021). Auch nichtöffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 16.11.2021). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, S.52; vgl. AA 16.11.2021). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen gar Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen „Terrorismuspropaganda“, „Beleidigung des Präsidenten“ und „Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit“. Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den Sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 16.11.2021).
Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 16.11.2021).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in „Sippenhaft“ genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind. Allein 2020 wurden über ein Dutzend aus Österreich einreisende Personen unmittelbar nach ihrer Ankunft in der Türkei angehalten und, sofern sie nicht in Untersuchungshaft kamen, mit einer Ausreisesperre belegt (ÖB 10.2020).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 10.2020). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S.50; vgl. ÖB 10.2019). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. §3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 10.2019). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S.50; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, S.71).
Die Pässe türkischer Staatsangehöriger im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt, mit dem sie in die Türkei zurückkehren können, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, sowie kritische Journalisten und, darüber hinaus, Kurden (UKHO 2.2018).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
• Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-tu rkey.com
• Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-ista nbul.com/
• TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 10.2020).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Art. 9 des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Nach Einschätzung des DFAT wendet die Türkei die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S.50).
Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor (ÖB 10.2020). So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9) (ÖB 10.2020). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Art. 9 Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben (DFAT 10.9.2020, S.50). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11 (1)). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben (ÖB 10.2020).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip „ne bis in idem“, d.h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat entweder begangen wird: gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.11.2021): Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSic herheit/tuerkeisicherheit/201962 , 16.11.2021
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_d ie_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stan d_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 15.6.2021
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 4.08.2020.pdf , Zugriff 16.11.2021
• CoE – Council of Europe – Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-e n.pdf , Zugriff 17.12.2020
• DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information -report-turkey.pdf , Zugriff 16.11.2021
• Independent [türkische Ausgabe] (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/29 5631/yurtd%C4%B1%C5%9F%C4%B1nda-ya%C5%9Fayan-binlerce-ki%C5%9Fiye-t%C3%BCrkiye-giri%C5%9Flerinde-sosyal-medya-payla%C5%9F%C4%B1mlar%C4%B1 , Zugriff 2.2.2021 (Übersetzung mittels webtran.de)
• NL-MFA– Netherlands Ministry of ForeignAffairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertali ng-aab-turkije.pdf , Zugriff 18.6.2021
• NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf , Zugriff 17.12.2020
• ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf , Zugriff 17.12.2020
• ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 17.12.2020
• SCF – Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-o r-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/ , Zugriff 2.2.2021
• TR-MFA – Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (o.D.): PKK, http://www. mfa.gov.tr/pkk.en.mfa , Zugriff 17.12.2020
• UKHO – United Kindom Home Office [Großbritannien] (2.2018): Country Policy and Information Note Turkey: Gülenist movement, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/682868/Turkey_-_Gulenists_-_CPI N_-_v2.0.pdf , Zugriff 17.12.2020
COVID-19
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bd a7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
In den Herbstmonaten 2021 verzeichnete die Türkei täglich über 20.000 Neuinfektionen bei monatlich rund 6.000 Toten. Bis Ende November 2021 waren rund 76.500 Menschen offiziell an den Folgen von COVID-19 verstorben (JHU 29.11.2021). Während Ende November 2021 über 50,1 Millionen (der rund 85 Millionen Einwohner) vollständig geimpft waren, hatte über zwölf Millionen bereits die dritte Impfung erhalten (Anadolu 24.11.2021).
Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl. DS 11.3.2020). Erst am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca die Aufnahme aller positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020, S.9).
Eingeführt wurde im Dezember 2020 der sogenannte HES (Hayat Eve Sigar) - Code, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren (WKO 21.1.2021). Für das Buchen und den Check-in bei Inlandsflügen sowie bei Überlandbussen, Schiffen und Bahn in der Türkei benötigt man den HES ebenfalls. Ausländer erhalten den HES-Code durch das Ausfüllen des Einreiseformulars. Mit 20.8.2021 wurde die Türkei dem digitalen Covid-Zertifikat der EU angeschlossen (WKO 19.10.2021).
Beginnend mit 1.7.2021 wurde ein fast vollständiger Normalisierungsprozess durchgeführt. Alle Ausgangsbeschränkungen unter der Woche sowie am Wochenende wurden aufgehoben, ebenso Zugangsbeschränkungen, etwa in der Gastronomie oder im Einzelhandel. Einzig muss weiterhin ein Mindestabstand zur nächsten Person eingehalten werden. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Versammlungen und Hochzeiten sind unter Einhaltung der allgemeinen Regeln erlaubt (WKO 19.10.2021; vgl. DW 2.7.2021). Ärzte und Krankenhausangestellte kritisierten, dass die Regierung diese Lockerungen viel zu früh eingeleitet habe (DW 2.7.2021). Angesichts einer beinahe Vervierfachung der täglichen Infektionen (rund 20.000) nach den Lockerungen der Restriktionen Ende Juli 2021 mahnte Gesundheitsminister Koca seine Landsleute zur Vorsicht (Ahval 28.7.2021).
Die türkische Ärztekammer (TTB) kritisierte im Oktober 2021, dass die Türkei es versäumt hätte, im vergangenen Jahr mindestens 55.000 COVID-19-Todesfälle zu registrieren. Denn bei der Analyse aller Daten von Gemeinden, Regierung, Statistikamt und anderen offiziellen Quellen in 20 Provinzen (i.e. 42% der Bevölkerung) wurden im Jahr 2020 48.000 zusätzliche Todesfälle im Vergleich zum Durchschnitt der letzten drei Jahre verzeichnet. Auch 2021 seien ungewöhnlich hohe Sterberaten beobachtet worden (Ahval 20.10.2021).
Quellen:
• Ahval (20.10.2021): Turkey failed to register at least 55,000 COVID-19 deaths in 2020 medical group, https://ahvalnews.com/turkey-covid-19/turkey-failed-register-least-55000
-covid-19-deaths-2020-medical-group , Zugriff 17.11.2021
• Ahval (28.7.2021): Turkey warns citizens as COVID-19 cases near 20,000 daily, https:
//ahvalnews.com/turkey-covid-19/turkey-warns-citizens-covid-19-cases-near-20000-daily , Zugriff 17.11.2021
• Anadolu - Anadolu Agency (24.11.2021): Over 119.7M coronavirus vaccine shots given in Turkey to date, https://www.aa.com.tr/en/latest-on-coronavirus-outbreak/over-1197m-cor onavirus-vaccine-shots-given-in-turkey-to-date/2429732 , Zugriff 25.11.2021
• BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, KW 49, COVID-19-Zahlen, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoer de/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw49-2020.pdf?__blob=public ationFile&v=4 , Zugriff 25.11.2021
• DW – Deutsche Welle (2.7.2021): Corona: Trügerische Entwarnung in der Türkei? https://www.dw.com/de/corona-tr%C3%Bcgerische-entwarnung-in-der-t%C3%Bcrkei/a-5813 6817 , Zugriff 17.11.2021
• JHU - Johns Hopkins University & Medicine (29.11.2021): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html , Zugriff 29.11.2021
• WKO – Wirtschaftskammer Österreich (19.10.2021): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Sch utzmassnahmen_und_Geschaeftsleben , Zugriff 17.11.2021
2. Beweiswürdigung:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
– Einsicht in den Akt des BFA;
– mündliche Verhandlung am 09.12.2021;
– Einsicht in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die aktuelle Lage in der Türkei;
– Einsicht in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden und Dokumente (vgl. unter 2.2. und 2.3.).
2.1. Zum Verfahrensgang:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem Akteninhalt.
2.2. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen hinsichtlich der Staatsangehörigkeit, der Identität des Beschwerdeführers und seiner Familie sowie hinsichtlich seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet ergeben sich aus dem Akteninhalt und den vorgelegten Identitätsdokumenten.
Die Feststellungen zu den familiären und privaten Verhältnissen des Beschwerdeführers in der Türkei und in Österreich gründen sich auf dessen in diesen Punkten glaubwürdigen Angaben im Asylverfahren und seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung.
Die Berufstätigkeit der Ehegattin des Beschwerdeführers geht aus dem Schreiben der „ XXXX “ vom 14.09.2020 hervor.
Die aufrechte Wohnsitzmeldung des Beschwerdeführers in Österreich seit März 2003 und die seiner Ehegattin seit September 2009 sind dem zentralen Melderegister zu entnehmen. Aus dem zentralen Fremdenregister gehen die Aufenthaltstitel des Beschwerdeführers, seiner Ehegattin und seiner Kinder hervor.
Die Berufstätigkeit des Beschwerdeführers sowie die Zeiten des Arbeitslosengeldbezuges und der Notstandshilfe gehen aus dem Sozialversicherungsdatenauszug hervor.
Die strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers ergeben sich aus dem Strafregister der Republik Österreich sowie den vorliegenden Gerichtsurteilen.
Dass die Ehegattin sowie die Kinder des Beschwerdeführers im Sommer 2018 zu Besuchs- und Urlaubszwecken in der Türkei aufhältig waren, entspricht den Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung (VS 5).
Der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beruht auf seinen dahingehen konstanten Angaben und resultiert daraus auch seine Arbeitsfähigkeit.
Die Einstellungszusage geht aus dem Schreiben des XXXX vom 31.03.2021 hervor.
Die Feststellungen zur bisherigen Haftdauer beruhen auf den Verständigungen der Justizanstalt XXXX vom 21.03.2019 und 31.05.2019 sowie dem zentralen Melderegister.
Dass der Beschwerdeführer aktuell mit seiner Ehegattin und den Kindern einmal in der Woche per Videotelefonie in Kontakt steht, entspricht den nachvollziehbaren Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung.
Dass beim Beschwerdeführer, seiner Ehegattin und den Kindern gute Deutschkenntnisse vorliegen, beruht auf der Wahrnehmung des erkennenden Richters in der mündlichen Verhandlung sowie dem Umstand, dass die Ehegattin berufstätig ist und die Kinder den Kindergarten bzw. die Schule in Österreich besuchen.
Der Beschwerdeführer und seine Ehegattin lebten bis zum zwanzigsten bzw. sechsundzwanzigsten (Ehegattin) Lebensjahr in der Türkei und besuchten dort die Schule bzw. studierten, weshalb davon auszugehen ist, dass beide Türkisch sprechen. Auch bei den Kindern des Beschwerdeführers kann von einem Erwerb der türkischen Sprache im Wege der Eltern ausgegangen werden.
2.3. Zur Lage in der Türkei:
Die allgemeinen Feststellungen resultieren aus den behördlicherseits erhobenen Fakten aufgrund vorliegender Länderdokumentationsunterlagen. Die Länderfeststellungen basieren auf mannigfaltigen Quellen, denen keine Voreingenommenheit unterstellt werden kann. Den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrunde gelegten Länderfeststellungen wurde nicht in qualifizierter Form entgegengetreten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
3.1. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des BFA.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
3.2. Gemäß § 52 Abs. 5 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ verfügt, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Türkei und somit Drittstaatsangehöriger im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 10 FPG. Er verfügte zuletzt über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt-EU" und war vor Verwirklichung des mit der gegenständlichen Entscheidung festgestellten maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen.
Personen, die über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt-EU" verfügen, kommt nach § 20 Abs. 3 NAG 2005 in Österreich – unbeschadet der befristeten Gültigkeitsdauer des diesem Aufenthaltstitel entsprechenden Dokumentes – ein unbefristetes Niederlassungsrecht zu (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/22/0024). Die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung ist in diesem Fall am Maßstab des § 52 Abs. 5 FPG zu prüfen, wobei sich Einschränkungen der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung auch noch aus § 9 BFA-VG ergeben (VwGH 29.5.2018, Ra 2018/21/0067; 30.11.2020, Ra 2020/21/0355). Es ist daher nicht auf die Gültigkeitsdauer des für diesen Aufenthaltstitel auszustellenden Dokumentes (von fünf Jahren) abzustellen, sondern es ist der Beurteilung ein unbefristetes Niederlassungsrecht zugrunde zu legen (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/22/0024).
Im gegenständlichen Fall ist es daher irrelevant, dass die zuletzt auf dem Aufenthaltstitel des Beschwerdeführers angegebene Gültigkeitsdauer (25.08.2019) abgelaufen ist, da dem Beschwerdeführer ein unbefristetes Niederlassungsrecht zukommt. Die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung ist daher – wie von der belangten Behörde zutreffend ausgeführt – am Maßstab des § 52 Abs. 5 FPG zu beurteilen.
Demnach ist gegen einen Drittstaatsangehörigen im Besitz eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt-EU" eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.
Die relevanten Bestimmungen des § 53 FPG lauten:
„(1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
[…](3) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn
1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;
[…]“
Gegenständlich wurde der Beschwerdeführer zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren und einer Zusatzstrafe von drei Jahren rechtskräftig verurteilt, weshalb der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG erfüllt ist.
Diese Tatsache alleine indiziert bereits das Vorliegen einer hinreichend schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch den Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet (VwGH 30.07.2014, 2013/22/0281).
Darüber hinaus ist im Verfahren betreffend Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung eine Gefährlichkeitsprognose zu treffen (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109, mwN aus der Judikatur).
Bei der Stellung der für jedes Einreiseverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose ist das Gesamt(fehl)verhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahingehend vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in § 53 Abs. 3 FPG umschriebene Annahme gerechtfertigt ist. Bei dieser Beurteilung kommt es demnach nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf das diesen zugrundeliegende Fehlverhalten, die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild an (vgl. VwGH 19.02.2013, Zl. 2012/18/0230).
Solche Gesichtspunkte, wie sie in einem Verfahren betreffend Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot zu prüfen sind, insbesondere die Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich, können nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden (vgl. VwGH 07.11.2012, Zl. 2012/18/0057).
Der Beschwerdeführer ist mehrmals straffällig geworden. So hat er sich am 16.06.2018 verkleidet und ist mit einer goldfarbenen Gaspistole in eine Filiale der XXXX gegangen, wo er beim Schalter einem Mitarbeiter einen Zettel mit der Aufschrift „Bitte lesen, ich brauche € 14.000,- for my child for Medizin. Bitte nicht ALARM drücken. Ich will dich nicht schießen!“ übergeben hat. Dabei zeigte er mit der Gaspistole auf den Mitarbeiter und forderte Geld von diesem. Der Beschwerdeführer packte € 17.000,-- ein und verließ mit der Waffe und den Worten in türkischer Sprache „Nicht zusperren, Tür auf, Tür auf“ die Filiale.
Mildernd wurde im Urteil des Landesgerichtes für XXXX vom 17.12.2018 die reumütige Verantwortung, die teilweise Schadenswiedergutmachung und die Unbescholtenheit des Beschwerdeführers gewertet und ein Teil der Freiheitsstrafe (zwei von drei Jahren) bedingt nachgesehen. Infolge der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Urteil des Oberlandesgerichtes XXXX vom 13.03.2019 die bedingte Strafnachsicht ausgeschaltet, zumal – so die Begründung – Bankraub unter Verwendung einer Waffe der Schwerkriminalität zuzuordnen ist und trotz einem ordentlichen Lebenswandel die Verhängung einer unbedingten Freiheitsstrafe erfordert. Weiters wurde darauf verwiesen, dass die vom Erstgericht angeführte teilweise (objektive) Schadensgutmachung keinen besonderen Milderungsgrund darstelle, zumal diese aus der Sicherstellung von vier 500-Euro-Scheinen resultiere und nicht einmal 12 % der Gesamtschadenssumme ausmache. Der Beschwerdeführer habe sich auch nicht von Beginn an geständig gezeigt, sondern erst in seiner zweiten Vernehmung, als bereits eine erdrückende Beweislage vorlag.
Am 03.07.2018 ist der Beschwerdeführer mit einer Faustfeuerwaffe erneut in eine Filiale der XXXX zum Kassenpult gegangen und hat eine Faustfeuerwaffe gegen einen Bankangestellten gerichtet und Bargeld gefordert. Mit den daraufhin ausgefolgten € 31.140,-- ist der Beschwerdeführer aus der Bank geflüchtet.
Am 08.08.2018 hat der Beschwerdeführer eine Filiale der XXXX mit einer Pistole betreten, diese gegen die Kassiererin gerichtet und Bargeld gefordert. Nachdem dem Beschwerdeführer € 94.480,-- ausgehändigt wurden, ist er geflüchtet.
Am 27.09.2015 verursachte der Beschwerdeführer eine Feuersbrunst, indem er nach Absprache mit XXXX – seinem Arbeitgeber – in dessen Mietlokal Feuer legte, um in weitere Folge diesem einen Versicherungsbetrug zu ermöglichen. XXXX hat dem Beschwerdeführer dafür einen Gewinnanteil in Höhe von € 160.000,-- aus dem Versicherungsbetrug versprochen. Anfang Jänner 2019 und am 26.03.2018 hat der Beschwerdeführer den Vater des XXXX bzw. XXXX genötigt, indem er ihn zur Zahlung von € 170.000,-- bzw. zur Übergabe von Geld aufgefordert hat. Der Beschwerdeführer drohte damit, alle ihm bekannten Straftaten des XXXX der Polizei bekannt zu geben. Weiters schickte er dem Vater des XXXX das Foto eines Nothammers und einer Sprühkerze und drohte, die Bombe platzen zu lassen (Enthüllung, dass es eine geplante Brandstiftung gewesen sei).
Am 18.09.2015 und 01.10.2015 hat der Beschwerdeführer als Zeuge vor der Kriminalpolizei falsch ausgesagt, indem er behauptete, dass am 18.09.2015 zwei unbekannte Personen ins Lokal gekommen seien, um Schutzgeld iHv € 2.500,-- zu erpressen. Dadurch hat der Beschwerdeführer die Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung wissentlich vor einem zur Entgegennahme von Anzeigen zuständigen Beamten vorgetäuscht, weil der geschilderte Erpressungsversuch niemals stattgefunden hat und nur dazu diente, hinsichtlich der geplanten Brandstiftung einen Zusammenhang mit Schutzgelderpressern herzustellen.
Als mildernd wurde im Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 28.05.2019, Zl. XXXX , beim Beschwerdeführer das reumütige Geständnis, der bisher ordentliche Lebenswandel und der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist gewertet. Erschwerend wurde demgegenüber das Zusammentreffen von drei Verbrechen und drei Vergehen angesehen.
Der Beschwerdeführer hat somit die die Annahme rechtfertigende Tatsachen im Sinn des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG, dass sein Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt, zu verantworten.
Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH besteht auch ein großes öffentliches Interesse an der Verhinderung von strafbaren Handlungen, insbesondere von Gewalt- und Eigentumskriminalität (VwGH 22.2.2017, Ra 2017/19/0043).
Mit der Einteilung in Verbrechen und Vergehen trifft § 17 StGB eine grundsätzliche Unterscheidung der Straftaten, durch die das besondere Gewicht der als Verbrechen geltenden Straftaten ihrer Art nach betont werden soll. Über die Bezeichnung dieser Straftaten hinaus – mit „Verbrechen“ wird schon rein sprachlich ein höherer Unwert konnotiert – bringt die Anknüpfung an ein Mindestmaß der Strafdrohung von mehr als dreijähriger oder lebenslanger Freiheitsstrafe sowie die Einschränkung auf Vorsatztaten zum Ausdruck, dass es sich um solche handelt, denen ein besonders hoher Unrechtsgehalt innewohnt (VwGH 05.04.2018, Ra 2017/19/0531 mwN). Bei bewaffnetem Raub tritt hinzu, dass solche Straftaten sogar als besonders schweres Verbrechen anzusehen sind. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fallen unter den Begriff des „besonders schweren Verbrechens“ (der zwar hier nicht unmittelbar von Relevanz ist, weil § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 betreffend, jedoch dennoch als Orientierungshilfe herangezogen werden kann) Straftaten, die objektiv besonders wichtige Rechtsgüter verletzen. Typische schwere Verbrechen sind etwa Tötungsdelikte, Brandstiftung, Drogenhandel, bewaffneter Raub und dergleichen (VwGH 29.08.2019, Ra 2018/19/0522; 25.10.2018, Ra 2018/20/0360).
Der Beschwerdeführer hat mehrere schwere Verbrechen verübt, die für sich alleine aufgrund der Schwere die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 5 FPG rechtfertigen würden. Ergänzend ist dabei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer auch mehrerer Vergehen schuldig erkannt wurde. Der Beschwerdeführer wurde zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von drei Jahren und zu einer Zusatzstrafe im Ausmaß von drei Jahren – insgesamt somit zu sechs Jahren Freiheitsstrafe – verurteilt. Er beging die Raubüberfälle jedoch mit Waffen (Gaspistole, Faustfeuerwaffe, Pistole) und wurden die Taten von den Strafgerichten als „schwerer Raub“ qualifiziert.
Auch im Hinblick auf die näheren Umstände der Raubüberfälle stellen sich diese als schwere Verbrechen dar, zumal der Beschwerdeführer wohlgeplant vorging, indem er sich am 16.06.2018 verkleidete, vor der Bank die Kundenfrequenz beobachtete und sich mit XXXX über den Ablauf eines Bankraubes am 08.08.2018 besprach XXXX betrat vor dem Beschwerdeführer die Bank, um zu sehen, wie viele Kunden oder Mitarbeiter sich in der Bank aufhielten, um das dem Beschwerdeführer mitzuteilen. Darüber hinaus zeigt sich die vom Beschwerdeführer ausgehende Gewaltbereitschaft in der Mitnahme der Schusswaffen, die er nicht nur bei sich führte, sondern auch dazu gebrauchte, um die Bankangestellten damit zu bedrohen.
Hinzu kommt die vom Beschwerdeführer verursachte Brandstiftung. Der Beschwerdeführer setzte mit unbekannten Mittätern das 240 m² große Lokal seines Arbeitgebers in Brand und wurde dieses praktisch vollständig zerstört. Das Feuer wurde von einer Reinigungskraft entdeckt, woraufhin mehrere Personen aus dem Gefahrenbereich flüchteten. Um den Schaden von der Versicherung zu lukrieren, nahm der Beschwerdeführer nicht nur die Beschädigung von fremden Eigentum, sondern auch die Gefährdung anderer Personen in Kauf.
Der Beschwerdeführer hat somit Straftaten verübt, die aufgrund von deren Schwere die Erlassung eines Einreiseverbotes gemäß § 52 Abs. 5 FPG rechtfertigt. Wenn die Beschwerde in diesem Zusammenhang ausführt, dass der Beschwerdeführer bis zur ersten Verurteilung am 17.12.2018 unbescholten war, ist dem entgegenzuhalten, dass es nicht bei einem einmaligen Fehltritt des Beschwerdeführers geblieben ist. Vielmehr kam es nach der Brandstiftung im Jahr 2015 zu drei Raubüberfällen auf Banken im Jahr 2018 und damit in Zusammenhang stehenden Nötigungen und Falschaussagen. Dass sich der Beschwerdeführer der Unrechtmäßigkeit seines Verhaltens bewusst war, ergibt sich dabei sowohl aus seinen Stellungnahmen und den vorliegenden Gerichtsurteilen.
Mit seinem Verhalten demonstrierte der Beschwerdeführer daher zusammenfassend eindrucksvoll die von ihm ausgehende – und in Anbetracht der Begehung von drei schweren Raubüberfällen unter Verwendung einer Schusswaffe und einer Brandstiftung – schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Es mag im gegebenen Zusammenhang zutreffen, dass der Beschwerdeführer sich zunächst mehrere Jahre wohlverhalten hat. Dennoch zeugt sein Verhalten von einer niedrigen Hemmschwelle in Bezug auf der Achtung fremden Eigentums, was das vorangehende jahrelange Wohlverhalten relativiert. Der Beschwerdeführer brachte zu den Raubüberfällen auch Schusswaffen mit, sodass von ihm eine besonders hohe Gefahr ausging, zumal mit dem Mitführen einer Waffe das Risiko gravierender Verletzungen einhergeht.
Das Motiv des Beschwerdeführers ist auf seine Neigung zum Glücksspiel und die darauf gründende Verschuldung zurückzuführen. In diesem Zusammenhang legte der Beschwerdeführer in seinen Strafverfahren dar, dass er von Freunden geliehenes Geld sowie einen Kredit zurückzahlen habe müssen, dazu aus Eigenem aber nicht in der Lage gewesen sei.
Für die anzustellende Zukunftsprognose ist daher zunächst von Bedeutung, dass in der mündlichen Verhandlung nicht erkennbar war, dass sich der Beschwerdeführer mit seiner Neigung zum Glücksspiel einerseits und seiner finanziellen Situation andererseits in einer Weise auseinandersetzen würde, die eine positive Prognose zulässt.
Der Beschwerdeführer berief sich in der Beschwerde zwar darauf, dass er mittlerweile von der Spielsucht geheilt sei, legte jedoch keine Nachweise dazu vor. In der mündlichen Verhandlung erklärte der Beschwerdeführer vielmehr, dass er 2016 eine Spielsuchttherapie begonnen habe, ohne Wissen seiner Ehegattin jedoch weitergespielt habe und er in der Justizanstalt aktuell erst auf einer Warteliste für eine Spielsuchttherapie stehe. Es ist beim Beschwerdeführer sohin nicht davon auszugehen, dass er eine Spielsuchttherapie erfolgreich abgeschlossen hat bzw. von seiner Spielsucht geheilt ist, was – angesichts der bestehenden Schulden des Beschwerdeführers – die Frage aufwirft, wie er mit der nach wie vor bestehenden finanziell schwierigen Situation nach seiner Haftentlassung umgehen wird.
Das strafrechtliche Gefährdungspotenzial zeigt sich im Hinblick auf die Begehung von Eigentums- und Gewaltdelikten gerade in der Lage eines finanziellen Engpasses und vermittelte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung – entgegen seinen diesbezüglichen Beteuerungen in der Beschwerde – nicht den Eindruck, dass er solchen Situationen nunmehr gewachsen ist.
Die finanziellen Verhältnisse des Beschwerdeführers sind zudem ungeregelt und die Verbindlichkeiten entsprechend den Feststellungen hoch, zumal auch keine Sicherheiten vorhanden sind. In der mündlichen Verhandlung erklärte der Beschwerdeführer, dass er mit seiner Frau einen Plan gemacht habe und sie bei einem Schuldnerberater gewesen seien, jedoch ist von Seiten der Ehegattin, die ca. € 1.300,-- netto monatlich verdient und für die Miete sowie den Unterhalt der Kinder aufkommt, keine Hilfe bei der Reduktion der Schulden zu erwarten. Weiters führte der Beschwerdeführer aus, dass er seine Schuldner um Stundung der Zinsen gebeten habe, eine dahingehen positive Rückmeldung brachte der Beschwerdeführer jedoch nicht vor, weshalb mit weiteren Verzugszinsen zu rechnen und ein Ansteigen der Verbindlichkeiten zu erwarten ist. Wenn der Beschwerdeführer demgegenüber angibt, er wolle nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder in der Gastronomie arbeiten und mit seinem Einkommen samt Trinkgeld seine Schulden begleichen, stellt sich die Frage, weshalb er diesen Weg nicht vor den Anlasstaten beschritt, anstelle Raubüberfälle auf Banken und eine Brandstiftung in Zusammenhang mit Versicherungsbetrug zu begehen.
Folglich ist nicht auszuschließen, dass der Beschwerdeführer sich erneut dem Glücksspiel zuwendet und sich aufgrund der bestehenden hohen Verschuldung – selbst bei Ausübung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung – in einer finanziellen Notlage befinden wird, weshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sein wird, dass der Beschwerdeführer nach der Haftentlassung erneut Straftaten zur Aufbesserung seiner finanziellen Situation bzw. zur Finanzierung des Glücksspiels begehen wird.
Eine positive Zukunftsprognose ist zusammenfassend zum gegenwärtigen Zeitpunkt sohin nicht möglich. Um von einem Wegfall oder einer wesentlichen Minderung der vom Fremden ausgehenden Gefährlichkeit ausgehen zu können, bedarf es demnach eines Zeitraumes des Wohlverhaltens, wobei in erster Linie das gezeigte Wohlverhalten in Freiheit maßgeblich ist (VwGH 22.03.2018, Ra 2017/22/0194).
Der Beschwerdeführer befindet sich aktuell in Strafhaft. Ein Wohlverhalten in Freiheit liegt sohin (noch) nicht vor. Von einer erfolgreichen Resozialisierung kann zudem erst nach einem angemessen langen Zeitraum des Wohlverhaltens gesprochen werden, welcher gegenständlich nicht vorliegt. In der mündlichen Verhandlung brachte der Beschwerdeführer im Übrigen vor, dass im Gefängnis viele gewalttätige Personen seien und er dort bereits sechs Schlägereien gehabt habe, was ebenfalls gegen ein Wohlverhalten des Beschwerdeführers spricht.
In Betrachtung aller dargelegten Erwägungen rechtfertigt das Gesamtverhalten des Beschwerdeführers folglich die Annahme, dass ein Verbleib im Bundesgebiet eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen würde.
3.3. Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist (§ 9 Abs. 1 BFA-VG). Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (§ 9 Abs. 2 BFA-VG).
Gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung – nunmehr Rückkehrentscheidung – nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – die oben genannten Kriterien zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 18.224/2007; VwGH 26.6.2007, 2007/01/0479; 26.1.2006, 2002/20/0423).
Bei der Beurteilung der Frage, ob die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme aus dem Blickwinkel des § 9 BFA-VG iVm. Art. 8 EMRK zulässig ist, ist weiters eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit dem Interesse des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich vorzunehmen. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären und sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/19/0247).
Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist laut ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen und es kann grundsätzlich nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, eine Aufenthaltsbeendigung ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen werden (vgl. etwa VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0340, mwN). Diese Rechtsprechungslinie betraf allerdings nur Konstellationen, in denen der Inlandsaufenthalt bereits über zehn Jahre dauerte und sich sonst keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergab (VwGH 25.4.2014, Ro 2014/21/0054; 10.11.2015, Ro 2015/19/0001). In Fällen gravierender Kriminalität und daraus ableitbarer hoher Gefährdung der öffentlichen Sicherheit steht die Zulässigkeit der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auch gegen langjährig in Österreich befindliche Fremde, selbst wenn sie – anders als im vorliegenden Fall – Ehegatten österreichischer Staatsbürger sind, nicht in Frage (vgl. VwGH 23.2.2016, Ra 2015/01/0249 mwN).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes führt auch ein mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend zu einem Überwiegen des persönlichen Interesses, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Insbesondere strafrechtliche Verurteilungen stellen derartige Umstände dar, die die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland und eine erfolgte Integration relativieren können, wobei in dem Zusammenhang auch länger zurückliegende Straftaten berücksichtigt werden können (vgl. VwGH 26.05.2021, Ra 2021/01/0159; 2.4.2021, Ra 2021/01/0091, mwN).
Auch eine lange legale Aufenthaltsdauer von über 15 Jahren sowie niedergelassene Ehepartner und minderjährige Kinder stehen grundsätzlich – bei erheblicher Kriminalität – einer Abschiebung nicht entgegen (vgl. dazu etwa EGMR 23.10.2018, Zl. 55470/10, Salija gegen Schweiz; EGMR 25.04.2017, Zl. 41697/12, Krasniqi gegen Österreich; EGMR 15.11.2012, Zl. 52873/09, Shala gegen Schweiz). Laut der Judikatur des EGMR sind in solchen Konstellationen insbesondere die Schwere der Delikte, das Alter bei deren Begehung, die Dauer des Aufenthalts, das Verhalten nach den jeweiligen Verurteilungen sowie soziale, kulturelle und familiäre Verbindungen zum Aufenthalts- und Herkunftsland in einer Interessensabwägung zu berücksichtigen (vgl. etwa EGMR 01.06.2017, Zl. 30441/09, Külecki gegen Österreich, Rz. 40)
Der Beschwerdeführer weist aktuell familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich auf. Die Ehegattin sowie seine drei minderjährigen Kinder sind in Österreich aufhältig. Bis zu seiner Inhaftierung hat der Beschwerdeführer mit diesen auch in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Der aktuelle Kontakt beschränkt sich auf ein wöchentliches Videotelefonat.
Diese familiären Beziehungen haben jedoch eine Schmälerung hinzunehmen, zumal der Beschwerdeführer durch seine Straffälligkeit den nachhaltigen Unwillen diese Beziehungen zu schützen und zu pflegen zum Ausdruck gebracht hat. In diesem Zusammenhang kann eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten (vgl. EGMR 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07, mwN; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09; 03.11.2011, Arvelo Aponte, Zl. 28770/05; 14.02.2012, Antwi u.a., Zl. 26940/10). Im gegenständlichen Fall liegt ein solcher Ausnahmefall jedoch nicht vor, zumal allein die Tatsache des Bestehens einer Familiengemeinschaft mit zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigten Personen nicht ausreicht, um annehmen zu können, dass mit der angeordneten Rückkehrentscheidung jedenfalls in unzulässiger Weise in das nach Art. 8 EMRK geschützte Recht auf ein Familienleben eingegriffen werden würde.
Dem Beschwerdeführer musste klar sein, dass es durch sein strafrechtlich relevantes Verhalten zu der Verhängung einer Freiheitsstrafe kommen kann und diese der Fortsetzung oder der Vertiefung von Nahebeziehungen entgegenstehen kann. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass es in der Natur des Strafvollzuges liegt, dass zwar ein Mindestmaß an Kontakt zu den Angehörigen aufrechterhalten werden kann, dieser einer Intensivierung solcher sowie der Aufrechterhaltung von starken Beziehungen jedoch im Wege steht. Die Beziehungen des Beschwerdeführers wurden durch dessen Haftaufenthalt auch insofern relativiert, als diese der Wahrnehmung von Obsorgeverpflichtungen hinsichtlich seiner Kinder im Wege stehen.
Die familiären Bindungen konnten den Beschwerdeführer auch nicht von den begangenen Straftaten abhalten und sind die dargelegten Verurteilungen auch derart schwerwiegend, dass eine Trennung des Beschwerdeführers von seiner Ehegattin und den Kindern zumutbar erscheint.
Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts haben bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (VwGH 07.03.2019, Ra 2018/21/0141 mwN). Im gegebenen Zusammenhang ist wesentlich, dass den Kindern des Beschwerdeführers die Mutter als wesentliche Bezugsperson verbleibt. Das Auskommen ist durch ihr Erwerbseinkommen gesichert und ist eine materielle Unterstützung durch den Beschwerdeführer auch von der Türkei aus möglich. Die Kinder sind als rechtmäßig niedergelassene Drittstaatsangehörige im Wege des Sozialsystems in ihren Grundbedürfnissen abgesichert. Sie werden weiterhin den Kindergarten und die Schule besuchen und eine adäquate Beaufsichtigung und Betreuung durch die Kindesmutter im Bundesgebiet erfahren. Das Kindeswohl steht somit einer Rückkehrentscheidung unter dem Gesichtspunkt der Absicherung der Grundbedürfnisse der Kinder nicht entgegen. Die Ehegattin und die Kinder des Beschwerdeführers wären in Anbetracht der Sachlage und der daraus abzuleitenden gesicherten Existenzgrundlage in Österreich auch ohne Anwesenheit des Beschwerdeführers nicht dazu gezwungen, das Bundesgebiet bzw. das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen (siehe dazu etwa VwGH 17.04.2013, Zl. 2013/22/0062).
Da dem Vater eines Kindes (und umgekehrt) grundsätzlich das Recht auf persönlichen Kontakt zukommt (VwGH 16.05.2012, Zl. 2011/21/0277 mwN; VfGH 12.10.2016, E 1349/2016), dürfen Elternteile nur in Ausnahmefällen auf die Aufrechterhaltung des Kontaktes mit Fernkommunikationsmitteln verwiesen werden. Im gegenständlichen Fall liegen jedoch die Voraussetzungen dafür vor. Die Kinder des Beschwerdeführers sind nicht mehr im Kleinkindalter, sondern besuchen bereits den Kindergarten und die Schule. Ihre Beziehung zum Beschwerdeführer ist nicht erst im Aufbau begriffen, sondern wurde bereits geprägt, wobei hervorzuheben ist, dass der Beschwerdeführer durch seine Straffälligkeit und dadurch bedingte Haft eine Lockerung des Familienlebens selbst zu vertreten hat.
Dessen ungeachtet ist im Verfahren nicht hervorgekommen, dass der Beschwerdeführer mit seiner Ehegattin und den Kindern ein Familienleben nicht auch außerhalb Österreichs, beispielsweise in der Türkei, führen könnte. Die Ehegattin sowie die gemeinsamen Kinder sind türkische Staatsangehörige und besuchten die Kinder bereits mehrmals die Türkei. Die Ehegattin lebte bis zu ihrem sechsundzwanzigsten Lebensjahr in der Türkei. Damit besteht ein Bezug der Ehegattin und Kinder zur türkischen Sprache und Kultur sowie generell zur Türkei. Weiters sind die Eltern sowie eine Schwester des Beschwerdeführers in der Türkei aufhältig, weshalb die Kinder – anders als in Österreich – neben Eltern noch weitere familiäre Anbindungen hätten. Es ist dem Beschwerdeführer, seiner Ehegattin und den Kindern daher auch insofern zumutbar, ihr Familienleben in der Türkei fortzusetzen und sind auch keine entgegenstehenden Gründe ersichtlich, wonach das Familienleben nicht auch in der Türkei fortgesetzt werden könnte (vgl. hierzu VwGH 21.01.2010, 2007/01/0703 mit Hinweis auf die bei der individuellen Abwägung zu berücksichtigenden Kriterien entsprechend der Urteile des EGMR vom 24. November 2009, Omojudi gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 1820/08, Randnr. 41, sowie vom 12. Jänner 2010, A. W. Khan gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 47.486/06, Randnr. 39ff, beide mwH auf die maßgebliche Rechtsprechung des EGMR).
Die Kinder des Beschwerdeführers befinden sich gemäß der Judikatur der Höchstgerichte noch im anpassungsfähigen Alter, welches in der Rechtsprechung der Höchstgerichte zwischen sieben und elf Jahren angenommen wird (vgl. VfGH 07.10.2014, U 2459/2012 ua., sowie VwGH 19.09.2012, 2012/22/0143 ua.) und spricht angesichts der Sprachkenntnisse auch nichts gegen einen Schul- bzw. Kindergartenbesuch in der Türkei. Da der Beschwerdeführer, seine Ehegattin und seine Kinder in der Türkei über ein umfangreiches familiäres Netzwerk verfügen, ist auch davon auszugehen, dass diese bei der Wohnungssuche, Suche nach einer Erwerbstätigkeit, Schulbesuch der Kinder, künftige Einschulung der Kinder usw. mit Unterstützung ihrer in der Türkei lebenden Familienangehörigen rechnen können.
Der Beschwerdeführer brachte in der mündlichen Verhandlung auch keine Gründe vor, die ihn und seine Familie daran hindern würden, in die Türkei zurückzukehren und verwies lediglich darauf, dass sie aktuelle nicht wissen würden, was sie machen sollen (VS 7). Da auch nicht konkret behauptet wird, warum die Fortsetzung des Familienlebens mit den gemeinsamen Kindern im gemeinsamen Heimatstaat unmöglich wäre, ist dem BFA Recht zu geben, dass die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich gegenüber den erwähnten öffentlichen Interessen zurückzutreten haben. (VwGH 2012/22/0226, 29.01.2013).
Somit ist davon auszugehen, dass es dem Beschwerdeführer sowie seiner Ehegattin und den Kindern auch zumutbar ist, dass das gemeinsame Familienleben in der Türkei weitergeführt wird.
Im Weiteren sind keine weiteren maßgeblichen Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass dem Recht auf Familienleben des Beschwerdeführers in Österreich im Verhältnis zu den legitimen öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung eine überwiegende und damit vorrangige Bedeutung zukommen würde.
Ein Eingriff in das Familienleben des Beschwerdeführers ist aufgrund der Straffälligkeit des Beschwerdeführers in Österreich somit gerechtfertigt.
Es ist weiters zu prüfen, ob Aspekte eines schützenswerten Privatlebens vorliegen bzw. ob mit einer Rückkehrentscheidung in das Privatleben des Beschwerdeführers eingegriffen wird und bejahendenfalls, ob dieser Eingriff eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist (Art. 8 Abs. 2 EMRK).
Nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (z.B. eine Ausweisungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. EGMR 8.3.2008, Nnyanzi v. The United Kingdom, Appl. 21.878/06; 4.10.2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 9.10.2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.6.2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554).
Bei dieser Interessenabwägung sind insbesondere die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht, Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, zu berücksichtigen (vgl. VfGH 29. 9. 2007, B 1150/07; 12. 6. 2007, B 2126/06; VwGH 26. 6. 2007, 2007/01/479; 26. 1. 20006, 2002/20/0423; 17. 12. 2007, 2006/01/0216; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention2, 194; Frank/Anerinhof/Filzwieser, Asylgesetz 20053, S. 282ff).
Bei der Beurteilung der Rechtskonformität von behördlichen Eingriffen ist nach ständiger Rechtsprechung des EGMR und VfGH auf die besonderen Umstände des Einzelfalls einzugehen. Die Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme ist (nur) dann gegeben, wenn ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen des Betroffenen auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens im Inland einerseits und dem staatlichen Interesse an der Wahrung der öffentlichen Ordnung andererseits gefunden wird. Der Ermessensspielraum der zuständigen Behörde und die damit verbundene Verpflichtung, allenfalls von einer Aufenthaltsbeendigung Abstand zu nehmen, variiert nach den Umständen des Einzelfalls. Dabei sind Beginn, Dauer und Rechtsmäßigkeit des Aufenthalts, wobei bezüglich der Dauer vom EGMR keine fixen zeitlichen Vorgaben gemacht werden, zu berücksichtigen; das Ausmaß der Integration im Aufenthaltsstaat, die sich in intensiven Bindungen zu Dritten, in der Selbsterhaltungsfähigkeit, Schul- und Berufsausbildung, in der Teilnahme am sozialen Leben und der tatsächlichen beruflichen Beschäftigung; Bindung zum Heimatstaat; die strafrechtliche Unbescholtenheit bzw. bei strafrechtlichen Verurteilungen auch die Schwere der Delikte und die Perspektive einer Besserung/Resozialisierung des Betroffenen bzw. die durch die Aufenthaltsbeendigung erzielbare Abwehr neuerlicher Tatbegehungen; Verstöße gegen das Einwanderungsrecht.
Der Beschwerdeführer hält sich seit März 2003, sohin seit ca. neunzehn Jahren im österreichischen Bundesgebiet auf. Er ist als Erwachsener nach Österreich gekommen und war sein Aufenthalt bisher rechtmäßig. Ein angefangenes Studium hat der Beschwerdeführer nicht beendet und über ein Fernstudium in Ungarn Tourismusmanagement studiert. Der Beschwerdeführer war von September 2004 bis August 2018 mit Unterbrechungen durch Arbeitslosigkeit und Bezug von Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe tageweise bzw. längstens sechs Monate immer wieder in der Gastronomie tätig. Von 24.10.2011 bis 04.04.2013 (geringfügige Beschäftigung) und von 09.07.2009 bis 31.03.2010 (Arbeiter) war der Beschwerdeführer über einen längeren Zeitraum beschäftigt. Seit 29.08.2018 befindet sich der Beschwerdeführer in Haft.
Der Beschwerdeführer hat aufgrund seines langjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet für den Alltagsgebrauch ausreichende Deutschkenntnisse. Neben seiner Ehegattin und den Kindern verfügt der Beschwerdeführer über keine Verwandten oder sonstigen nahen Bezugspersonen in Österreich. Kontakte mit österreichischen Staatsbürgern oder Mitgliedschaften bei Vereinen oder Organisationen hat er nicht vorgebracht.
Der Aufenthaltsdauer, den Sprachkenntnissen sowie der Berufstätigkeit des Beschwerdeführers im Bundesgebiet steht jedoch seine Straffälligkeit gegenüber. Dem Beschwerdeführer hätte klar sein müssen, dass er im Falle der geschilderten Deliktsbegehung sein Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet und damit einhergehend auch seine Möglichkeit der Fortführung seiner privaten und familiären Bindungen in Österreich, verlieren könnte. Der Beschwerdeführer musste damit rechnen, dass er im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung u. a. wegen schweren Raubes und Brandstiftung, jedenfalls mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme zu rechnen habe. Dies hielt ihn jedoch von der Begehung der ihm angelasteten Straftaten nicht ab.
Aufgrund der Straffälligkeit hat der Beschwerdeführer die bestehenden privaten Bezugspunkte aufs Spiel gesetzt und muss das bestehende Privatleben iSd. Art 8 EMRK daher eine Relativierung hinnehmen.
Im Besonderen ist hier auch auf die folgenden Entscheidungen zu verweisen:
Fall Vasquez, EGMR Nr. 1785/08:
Der Beschwerdeführer, ein StA von Peru, hielt sich 1992-2008 in der Schweiz auf, 1992 heiratete er eine Staatsbürgerin der Schweiz und erhielt eine Aufenthaltsgenehmigung. 2001 erfolgte eine Verurteilung wegen eines schweren Sexualdelikts zu 3 Jahren Haftstrafe, außerdem wurden 1995 und 2006 weitere Verfahren wegen sexueller Übergriffe, allerdings ohne Verurteilung, gegen ihn eingeleitet. 2002 erfolgte in erster Instanz eine Ausweisung und wurde ein unbefristetes Einreiseverbot verhängt, dass 2007 in letzter Instanz bestätigt wurde. Im Dezember 2002 wurde der BF auf Bewährung entlassen. 2003 erfolgte eine Eheschließung mit der 2. Ehefrau, welche die Schweizer und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Die 2. Ehefrau lebte bis 2005 in Deutschland und zog dann zum BF in die Schweiz, seit 2008 leben beide in Frankreich.
Der EGMR wog die mehr als 15-jährige Aufenthaltsdauer in der Schweiz mit den Verfehlungen des BF ab. Der Beschwerdeführer arbeitete in der Schweiz und lebte mit der 1. und dann mit der 2. Ehefrau zusammen, auch seine Geschwister leben in der Schweiz. Dem standen das Sexualdelikt und die zwei weiteren Verfahren wegen sexueller Übergriffe gegenüber, weshalb auf eine Rückfallgefahr geschlossen wurde. Die 2. Ehefrau wusste bei Eingehen der Beziehung von der Vorstrafe und dem unsicheren Aufenthaltsstatus, außerdem bestünde wegen deren Doppelstaatsbürgerschaft die Möglichkeit des Zusammenlebens in einem EU-Staat. Der BF zeigte keine besonders nahe Beziehung zu seinen Geschwistern in der Schweiz auf und konnte diese Beziehung auch aus Frankreich, nahe der Schweizer Grenze, leicht aufrechterhalten werden. Der BF reiste erst als 27-Jähriger in die Schweiz ein und es bestanden noch familiäre, soziale und kulturelle einschließlich sprachlichen Bindungen zu Peru. Darüber hinaus hätte der BF auch die Möglichkeit gehabt, das unbefristete Einreiseverbot innerstaatlich überprüfen zu lassen oder als Tourist um eine Einreisegenehmigung für die Schweiz anzusuchen. Der EGMR sah nach Interessensabwägung in diesem Fall keine Verletzung des Art. 8 EMRK.
In Zusammenhang mit der Straffälligkeit des Beschwerdeführers ist auch auf einen Ablehnungsbeschluss des VfGH vom 30.11.2009, U 2541/09-3, mit welchem die Behandlung einer Beschwerde gegen das Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 11.08.2009, Zl. C10 407392-1/2009/3E, bestätigt wurde, zu verweisen. In diesem wurde eine seit ca. 29 Jahren in Österreich aufhältige Person ausgewiesen, welche elf strafgerichtliche Verurteilungen aufwies.
Auch der Verwaltungsgerichtshof erklärte die Ausweisung im Falle eines seit 15 Jahren (seit seinem 10. Lebensjahr) aufhältigen Fremden für zulässig, welcher wegen eines Verstoßes gegen Bestimmungen des Suchtmittelgesetzes zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwei Monaten und wegen gefährlicher Drohung und Nötigung zu bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden war (14.6.2007, 2004/18/0062).
Weiters erklärte der VwGH Aufenthaltsverbote bei einem 17-jährigen Aufenthalt (seit dem 3. Lebensjahr) und einer Verurteilung wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren (16.10.2007, 2007/18/0294), bei einem Aufenthalt seit dem 7. Lebensjahr und einer Verurteilung wegen schweren Raubes zu Freiheitsstrafe von sechs Jahren (24.10.2007, 2007/21/0369) für zulässig.
Ebenso erklärte der Verfassungsgerichtshof in VfSlg 17.851 ein Aufenthaltsverbot bei einem 15-jähriger Aufenthalt (seit dem 6. Lebensjahr) und Verurteilungen wegen Raubes zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 24 Monaten und wegen Verstoßes gegen Bestimmungen des Suchtmittelgesetzes zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten für zulässig.
Zum Überwiegen der öffentlichen Interessen des Staates an der Ausweisung und der Zulässigkeit des Eingriffes in das Privatleben und Familienleben ist des Weiteren auch auf die Entscheidung des EGMR vom 18.02.1991, Moustaquim, 12.313/86 (Ausweisung straffälliger Fremder), zu verweisen.
Wenn der Beschwerdeführer auch wiederholt Erwerbstätigkeiten im Bundesgebiet nachgegangen ist und über Deutschkenntnisse verfügt, so kann, vor dem Hintergrund der massiven Straffälligkeit des Beschwerdeführers und dessen Persönlichkeitsbild keine tiefgreifende Integration erkannt werden. Der Umstand erwerbstätig zu sein, stellet zwar ein wichtiges Indiz für einen Integrationswillen dar, vermag aber keinesfalls über das strafbare Verhalten des Beschwerdeführers hinwegtäuschen. Im Übrigen steht der Beschwerdeführer seit seiner Haft im Jahr 2018 dem regulären Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung und hat zuvor immer wieder Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe bezogen.
Es liegen auch keine besonderen, intensiven sozialen Anknüpfungspunkte (insbesondere das Bestehen intensiver Bindungen zu Bekannten oder Freunden oder der Teilnahme am sozialen Leben) in Österreich vor. Hinweise auf eine zum Entscheidungszeitpunkt vorliegende berücksichtigungswürdige besondere Integration des Beschwerdeführers in Österreich in gesellschaftlicher Hinsicht sind daher nicht erkennbar. In diesem Zusammenhang sei auch auf die höchstgerichtliche Judikatur verwiesen, wonach selbst die Umstände, dass selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).
Der Beschwerdeführer lebte bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr in der Türkei, wurde dort sozialisiert, besuchte die Schule und studierte. Weiters ist der Beschwerdeführer der türkischen Sprache mächtig, verfügt über familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei (seine Eltern und eine Schwester halten sich dort auf) und steht er mit diesen auch regelmäßig in Kontakt.
Folglich können die Resozialisierung und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit an keiner Sprachbarriere scheitern und sind von diesem Gesichtspunkt aus möglich. Es ist auch nicht ersichtlich, weshalb ihn seine in der Türkei lebenden Familienangehörigen und Verwandten –zumindest in der Anfangszeit – nicht finanziell unterstützten bzw. ihm keine Wohnmöglichkeit bieten können. Insoweit kann trotz der bereits längeren Abwesenheit aus seinem Heimatland nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführe seinem Kulturkreis völlig entrückt wäre und sich in seiner Heimat überhaupt nicht mehr zurechtfinden würde. Zu beachten ist dabei auch, dass sich der Beschwerdeführer zu Besuchs- und Urlaubszwecken immer wieder in der Türkei aufgehalten hat.
Soweit der Beschwerdeführer über private Bindungen in Österreich verfügt, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Abschiebung in die Türkei gelockert werden, es jedoch nichts darauf hindeutet, dass der Beschwerdeführer hierdurch gezwungen wird, den Kontakt zu jenen Personen, die ihm in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Auch hier steht es ihm frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch kurzfristige Urlaubsaufenthalte) aufrecht zu erhalten.
Den sohin im Lichte dieser Erwägungen insgesamt nur schwach ausgeprägten privaten Interessen des Beschwerdeführers im Bundesgebiet steht aber – wie bereits ausgeführt – insbesondere die Tatsache gegenüber, dass der Beschwerdeführer strafgerichtlich verurteilt wurde und somit eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt.
Aus dieser Feststellung resultiert ein außerordentlich hohes öffentliches Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet zum Zweck des Schutzes der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Es entspricht der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass bei schweren Verbrechen weder ein langjähriger Aufenthalt in Österreich noch eine sonst vollkommene soziale Integration im Inland einer fremdenpolizeilichen aufenthaltsbeendenden Maßnahme (hier: einem Aufenthaltsverbot) entgegenstehen (vgl. u.a. VwGH, 19.01.2012, 2011/23/0255; VwGH, 25.04.2013, 2013/18/0056). Diese Judikatur ist nach Ansicht des BVwG auch auf die Frage der Zulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung übertragbar (vgl. dazu die Ausführungen des VwGH, 20.03.2012, 2011/21/0298, zur Umsetzung der europ. Rückführungsrichtlinie im FrÄG 2011).
Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass von einer nachhaltigen und außergewöhnlichen Integration, welche die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung im Sinne oben zitierter Judikatur ausnahmsweise überwiegen würde, im Falle des Beschwerdeführers keinesfalls gesprochen werden kann und mindert insbesondere der Umstand, wonach der Beschwerdeführer massiv straffällig wurde, sein Interesse das derart begründete Privatleben in Österreich dauerhaft fortsetzen zu können.
Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist somit davon auszugehen, dass insbesondere das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nach Abschluss des gegenständlichen Verfahrens bzw. der Haftentlassung und der Einhaltung der österreichischen aufenthalts- und fremdenrechtlichen Bestimmungen die ohnehin nur schwachen individuellen Interessen des Beschwerdeführers iSd Art. 8 EMRK weitaus überwiegen. Durch die Rückkehrentscheidung wird Art 8 EMRK somit im Ergebnis nicht verletzt.
3.4. Das Bundesamt hat gemäß § 52 Abs. 9 FPG mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 EMRK oder das 6. bzw. 13. ZPEMRK verletzt würden oder damit für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre.
Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen arbeitsfähigen und gesunden jungen Mann, bei dem die Teilnahme am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Aus den Angaben des Beschwerdeführers geht zudem hervor, dass seine Eltern sowie eine Schwester nach wie vor in der Türkei aufhältig sind und ist nicht ersichtlich, weshalb er von diesen zumindest in der Anfangszeit nicht unterstützt werden könnte.
Es ist dem erwerbsfähigen Beschwerdeführer aber auch zumutbar, in einer türkischen Großstadt oder einer Tourismusregion ohne familiären Rückhalt Fuß zu fassen und dort eine Erwerbstätigkeit in der Gastronomie, im Handel oder in einem Tourismusbetrieb aufzunehmen und dermaßen den Lebensunterhalt zu finanzieren, zumal der Beschwerdeführer nach seiner Haftentlassung auch die Absicht hat in Österreich in der Gastronomie tätig zu sein. Das persönliche Profil des Beschwerdeführers bietet keinen Anlass zu Befürchtung, dass er in der Türkei keine Lebensgrundlage vorfinden würde. Auch wenn die Arbeitslosigkeit in der Türkei erhöht und die wirtschaftliche Lage angespannt ist, ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer als Arbeiter mit mehrjähriger Berufserfahrung in der Gastronomie und mit Kenntnissen der deutschen und türkischen Sprache in den geschilderten Branchen – nach einer anfänglichen Zeit der Arbeitssuche – eine Beschäftigung auffinden wird, zumal Gegenteiliges im Verfahren auch nicht substantiiert vorgebracht wurde. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer im Rückkehrfall als türkischem Staatsbürger der Zugang zum dortigen Sozialsystem offensteht, sodass insgesamt eine gesicherte Existenzgrundlage in der Türkei als erwiesen anzusehen ist. Alter und Gesundheitszustand des Beschwerdeführers stehen einer Rückkehrentscheidung ebenfalls nicht entgegen
Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat grundsätzlich in der Lage sein wird sich ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass dem Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr auch im Rahmen seines Familienverbandes wirtschaftliche und soziale Unterstützung zuteilwird.
Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt somit nicht vor.
Es kamen auch keine iSd Judikatur des EGMR relevante Erkrankungen des Beschwerdeführers hervor.
Schließlich ist im Hinblick auf die derzeit bestehende Pandemie aufgrund des Corona-Virus festzuhalten, dass der Beschwerdeführer aktuell achtunddreißig Jahre alt ist und an keinen schwerwiegenden Erkrankungen leidet oder litt, womit er nicht unter die Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen fällt. Ein bei einer Überstellung des Beschwerdeführers in die Türkei vorliegendes „real risk“ einer Verletzung des Art. 3 EMRK ist somit auch hier nicht erkennbar.
Weiters ist festzuhalten, dass die dem Bundesverwaltungsgericht bekannten Länderberichte hinsichtlich der Türkei auch keine Anhaltspunkte bieten um zur Annahme zu gelangen, dass der Beschwerdeführer im Fall der Abschiebung Gefahr läuft in seinen durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechten verletzt zu werden. Es ist auch keine aktuelle Verschlechterung der Sicherheitslage oder der allgemeinen Situation in der Türkei evident. Bezüglich der Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder unruhebedingten Lebensbedingungen zurückzuführen sind, bleibt festzuhalten, dass diese keine Verfolgungshandlungen im Sinne des Asylgesetzes darstellen, da alle Bewohner gleichermaßen davon betroffen sind. Bestehende schwierige Lebensumstände allgemeiner Natur sind hinzunehmen, weil das Asylrecht nicht die Aufgabe hat, vor allgemeinen Unglücksfolgen zu bewahren, die etwa in Folge des Krieges, Bürgerkrieges, Revolution oder sonstiger Unruhen entstehen, ein Standpunkt den beispielsweise auch das UNHCR-Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft in Punkt 164 einnimmt (VwGH 14.03.1995, Zl. 94/20/0798).
Es bestehen somit keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr Gefahr liefe, in der Türkei einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 2 FPG ferner unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative.
Es sind keine Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung iSd § 50 Abs. 2 FPG unzulässig wäre.
Die Abschiebung ist schließlich nach § 50 Abs. 3 FPG unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine derartige Empfehlung besteht für die Türkei nicht.
Die Zulässigkeit der Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei beruht somit darauf, dass der Beschwerdeführer weder vor dem BFA noch in der Beschwerde glaubhafte konkrete Angaben dahingehend getätigt hat, denen zufolge eine rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung anzunehmen gewesen wäre. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung gemäß § 46 aus vom Beschwerdeführer zu vertretenden Gründen nicht möglich wäre (§ 52 Abs. 9 FPG).
Daher war festzustellen, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat Türkei zulässig ist.
Das BFA hat es im Spruchpunkt II. des bekämpften Bescheides unterlassen, den Herkunftsstaat anzuführen und teilte mit Schreiben vom 22.12.2020 auf Urgenz des BVwG mit, dass aus den Feststellungen und der rechtlichen Beurteilung des bekämpften Bescheides die Türkei als Herkunftsstaat klar hervorgehe.
Es war daher insofern eine Ergänzung vorzunehmen, als es das BFA unterlassen hat, die Abschiebung – wie es die Judikatur des VwGH verlangt – zielstaatsbezogen auszusprechen und die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. mit der Maßgabe abzuweisen, dass gemäß § 52 Abs. 9 FPG die Abschiebung in die Türkei zulässig ist.
3.5. Gemäß § 53 Abs. 1 FPG kann vom Bundesamt mit Bescheid mit einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
Gemäß § 53 Abs. 3 FPG ist ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.
§ 53 Abs. 3 Z 1 lautet:
„1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;“
Das BFA hat das gegenständliche Einreiseverbot aufgrund der Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer unbedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von insgesamt sechs Jahren zurecht auf § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gestützt und vor allem mit dem Umstand begründet, dass der Beschwerdeführer auf Grund der von ihm begangenen Straftaten und seines bisherigen Fehlverhaltens eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt sowie eine negative Gefährlichkeitsprognose vorliegt.
Wie bereits zur Rechtmäßigkeit der Rückkehrentscheidung im Einzelnen ausgeführt, ist im vorliegenden Fall die Annahme gerechtfertigt, dass vom Beschwerdeführer eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 iVm § 52 Abs. 5 FPG ausgeht. Dieser Umstand rechtfertigt auch die Erlassung eines Einreiseverbotes.
Der Beschwerdeführer hat durch sein die strafrechtlichen Rechtsnormen negierendes Verhalten seinen Unwillen, in Österreich geltende Grundinteressen der Gesellschaft zu achten, unter Beweis gestellt, weshalb in Zusammenschau des Verhaltens des Beschwerdeführers mit der damit einhergehenden erheblich Tatbegehungs- und Wiederholungsgefahr eine für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgehenden schwerwiegende Gefährdung gegeben ist. Die Begehung mehrerer bewaffneter Bankraube und einer Brandstiftung aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten weisen – wenn auch im Zusammenhang mit einer Spielsucht – auf eine hohe kriminelle Energie sowie eine beachtliche Herabsetzung der inneren Hemmschwelle des Beschwerdeführers hin.
Bei einer Gesamtbetrachtung aller aufgezeigten Umstände, des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes und in Ansehung der aufgrund des persönlichen Fehlverhaltens getroffenen Gefährdungsprognose kann eine Gefährdung von öffentlichen Interessen als gegeben angenommen werden.
Es kann dem BFA nicht entgegengetreten werden, wenn es im vorliegenden Fall von einer solch schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausging, welche die Anordnung eines Einreiseverbotes erforderlich macht, zumal diese Maßnahme angesichts der vorliegenden Schwere des Verstoßes gegen österreichische Rechtsnormen und des zum Ausdruck gekommenen persönlichen Fehlverhaltens zur Verwirklichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele unbedingt geboten erscheint.
Wie bereits oben ausgeführt, sind die privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers im Bundesgebiet derart abgeschwächt, dass eine Abwägung nach § 9 BFA-VG nicht zu seinen Gunsten ausschlägt. Dass der Beschwerdeführer ungefähr neunzehn Jahre in Österreich lebt sowie seine Ehegattin und drei Kinder – ebenfalls türkische Staatsangehörige – hier leben, wurde entsprechend berücksichtigt. Diese Umstände haben jedoch angesichts seines schwerwiegenden Fehlverhaltens, der negativen Zukunftsprognose und des großen öffentlichen Interesses an der Verhinderung der weiteren Begehung schwerer Verbrechen durch den Beschwerdeführer zurückzutreten.
Angesichts seines gravierenden Fehlverhaltens sind auch Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse, die infolge der Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat auftreten können, im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen und insgesamt an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit hinzunehmen (vgl. VwGH 15.3.2016, Ra 2015/21/0180).
In Gesamtbetrachtung ist folglich die Erlassung eines Einreiseverbotes gegen den Beschwerdeführe dem Grunde nach jedenfalls geboten.
Die Dauer des Einreiseverbotes erweist sich jedoch als zu lange. Unter Heranziehung der Entscheidung des VwGH Ra 2015/21/0002 vom 30.06.2015 ist bei der Entscheidung betreffend die Verhängung eines Einreiseverbotes – abgesehen von der Bewertung des bisherigen Verhaltens des Fremden – darauf abzustellen, wie lange die von ihm ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist (Hinweis E 15. Dezember 2011, 2011/21/0237). Diese Prognose ist nachvollziehbar zu begründen, wobei im Allgemeinen auch der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt (Hinweis E 16. Oktober 2014, Ra 2014/21/0039). Darüber hinaus ist bei der Entscheidung über die Dauer des Einreiseverbotes auch auf die privaten und familiären Interessen des Fremden Bedacht zu nehmen. Der Beschwerdeführer befindet sich nach wie vor in Haft. Ihm liegen unter anderem die Verbrechen des schweren Raubes sowie das Verbrechen der Brandstiftung zur Last und sind diese Art von Delikten als besonders gesellschaftsschädigend anzusehen. Andererseits befindet er sich schon seit langer Zeit im Bundesgebiet und leben seine Ehegattin und Kinder im Inland. Zudem ging er – wenn auch mit Lücken – immer wieder Erwerbstätigkeiten nach. Betrachtet man die vom Beschwerdeführer begangene Straftaten nach dem Strafgesetzbuch so wurde von den Strafgerichten der dafür vorgesehene Strafrahmen (§ 28 StGB schwerer Raub: ein bis zu fünfzehn Jahre) auch nicht ausgeschöpft, sondern wurde der Beschwerdeführer insgesamt zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.
Vor diesem Hintergrund erscheint ein Einreiseverbot in der Dauer von acht Jahren als zu lange bemessen. Ein Einreiseverbot im Ausmaß von fünf Jahren wird die familiären und privaten Verbindungen im Bundesgebiet nicht zerstören, soll dem Beschwerdeführer aber vor Augen führen, dass er sich in Zukunft wohl verhalten muss. Die Dauer des Einreiseverbotes war daher auf fünf Jahre herabzusetzen.
3.6. Frist für die freiwillige Ausreise
Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
Besondere Umstände im Sinne des § 55 Abs. 1 FPG wurden nicht dargetan und es liegen keine Anhaltspunkte vor, die im gegenständlichen Fall für eine längere Frist sprächen, weshalb die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage beträgt.
3.7. Der angefochtene Bescheid erweist sich angesichts der vorstehenden Ausführungen sohin als rechtsrichtig, sodass die dagegen erhobene Beschwerde im dargelegten Umfang als unbegründet abzuweisen war.
Zu Spruchteil B):
Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz (VwGG) hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die gegenständliche Entscheidung weicht nicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063) ab. Durch das genannte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes fehlt es auch nicht an einer Rechtsprechung und die zu lösende Rechtsfrage wird in der Rechtsprechung auch nicht uneinheitlich beantwortet.
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