AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §18
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:W272.2241533.2.00
Spruch:
W272 2241528-2/32EW272 2241533-2/19EW272 2241532-2/18EW272 2241529-2/17E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde von 1. XXXX , geboren am XXXX , 2. XXXX , geboren am XXXX , 3. XXXX , geboren am XXXX und 4. XXXX , geboren am XXXX , alle Staatsangehörigkeit Russische Föderation, die Minderjährigen vertreten durch ihre Mutter XXXX , alle vertreten durch Rechtsanwältin Mag.a Sarah MOSCHITZ-KUMAR, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark vom 06.04.2023, Zahlen: 1. XXXX , 2. XXXX , 3. XXXX und 4. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.07.2023 und am 22.05.2024, zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und die Eltern der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin und des minderjährigen Viertbeschwerdeführers (in Folge: BF1, BF2, BF3, BF4 oder alle gemeinsam: BF). Sie sind Staatsangehörige der Russischen Föderation.
Vorverfahren:
2. Der (damals alleinstehende und kinderlose) BF1 reiste erstmals im Juli 2014 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 08.07.2014 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, welcher mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt oder belangte Behörde) vom 10.03.2015 negativ entschieden wurde. Am 05.08.2015 stellte der BF1 einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Beschwerde, welcher vom Bundesamt mit Bescheid vom 27.08.2015 ebenfalls abgewiesen wurde.
Der BF1 wurde am 06.08.2015 aus Österreich in die Russische Föderation abgeschoben.
3. Im November 2020 reisten die BF (neuerlich) unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet und stellten am 10.11.2020 einen zweiten (BF1) bzw. ersten (BF2-4) Antrag auf internationalen Schutz.
Zu diesen Anträgen auf internationalen Schutz wurden der BF1 und die BF2 von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Der BF1 brachte dabei zu seinen Fluchtgründen im behördlichen Verfahren zusammengefasst vor, dass alle während der Tschetschenienkriege immer in Angst gelebt haben, der Cousin des BF1 sei bis heute verschollen und zurzeit leben auch alle in Angst. Die Kardirov Leute bedrohen alle und der BF1 sei einige Mal von den tschetschenischen Behörden geschlagen worden. Er wolle ein freier Mensch sein. Die BF2, die minderjährige BF3 und der minderjährige BF4 machten keine eigenen Fluchtgründe geltend und stützten sich auf die Fluchtgründe des BF1.
Auch diesen zweiten bzw. ersten Antrag auf internationalen Schutz der BF wies das Bundesamt mit Bescheiden vom 22.03.2021 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten, als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation ab und erteilte den BF keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Es wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung erlassen sowie festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei.
Gegen diese Bescheide erhoben die BF fristgerecht gleichlautende Beschwerden, welche nach einer öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 15.07.2021, XXXX , als unbegründet abgewiesen wurde.
Gegenständliches Verfahren:
4. Die BF verblieben im Bundesgebiet und stellten der BF1 und die BF2 für sich und ihre zwei minderjährigen Kinder (BF3 und BF4) am 07.07.2022 erneut den (dritten) zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der BF1 zusammengefasst zur neuerlichen Asylantragstellung an, dass für den Krieg in der Ukraine Männer einberufen werden, um zu kämpfen und er selbst eine Einberufung erhalten habe. Er wolle nicht kämpfen und im Krieg sterben. Zudem werde er bald am Knie operiert und seine Tochter werde auch operiert und er wünsche sich für seine Tochter eine gute ärztliche Behandlung. Der BF1 habe paar Mal Probleme mit der Polizei in Tschetschenien gehabt und sei schon öfters von Kadyrov Leuten geschlagen und verletzt worden.
Am selben Tag wurde auch die BF2 erstbefragt und gab zu den Gründen einer neuerlichen Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz an, dass sie weiter in Österreich bleiben möchte, weil ihr Mann vor einem Monat eine Einberufung für den russischen Krieg bekommen habe. Er müsse das Land verlassen und in den Krieg ziehen. Es sei ihr auch wichtig, dass ihre Tochter in guter ärztlicher Behandlung sei, es stehen noch einige Operationen bevor und sie wolle, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung bekommen und nicht in einem Krieg aufwachsen.
5. Am 28.03.2023 wurden der BF1 und die BF2 vom Bundesamt im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Russisch niederschriftlich einvernommen. Dabei gab der BF1 zu Protokoll, dass eine aktuelle Verfolgungsgefahr bestehe und sein Leben dort in Gefahr sei. Ein Bekannter sei auch Asylwerber in Österreich gewesen und zurückgekehrt und dann in den Krieg in die Ukraine geschickt worden, ein anderer ebenfalls und halte sich versteckt, damit er nicht in den Krieg müsse. Jemand vom Militär habe seinen Eltern den Einberufungsbefehl zugestellt und dieser sei über einen Boten nach Wien und über seinem Bruder schließlich zu ihm gelangt. Der BF1 habe den Wehrdienst nicht abgeleistet, aber habe ein Wehrdienstbuch und sollte es zu einer Mobilmachung kommen müsse er zum Militär. Der BF kritisierte die ihm vorgehaltenen Länderinformationen zur Russischen Föderation, weil diese nicht die Realität darstellen. Es gebe kaum Personen, die wirklich freiwillig den Wehrdienst leisten, vielmehr werde dies als Strafe eingesetzt und die Personen in die Ukraine geschickt. Es laufe zurzeit eine verdeckte, heimliche Mobilmachung und dem BF drohe eine Strafe, weil er zur Ladung nicht erschienen sei. Im Falle einer Rückkehr drohe ihm Haft oder der Einsatz im Ukrainekrieg.
Die BF2 führte in der Einvernahme zusammengefasst an, dass ihre Tochter im Mai 2023 eine zweite OP aufgrund von Problemen mit den Knochen und einer falschen Behandlung in Tschetschenien habe. Ihr Sohn habe Mandelentzündung und werde ebenfalls operiert, weil er Atemnot habe. Die BF2 wiederholt im Wesentlichen ihre Rückkehrbefürchtung damit, dass ihr Mann zum Wehrdienst einberufen worden sei und unschuldige Personen umbringen soll und die Behandlung ihrer Tochter nicht unterbrochen werden solle.
Die BF legten im Rahmen der Einvernahme medizinische Unterlagen betreffend BF2 und BF3 sowie Empfehlungsschreiben und eine beglaubigte Übersetzung des Einberufungsbefehls, Ladung für den 01.06.2022, vor. Der Einberufungsbefehl wurde vom Bundesamt zur Überprüfung sichergestellt.
6. Das Bundesamt wies die Anträge der BF auf internationalen Schutz mit Bescheiden vom 06.04.2023 (alle zugestellt am 12.04.2023) sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten als auch bezüglich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation ab (Spruchpunkt I. und II.). Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurden nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.). In Spruchpunkt V. wurde festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist und wurde den BF eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt VI.).
Das Bundesamt führte begründend zusammengefasst aus, dass im Falle des BF1 keine asylrelevante Verfolgung oder Bedrohung vorliege und die BF2 sowie die minderjährigen BF haben sich lediglich auf die Fluchtgründe des BF1 gestützt und haben ebenso keine individuellen konkreten Verfolgungs- oder Bedrohungen plausibel dargetan. Es habe auch keine wie auch immer geartete, sonstige besondere Gefährdung der BF bei einer Rückkehr in die Russische Föderation festgestellt werden können. Dem Vorbringen des BF1 er habe einen Einberufungsbefehl erhalten und befürchte, dass er gegen seinen Willen an die Front in die Ukraine geschickt werde, hielt das Bundesamt entgegen, dass die im September 2022 verkündeteTeilmobilmachung Ende Oktober 2022 beendet worden sei. Der BF1 sei mit 33 Jahren auch nicht mehr im wehrpflichtfähigen Alter und sei selbst bei Annahme einer verdeckten Mobilisierung unwahrscheinlich, dass er mit 33 Jahren zum Wehrdienst einberufen werde. Auch wenn der BF einen Einberufungsbefehlt vorgelegt habe, sei dieser inzwischen aufgrund der Einstellung der Teilmobilmachung, nicht mehr aktuell und sei in einer Gesamtschau nicht davon auszugehen, dass der BF1 bei einer Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Einberufung durch die Russische Föderation für den Krieg in der Ukraine betroffen sei.
7. Gegen diese Bescheide erhoben die BF mit Schriftsatz vom 09.05.2023 (eingebracht am 09.05.2023) innerhalb offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde. Die Bescheide wurden wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften bekämpft.
Begründend führten die BF aus, dass der BF1 und die BF2 ohne Zweifel eine konkret gegen den BF1 gerichtete Verfolgungs- und Bedrohungssituation vorgebracht haben. Mit der Argumentation, der BF1 sei bereits nicht mehr im wehrfähigen Alter überging die belangte Behörde den bereits vom BF1 vorgelegten Einberufungsbefehl, dessen Echtheit nicht angezweifelt worden sei und der im Jahr 2022 erging, zu welchem Zeitpunkt der BF1 bereits 32 Jahre alt gewesen war und widerlege die Ansicht des Bundesamtes, der BF1 sei nicht mehr im wehrpflichtfähigen Alter. Sowohl der BF1 als auch die BF2 lehnen den Konflikt in der Ukraine ab und weil der BF1 nicht bereit sei, auf russischer Seite am Krieg in der Ukraine teilzunehmen, würde ihm im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation eine oppositionelle, regimekritische politische Gesinnung zumindest unterstellt werden und wäre einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Zahlreiche Berichte weisen auf die nach wie vor aktuelle Gefahr der zwangsweisen Rekrutierung für den Einsatz in der Ukraine hin. So sei in Tschetschenien die Rekrutierung von Kämpfern für den Krieg gegen die Ukraine in einer allgemeinen Atmosphäre des Zwangs und unter Verletzung von Menschenrechtsstandards organisiert. Schließlich leiden die angefochtenen Bescheide an mangelnden Feststellungen über die aktuelle Art der Erkrankungen, deren Symptome und Heilungschancen sowie die notwendige Behandlung, die Konsequenzen eines Abbruchs der Behandlung in Österreich, den tatsächlichen Zugang zur notwendigen Behandlung im Herkunftsstaat und die zu erwartenden Auswirkungen einer Außerlandesbringung auf den Gesundheitszustand der BF3 und BF4.
8. Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt langten am 15.05.2023 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurden der zuständigen Gerichtsabteilung zugewiesen.
9. Mit Eingabe vom 21.06.2023 übermittelten die BF eine Stellungnahme betreffend die Aufforderung zur Vorlage des Einberufungsbefehls im Original. Darin brachten sie vor, dass dieser samt beglaubigter Übersetzung anlässlich der Einvernahme am 28.03.2023 von der belangten Behörde zum Zwecke der Überprüfung seiner Echtheit einbehalten worden sei. Die überlassene Kopie des Einberufungsbefehls wurde vorgelegt und angeregt, die belangte Behörde zur Vorlage des Einberufungsbefehls im Original aufzufordern.
10. Mit E-Mail vom 05.07.2023 informierte das Bundesamt darüber, dass im Verfahren von der Echtheit des Dokuments ausgegangen worden sei, der Einberufungsbefehlt auch wieder dem BF ausgehändigt worden sei und der BF nochmals geladen werde und anschließend eine beschleunigte kriminaltechnische Untersuchung in Auftrag gegeben werde.
Am 11.07.2023 übermittelte das Bundesamt das Prüfprotokoll der kriminaltechnischen Dokumentenuntersuchung des LKA und die Kopie des Einberufungsbefehls gemäß Anforderung.
11. Mit Eingabe vom 13.07.2023 übermittelten die BF eine Stellungnahme und legten weitere medizinische Unterlagen betreffend die BF3 und eine Einstellungszusage für den BF1 vor.
12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.07.2023 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Russisch durch, an welcher der BF1 und die BF2 sowie deren Rechtsanwältin als gewillkürte Vertreterin teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. Ergänzend brachte das Bundesverwaltungsgericht die aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation, Version 12 vom 04.07.2023, den EUAA Länderbericht zur medizinischen Versorgung vom 29.09.2022 sowie ein Konvolut an Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation zur Teilmobilmachung-Wehrersatzdienst-Repressalien, Rekrutierungen für den Krieg gegen die Ukraine, Sozialleistungen im Bezug auf Ukraine –Krieg und Situation von Rückkehrern aus dem Ausland, Militärdienst, Reservist, Einberufungsbefehl und zu Einberufungsbefehle, zum Parteiengehör. Die BF legten im Zuge der Verhandlung ein Empfehlungsschreiben des Unterkunftgebers sowie ein Konvolut an medizinischen Unterlagen und weitere Integrationsunterlagen (Kindergartenbestätigung) vor.
Die Berichte zu den Länderinformationen wurden zusätzlich auch der Beschwerdeführervertreterin mit Parteiengehör vom 25.07.2023 übermittelt.
13. Mit Eingabe vom 22.07.2023 legten die BF eine vollständige Kopie seines Militärbuches vor, welches mit Eingabe vom 24.08.2023 auch in Original dem Bundesverwaltungsgericht per Post übermittelt wurde.
14. Mit Parteiengehör vom 14.09.2023 übermittelte das BVwG die aktuellen Länderinformationen und gewährte eine Stellungnahmefrist von 14 Tagen.
15. Mit Eingabe vom 29.09.2023 übermittelte der BF eine Stellungnahme zu den am 25.07.2023 und am 14.09.2023 übermittelten Länderberichten und bekräftigte die Echtheit des im gegenständlichen Verfahren vorgelegten Einberufungsbefehls/Ladung, weil auch das Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung für dessen Echtheit spreche und ergehe insgesamt aus den Länderinformationen, dass die russischen Behörden weiterhin eine verdeckte Mobilisierung in ganz Russland durchführen und der BF im Falle einer Rückkehr dem ergangenen Einberufungsbefehl weiterhin Folge leisten müsse. Russland begehe im Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, an der sich der BF1 aus Überzeugung nicht beteiligen wolle.
16. Mit Eingabe vom 18.10.2023 wurde die Übersetzung des vorgelegten Wehrdienstbuches von der Dolmetscherin übermittelt.
Am 20.11.2023 erging erneut ein Parteiengehör mit der Aufforderung zur Vorlage aktueller medizinischer Unterlagen und Stellungnahme zur etwaigen Bestellung eines Sachverständigen sowie wurden das aktuelle Länderinformationsblatt neben weiteren Anfragen zum Wehrdienst mit der Möglichkeit einer Abgabe einer Stellungnahme übermittelt.
17. Am 30.11.2023 beantragte die Rechtsvertretung des BF eine Fristerstreckung zur Abgabe einer Stellungnahme zu den neuen Länderinformationen und der Vorlage der noch nicht vorhandenen medizinischen Unterlagen.
Mit Eingabe vom 15.12.2023 übermittelten die BF eine Stellungnahme zu den weiteren ins Verfahren eingebrachten Länderberichten und zur gesundheitlichen Situation der BF3 und des BF4. Es wurden ein Konvolut an medizinischen Unterlagen und Befunden betreffend die BF3 und den BF 4 für das Jahr 2021, 2022 und 2023 vorgelegt.
Am 14.02.2024 legten die BF einen weiteren Befund betreffend die BF3 in Vorlage.
Mit Parteiengehör vom 29.04.2024 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht die eingeholten medizinischen Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation zu Hüftdysplasie und
18. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 22.05.2024 eine zweite öffentliche mündliche Verhandlung unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Russisch durch, an welcher die BF teilnahmen. Die Rechtsvertretung der BF und ein Vertreter der belangten Behörde nahmen an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. Die BF legten im Zuge der Verhandlung einen Ambulanzbefund (Beilage 1), ein Empfehlungsschreiben des BF1 (Beilage 2) und eine Unterschriftsliste (Beilage 3 und 4) vor. Mit der Ladung an die Rechtsvertretung wurden der Länderbericht der Staatendokumentation vom 08.11.2023, sowie der Themenbericht Russiche Föderation: Militärdients vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts Version 1 vom 02.04.2024 am 29.04.2024 übermittelt. Die Rechtsvertretung gab mit Schreiben vom 17.05.2024 bekannt, dass die Vollmacht aufrecht bleibe, die Anwesenheit bei der Verhandlung nicht erfolgen werde und in Hinblick auf die am 29.04.2024 übermittelten Länderberichte auf das bisherige Vorbringen verwiesen wird.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes, der im Verfahren vorgelegten Unterlagen und Stellungnahmen, der eingebrachten Länderberichte, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person der BF:
1.1.1. Die Identität der BF steht fest. Sie sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe und bekennen sich zum muslimischen Glauben. Die BF sprechen Tschetschenisch und Russisch auf muttersprachlichen Niveau.
Der BF1 und die BF2 sind seit 2016 nach tschetschenischen Ritus (traditionell) und standesamtlich verheiratet und die Eltern zweier Kinder, der minderjährigen BF3 und des minderjährigen BF4.
1.1.2. Der BF1 wurde am XXXX Rayon und gleichnamigen Stadt XXXX (vorher auch Rayon XXXX ), Teilrepublik Tschetschenien geboren und lebte dort im Dorf XXXX gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern und später auch mit seiner Frau und Kinder in einem Haus, bis auf ein paar Monaten während des 1. Tschetschenienkrieges, bis zur erstmaligen Ausreise 2014 und nach der Abschiebung in die Russische Föderation 2015 bis zur zweiten Ausreise im November 2020. Er besuchte 9 Jahre die Grundschule bis 2005 in seinem Heimatort. In Folge hat er seinen Lebensunterhalt durch verschiedene Gelegenheitsarbeiten ohne konkrete Ausbildung verdient. Er hat ca. seit dem Alter von 15 Jahren bis zur Ausreise 2020 in Grosny, XXXX oder XXXX gearbeitet. Er hat Bauarbeiten gemacht (Gipskartonwände aufgestellt, Laminat verlegt, Fließen verlegt), hat als LKW-Fahrer gearbeitet und in drei Glashäusern Gemüse (Tomaten, Gurken) angebaut und verkauft.
Die BF2 wurde am XXXX ebenfalls im Rayon und gleichnamigen Stadt XXXX , Teilrepublik Tschetschenien geboren und lebte dort bis zur Heirat und danach noch im selben Rayon, aber in der Ortschaft XXXX beim BF1 bis zur Ausreise im November 2020. Sie besuchte 11 Jahre die Grundschule und schloss sie 2013 ab und besuchte danach für drei Jahre die islamische Hochschule und ist damit berechtigt in Schulen den Koran zu unterrichten. Außerdem hat sie eine Nähausbildung und eine Weiterbildung für Sushi Herstellung gemacht. Bis zu ihrer Heirat sind ihre Eltern für den Lebensunterhalt aufgekommen und danach hat sie ihrem Mann beim Gemüseanbau in den Glashäusern geholfen und als Hausfrau „Care-Arbeit“ verrichtet.
Die minderjährige BF3 wurde am XXXX und der minderjährige BF4 am XXXX in der Teilrepublik Tschetschenien in geboren. Zuletzt aufgewachsen und bis zur Ausreise im November 2020 wohnten die BF3 und der BF4 zusammen mit ihren Eltern BF1 und BF2 sowie Großeltern und einem Onkel samt Familie in einem Haus in der Ortschaft XXXX in der Teilrepublik Tschetschenien. Der BF3 und der BF4 besuchten in der Russischen Föderation noch keine Schule. Dass die BF3 aufgrund ihrer orthopädischen Problem den Kindergarten in der Russischen Föderation nicht besuchen konnte, ist nicht glaubhaft.
1.1.3. In der Russischen Föderation, in der Teilrepublik Tschetschenien, leben die Eltern sowie ein Bruder des BF1 (geboren 1988) nach wie vor im Familienhaus in XXXX und die verheiratete Schwester im selben Rayon. Die Eltern des BF1 beziehen eine Pension und der Bruder des BF1 ist erwerbstätig. Außerdem leben noch weitere Verwandte des BF1 (ca. 7 Onkeln und 7 Tanten sowie ca. 30-40 Cousins und Cousinen) im Herkunftsort des BF oder eine Tante im Nachbardorf sowie eine Tante in XXXX und zwei Onkeln auch in Moskau. Der zweite Bruder des BF1 lebt in Österreich.
Auch die Eltern der BF2 und ihre vier Brüder (im Alter zwischen ca. 35 und 43 Jahre) und eine Schwester (ca. 48 Jahre) leben in der Russischen Föderation, in Tschetschenien. Ihre Eltern beziehen eine Pension und die Brüder sind als Lehrer, Wachmann, im Autoreifenbereich oder als Taxifahrer erwerbstätig. Die Schwerster der BF2 kümmert sich um ihre Kinder. Alle leben in XXXX .
Die BF haben zu ihren Familienangehörigen regelmäßig telefonischen Kontakt.
1.1.4. Der BF1 und die BF2 sind gesund und nicht in medizinischer Behandlung.
Bei der BF3 wurde eine angeborene Fehlbildung/-stellung des Hüftgelenks (Hüftdysplasie) diagnostiziert und wurde sie deswegen bereits in Tschetschenien behandelt und nunmehr im Bundesgebiet zweimal deswegen operiert. Im September 2022 wurde eine „Salter-Becken-Osteotomie links durchgeführt und die Entfernung der eingesetzten Materialien (Stifte und Osteosynthesematerial) erfolgte im Mai 2023. Zudem hat sich die BF3 im Juli 2023 den Mittelfußknochen gebrochen, welcher mit einem Gips versorgt wurde und erfolgreich behandelt wurde. Aktuell bedarf es keiner OP mehr, aber regelmäßige kinderorthopädische fachärztliche klinische und radiologische Verlaufskontrollen (die letzte erfolgte im Jänner 2024 eine Kontrolluntersuchung und danach wieder in 6 Monaten) und im weiteren Verlauf soll die Beinlängendifferenz über das Wachstumsalter hinweg zumindest jährlich kinderorthopädisch kontrolliert werden. Darüber hinaus ist die BF3 zum Entscheidungszeitpunkt gesund und nimmt auch keine Medikamente ein.
Der BF4 hatte in der Vergangenheit Infekte der oberen Atemwege und chronische Hals- und Rachenentzündungen (Pseudokrupp oder auch Laryngitis subglottica, Pharyngitis) mit Fieber und wiederholter stationärer Pflege (2020, 2021, 2023) sowie medikamentösen Behandlungen. Im Februar 2024 erfolgte eine Mandel und Polypen Operation und aktuell ist der BF4 gesund und bedarf keiner regelmäßigen Medikamenteneinnahme oder eine andere medizinische Behandlung. Die BF leiden an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen und in der Russischen Föderation nicht behandelbaren Krankheiten, die einer Rückkehr in den Herkunftsstaat entgegenstehen.
1.1.5. Die volljährigen BF sind arbeitsfähig sowie in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Die BF3 und der BF4 sind strafunmündig.
1.2. Zu den Fluchtgründen der BF:
1.2.1. Der BF1 und die BF2 sowie die BF3 und der BF4 waren und sind keiner konkreten und individuell gegen sie gerichteten Verfolgung oder Bedrohung wegen der Politik in Tschetschenien (drohende falsche Beschuldigung des BF1 an einer Beteiligung an einem Mord eines Polizisten im Jahr 2014, Verurteilung und Verhaftung sowie mehrmalige Anhaltung und Schläge durch tschetschenischen Behörden wegen Missachtung der Gurten- und Maskenpflicht, Alkohol- und Drogenkonsum) oder wegen den Erhalt einer Vorladung zum Militär ausgesetzt. Der BF1 ist in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft und war dort nie inhaftiert. Er ist nie gegen XXXX oder XXXX öffentlichkeitswirksam aufgetreten, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, er hat sich nicht politisch oder journalistisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsstaat. Ebenso war die BF2 weder inhaftiert, noch ist sie vorbestraft und sie engagierte sich auch nicht politisch oder journalistisch. Der BF1 und die BF2 haben die Russische Föderation gemeinsam mit ihren minderjährigen Kindern weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität, noch wegen Lebensgefahr verlassen. Sie reisten nach Österreich, weil sie sich hier ein wirtschaftlich besseres Leben erwarteten.
Der BF1 läuft auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr, im Falle der Rückkehr zwangsweise im Angriffskrieg gegen die Ukraine eingesetzt zu werden. Der BF1 fällt nicht mehr in das wehrdienstpflichtige Alter, hat den obligatorischen Grundwehrdienst nie abgeleistet, verfügt über keine spezielle militärische Ausbildung und ist kein Reservist, sodass kein Interesse der russischen/tschetschenischen Militärbehörden an dem BF besteht und der Erhalt eines Einberufungsbefehls bzw. einer Ladung nicht glaubhaft ist und ihm aus diesem Grund auch keine Verfolgung Seitens der russischen Behörden droht. Die Echtheit der vorgelegten Ladung kann nicht bestätigt werden.
1.2.2. Den minderjährigen BF drohen in der Russischen Föderation auch keine Verfolgung oder Gefährdung wegen ihrer Eigenschaft als Kind oder sonstige kinderspezifische Gefahren.
1.2.3. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation droht den BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch russische Behörden oder durch andere Personen.
Den BF drohen keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten oder wegen ihres Auslandsaufenthaltes und Stellung eines Asylantrages, insbesondere droht ihnen keine Verfolgung wegen der von ihnen im Asylverfahren und im nunmehrigen Folgeantrag vorgebrachten Gründe.
1.2.4. Ferner droht den BF im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation wegen ihrer Anträge auf internationalen Schutz in Österreich und/oder wegen ihres mehrjährigen Aufenthalts außerhalb der Russische Föderation weder Verfolgung noch sonst psychische oder physische Gewalt.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat:
1.3.1. Den BF ist eine Rückkehr in die Russische Föderation nach Tschetschenien oder auch an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens – zB nach Moskau oder St. Petersburg – möglich. Die BF können wieder zusammen in einem Haus gemeinsam mit den Eltern des BF1 und seinem Bruder in Tschetschenien leben, wie sie es vor ihrer Ausreise taten oder auch nach Grosny oder in andere größere Städte ziehen, um die Ankunft/Wiedereingliederung zu erleichtern, wo auch Verwandte der BF leben und die medizinische Versorgung für die minderjährigen BF besser ist. Sie können auch eine Sozialwohnung beantragen, wenngleich dies einige Zeit dauert. Sie können aber auch an einen anderen Ort in der Russischen Föderation ziehen und in einem eigenen Haus bzw. einer eigenen Wohnung leben.
1.3.2. Sowohl der BF1 als auch die BF2 sind arbeitsfähig, gesund und nicht pflegebedürftig. Auch die minderjährige BF3 und der minderjährige BF4 sind aktuell gesund und können weiterhin im Familienverband betreut werden.
Die BF sind im Fall ihrer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation weder in ihren Recht auf Leben gefährdet, noch der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.
Die BF laufen dort nicht Gefahr, ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die BF haben ihr gesamtes Leben vor der Einreise nach Österreich in der Russischen Föderation verbracht. Die BF sprechen Tschetschenisch und Russisch auf muttersprachlichen Niveau. Der BF1 und die BF2 besuchten 9 bzw. 11 Jahre die Grundschule und der BF1 verfügt über Arbeitserfahrung als LKW-Fahrer, im Baubereich oder auch im Gemüseanbau und –verkauf und die BF2 über eine abgeschlossene Hochschulausbildung für Lehramt Koran und besuchte zudem Kochkurse sowie auch eine Schneiderausbildung. Sie sorgten auch davor für alle zwei minderjährigen Kinder. Die minderjährige BF3 kann in der Russischen Föderation weiter die Schule besuchen und der minderjährige BF4 wieder den Kindergarten besuchen und ihr Lebensunterhalt kann durch die Eltern gesichert werden; hinzu kommen staatliche Förderungen vor allem für kinderreiche Familien, die die BF in Anspruch nehmen können. Zudem verfügen die BF über ein familiäres Netz in der Russischen Föderation, das sie insbesondere am Anfang unterstützen kann. Es bestehen auch keine kinderspezifischen Gefahren für die minderjährigen BF oder Gefahren für die BF2 als Frau. Die Gesundheitsversorgung ist sichergestellt und kostenlos.
Die BF sind mit den russischen und tschetschenischen Gepflogenheiten vertraut und wurden mit diesen sozialisiert.
1.3.3. Die BF leiden an keinen schweren physischen oder psychisch akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen. Auch vor dem Hintergrund der Vorerkrankungen der minderjährigen BF (Hüftdysplasie der BF3 und chronische Hals- und Rachenentzündungen des BF4), welche im Bundesgebiet erfolgreich auch operativ behandelt wurden, werden nicht außergewöhnlich gefährdet und sind gegebenenfalls weitere kinderorthopädische Verlaufs- und Kontrolluntersuchungen der BF3 als auch Behandlungen von neu auftretenden Hals- und Rachenerkrankungen des BF4 in der Russischen Föderation, auch in Tschetschenien möglich und die medizinische Versorgung gewährleistet.
1.4. Zur Situation der BF in Österreich:
1.4.1. Der BF1 reiste damals noch ledig und kinderlos erstmals im Juli 2014 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 08.07.2014 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, der mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesamtes vom 10.03.2015 negativ entschieden wurde. Am 06.08.2015 wurde der BF1 aus Österreich in die Russische Föderation abgeschoben.
Im November 2020 reisten die BF gemeinsam (erneut) unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 10.11.2020 Anträge auf internationalen Schutz, welche ebenfalls mit Bescheiden vom 22.03.2021 durch das Bundesamt abgewiesen wurden. Gegen diese Bescheide erhoben die BF fristgerecht gleichlautende Beschwerden.
Das Bundesverwaltungsgericht wies mit Erkenntnissen vom 15.07.2021 die Beschwerden der BF ab und bestätigte die angefochtenen Bescheide und damit wurde die ersten Asylverfahren der BF bzw. das zweite Asylverfahren des BF1 rechtskräftig negativ abgeschlossen.
1.4.2. Die BF hielten sich weiterhin unrechtmäßig im Bundesgebiet auf, kamen der rechtskräftigen Ausreiseverpflichtung nicht nach und stellten der BF1 und die BF2 für sich und ihre minderjährigen Kinder am 07.07.2022, den (dritten) zweiten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Das Bundesamt wies mit Bescheiden vom 06.04.2023 (zugestellt am 12.04.2023) die Anträge der BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten sowie auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation ab (Spruchpunkt I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Das Bundesamt erließ eine Rückkehrentscheidung gegen die BF und stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt IV. und V.). Für die freiwillige Ausreise wurde ihnen eine 14-tägige Frist eingeräumt (Spruchpunkt VI.). Gegen diese Bescheide erhoben die BF fristgerecht Beschwerde. Die BF verfügten nie über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des Asylverfahrens.
1.4.3. Die BF beziehen seit der Einreise 2020 Leistungen aus der Grundversorgung und sind in Österreich nicht selbsterhaltungsfähig.
Die BF lebten in einem Quartier der Grundversorgung und haben nunmehr seit 19.09.2022 in der Gemeinde XXXX ihren Hauptwohnsitz gemeldet. Alle BF lebten und leben im gemeinsamen Haushalt.
1.4.4. Die BF sind seit ca. 3,5 Jahren in Österreich aufhältig, wobei sie sich davon trotz rechtskräftiger Rückkehrentscheidung mit Erkenntnissen vom 15.07.2021 und Ausreiseverpflichtung sodann bis zum Folgeantrag im Juli 2022 für ca. 1 Jahr unrechtmäßig im Bundesgebiet verblieben.
Der BF1 verfügt über geringe Deutschkenntnisse. Während seines ca. 3,5-jährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet absolvierte er keine Deutsch- und/oder Integrationsprüfung und besuchte keinen Deutschkurs. Sonstige Aus- und Weiterbildungen absolvierte er nicht. Er ist nicht Mitglied in einem Verein, engagiert sich aber mit Remunerationstätigkeiten im Rahmen der Grundversorgungsunterkunft, aber übt kein Ehrenamt aus. Darüber hinaus arbeitet er illegal für den Unterkunftgeber ohne Arbeitsbewilligung gegen einen Stundenlohn von ca. 8 EUR. Er geht keiner legalen Beschäftigung nach, aber zeigt seine Arbeitswilligkeit im Bundesgebiet. In seiner Freizeit geht der BF1 mit den Kindern spielen oder spazieren oder Fußball spielen oder trifft tschetschenische Freunde.
Die BF2 verfügt über Basiskenntnisse in Deutsch auf Anfängerniveau, wobei sie noch keinen Deutschkurs oder eine Deutsch- und Integrationsprüfung absolvierte. Sie arbeitet vormittags ebenso gelegentlich gegen Bezahlung (10 EUR pro Stunde) für den Unterkunftgeber in einem Restaurant ohne über eine entsprechende Arbeitsbewilligung zu verfügen. Sie bildete sich auch sonst nicht weiter, ist nicht Mitglied in einem Verein und auch nicht ehrenamtlich tätig. Sie kümmert sich um den Haushalt und die Kinder. In der Freizeit besucht sie mit den Kindern den Park oder Spielplatz, aber geht darüber hinaus keinen sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach.
Der BF1 und die BF2 sind für ihre minderjährigen Kinder (BF3 und BF4) obsorgeberechtigt.
Die minderjährige BF3 hat gute Deutschkenntnisse und besucht im Bundesgebiet zwei Jahre den Kindergarten und nunmehr in XXXX seit September 2023 die 1. Klasse Volksschule. Die 7-jährige BF3 geht mit ihren Eltern einkaufen oder spazieren, wo sie auch ihre MitschülerInnen trifft oder die sie auch gelegentlich besuchen kommen oder sie hat auch Kontakt mit den tschetschenischen oder afghanischen oder syrischen Kindern im Grundversorgungsquartier.
Der minderjährige BF4 hat anfängliche Deutschkenntnisse und besucht den Kindergarten im Bundesgebiet in XXXX . Er spielt gerne Fußball und besucht mit seinen Eltern den Spielplatz.
1.4.5. Bis auf einen Bruder und einen Cousin des BF1, haben die BF keine weiteren Familienangehörigen im Bundesgebiet. Die Beziehung zum Bruder des BF1, welcher in Wien lebt, beschränkt sich auf bis zu täglichen telefonischen Kontakt und Besuche. Es besteht kein Abhängigkeitsverhältnis. Zu Besuche bringt der Bruder des BF1 Süßigkeiten für die Kinder. Zu seinem Cousin besteht auch loser telefonischer Kontakt oder Kontakt über Besuche, aber es besteht kein Abhängigkeitsverhältnis.
Darüber hinaus haben die BF Bekannte im Flüchtlingsquartier, insbesondere zu anderen tschetschenischen, afghanischen oder syrischen Familien, aber sonst kein besonderes Naheverhältnis zu Personen im Bundesgebiet, mit Ausnahme der Freunde der minderjährigen Kinder.
1.4.6. Die BF sind keine begünstigten Drittstaatsangehörige und es kommt ihnen kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Ihr Aufenthalt im Bundesgebiet war nie geduldet. Sie waren weder Zeugen oder Opfer von strafbaren Handlungen noch sonst Opfer von Gewalt.
1.5. Die allgemeine Lage in der Russischen Föderation stellt sich im Übrigen wie folgt dar:
Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen der Staatendokumentation zur Russischen Föderation, Version 13 vom 08.11.2023 sowie der Themenbericht der Staatendokumentation Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs, Version 1 vom 02.04.2024; EUAA MedCOI Länderbericht zur medizinischen Versorgung vom 29.09.2022; Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation Russland: Einberufung zum Wehrdienst vor der Teilmobilmachung sowie Ausfolgung eines Einberufungsbefehls sowie Echtheit eines Einberufungsbefehls sowie Militärkommissariat für die Bezirke Schalinskij und Kurtschalojewskij alle vom 08.08.2023; Informationen des Verbindungsbeamten des BMI, Moskau vom Oktober 2023; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Russische Föderation: Mobilisierung ohne vorhergehenden Militärdienst; Tschetschenien vom 21.09.2023 und die zwei eingeholten medizinischen Anfragebeanwortungen der Staatendokumentation Russland und Tschetschenien: Hüftdysplasie beide vom 12.04.2024 und Laryngitis, Pharyngitis, Adenotosillar Hyperplasie beide 15.04.2024 ausgegangen:
Politische Lage
Russland ist eine Präsidialrepublik mit föderativem Staatsaufbau (AA 22.2.2023a). Das Regierungssystem Russlands wird als undemokratisch (autokratisch) bzw. autoritär eingestuft (BS 2022; vgl. EIU 2.2.2023, UG 3.2023, FH 24.5.2023, Russland-Analysen 20.6.2022). Die im Verfassungsartikel 10 vorgesehene Gewaltenteilung (Duma 6.10.2022; vgl. AA 22.2.2023b) ist de facto stark eingeschränkt (AA 22.2.2023b). Das politische System ist zentral auf den Präsidenten ausgerichtet (AA 28.9.2022; vgl. FH 2023, Russland-Analysen 20.6.2022), was durch den Begriff der Machtvertikale ausgedrückt wird (SWP 19.4.2022). Gemäß Artikel 83 der Verfassung der Russischen Föderation ernennt der Staatspräsident (nach Bestätigung durch die Staatsduma) den Regierungsvorsitzenden und entlässt ihn. Der Präsident leitet den Sicherheitsrat der Russischen Föderation und schlägt dem Föderationsrat die neuen Mitglieder der Höchstgerichte vor. Laut Verfassungsartikel 129 werden der Generalstaatsanwalt sowie die Staatsanwälte der Subjekte der Russischen Föderation nach Beratungen mit dem Föderationsrat vom russischen Präsidenten ernannt und von diesem entlassen. Darüber hinaus ernennt und entlässt der Präsident die Vertreter im Föderationsrat, bringt Gesetzesentwürfe ein, löst die Staatsduma auf und ruft den Kriegszustand aus (Artikel 83-84, 87). Der Präsident bestimmt die grundlegende Ausrichtung der Innen- und Außenpolitik (Verfassungsartikel 80) (Duma 6.10.2022). Seit dem Jahr 2000 wird das Präsidentenamt (mit einer Unterbrechung von 2008 bis 2012) von Wladimir Putin bekleidet (BS 2022). Der Präsident der Russischen Föderation wird laut Verfassungsartikel 81 für eine Amtszeit von sechs Jahren von den Bürgern direkt gewählt (Duma 6.10.2022). Die letzte Präsidentschaftswahl fand am 18.3.2018 statt. Ein echter Wettbewerb fehlte. Auf kritische Stimmen wurde Druck ausgeübt (OSCE 6.6.2018). Putins einflussreicher Rivale Alexej Nawalnyj durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Nawalnyj war zuvor in einem als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden (FH 2023). Es wurden Transparenzmängel bei der Präsidentenwahl 2018 festgestellt (OSCE 6.6.2018). Die Geldquellen für Putins Wahlkampagne waren undurchsichtig (FH 2023). Auch kam es zu Unregelmäßigkeiten hinsichtlich der Einhaltung des Wahlgeheimnisses. Die Wahlbeteiligung lag laut der Zentralen Wahlkommission bei 67,47 %. Als Sieger der Präsidentenwahl 2018 ging Putin mit 76,69 % der abgegebenen Stimmen hervor (OSCE 6.6.2018). Regierungsvorsitzender ist Michail Mischustin (PM o.D.).
Die Verfassung der Russischen Föderation wurde per Referendum am 12.12.1993 angenommen. Am 1.7.2020 fand eine Volksabstimmung über eine Verfassungsreform statt (RI 4.7.2020). Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65 % der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78 % für und mehr als 21 % gegen die Verfassungsänderungen (KAS 7.2020; vgl. BPB 2.7.2020). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Putin, für zwei weitere Amtsperioden als Präsident zu kandidieren. Diese Regelung gilt nur für Putin und nicht für andere zukünftige Präsidenten (FH 2023). Unter anderem erhält durch die Verfassungsreform (2020) das russische Recht Vorrang vor internationalem Recht. Weitere Verfassungsänderungen betreffen beispielsweise die Betonung traditioneller Familienwerte sowie die Definition Russlands als Sozialstaat. Dies verleiht der Verfassung einen sozial-konservativen Anstrich. Die Verfassungsreform und der Verlauf der Volksabstimmung sorgten für Kritik (KAS 7.2020; vgl. BPB 2.7.2020, RI 4.7.2020).
Die 2014 von Russland vorgenommene Annexion der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol ist international nicht anerkannt (AA 22.2.2023b). Am 21.2.2022 wurden die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk von Putin als unabhängig anerkannt. Am 24.2.2022 startete Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine (Eur-Rat 16.8.2022). Im September 2022 fanden in den beiden ukrainischen 'Volksrepubliken' Donezk und Luhansk sowie in den ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja 'Referenden' über den Beitritt zur Russischen Föderation statt. Laut den offiziellen Wahlergebnissen stimmten in der 'Volksrepublik' Donezk 99,23 % der Wähler für einen Beitritt, in der 'Volksrepublik' Luhansk 98,42 %, in Cherson 87,05 % und in Saporischschja 93,11 % (Lenta 27.9.2022). Die 'Referenden' in den vier von Russland besetzten ukrainischen Gebieten werden von den Vereinten Nationen als völkerrechtswidrig bezeichnet und international nicht anerkannt (UN 27.9.2022; vgl. Standard 30.9.2022). Die Abstimmung fand nicht nur in Wahllokalen statt, sondern prorussische De-facto-Behörden gingen außerdem mit den Wahlurnen und in Begleitung von Soldaten von Tür zu Tür (UN 27.9.2022). Die 'Stimmabgaben' erfolgten unter Zwang und Zeitdruck (Rat der EU 28.9.2022). Demokratische Mindeststandards wurden nicht eingehalten (Standard 30.9.2022). Die 'Referenden' missachteten die ukrainische Verfassung sowie Gesetze und spiegeln nicht den Willen der Bevölkerung wider (UN 27.9.2022). Nach dem Ende der Scheinreferenden baten die Anführer der prorussischen Separatisten in den ukrainischen Regionen Luhansk und Cherson den russischen Präsidenten Putin um Annexion dieser Regionen (NDR/T 28.9.2022). Am 29.9.2022 wurde die 'staatliche Souveränität' und 'Unabhängigkeit' der Regionen Cherson und Saporischschja von Putin per Erlass anerkannt (RI 30.9.2022a; vgl. RI 30.9.2022b). Im Kreml in Moskau fand am 30.9.2022 die Unterzeichnung der Verträge zum Russland-Beitritt der 'Volksrepubliken' Donezk und Luhansk sowie der Regionen Saporischschja und Cherson statt (Kreml 30.9.2022). Am 3. und 4.10.2022 stimmten die beiden russischen Parlamentskammern der Annexion zu (Tass 4.10.2022). International wird die Annexion dieser vier ukrainischen Gebiete nicht anerkannt (Standard 30.9.2022).
Russland begeht im Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung (UN-OHCHR 16.3.2023; vgl. HRW 21.4.2022). Als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die rechtswidrige Annexion einiger ukrainischer Regionen hat die EU mehrere Sanktionspakete angenommen, nämlich: Wirtschaftssanktionen; individuelle Sanktionen gegen unter anderem Wladimir Putin, den Außenminister Sergej Lawrow und Mitglieder der Staatsduma sowie des Nationalen Sicherheitsrats. Außerdem wurde das Visaerleichterungsabkommen zwischen der EU und Russland vollständig ausgesetzt (Eur-Rat 12.5.2023). Auch die USA, das Vereinigte Königreich, Kanada, Japan, die Schweiz und die restliche westliche Welt haben umfassende Sanktionen gegen Russland eingeführt (WKO 3.2023).
Tschetschenien
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen (FR o.D.). Laut Aussage des Republikoberhaupts Ramsan Kadyrow leben rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland (ÖB 30.6.2021). Kadyrow ist seit dem Jahr 2007 in Tschetschenien an der Macht. Er kämpfte im ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996) aufseiten der Unabhängigkeitsbefürworter. Im zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2009) wechselte Kadyrow die Seite (ORF 30.3.2022). In Tschetschenien gilt Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB 30.6.2022; vgl. RFE/RL 3.2.2022, HRW 9.2.2022). Fraglich bleibt die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt (ÖB 30.6.2022). Kadyrow bekundet jedoch immer wieder seine absolute Treue gegenüber dem Kreml (ÖB 30.6.2022; vgl. SZ 3.3.2022). Beobachter stufen Tschetschenien zunehmend als Staat im Staat ein, in welchem das Moskauer Gewaltmonopol vielfach unwirksam ist (Dekoder 10.2.2022). Kadyrow besetzt hohe Posten in Tschetschenien mit Familienmitgliedern (KU 17.1.2023; vgl. KU 25.4.2023, KR 5.10.2022). Das Republiksoberhaupt ist für die Regierungsbildung zuständig. Die Regierung ist dem Republikoberhaupt gegenüber rechenschaftspflichtig (FR o.D.b). Regierungsvorsitzender Tschetscheniens ist Muslim Chutschiew (RN 13.1.2023). Tschetschenien ist von Moskau finanziell abhängig. Mehr als 80 % des Budgets stammen aus Zuwendungen (ORF 30.3.2022).
Die Gesetzgebung wird vom Parlament Tschetscheniens ausgeübt. Das Parlament besteht aus 41 Abgeordneten, welche mittels Verhältniswahl für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt werden (FR o.D.b). Bei der Dumawahl im September 2021 gewann die Partei Einiges Russland in Tschetschenien 96,13 % der Stimmen (Russland-Analysen 1.10.2021; vgl. RN 6.10.2021). Die Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' errang 0,93 %, die Kommunistische Partei (KPRF) 0,75 %, Neue Leute 0,24 %, und die Liberal-Demokratische Partei (LDPR) gewann 0,11 % der Stimmen. Die Wahlbeteiligung betrug 94,42 % (RN 6.10.2021). Zeitgleich fand in Tschetschenien die Direktwahl des Republikoberhaupts statt (RN 21.9.2021). Dessen reguläre Amtszeit beträgt fünf Jahre (FR o.D.b). Kadyrow, welcher die Partei Einiges Russland repräsentierte, gewann 99,7 % der Stimmen. Der Kandidat der Kommunistischen Partei errang 0,12 % und der Kandidat der Partei Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit 0,15 % (RN 21.9.2021). Vor allem im Nordkaukasus ist Wahlbetrug weitverbreitet (BS 2022).
Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Gewaltformen an, darunter Entführung, Folter und außergerichtliche Tötung (FH 2023; vgl. COE 3.6.2022). Regimekritiker müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten sowie physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen (AA 28.9.2022). Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von Gegnern innerhalb und außerhalb Russlands angeordnet zu haben (FH 2023). Das Republiksoberhaupt Tschetscheniens wurde von der Schweiz, Kanada, der EU und den USA mit Sanktionen belegt (KU 17.1.2023; vgl. OFAC 8.6.2023, EUR-Lex 25.7.2014).
Sicherheitslage
Aufgrund der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine ist die Lage in Russland zunehmend unberechenbar. Am 23. und 24.6.2023 kam es im Südwesten Russlands zu einer bewaffneten Auseinandersetzung (EDA 27.6.2023). Am Morgen des 24.6.2023 übernahmen Angehörige der privaten paramilitärischen Organisation 'Gruppe Wagner' unter der Führung von Ewgenij Prigoschin die Kontrolle über zentrale Einrichtungen der russischen Streitkräfte in der Stadt Rostow am Don (BAMF 26.6.2023). Vorausgegangen waren ein seit Monaten andauernder Machtkampf zwischen dem Chef des Militärunternehmens und Verteidigungsminister Schojgu (BAMF 26.6.2023; vgl. FA 12.5.2023, ISW 12.3.2023). Auch erfolgten unbestätigten Angaben zufolge Angriffe der regulären Streitkräfte auf ein Feldlager der Söldnertruppe. Im Tagesverlauf besetzte die Wagner-Gruppe weitere Militäreinrichtungen in den Regionen Rostow und Woronesch und rückte weitgehend ungehindert mit mehreren Tausend Kämpfern in Richtung Moskau vor - mit dem erklärten Ziel, die Militärführung um Verteidigungsminister Schojgu und Generalstabschef Gerasimow zu stürzen. Als Reaktion wurden in der Hauptstadt Truppen zusammengezogen, Kontrollpunkte eingerichtet und das Anti-Terror-Regime ausgerufen, welches den Sicherheitskräften eine weitreichende Kommunikationsüberwachung, Personenkontrollen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit erlaubt. Auf Vermittlung des belarussischen Präsidenten Lukaschenko erklärte sich Prigoschin am Abend des 24.6.2023, mutmaßlich aufgrund des Ausbleibens erwarteter Unterstützung von Militär und Machteliten, zum Rückzug seiner Truppen bereit. Im Gegenzug sicherte die Regierung den am Aufstand beteiligten Söldnern Straffreiheit und Prigoschin persönlich darüber hinaus einen freien Abzug nach Belarus zu (BAMF 26.6.2023). Gemäß Berichten schoss die Wagner-Gruppe am 24.6.2023 Militärhubschrauber sowie ein Flugzeug ab (MOD 29.6.2023). Mittlerweile hat sich die Sicherheitslage vordergründig beruhigt, bleibt aber angespannt (EDA 27.6.2023). Gemäß einer Mitteilung des Nationalen Anti-Terrorismus-Komitees vom 26.6.2023 wurde das Anti-Terror-Regime in Moskau und Woronesch wieder aufgehoben (NAK 26.6.2023). Die Führungsriege der Wagner-Gruppe, darunter Ewgenij Prigoschin, kam bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Moskau am 23.8.2023 ums Leben (BBC 27.8.2023).
Aufgrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine kommt es vermehrt zu Sicherheitsvorfällen in russischen Grenzregionen. Vor allem die Grenzregionen Belgorod, Rostow, Brjansk und Kursk sind mit täglichem Beschuss und Drohnenangriffen konfrontiert (ACLED 8.6.2023; vgl. ACLED 5.10.2023). In mehreren russischen Regionen nahe der Ukraine wurde der Notstand ausgerufen (AA 12.9.2023). Das Kriegsrecht wurde in Russland bislang nicht ausgerufen (Lenta 25.10.2023). Stattdessen spricht Russland nur von einer 'militärischen Spezialoperation' in der Ukraine (Kreml 9.6.2023; vgl. Kreml 20.10.2023).
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern gezeigt haben, kann es in Russland (auch außerhalb der Kaukasus-Region) zu Anschlägen kommen. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 12.9.2023). In der Stadt Moskau und ihrer Umgebung kommt es häufig zu Drohnenangriffen (ACLED 7.9.2023; vgl. Interfax o.D., AA 12.9.2023), was mehrmals zu Schließungen des Moskauer Luftraums sowie zur Schließung von Flughäfen führte (ACLED 7.9.2023). Mehrere russische Regionen, darunter auch Moskau, wurden in einem abgestuften System in erhöhte Alarmbereitschaft gesetzt. Diese Anordnungen geben den dortigen lokalen Behörden und Sicherheitskräften Befugnisse zu eingreifenden Sicherheitsmaßnahmen, Kontrollen, Durchsuchungen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit (AA 12.9.2023). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 27.6.2023).
Nach der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan haben Russland und Tadschikistan ihr Militärbündnis gestärkt und gemeinsame Übungen an der tadschikisch-afghanischen Grenze abgehalten, um die Grenzsicherheit zu erhöhen (USDOS 27.2.2023). Gemäß dem aktuellen Globalen Terrorismus-Index (2023), welcher die Einwirkung von Terrorismus je nach Land misst, belegt Russland den 45. von insgesamt 93 Rängen. Dies bedeutet, Russland befindet sich auf niedrigem Niveau, was den Einfluss von Terrorismus betrifft (IEP 3.2023).
Die folgende Karte stellt sicherheitsrelevante Ereignisse innerhalb Russlands im Zeitraum 1.1.-20.10.2023 dar, wobei hier zwei Kategorien angezeigt werden: Kampfhandlungen (gelb) und Explosionen/'remote violence' (rot). Die dunkelgrauen Punkte beinhalten sowohl Kämpfe als auch Explosionen/'remote violence'. Wie auf der Karte zu sehen ist, konzentrieren sich die sicherheitsrelevanten Ereignisse auf westliche Teile Russlands (ACLED o.D.):
Sicherheitsrelevante Ereignisse innerhalb Russlands im Zeitraum 1.1.-20.10.2023
ACLED o.D. [Quellenbeschreibung siehe Kapitel LänderspezifischeAnmerkungen]
Nordkaukasus
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert. Die Zahl der Opfer gewalttätiger Zusammenstöße hat in den letzten Jahren abgenommen. Es ist nicht mehr von einer breiten islamistischen Bewegung im Nordkaukasus auszugehen, wenngleich es vereinzelt zu Anschlägen kommt, die von den Behörden auch mit dem 'Islamischen Staat' (IS) in Verbindung gebracht werden (ÖB 30.6.2023). Niederschwellige militante terroristische Aktivitäten sowie vermehrte Anti-Terror-Aktivitäten und Bemühungen um eine politische Konsolidierung sind feststellbar (OSAC 8.2.2021). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte sowie die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus deutlich zurückgegangen ist (ÖB 30.6.2021). Gemäß dem Online-Medienportal 'Kaukasischer Knoten' fielen zwischen Jänner 2022 und September 2023 insgesamt 19 Personen dem bewaffneten Konflikt im Nordkaukasus zum Opfer. Jeweils vier dieser Personen wurden in Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien und der Region Stawropol getötet, zwei in Kabardino-Balkarien und eine Person in Nordossetien (KU 4.10.2023; vgl. KU 5.7.2023, KU 5.6.2023, KU 9.5.2023, KU 5.4.2023, KU 5.1.2023, KU 4.10.2022, KU 6.7.2022, KU 5.4.2022). Terroranschläge ziehen staatlicherseits unter anderem kollektive Bestrafungsformen nach sich. Dies bedeutet, Familienangehörige werden für die Taten ihrer Verwandten zur Verantwortung gezogen (RUSI 30.7.2021) und müssen gemäß gesetzlichen Vorgaben Schadenersatz leisten (USDOS 20.3.2023).
Tschetschenien
Die tschetschenischen Sicherheitskräfte handeln außerhalb der russischen Verfassung und Gesetzgebung (Dekoder 10.2.2022). Tschetschenische Strafverfolgungsorgane werfen vermeintlichen Salafisten und Wahhabiten unbegründet terroristische Machenschaften vor und erzwingen Geständnisse durch Folter (USCIRF 10.2021). Regelmäßig wird aus Tschetschenien über Sabotage- und Terrorakte gegen Militär und Ordnungskräfte, über Feuergefechte mit Mitgliedern bewaffneter Gruppen, Entführungen sowie Druck auf Familienangehörige von Mitgliedern illegaler bewaffneter Formationen berichtet. In verschiedenen Teilen der Republik Tschetschenien werden in regelmäßigen Abständen Antiterroroperationen durchgeführt (KU 29.3.2023b). Tschetschenische Behörden wenden regelmäßig kollektive Bestrafungsformen bei Familienangehörigen vermeintlicher Terroristen an, beispielsweise indem Familienangehörige dazu gezwungen werden, die Republik zu verlassen (USDOS 20.3.2023). In Tschetschenien gibt es eine Anti-Terrorismus-Kommission, deren Vorsitzender das Republikoberhaupt Kadyrow ist (NAK o.D.a). Im September 2018 wurde ein Grenzziehungsabkommen zwischen Tschetschenien und der Nachbarrepublik Inguschetien unterzeichnet, was in Inguschetien zu Massenprotesten der Bevölkerung führte und in der Gegenwart noch für gewisse Spannungen zwischen den beiden Republiken sorgt (KU 15.11.2021).
Folter und unmenschliche Behandlung
Folter, Gewalt sowie unmenschliche bzw. grausame oder erniedrigende Behandlung und Strafen sind in Russland auf Basis des Art. 21 der Verfassung verboten (Duma 6.10.2022). Die Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe wurde von Russland 1987 ratifiziert. Das Zusatzprotokoll hat Russland nicht unterzeichnet (UN-OHCHR o.D.). Die Zufügung körperlicher oder seelischer Schmerzen durch systematische Gewaltanwendung wird gemäß § 117 Strafgesetzbuch mit Freiheitsbeschränkung von bis zu drei Jahren, Zwangsarbeit von bis zu drei Jahren oder Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren bestraft. Wird dieselbe Tat beispielsweise von mehreren Personen oder mit besonderer Grausamkeit begangen, ist das Opfer eine minderjährige Person oder wird die Tat zum Beispiel aus politischen, ideologischen oder religiösen Motiven begangen, hat dies Freiheitsentzug von 3 - 7 Jahren zur Folge. Gemäß § 286 Strafgesetzbuch führt die Anwendung von Folter im Rahmen der Überschreitung von Amtsbefugnissen zu Freiheitsentzug von 4 - 12 Jahren (RF 28.4.2023).
Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut (ÖB 30.6.2022). Die Polizei nutzt Folter, um Andersdenkende unter Druck zu setzen. Im März 2022 berichteten mehrere Demonstranten und Demonstrantinnen, die bei Antikriegskundgebungen festgenommen worden waren, auf Polizeiwachen gefoltert oder anderweitig misshandelt worden zu sein (AI 28.3.2023). In den Haftanstalten sind Folter und andere Misshandlungen an der Tagesordnung (AI 28.3.2023) und die dafür Verantwortlichen werden selten strafrechtlich verfolgt (AI 28.3.2023; vgl. ÖB 30.6.2022). Foltervorwürfe werden nicht effektiv untersucht (UN-HRC 1.12.2022). Gemäß Berichten kommt es vor, dass Journalisten und Aktivisten, welche über Folterfälle in Gefängnissen berichten, von Behörden strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023). Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für zum Teil schwere Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein (ÖB 30.6.2022). Gemäß zahlreichen Berichten erzwingen Strafverfolgungsbehörden Geständnisse gewaltsam, durch Folter und Missbrauchshandlungen. Es kommt zu Todesfällen aufgrund von Folter (USDOS 20.3.2023). Das Problem der Folter und Erniedrigungen hat systemischen Charakter (Gulagu.net o.D.). Betroffene, welche vor Gericht Foltervorwürfe erheben, werden zunehmend unter Druck gesetzt, beispielsweise durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist kürzer geworden (früher fünf bis sechs Jahre), Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 28.9.2022). Es existieren keine verlässlichen Statistiken zu Folter und Misshandlungen (UN-HRC 1.12.2022).
Nordkaukasus/Tschetschenien
Im Nordkaukasus kommt es zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter und Misshandlungen (UN-HRC 1.12.2022). Gemäß weitverbreiteten Berichten begehen Sicherheitskräfte in nordkaukasischen Haftanstalten Missbrauchshandlungen und wenden Folter an (USDOS 20.3.2023). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet das tschetschenische Republikoberhaupt Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie beispielsweise Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 2023). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit Folter zur Erlangung von Geständnissen einher (AA 28.9.2022). Es herrscht in Tschetschenien diesbezüglich Straflosigkeit (ÖB 30.6.2022).
Wehrdienst und Rekrutierungen
Gemäß § 22 des föderalen Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' unterliegen männliche russische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 27 Jahren der Einberufung zum Wehrdienst (RF 13.6.2023). Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr. Der Staatspräsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel der jährlich ins wehrdienstpflichtige Alter kommenden jungen Männer. Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium (ÖB 30.6.2022). Es gibt in Russland zweimal jährlich eine Stellung (Spiegel 31.3.2022). Für Herbst 2022 wurden 120.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen (Kreml 30.9.2022) und für das Frühjahr 2023 147.000 (Präsident 30.3.2023). Die Anzahl der aus Tschetschenien Einberufenen ist relativ gering, im Durchschnitt 500 Einberufene pro Einberufungsperiode (ÖB 25.1.2023). Einberufungsbefehle werden Einzuberufenden in schriftlicher Form und zusätzlich elektronisch übermittelt. Die Einberufungsbefehle werden vom Militärkommissariat per eingeschriebenem Brief verschickt. Möglich ist unter anderem auch die persönliche Aushändigung des Einberufungsbefehls durch Mitarbeiter des Militärkommissariats (§ 31 des Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst') (RF 13.6.2023). Wer zum Wehrdienst einberufen wurde, darf das Land bis zur Beendigung des Wehrdiensts nicht verlassen (§ 15 des Gesetzes ’Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation') (RF 14.4.2023).
Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden als 'untauglich' von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, welche ein Studium absolvieren oder einen nahen Verwandten pflegen müssen, oder durch Väter mehrerer Kinder. Auch Angehörige bestimmter Berufsgruppen können einen Aufschub des Wehrdienstes beantragen. Die Ableistung des Grundwehrdienstes ist Voraussetzung für bestimmte (vor allem staatliche) berufliche Laufbahnen (ÖB 30.6.2022). Ab einem Alter von 16 Jahren ist der freiwillige Besuch einer Militärschule möglich (EBCO 12.5.2023). Frauen dürfen freiwillig Militärdienst leisten (CIA 15.6.2023). Nach dem Grundwehrdienst gibt es die Möglichkeit, freiwillig auf Basis eines Vertrags in der Armee zu dienen (ÖB 30.6.2022). Bislang kamen als Vertragssoldaten russische Staatsbürger im Alter von 18-40 Jahren sowie Ausländer zwischen 18 und 30 Jahren infrage. Im Mai 2022 wurden diese Altersgrenzen bis zum Pensionsalter angehoben (Duma 25.5.2022; vgl. NZZ 25.5.2022). Seit mehreren Jahren sind Bemühungen im Gang, die Armee in Richtung eines Berufsheeres umzugestalten (ISW 5.3.2022; vgl. SWP 7.12.2022, GS o.D.).
Im Militärbereich ist Korruption weitverbreitet (USDOS 20.3.2023; vgl. SWP 7.12.2022). 2015 wurden die Aufgaben der Militärpolizei erheblich erweitert. Seitdem zählt hierzu ausdrücklich die Bekämpfung der Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade sowie von Diebstählen innerhalb der Streitkräfte. Auch die sogenannte Dedowschtschina ('Herrschaft der Großväter') – ein System der Erniedrigung bis hin zur Vergewaltigung von sich ausgeliefert fühlenden Rekruten durch dienstältere Mannschaften in Verbindung mit abgelegenen Standorten und kein Ausgang bzw. kaum Urlaub - dürfte eine maßgebliche Ursache sein. Es ist zu vermuten, dass es nach wie vor zu Delikten kommt, jedoch nicht mehr in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit (AA 28.9.2022). NGOs gehen von Hunderten Gewaltverbrechen pro Jahr im Heer aus. Laut Menschenrechtsvertretern existiert Gewalt in den Kasernen zumindest in bestimmten Militäreinheiten als System und wird von den Befehlshabenden unterstützt bzw. geduldet (ÖB 30.6.2022). Die Diskreditierung der Armee ist gemäß § 280.3 des Strafgesetzbuches strafbar (RF 28.4.2023). Für Strafverfahren gegen Militärangehörige sind Militärgerichte zuständig, welche in die zivile Gerichtsbarkeit eingegliedert sind. Freiheitsstrafen wegen Militärvergehen sind ebenso wie übliche Freiheitsstrafen in Haftanstalten oder Arbeitskolonien zu verbüßen. Militärangehörige können jedoch bis zu zwei Jahre in Strafbataillone, die in der Regel zu Schwerstarbeit eingesetzt werden, abkommandiert werden (AA 28.9.2022).
Gemäß einem präsidentiellen Erlass vom 25.8.2022 ist mit 1.1.2023 die russische Armee auf einen Personalstand von 2.039.758 Bediensteten aufgestockt worden, davon 1.150.628 Militärbedienstete und der Rest Zivilpersonal wie Verwaltungsangestellte usw. (RI 25.8.2022; vgl. ORF 25.8.2022). Für den Zeitraum 2023-2026 ist eine Erhöhung der Anzahl der Militärbediensteten auf 1,5 Millionen geplant (Iswestija 17.1.2023). Im Jahr 2022 betrugen die Militärausgaben 4,1 % des Bruttoinlandsprodukts (SIPRI o.D.). Gemäß Verfassungsartikel 87 ist der Präsident der Russischen Föderation Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Duma 6.10.2022).
Mobilmachung / Ukraine-Krieg
Gemäß rechtlicher Vorgaben müssen Wehrpflichtige eine mindestens viermonatige Ausbildung absolviert haben, um zu Kampfeinsätzen im Ausland entsandt werden zu können. Jedoch zu Kriegszeiten oder im Falle der Ausrufung des Kriegsrechts ist es möglich, Wehrpflichtige früher heranzuziehen. Innerhalb Russlands dürfen Wehrpflichtige sofort (auch unausgebildet) herangezogen werden (ISW 30.10.2022). Aktuell gibt es keine Hinweise auf eine Teilnahme Wehrpflichtiger an Kampfhandlungen in der Ukraine (EUAA 16.12.2022a; vgl. ÖB 8.11.2022, ÖB 25.1.2023). Wehrpflichtige werden allerdings in Grenzregionen stationiert (EUAA 16.12.2022a; vgl. ISW 13.6.2023) (beispielsweise in Belgorod, Kursk, Brjansk, Rostow und Krasnodar) sowie auf der von Russland besetzten Krim (EUAA 16.12.2022a). Es gab Berichte über Wehrpflichtige, welche unter Druck gesetzt wurden, ihre Dienstzeit durch Freiwilligenverträge zu verlängern (RFE/RL 14.7.2022). Alle russischen Regionen wurden angewiesen, Freiwilligenbataillone für den Einsatz in der Ukraine zusammenzustellen (ÖB 30.6.2022). Mit der Rekrutierung Freiwilliger wurde im Juli/August 2022 begonnen (EUAA 16.12.2022a). Bis spätestens 1.7.2023 haben die Freiwilligenformationen einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abzuschließen (VM 10.6.2023). Das Verteidigungsministerium rekrutiert seit September 2022 Strafgefangene, welchen als Gegenleistung für einen Kampfeinsatz Geld und frühzeitige Entlassung aus dem Gefängnis angeboten wird (EUAA 16.12.2022a). Eine gesetzliche Neuregelung vom November 2022 ermöglicht die Mobilisierung von Schwerverbrechern. Davon ausgenommen sind unter anderem Terroristen, Spione sowie Personen, die Minderjährige sexuell missbrauchten (RN 4.11.2022; vgl. RF 4.11.2022).
Gemäß dem präsidentiellen Erlass (Ukas) vom 21.9.2022 werden mobilisierte Staatsbürger Vertragssoldaten gleichgestellt, auch hinsichtlich der Besoldung. Die Verträge der Vertragssoldaten laufen erst mit dem Ende der Teilmobilmachung aus. Der Erlass enthält keine Angaben zur Anzahl der einzuberufenden Staatsbürger. [Anzumerken ist auch, dass der Punkt 7 des Erlasses nicht veröffentlicht wurde und dem 'Dienstgebrauch' dient. Sein Inhalt ist unbekannt. - Anm. der Staatendokumentation] Die Umsetzung der Mobilmachung obliegt den Regionen. Ausgenommen von der Mobilmachung sind gemäß dem Erlass ältere Personen, Personen, die wegen ihres Gesundheitszustands als untauglich eingestuft werden (RI 21.9.2022), außerdem Mitarbeiter im Banken- und Mobilfunksektor, IT-Bereich sowie Mitarbeiter von Massenmedien (Kommersant 23.9.2022). Ein Einberufungsaufschub gilt für Staatsbürger, welche im Verteidigungsindustriesektor arbeiten (RI 21.9.2022). Folgende Personengruppen sind ebenfalls von der Mobilmachung ausgenommen: pflegende Angehörige; Betreuer von Personen mit Behinderungen; kinderreiche Familien; Personen, deren Mütter alleinerziehend sind und mindestens vier Kinder unter acht Jahren haben; Veteranen im Ruhestand, welche nicht mehr im Militärregister aufscheinen; sowie Personen, welche nicht in Russland leben und nicht im Militärregister aufscheinen (Meduza 22.9.2022). Der Kreml räumte Fehler bei der Umsetzung der Teilmobilmachung ein. So wurden Personen einberufen, welche eigentlich von der Mobilmachung ausgenommen sind, beispielsweise Krebskranke (Kommersant 26.9.2022). Die Teilmobilmachung führte in Russland zu Protesten, Festnahmen (OWD-Info o.D.a; vgl. Standard 22.9.2022) sowie zu einer Ausreisebewegung (WP 28.9.2022). Es wird berichtet, dass seit Verkündung der Teilmobilmachung Hunderttausende Männer Russland verließen (DW 6.10.2022). Manche Personen, welche während der Mobilisierung die Flucht versuchten, trafen an der Grenze auf Sicherheitspersonal, welches ihnen Einberufungsbefehle ausgehändigt hat (FH 2023). Bürger, welche im Militärregister aufscheinen, dürfen ab Verkündung einer Mobilmachung ihren Wohnort nur mit behördlicher Erlaubnis verlassen (§ 21 des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung') (RF 4.11.2022). Seit Kriegsbeginn bieten NGOs juristische Beratung für Grundwehrdiener und Soldaten an (ÖB 30.6.2022).
Am 28.10.2022 vermeldete der Verteidigungsminister an Präsident Putin den Abschluss der oben beschriebenen Teilmobilmachung (Tass 28.10.2022). Am 31.10.2022 bestätigte Putin mündlich das Ende der Teilmobilmachung (Kreml 31.10.2022). Gemäß einer schriftlichen Mitteilung der russischen Präsidialverwaltung vom Jänner 2023 ist der präsidentielle Erlass zur Einleitung der Teilmobilmachung (21.9.2022) nach wie vor in Kraft (ISW 20.1.2023; vgl. ÖB 25.1.2023). Im Rahmen der Teilmobilmachung wurden nach offiziellen Angaben 300.000 Reservisten einberufen (RG 21.9.2022). Als Reservist gilt jede männliche und weibliche Person, die ein Militärbuch besitzt (ÖB 19.10.2022). Prinzipiell erhalten alle Personen, welche den Wehrdienst abgeleistet haben, ein Militärbuch. Es häufen sich aber Aussagen, dass immer mehr Männer, die nie gedient haben, mit Vollendung des 25. Lebensjahres ein Militärbuch erhalten. Dieses besagt dann jedoch, dass sie nie dienten und daher auch nicht zur Reserve zählen (ÖB 25.1.2023). Ethnische Minderheiten aus ärmeren Regionen waren überproportional von der Mobilisierungswelle betroffen (Standard 28.9.2022; vgl. ISW 17.10.2022). Derzeit wird vom Kreml eine verdeckte Mobilisierung durchgeführt. Dies bedeutet, es werden beispielsweise finanzielle Anreize geschaffen und auch Zwangsmaßnahmen gesetzt, um Menschen für den Militärdienst zu gewinnen (ISW 8.6.2023).
Zu den Kämpfern in der Ukraine zählt die russische Wagner-Gruppe (RBK 13.6.2023; vgl. DW 26.6.2023). Private Militärfirmen wie 'Wagner' sind formal illegal (SWP 7.12.2022) [Informationen zum Wagner-Aufstand vom 24.6.2023 finden sich im Kapitel Sicherheitslage.]. Zur Unterstützung Russlands wurden auch syrische Söldner für den Kampf in der Ukraine rekrutiert (Rat der EU 22.7.2022). Russland begeht im Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung (UN-OHCHR 16.3.2023; vgl. HRW 21.4.2022) [siehe dazu auch das Kapitel Politische Lage].
Tschetschenien
Tschetschenische Gruppierungen kämpfen in der Ukraine seit Beginn des Kriegs im Februar 2022 (EUAA 16.12.2022a). Die von Präsident Putin am 21.9.2022 verkündete Teilmobilmachung (RI 21.9.2022) wurde in Tschetschenien nicht durchgeführt. Das tschetschenische Republiksoberhaupt, Ramsan Kadyrow, begründete dies damit, dass Tschetschenien bereits überproportional viele Kämpfer in die Ukraine entsandt hatte und somit die Quote übererfüllt war (KU 23.9.2022). In Tschetschenien wurden Freiwilligenbataillone gebildet (EUAA 16.12.2022a). Nach wie vor entsendet Tschetschenien Gruppen Freiwilliger als Kämpfer in den Ukraine-Krieg (KU 20.6.2023). Der rechtliche Status der Freiwilligen ist unklar. Ab Juni 2022 wurden Freiwillige mittels kurzfristiger Verträge an Militäreinheiten angegliedert, an private Militärunternehmen wie Wagner oder an die Nationalgarde. Am 26.6.2022 verkündete Kadyrow die Gründung von vier tschetschenischen (an das Verteidigungsministerium angegliederten) Freiwilligenbataillonen mit den Bezeichnungen Süd-Achmat, Nord-Achmat, West-Achmat sowie Ost-Achmat. Wegen des Personalmangels stammen Mitglieder dieser Einheiten hauptsächlich aus tschetschenischen Polizeieinheiten und der Nationalgarde. Zur selben Zeit begann Kadyrow mit Rekrutierungen im Kreis der tschetschenischen Sicherheitskräfte (EUAA 16.12.2022a). Am 11.6.2023 verkündete Kadyrow die Gründung von zwei tschetschenischen Regimentern des Verteidigungsministeriums: 'Achmat-Russland' und 'Achmat-Tschetschenien' (KU 20.6.2023). Zu den Kämpfern in der Ukraine zählen auch die sogenannten Kadyrowzy. Diese stellen eine Art Privatarmee des tschetschenischen Machthabers Kadyrow dar. Formal sind die Kadyrowzy der Nationalgarde unterstellt (SWP 7.12.2022). [zu den Kadyrowzy siehe auch das Kapitel Sicherheitsbehörden]
Nach Aussage von Republikoberhaupt Kadyrow sind alle in der Ukraine kämpfenden Tschetschenen, darunter auch die Sicherheitskräfte, Freiwillige (KU 1.1.2023). Tatsächlich finden in Tschetschenien Rekrutierungen von Kämpfern in einer allgemeinen Atmosphäre des Zwanges und unter Verletzung von Menschenrechtsstandards statt. In vielen Fällen erfolgen Zwangsrekrutierungen (EUAA 16.12.2022a; vgl. KR 8.6.2023, ISW 10.6.2023), wobei Methoden wie Drohungen und Entführungen angewandt werden (EUAA 16.12.2022a). Behörden in Tschetschenien betreiben eine aggressive Anwerbungskampagne, um Einheimische als 'freiwillige' Kämpfer für die Ukraine zu gewinnen (RFE/RL 10.11.2022; vgl. ÖB 25.1.2023). Kadyrow drohte Kampfunwilligen mit der 'Hölle' (KU 17.7.2022) und ordnete die Streichung von Sozialleistungen für Familien von Kriegsdienstverweigerern an (KU 25.8.2022). In Tschetschenien gibt es keine NGOs, welche eingezogene Personen unterstützen (EUAA 16.12.2022a).
Wehrersatzdienst
Das Recht auf einen zivilen Ersatzdienst (Zivildienst) aus Gewissens-, religiösen oder anderen Gründen wird durch Artikel 59 der Verfassung garantiert (Duma 6.10.2022). Eine gesetzliche Grundlage stellt das föderale Gesetz 'Über den alternativen Zivildienst' dar (RF 13.6.2023a). Ein alternativer Zivildienst kann abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die persönliche (politische, pazifistische) Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person spricht, oder falls diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditionelle Lebensweise dem Wehrdienst widerspricht (ÖB 30.6.2022). Die Zivildienstzeit beträgt 18 Monate als ziviles Personal bei den russischen Streitkräften bzw. 21 Monate in anderen staatlichen Einrichtungen, wie beispielsweise Kliniken oder Feuerwehr (ÖB 30.6.2022; vgl. AA 28.9.2022, RF 13.6.2023a). Jährlich wird eine Liste an Tätigkeiten, Berufen und Organisationen erstellt, in welchen die Ableistung eines alternativen Zivildiensts möglich ist (FAAB o.D.).
Anträge auf Ableistung des alternativen Zivildiensts sind beim Militärkommissariat spätestens sechs Monate vor den jährlichen Einberufungsterminen zu stellen und müssen eine Begründung enthalten (§ 11 des Gesetzes 'Über den alternativen Zivildienst'). Die Anträge werden laut § 10 von der Einberufungskommission geprüft (RF 13.6.2023a). Wer bereits den Wehrdienst ableistet, darf keinen Antrag mehr auf Ableistung eines Wehrersatzdienstes stellen. Jährlich werden in etwa 2.000 Anträge auf Wehrersatzdienst gestellt, wovon geschätzt die Hälfte positiv beschieden wird (EUAA 16.12.2022a). Zeugen Jehovas sind von Verletzungen des Rechts auf Wehrdienstverweigerung betroffen (EBCO 12.5.2023; vgl. WHJW 21.3.2022). Lehnt die Einberufungskommission den Antrag einer Person auf Ableistung des Zivildiensts ab, kann diese Entscheidung gerichtlich angefochten werden (§ 15 des Gesetzes 'Über den alternativen Zivildienst') (RF 13.6.2023a). Mit Stand Februar 2023 absolvierten laut Angaben des Föderalen Amts für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) 1.140 russische Staatsbürger einen alternativen Zivildienst. In Tschetschenien und Dagestan absolvierte gemäß dieser Statistik niemand den alternativen Zivildienst (FAAB 1.2.2023). Die Verweigerung der Ableistung des Zivildiensts zieht gemäß § 328 des Strafgesetzbuches folgende Strafen nach sich: Geldstrafen von bis zu RUB 80.000 [ca. EUR 868] oder in der Höhe von bis zu sechs Monatseinkommen, bis zu 480 Stunden Pflichtarbeiten oder Arrest von bis zu sechs Monaten (RF 28.4.2023).
Bei Verkündung einer Mobilmachung ist die Fortsetzung des zivilen Ersatzdienstes in Einrichtungen der russischen Streitkräfte sowie in anderen militärischen Einrichtungen gestattet. Staatsbürger, welche zu Zeiten einer Mobilmachung den zivilen Ersatzdienst in nichtmilitärischen Einrichtungen absolvieren, können als ziviles Personal in Einrichtungen der russischen Streitkräfte sowie in anderen militärischen Einrichtungen zum Einsatz kommen (§ 17.1 des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung') (RF 4.11.2022). Die Militärkommissariate und Gerichte lehnen Anträge von Personen, die für einen Einsatz in der Ukraine eingezogen worden waren und stattdessen Zivildienst leisten wollten, routinemäßig ab (AI 28.3.2023; vgl. EUAA 16.12.2022a). Zur Begründung heißt es, dass es keine spezifischen gesetzlichen Regelungen bezüglich des Zivildiensts in Zeiten einer Teilmobilmachung gibt (AI 28.3.2023).
Desertion, Wehrdienstverweigerung
Gemäß § 338 StGB (Strafgesetzbuch) bedeutet Desertion das eigenmächtige Verlassen der Militäreinheit oder des Dienstorts mit dem Ziel, dem Wehrdienst zu entgehen. Desertion wird laut § 338 mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren geahndet. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Desertion Folge schwieriger Umstände war. Desertion mit einer Waffe sowie Desertion in einer Personengruppe werden mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren geahndet. Desertion während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen zieht eine Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren nach sich (RF 28.4.2023). In Bezug auf den Ukraine-Krieg vermeidet Russland den Begriff Krieg und spricht stattdessen von einer 'militärischen Spezialoperation' (RFE/RL 22.8.2022; vgl. Tass 21.6.2023). Je länger eine Desertion zurückliegt, desto unwahrscheinlicher scheint eine Bestrafung. Deserteure während des Zweiten Weltkriegs, welche sich zwischen 1962 und 1995 stellten, gingen in bestimmten Fällen straffrei aus. Hingegen wurden beispielsweise Soldaten, die 1995 bzw. 2008 desertierten, später von Gerichten gemäß § 338 StGB zu Haftstrafen von zwei bzw. drei Jahren verurteilt. Um als Desertion im Sinne des Strafgesetzbuches gelten zu können, ist Vorsatz erforderlich. Begangen werden kann das Delikt der Desertion von Wehrdienstleistenden, Zeitsoldaten sowie von Reservisten. Reservisten können von Militärkommissariaten zu militärischen Übungen einberufen werden. Die bloße Ausreise eines Reservisten ohne Einberufungsbefehl stellt keine Desertion im Sinne des § 338 StGB dar (ÖB 17.3.2022). Gemäß § 10 des föderalen Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' sind russische Staatsbürger jedoch zu einer Meldung an die Behörden verpflichtet, so sie für mehr als sechs Monate aus der Russischen Föderation ausreisen oder in die Russische Föderation einreisen (RF 13.6.2023). Gemäß dem Kodex über Verwaltungsübertretungen (§ 21.5) stellt die Nichterfüllung dieser Verpflichtungen eine Verwaltungsübertretung dar und zieht eine Verwarnung oder Geldstrafe von RUB 500 bis 3.000 [ca. EUR 5 bis 33] nach sich (RF 17.5.2023). Laut dem föderalen Gesetz 'Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation' (§ 15) kann das Ausreiserecht russischer Staatsbürger vorübergehend eingeschränkt werden, falls sie zum Wehr- oder Zivildienst einberufen wurden (bis zur Beendigung des Wehr- oder Zivildienstes) (RF 14.4.2023).
Bei einberufenen Reservisten ist Folgendes zu unterscheiden: Haben einberufene Reservisten an einer militärischen Übung noch nicht teilgenommen und erscheinen sie (ohne gerechtfertigten Grund) nicht zur Übung, so liegt keine Desertion vor, sondern eine Verwaltungsübertretung. Haben hingegen einberufene Reservisten an der militärischen Übung bereits teilgenommen und erscheinen sie nicht zum weiteren Dienst mit dem Vorsatz, sich auf Dauer dem Militär zu entziehen, liegt Desertion gemäß § 338 StGB vor (ÖB 17.3.2022).
Die Verweigerung der Einberufung zum Wehrdienst zieht folgende Strafen nach sich (§ 328 StGB): Geldstrafen von bis zu RUB 200.000 [ca. EUR 2.171] oder in der Höhe von bis zu 18 Monatseinkommen, Zwangsarbeit von bis zu zwei Jahren, Arrest von bis zu sechs Monaten oder Freiheitsentzug von bis zu zwei Jahren. § 337 StGB sieht unter anderem Folgendes vor: Wehrpflichtige oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen die militärische Einheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als zwei Tagen bis max. zehn Tagen ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren bestraft. Wehrpflichtige oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen die militärische Einheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als einem Monat ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von fünf bis zehn Jahren bestraft. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Tat Folge schwieriger Umstände war. Reservisten sind während Militärübungen strafrechtlich für Taten gemäß diesem Paragrafen (§ 337) verantwortlich (RF 28.4.2023).
Wer während des Kriegsrechts, zu Kriegszeiten, im Rahmen von Kampfhandlungen oder bewaffneten Konflikten den Befehl eines Vorgesetzten nicht befolgt und die Teilnahme an Kriegs- oder Kampfhandlungen verweigert, wird mit Freiheitsentzug von zwei bis drei Jahren bestraft (§ 332 StGB). Wenn diese Taten mit schwerwiegenden Folgen verbunden waren, zieht dies eine Freiheitsstrafe von drei bis zehn Jahren nach sich. Gemäß § 339 StGB wird die Verweigerung des Wehrdiensts durch Betrug (Vortäuschung einer Krankheit, Selbstverletzung, Selbstverstümmelung, Fälschung von Dokumenten usw.) folgendermaßen geahndet: Wehrdienstbeschränkung von bis zu einem Jahr, Arrest von bis zu sechs Monaten oder Disziplinarhaft (Inhaftierung in einer militärischen Disziplinareinheit) von bis zu einem Jahr. Dieselbe Tat (mit dem Ziel, sich gänzlich den militärischen Pflichten zu entziehen) zieht eine Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren nach sich. Taten gemäß § 339 StGB, die während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen begangen wurden, ziehen eine Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren nach sich. Gemäß § 51 des Strafgesetzbuches bedeutet Wehrdienstbeschränkung eine verminderte Besoldung sowie das Aussetzen dienstlicher Beförderungen (RF 28.4.2023). Neu eingeführt wurde ins Strafgesetzbuch am 24.9.2022 ein Paragraf mit dem Titel 'Sich freiwillig in Kriegsgefangenschaft begeben' (RG 24.9.2022). Gemäß diesem § 352.1 wird eine solche Tat mit Freiheitsentzug von drei bis zehn Jahren bestraft. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn sie Maßnahmen für ihre Befreiung ergriffen haben, zu ihrer Truppe oder Dienstort zurückgekehrt sind und wenn sie während der Kriegsgefangenschaft nicht andere Straftaten begangen haben (RF 28.4.2023).
Internationale und unabhängige russische Medien berichten über viele Fälle von Vertragssoldaten, welche die Entsendung in die Ukraine verweigern oder die Ukraine verlassen haben, um zu ihren Militäreinheiten in Russland zurückzukehren (EUAA 16.12.2022a). In einigen Fällen desertieren Mobilgemachte während des Kampfeinsatzes in der Ukraine (ÖB 25.1.2023). Die genaue Anzahl von Soldaten, welche den Kampf in der Ukraine verweigern, ist unklar (Connection 2.10.2022). Die Regierung veröffentlicht keine Zahlen (AA 28.9.2022). Seit Beginn der Teilmobilmachung in Russland im September 2022 gab es mehr als 1.000 Anklagen wegen Fahnenflucht, unerlaubter Entfernung von der Truppe oder Befehlsverweigerung (Länder-Analysen o.D.). Die meisten Rekruten werden zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und können so nach kurzer Zeit wieder an die Front versetzt werden (Länder-Analysen o.D.; vgl. MOD 24.5.2023).
Menschenrechtslage
Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert gleiche Rechte und Freiheiten für alle Personen, unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Nationalität, Sprache, Herkunft, sozialem Status, Wohnort, Religionszugehörigkeit usw. Gemäß Verfassungsartikel 55 dürfen die Rechte und Freiheiten der Menschen durch die föderale Gesetzgebung nur insoweit eingeschränkt werden, als dies aus folgenden Gründen notwendig ist: zum Schutz der Verfassung, der Moral, Gesundheit, der Rechte und gesetzlichen Interessen anderer Personen, zur Gewährleistung der Landesverteidigung sowie der nationalen Sicherheit (Duma 6.10.2022). Die Grundrechte werden in Russland zwar in der Verfassung garantiert, es besteht jedoch ein deutlicher Widerspruch zwischen verfassungsrechtlichen Normen und der Rechtswirklichkeit (AA 28.9.2022). Russland hat unter anderem folgende internationale Menschenrechtsverträge ratifiziert (UN-OHCHR o.D.):
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau
Internationales Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung
Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
Kinderrechtskonvention
Behindertenrechtskonvention
Aufgrund von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine stimmte die UN-Generalversammlung im April 2022 für den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat (UN 7.4.2022). Die Menschenrechtssituation in Russland hat sich im Laufe der vergangenen Jahre sukzessive verschlechtert (EEAS 19.4.2022). Russland wird von der NGO Freedom House als unfrei in Bezug auf politische Rechte und bürgerliche Freiheiten eingestuft (FH 2023). Freiheitsrechte wurden durch die russische Regierung immer weiter eingeschränkt (SWP 19.4.2022). Um die politische Macht und Stabilität zu stärken, untergräbt Russlands politische Führung oft Bürger- und Menschenrechte sowie die Rechtsstaatlichkeit (BS 2022). Die Regierung geht unerbittlich gegen Menschenrechtsorganisationen vor (FH 2023). Zahlreiche davon wurden aufgelöst oder werden in ihren Tätigkeiten beträchtlich behindert (UN-HRC 1.12.2022). 2022 wurde Memorial, eine der ältesten russischen Menschenrechtsorganisationen, auf Grundlage einer Gerichtsentscheidung aufgelöst (ÖB 30.6.2022; vgl. Memorial o.D.). Die Behörden nutzen neben der Gesetzgebung über 'ausländische Agenten' und 'unerwünschte Organisationen' verschiedene weitere Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger unter Druck zu setzen. Im November 2022 schloss Präsident Putin mehrere prominente Menschenrechtsverteidiger aus dem Menschenrechtsrat des Präsidenten aus und ersetzte sie durch regierungsfreundliche Personen (AI 28.3.2023). Menschenrechtsanwälte geraten zunehmend unter Druck (ÖB 30.6.2022). Mehreren Menschenrechtsanwälten wurde die Anwaltslizenz entzogen, ohne ihnen ein Beschwerderecht einzuräumen (EUAA 16.12.2022b).
Es ist gesetzlich vorgesehen, dass Personen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen klagen können. Jedoch sind diese Mechanismen oft nicht effektiv (USDOS 20.3.2023). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (Europarat 16.3.2022). Seit 16.9.2022 ist Russland keine Vertragspartei der vom Europarat geschaffenen Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mehr (Europarat 16.9.2022; vgl. Europarat o.D.b). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt die Einhaltung der EMRK sicher. Bürger können sich, nachdem die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind, mit Beschwerden direkt an ihn wenden (Europarat o.D.). Seit 16.9.2022 haben russische Bürger kein Recht mehr, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen (SWP 19.4.2022).
Tschetschenien, Kritiker, Tschetschenienkrieg-Kämpfer
In Tschetschenien stellt sich die Menschenrechtssituation als äußerst beunruhigend dar (FCDO 12.2022). Die weitverbreiteten Menschenrechtsverletzungen sind staatlichen Akteuren zuzuschreiben (EUAA 16.12.2022b). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet das Republiksoberhaupt Kadyrow unterschiedliche Gewaltformen an, beispielsweise Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 2023; vgl. Europarat 3.6.2022). Es kommt zu Massenrazzien und Massenentführungen (KR 27.3.2023). Einige der Entführten werden von den Behörden unter Druck gesetzt, in der Ukraine zu kämpfen (AI 28.3.2023). Auch kollektive Bestrafungen kommen zur Anwendung (EUAA 16.12.2022b). Die Stabilisierung der Sicherheitslage erfolgt um den Preis gravierender Menschenrechtsverletzungen, darunter menschen- und rechtsstaatswidriges Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige. Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, Verschwindenlassen, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in welchen gefoltert wird, einher (AA 28.9.2022). Kadyrow billigt, beruhend auf seinen religiösen Ansichten, schwerwiegende Menschenrechtsverstöße gegen Frauen, sexuelle Minderheiten usw. (USCIRF 4.2022). Frauen werden Opfer von Ehrenmorden (USDOS 20.3.2023). Es gibt Clans, die Blutrache praktizieren (AA 28.9.2022; vgl. KU 1.2.2023). Mit der Unterstützung Moskaus wird gewaltsam gegen religiöse Minderheiten vorgegangen (USCIRF 10.2021). Zwischen 2019 und 2021 verschwanden in Tschetschenien 4.984 Personen spurlos. Tschetschenien gehört zu denjenigen Regionen, in welchen Verschwundene am seltensten wiedergefunden werden (KR 28.3.2023). Russland ist dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen nicht beigetreten (UN-OHCHR o.D.).
Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, begangen von Vertretern der föderalen und regionalen Behörden, bleiben straffrei (Europarat 3.6.2022). Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz. Hierzu gehören Menschenrechtsaktivisten, sexuelle Minderheiten sowie Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Menschenrechtsaktivisten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppe auf Instagram veröffentlicht. Teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie angeblich Feinde des tschetschenischen Volkes sind, oder er ruft offen dazu auf, sie umzubringen (AA 28.9.2022). Menschenrechtsaktivisten sind schweren Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane ausgesetzt, darunter Folter, Verschwindenlassen, rechtswidrige Festnahmen und Fälschung von Straftatbeständen (ÖB 30.6.2022; vgl. EEAS 19.4.2022). Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht (ÖB 30.6.2022). In Tschetschenien gibt es eine regionale Ombudsperson für Menschenrechte. Dieses Amt bekleidet derzeit Mansur Soltaew (OMRT o.D.).
Kritiker
Tschetschenische Behörden unterdrücken alle Formen abweichender Meinungen (HRW 12.1.2023). Kadyrow droht denjenigen Personen öffentlich, welche ihn und seine Familie kritisieren (UK-VI 17.11.2022). Mit der Unterstützung Moskaus wird gewaltsam gegen Kritiker des Kadyrow-Regimes vorgegangen (USCIRF 10.2021). Regimekritiker müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten sowie physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen (AA 28.9.2022). In mehreren Fällen kam es zu Folterungen (KR 27.3.2023). Auch kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 28.9.2022). Bürger, welche sich über örtliche Angelegenheiten beschweren (beispielsweise Krankenhausschließung), sind Belästigungen oder Demütigungen ausgesetzt (UK-VI 17.11.2022). Kritiker des Kadyrow-Regimes werden systematisch zu Entschuldigungen gezwungen (KU 29.3.2023).
Oppositionelle, Regimekritiker und Personen, die sich gegen Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. dessen Clan aufgelehnt haben, genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 28.9.2022). Wer aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt wird, kann nicht mit einem fairen Gerichtsverfahren rechnen (UK-VI 17.11.2022). Die Opposition hat sich wegen der Unmöglichkeit von Straßenprotesten in Tschetschenien in soziale Netze und Messenger verlagert. Einer der bekanntesten Oppositionskanäle ist der Telegram-Kanal 1ADAT. Die Inhalte von 1ADAT wurden gerichtlich als extremistisch eingestuft (KU 13.2.2022). 1ADAT steht dem tschetschenischen Republiksoberhaupt Kadyrow äußerst kritisch gegenüber (USDOS 20.3.2023) und lässt regelmäßig Stimmen tschetschenischer Dissidenten zu Wort kommen (HRW 12.1.2023). Der Kanal sammelt Informationen über Verbrechen in Tschetschenien und führt eine Entführungsstatistik (KU 13.2.2022). Mitarbeiter von 1ADAT sind Festnahmen und Folter durch die 'Kadyrowzy' ausgesetzt (KU 13.2.2022; vgl. KR 23.8.2022). Die Kadyrowzy stellen die persönliche Armee von Kadyrow dar (FPRI 15.6.2022). Sie werden für zahlreiche Missbrauchshandlungen verantwortlich gemacht, darunter willkürliche Festnahmen, Folter und außergerichtliche Tötungen. Strafrechtliche Konsequenzen haben die Handlungen der Kadyrowzy keine (EUAA 16.12.2022a).
Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem Regime Kadyrows nicht sicher. Sicherheitskräfte, welche Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von NGOs auch in Moskau präsent. Jedenfalls stehen Tschetschenen in größeren russischen Städten unter Beobachtung ihrer Landsleute, und 'falsches' Verhalten kann ebenfalls das Interesse der tschetschenischen Sicherheitsstrukturen wecken (ÖB 30.6.2022). Gemäß Berichten verfolgen in Einzelfällen die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden (welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme haben) Flüchtende in andere Landesteile. Auch wird von verschiedenen Personengruppen berichtet, die gegen ihren Willen von einem innerstaatlichen Zufluchtsort nach Tschetschenien zurückgeholt und dort Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind. Zu den Betroffenen gehören Oppositionelle und Regimekritiker, darunter ehemalige Kämpfer und Anhänger der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung (AA 28.9.2022; vgl. KU 22.2.2023, Meduza 23.8.2022). In mehreren Fällen wurden Kritiker Kadyrows, welche außerhalb Russlands lebten, Opfer von Attentaten (KR 31.1.2023; vgl. FH 6.2022). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien für diejenigen Personen ergeben, welche bereits vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB 30.6.2022). Im Dezember 2022 wurden einige Familienmitglieder von fünf tschetschenischen Bloggern und Aktivisten, welche im Ausland leben und Kadyrow online kritisiert haben, durch tschetschenische Sicherheitskräfte misshandelt und in Isolationshaft gehalten. Die Familien wurden gezwungen, sich zu entschuldigen und sich öffentlich von ihren Verwandten im Exil loszusagen (HRW 12.1.2023).
Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen (auf der Grundlage in ihrer Heimatregion erlassener Rechtsakte) in anderen Gebieten Russlands in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, können Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig gemacht werden (AA 28.9.2022). Die russischen Behörden setzen Kameras mit Gesichtserkennungssoftware ein, um Personen festzunehmen. Solche Kameras sind beispielsweise in der Moskauer U-Bahn installiert (FH 18.10.2022). Unter dem Vorwand der Pandemie-Bekämpfung wird die Gesichtserkennungssoftware in Großstädten flächendeckend eingesetzt (AA 28.9.2022). Bei polizeilichen Personenkontrollen ist Racial Profiling verbreitet (AA 28.9.2022; vgl. UN-HRC 1.12.2022). Racial Profiling steigerte sich gemäß Berichten während der COVID-Pandemie und wird durch die Nutzung neuer Technologien intensiviert (UN-HRC 1.12.2022). Seit langer Zeit missbraucht Russland die von Interpol betriebenen 'red notices' ('rote Ausschreibungen'), um Regimekritiker ausfindig zu machen (Politico 27.7.2022). 'Red notices' informieren weltweit die Polizei über international gesuchte Personen und fordern Gesetzesvollzugsorgane dazu auf, die betreffenden Personen ausfindig zu machen und vorübergehend (bis zu einer Auslieferung usw.) festzunehmen (Interpol o.D.).
Tschetschenienkrieg-Kämpfer
Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen. Prominentes Beispiel dafür ist der Kadyrow‐Clan selbst, welcher im Zuge der Tschetschenienkriege vom Rebellen‐ zum Vasallentum wechselte (ÖB 30.6.2022).
Religionsfreiheit
Die Bevölkerung des Landes weist eine religiöse Vielfalt auf. Ca. 68 % sind russisch-orthodox, 7 % Muslime, und 25 % gehören unter anderem folgenden Gemeinschaften an: Protestanten, Katholiken, Zeugen Jehovas, Buddhisten, Judentum, Bahai usw. (USCIRF 4.2022). Gemäß einer Umfrage des Lewada-Zentrums von April 2023 bekennen sich 72 % der Befragten zur Orthodoxie, 7 % zum Islam, 13 % zu keiner Religion, 5 % zum Atheismus und ca. 3 % zu anderen Glaubensrichtungen - vor allem Katholiken, Protestanten und Buddhisten (LZ 16.5.2023). Verlässliche Zahlen zu den Mitgliedern bzw. Anhängern einzelner Gemeinschaften gibt es nicht, da ein System der Mitgliederregistrierung fehlt (MR 2022).
Artikel 28 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit. Die Wahl des Religionsbekenntnisses steht frei. Auch wird die Freiheit eingeräumt, ohne Bekenntnis zu leben. Religiöse Überzeugungen dürfen frei verbreitet werden. Gemäß Artikel 29 der Verfassung ist das Schüren von religiösem Hass verboten. Laut Verfassungsartikel 14 ist die Russische Föderation ein säkularer (weltlicher) Staat, und es gibt keine Staatsreligion. Staat und Religion sind laut Verfassung voneinander getrennt (Duma 6.10.2022). Gemäß § 3 des Gesetzes 'Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen' darf die Gewissens- und Glaubensfreiheit nur aus folgenden Gründen eingeschränkt werden: zum Schutz der Verfassung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und der gesetzlichen Interessen der Menschen und zur Gewährleistung der Landesverteidigung sowie der nationalen Sicherheit. Gemäß § 9 sind zur Gründung einer örtlichen religiösen Organisation mindestens zehn erwachsene Staatsbürger notwendig. Zentralisierte religiöse Organisationen bestehen aus mindestens drei örtlichen religiösen Organisationen. Laut § 11 unterliegen religiöse Organisationen einer staatlichen Registrierung. Die Verweigerung der staatlichen Registrierung einer religiösen Organisation kann gerichtlich angefochten werden (§ 12). Religiöse Vereinigungen können aufgelöst werden, wenn sie extremistisch tätig sind (§ 14 des Föderalen Gesetzes 'Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen') (RF 29.12.2022c). Die Anti-Extremismus-Gesetzgebung wird in Russland überschießend angewandt (UN-HRC 1.12.2022) und wegen ihrer vagen Formulierungen kritisiert, welche breite Interpretationen sowie eine missbräuchliche Anwendung erlauben (EUAA 16.12.2022b). Beschwerden über den Umgang der Regierung mit dem Thema Religionsfreiheit nimmt die Ombudsperson entgegen (USDOS 15.5.2023).
Die Religionsfreiheit ist in Russland eingeschränkt (UN-HRC 1.12.2022). Behörden missbrauchen die Anti-Terrorismus- und Anti-Extremismus-Gesetzgebung, um friedliche religiöse Gruppen als terroristisch, extremistisch und unerwünscht einzustufen. Zu den betroffenen Gruppen gehören Zeugen Jehovas, vier protestantische Gruppen aus Lettland und der Ukraine, ein regionaler Zweig von Falun Gong sowie sieben mit Falun Gong verbundene NGOs. Solchen Gruppen ist die Religionsausübung verboten, und sie sind mit langen Haftstrafen, harten Haftbedingungen, Hausarrest, Razzien, Diskriminierung und Schikanierungen konfrontiert (USDOS 20.3.2023). Viele Muslime wurden in den letzten Jahren wegen ihrer angeblichen Zugehörigkeit zu verbotenen islamistischen Gruppen inhaftiert (FH 2023). Mindestens 20 angebliche Mitglieder von Hizb-ut-Tahrir wurden im Jahr 2022 im Rahmen politisch motivierter Gerichtsverfahren zu Haftstrafen von 11-18 Jahren verurteilt. Die Bewegung Hizb-ut-Tahrir strebt die Gründung eines Kalifats an, lehnt aber Gewaltanwendung zur Erreichung dieses Ziels ab. Hizb-ut-Tahrir wurde im Jahr 2003 in Russland als terroristische Organisation verboten (HRW 12.1.2023). Zahlreiche Haftstrafen erhielten friedliche Anhänger des gemäßigten muslimischen Theologen Said Nursi sowie der Missionsgruppe Tablighi Jamaat (USCIRF 4.2022; vgl. USCIRF 5.2023). Die Regierung betrachtet unabhängige religiöse Aktivitäten als stabilitätsbedrohend (USCIRF 4.2022). Mit Stand Dezember 2022 gab es laut der Menschenrechtsorganisation Memorial 488 politische Gefangene im Land, darunter 370 Personen, welche ungerechtfertigt wegen ihrer Religionsausübung inhaftiert sind. Gemäß Memorial ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen (USDOS 20.3.2023).
Religiöse Minderheiten sind Diskriminierung ausgesetzt (Sowa-Zentr 24.3.2023; vgl. EEAS 19.4.2022). Orthodoxie, Islam, Judentum und Buddhismus sind als sogenannte traditionelle Religionen anerkannt (MR 2022). Das Föderale Gesetz 'Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen' räumt dem orthodoxen Christentum eine besondere Rolle ein (RF 29.12.2022c). Die russisch-orthodoxe Kirche genießt Privilegien (FH 2023; vgl. BS 2022) und arbeitet im innen- und außenpolitischen Bereich eng mit der Regierung zusammen (FH 2023; vgl. RAD 17.10.2022). Indigene Religionen wurden durch staatliche Programme unter einen gewissen Schutz gestellt. Sie sind jedoch, obwohl seit langer Zeit in Russland verwurzelt, nicht als traditionelle Religionen anerkannt. Ein Beispiel für eine indigene Religion stellt der Schamanismus dar. Die sogenannten traditionellen Religionen haben gesetzlich das Recht, an staatlichen Schulen Religionsunterricht anzubieten. Andere Religionsgemeinschaften dürfen an staatlichen Schulen nicht auftreten (MR 2022). Innerhalb der Politik nimmt Antisemitismus zu (USDOS 2.6.2022; vgl. USCIRF 5.2023). Die Massenmedien bedienen sich antisemitischer Rhetorik (USDOS 15.5.2023). Nach Angaben der israelischen Regierung emigrierten im Jahr 2022 43.685 Personen von Russland nach Israel (TOI 11.1.2023). Vergleichsweise waren im gesamten Jahr 2019 15.930 Russen nach Israel ausgewandert (Reuters 18.8.2022).
Die Leitung der russisch-orthodoxen Kirche hat, mit verschiedenen Nuancen und Dynamiken, Russlands militärisches Handeln in der Ukraine seit dem 24.2.2022 unverändert unterstützt (Russland-Analysen 23.2.2023). Religiöse Führer werden von der Regierung teils unter Druck gesetzt, um als Unterstützer des Krieges gegen die Ukraine aufzutreten (Forum 18 2.8.2022; vgl. FH 2023).
Tschetschenien
Artikel 25 der Verfassung der Republik Tschetschenien garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit. Die Wahl des Religionsbekenntnisses steht frei. Auch wird die Freiheit eingeräumt, ohne Bekenntnis zu leben. Gemäß Artikel 26 ist Propaganda zur Entfachung von religiösem Hass nicht gestattet. Der Verfassungsartikel 11 definiert Tschetschenien als einen säkularen (weltlichen) Staat und spricht sich gegen eine Staatsreligion aus. Staat und religiöse Vereinigungen sind voneinander getrennt (RT 23.3.2003).
Die Hauptreligionsrichtung in Tschetschenien ist der sunnitische Islam (PPTR o.D.). Seit dem späten 18. Jahrhundert blüht in Tschetschenien der Sufismus, eine von großer Vielfalt gekennzeichnete Bewegung des islamischen Mystizismus (USCIRF 10.2021). Heute identifizieren sich die meisten tschetschenischen Muslime mit dem Sufismus (USCIRF 10.2021; vgl. PPTR o.D.). Das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow hat eine zentralisierte Staatsreligion begründet, welche mit der Unterstützung Moskaus gewaltsam gegen religiöse Minderheiten sowie Kritiker des Kadyrow-Regimes vorgeht. Kadyrow lehnt jede Form von Islam ab, die nicht mit seinem Sufismus-Modell im Einklang steht. Die in Tschetschenien vorherrschende Islam-Interpretation wird stark vom tschetschenischen Gewohnheitsrecht (Adat) beeinflusst (USCIRF 10.2021). Zu den existierenden säkularen (weltlichen) Gesetzen fügt die tschetschenische Führung religiöse Normen hinzu (BS 2022). Die von Kadyrow aufgezwungene offizielle Islam-Version gibt vor, den örtlichen Glauben und die örtliche Kultur zu verteidigen sowie gewalttätigen Extremismus zu bekämpfen. Kadyrow billigt, beruhend auf seinen religiösen Ansichten, schwerwiegende Menschenrechtsverstöße gegen Frauen, sexuelle Minderheiten usw. (USCIRF 4.2022). Die tschetschenischen Behörden gehen gegen friedliche muslimische Geistliche vor, welche die Einmischung des Regimes in ihre religiösen Angelegenheiten ablehnen (USCIRF 10.2021).
Das Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige ist von Menschenrechts- und Rechtsstaatswidrigkeit gekennzeichnet. Die Bekämpfung von Extremisten geht laut NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, Verschwindenlassen, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in welchen gefoltert wird, einher (AA 28.9.2022). Tschetschenische Strafverfolgungsbehörden werfen vermeintlichen Salafisten und Wahhabiten unbegründet terroristische Machenschaften vor und erzwingen Geständnisse durch Folter (USCIRF 10.2021).
Ethnische Minderheiten
Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert für alle ethnischen Gruppen gleiche Rechte und Freiheiten. Die Staatssprache der Russischen Föderation ist Russisch. Die einzelnen Republiken sind berechtigt, ihre eigenen Staatssprachen festzulegen, wobei als Behördensprache parallel das Russische gilt (Art. 68 der Verfassung) (Duma 6.10.2022). Das UN-Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung wurde von Russland im Jahr 1969 ratifiziert (UN-OHCHR o.D.). Der Vielvölkerstaat Russland umfasst mehr als 190 ethnische Minderheiten (MT 30.1.2023). In etwa 81 % der Bevölkerung sind ethnische Russen (AA 28.9.2022).
Fremdenfeindlichkeit ist weitverbreitet und richtet sich vor allem gegen Arbeitsmigranten aus dem Südkaukasus und Zentralasien sowie gegen Studierende aus Afrika (BS 2022; vgl. ÖB 30.6.2022). Es kommt zu Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten (USDOS 20.3.2023). 'Racial Profiling' ist bei polizeilichen Personenkontrollen verbreitet. Der Kontrolldruck der Sicherheitsbehörden gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. NGOs berichten von willkürlichem Vorgehen der Polizei bei Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen. Letztere finden vor allem in Tschetschenien auch ohne Durchsuchungsbefehle statt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden Ausländer und Personen fremdländischen Aussehens oft Opfer von Misshandlungen durch Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden. Ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 28.9.2022). In vielen Fällen werden ethnische Minderheiten aus dem Nordkaukasus und dem Fernen Osten von russischen Behördenvertretern diskriminiert (BS 2022). Einige regionale Behörden schränken die Wohnsitzregistrierung bei ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 2023). Im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt werden Mitglieder ethnischer Gruppen, insbesondere Nordkaukasier, systematisch diskriminiert. Beispielsweise ist es Bürgern aus dieser Region verboten, auf öffentlichen Märkten in Moskau tätig zu sein (BS 2022).
In Russland sind 47 kleine indigene ethnische Minderheitengruppen offiziell anerkannt (MT 30.1.2023). Gemäß Berichten kommt es zu Verletzungen der Rechte indigener Völker. Diese haben bei Industrieprojekten unzureichende Mitspracherechte hinsichtlich ihrer Ressourcen und Land und Boden (UN-HRC 1.12.2022; vgl. FA 9.12.2022). Der UN-Menschenrechtsausschuss zeigt sich besorgt über die Auflösung des 'Zentrums zur Unterstützung indigener Völker des Nordens'. Indigene Menschenrechtsverteidiger sind Schikanen ausgesetzt (UN-HRC 1.12.2022). Spirituelle indigene Führer werden vermehrt juristisch verfolgt (GFBV 15.12.2022). 2023 wurden die staatlichen Subventionen zur Förderung kleiner indigener Minderheiten gekürzt (WI 30.1.2023).
Ethnische Minderheiten aus dem Süden und Osten des Landes sowie ärmere Bevölkerungsgruppen finden sich in überproportionaler Zahl unter den in der Ukraine gefallenen Soldaten der russischen Armee (SWP 7.11.2022; vgl. FP 23.9.2022, Russland-Analysen 21.12.2022).
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Gemäß Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation haben Männer und Frauen gleiche Rechte und Freiheiten. Der Verfassungsartikel 114 schreibt die Bewahrung traditioneller Familienwerte fest (Duma 6.10.2022). Russland hat die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ratifiziert (UN-OHCHR o.D.). Es existiert eine Nationale Handlungsstrategie für Frauen für den Zeitraum 2023-2030 (Regierung 29.12.2022).
Gemäß § 131 des Strafgesetzbuches kann Vergewaltigung eine bis zu lebenslange Freiheitsstrafe nach sich ziehen (RF 28.4.2023). Vergewaltigung innerhalb der Ehe gilt nicht als Straftat (UN-HRC 1.12.2022). Manchmal weigern sich Polizeibeamte, auf Vergewaltigung oder häusliche Gewalt zu reagieren, wenn die Tat nicht unmittelbar lebensbedrohlich für das Opfer ist. Behörden stufen im Regelfall Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung nicht als lebensbedrohlich ein (USDOS 20.3.2023). Häusliche Gewalt ist weitverbreitet (AA 28.9.2022). Eine gesetzliche Definition für den Begriff häusliche Gewalt fehlt (USDOS 20.3.2023). Strafverfolgungsbehörden sind wenig gewillt, Fälle häuslicher Gewalt gerichtlich zu verfolgen (UN-HRC 1.12.2022). Die Polizei ist nicht befugt, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten, wenn das Opfer keine Anzeige erstattet (USDOS 20.3.2023). Die Anzahl der an die Behörden gemeldeten Fälle ist niedrig, weil Polizei und Justiz nicht angemessen auf die Thematik reagieren (HRW 12.1.2023). Oft drängt die Polizei Opfer häuslicher Gewalt zur Aussöhnung mit den Tätern. Die meisten Fälle häuslicher Gewalt, welche an Behörden herangetragen werden, werden entweder nicht bearbeitet oder an Schlichtungsstellen weitergeleitet. Schlichtungsstellen werden von Friedensrichtern geleitet und verfolgen eher das Ziel des Familienerhalts anstatt Bestrafung der Täter (USDOS 20.3.2023). Ein Opferschutzsystem fehlt (UN-CEDAW 30.11.2021). Opfer häuslicher Gewalt, welche Täter in Notwehr töten, werden im Regelfall inhaftiert (FH 2023).
Laut NGOs stellen von der Regierung betriebene Einrichtungen für Opfer häuslicher Gewalt Sozialwohnungen, medizinische stationäre Betreuungsmöglichkeiten sowie Notunterkünfte zur Verfügung. Der Zugang zu diesen Dienstleistungen ist oft kompliziert und erfordert die Vorlage bestimmter Dokumente, nämlich eine örtliche Wohnsitzbescheinigung und den Nachweis eines niedrigen Einkommens. In vielen Fällen werden diese Dokumente von den Tätern verwaltet und sind für Opfer nicht zugänglich (USDOS 20.3.2023). Für Opfer häuslicher Gewalt sind nicht genügend Notunterkünfte vorhanden (UN-HRC 1.12.2022). NGOs, die sich mit der Betreuung, Beratung und dem Schutz von Opfern häuslicher Gewalt beschäftigen, werden vermehrt als 'ausländische Agenten' eingestuft (AA 28.9.2022) [zum Begriff ‚ausländischer Agent‘ siehe Näheres im Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten].
Diskriminierung von Frauen und Mädchen ist weit verbreitet und beruht auf der Rhetorik traditioneller Familienwerte (EEAS 19.4.2022). Patriarchalische Einstellungen und diskriminierende Stereotypen bzw. Rollenbilder halten sich hartnäckig (UN-CEDAW 30.11.2021). In der Politik, im öffentlichen Leben und als Unternehmerinnen sind Frauen unterrepräsentiert (BS 2022; vgl. UN-CEDAW 30.11.2021). Die Politik thematisiert selten wichtige Angelegenheiten, welche Frauen betreffen (FH 2023). Frauen haben gleichen Zugang zu Bildung wie Männer (BS 2022). Bei der Kreditvergabe und auf dem Arbeitsmarkt erfahren Frauen Diskriminierung (USDOS 20.3.2023). Gesetzlich ist Frauen die Ausübung von 100 Berufen wegen deren hoher körperlicher Anforderungen verwehrt. Davon betroffen sind beispielsweise die Berufsbereiche Bergbau und Brandschutz (USDOS 20.3.2023; vgl. AM 13.5.2021, RF 11.4.2023). Frauen sind im Durchschnitt schlechter bezahlt als Männer (ÖB 30.6.2022; vgl. Regierung 29.12.2022). Das Armutsrisiko für Frauen ist hoch, so im Falle Alleinerziehender (Regierung 29.12.2022).
Frauen im Nordkaukasus, Tschetschenien
Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich von der in anderen Regionen Russlands (ÖB 30.6.2022). Nordkaukasische Frauen befinden sich in einer sehr schwierigen sozio-ökonomischen Situation (Europarat 3.6.2022). Die Lage von Frauen im Nordkaukasus wird durch die Koexistenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia – zusätzlich erschwert (ÖB 30.6.2022). Die Menschen im Nordkaukasus leben in einer geschlossenen, patriarchalischen Gesellschaft. Die lokalen und föderalen Behörden tolerieren Unterdrückung zur Aufrechterhaltung traditioneller Werte. Frauen im Nordkaukasus, welche sich traditionellen Werten nicht unterwerfen wollen, riskieren Verfolgung, Folter und Ermordung. Es herrscht Straflosigkeit (Europarat 3.6.2022). Die in Tschetschenien vorherrschende Islam-Interpretation dient als Rechtfertigung für die strikt patriarchalische Machtstruktur (USCIRF 10.2021). Das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow billigt, beruhend auf seinen religiösen Ansichten, schwerwiegende Menschenrechtsverstöße gegen Frauen (USCIRF 4.2022). Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, genießen in Tschetschenien keinen effektiven Rechtsschutz (AA 28.9.2022). Immer häufiger werden in Tschetschenien Vorwürfe wegen angeblicher Hexerei vorgebracht. Opfer sind für gewöhnlich ältere Frauen. Diese werden regelmäßig zu Geständnissen im Rahmen staatlicher Fernsehübertragungen gezwungen (USCIRF 10.2021).
Häusliche Gewalt ist im Nordkaukasus weitverbreitet (ÖB 30.6.2022). Opfer häuslicher Gewalt haben Schwierigkeiten, Schutz durch Behörden zu erlangen (USDOS 20.3.2023). Im Nordkaukasus sind Ehrenmorde verbreitet (KU 12.2.2020) und werden selten gemeldet (USDOS 20.3.2023). Opfer von Ehrenmorden sind Frauen, deren Verhalten von ihren Familienangehörigen als Schande für die Sippe empfunden wird. Ehrenmorde begehen Familienangehörige, meistens der Vater oder der Bruder (KU 12.2.2020). Kadyrow rechtfertigt Ehrenmorde an geschiedenen oder unverheirateten Frauen mit dem tschetschenischen Gewohnheitsrecht (USCIRF 10.2021). Es existieren traditionelle Gesetze im Nordkaukasus, welche Frauen das Alleinleben ohne einen Mann nicht gestatten (USDOS 20.3.2023). Im Nordkaukasus kommen Zwangsverheiratungen häufig vor (Europarat 3.6.2022). Unter den Zwangsverheirateten befinden sich Kinder. In Teilen des Nordkaukasus werden Frauen Brautentführungen, Polygamie, Jungfrauentests vor der Ehe sowie der verpflichtenden Befolgung islamischer Kleidungsvorschriften ausgesetzt (USDOS 20.3.2023). Frauen in Tschetschenien haben Kopftücher zu tragen und sich sittsam zu kleiden (USCIRF 10.2021). Es gibt Berichte zu weiblicher Genitalverstümmelung im Nordkaukasus, vor allem aus Dagestan, aber auch aus Tschetschenien (ÖB 30.6.2022; vgl. UN-HRC 1.12.2022). Gesetzlich ist weibliche Genitalverstümmelung nicht ausdrücklich verboten (USDOS 20.3.2023).
In Tschetschenien wurden im Jahr 2017 'Kommissionen zur Harmonisierung von Ehe- und Familienbeziehungen' geschaffen. Diese sind in allen Regionen tätig (KU 14.2.2023). Die Kommissionen bestehen unter anderem aus Religionsvertretern, Repräsentanten gesellschaftlicher Organisationen sowie örtlicher Strukturen und Vertretern des Innenministeriums. 2.395 Ehepaare wurden wiedervereint (KU 23.4.2023), nachdem Kadyrow 2017 die Anweisung gegeben hatte, traditionelle Familienwerte zu stärken (KU 14.2.2023). Die Wiedervereinigung von Familien in Tschetschenien geschieht unter Druck (KU 10.2.2023). Kadyrow unterstützt die erzwungene Versöhnung bzw. Wiederverheiratung geschiedener Paare und spricht sich für Polygamie aus (FH 2023). Polygamie ist offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich (AA 28.9.2022). Frauen, die in polygamen Beziehungen leben, sind rechtlich und wirtschaftlich unzureichend geschützt. In Erbschaftsangelegenheiten gelten diskriminierende religiöse und gewohnheitsrechtliche Vorschriften (UN-CEDAW 30.11.2021).
Die Flucht in andere Regionen kann zu einer gewaltsamen Rückführung oder in manchen Fällen zu Ehrenmorden führen. Auch eine Flucht ins Ausland ist beinahe unmöglich, da Frauen unter 30 Jahren in Tschetschenien Reisedokumente nur mit Zustimmung eines männlichen Familienangehörigen, welcher für ihre Rückkehr bürgt, beantragen können (Europarat 3.6.2022).
Das dagestanische Webportal daptar.ru setzt sich für Frauenrechte im Kaukasus ein (Europarat 3.6.2022). Einige zivilgesellschaftliche Initiativen bieten psychologische, rechtliche und medizinische Hilfe an: zum Beispiel 'Sintem' in Tschetschenien und 'Mat i ditja' ('Mutter und Kind') in Dagestan (ÖB 30.6.2022).
Kinder
Russland hat die UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1990 ratifiziert. Zwei Zusatzprotokolle wurden von Russland ebenfalls ratifiziert, welche die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten sowie Kinderhandel, Kinderprostitution und -pornografie betreffen (UN-OHCHR o.D.). Landesweit existiert kein Gesetz zu Kindesmissbrauch, aber Mord, Vergewaltigung sowie Körperverletzung sind gesetzlich verboten. Ebenso verboten sind kommerzielle sexuelle Ausbeutung sowie die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie. Der Besitz von Kinderpornografie ist nur dann gesetzlich verboten, wenn eine Absicht der Verbreitung besteht. Die gesetzlichen Vorgaben werden von Behörden im Allgemeinen umgesetzt (USDOS 20.3.2023). Im Jahr 2014 verabschiedete die Regierung die Grundlagen der staatlichen Jugendpolitik der Russischen Föderation für den Zeitraum bis 2025. Die Föderale Agentur für Jugendangelegenheiten (Rosmolodesch) ist seit 2018 direkt der Regierung unterstellt und besitzt einen Jahresetat von ca. RUB 8 Milliarden [ca. EUR 93 Mio.] (FES 2020). Im Jahr 2009 wurde das Amt eines Kinderrechtsbeauftragten geschaffen (UPPR o.D.). Gemäß § 3 des Gesetzes 'Über Kinderrechtsbeauftragte in der Russischen Föderation' werden Kinderrechtsbeauftragte vom Staatspräsidenten für eine Amtsperiode von fünf Jahren ernannt. Der Staatspräsident ist berechtigt, Kinderrechtsbeauftragte vorzeitig ihres Amts zu entheben. Zu den Aufgaben von Kinderrechtsbeauftragten, welche dem Staatspräsidenten gegenüber rechenschaftspflichtig sind, zählt beispielsweise die Bearbeitung von Beschwerden (Paragrafen 7 und 8 des oben genannten Gesetzes). Gemäß § 8 hat die Kinderrechtsbeauftragte jährlich einen Tätigkeitsbericht und Bericht über die Lage der Kinder in Russland vorzulegen (RF 30.4.2021).
Gemäß Berichten kommt es vor, dass Kinder (darunter Obdachlose) Opfer von Sexhandel in Russland und in anderen Ländern werden. Auch kommt es vor, dass Kinder in staatlichen Waisenheimen von Menschenhändlern in folgende Bereiche gelockt werden: Zwangsbettelei, Zwangskriminalität, Kinderpornografie, Sexhandel sowie Verwendung von Kindern durch bewaffnete Gruppierungen im Nahen Osten. Gemäß Aussage der Regierung vom Juli 2021 wurden seit Beginn des Repatriierungsprogramms im Jahr 2017 341 Kinder aus Syrien und Irak repatriiert (USDOS 7.2022). Kinder werden häufig Opfer von Gewalt (USDOS 20.3.2023). Gegen häusliche Gewalt wird unzureichend gesetzlicher Schutz geboten (AA 28.9.2022). Körperliche Züchtigung von Kindern zu Hause ist gesetzlich zugelassen. Körperliche Züchtigung von Kindern in Schulen und als Disziplinarmaßnahme in Strafanstalten ist nicht ausdrücklich verboten. Ungesetzlich ist körperliche Züchtigung als Strafmaßnahme im Zusammenhang mit Straftaten (EVAC/ECP 10.2022). Es gibt in Russland Organisationen und Privatinitiativen zur Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt (ÖB 30.6.2022). Es existiert kein System zur Gewalt-Prävention und es gibt nur wenige Einrichtungen, in welchen Frauen mit Kindern vorübergehend Zuflucht suchen können. Die Notwendigkeit der Eindämmung von Kinderprostitution, Kinderhandel, Kinderpornografie und Gewalt gegen Kinder wird in der Öffentlichkeit zunehmend thematisiert (AA 28.9.2022).
Das gesetzliche Mindestalter für Eheschließungen beträgt für Männer und Frauen 18 Jahre. Unter bestimmten Umständen dürfen lokale Behörden Eheschließungen ab einem Alter von 16 Jahren bewilligen. Mehrere Regionen erlauben Eheschließungen ab einem Alter von 14 Jahren, wenn beispielsweise eine Schwangerschaft vorliegt oder ein Kind geboren wurde. Das gesetzliche Mindestalter für einvernehmliche sexuelle Handlungen beträgt 16 Jahre (USDOS 20.3.2023).
Bildung ist kostenlos. Es herrscht Schulpflicht bis zur 11. Schulstufe. Dennoch verweigern Regionalbehörden häufig den Schulbesuch für Kinder von Personen, welche keine örtliche Wohnsitzregistrierung aufweisen (darunter Roma). Roma-Kinder werden in Schulen, deren Qualitätsstandards niedrig sind, abgesondert. HIV-infizierte Kinder sind Diskriminierung im Bildungsbereich ausgesetzt (USDOS 20.3.2023). Der Zugang zu (inklusiver) Bildung gestaltet sich - trotz bestehender gesetzlicher Regelungen - für viele beeinträchtigte Kinder schwierig. Diesbezüglich fehlt beispielsweise ausgebildetes Personal an den Schulen (USDOS 20.3.2023; vgl. Humanium o.D.). Seit 2019 läuft das sogenannte Nationale Projekt Bildung, welchem RUB 784,5 Milliarden [ca. EUR 9 Milliarden] zur Verfügung stehen, um Schulen zu sanieren und zu modernisieren, Lehrpläne zu aktualisieren, Fachpersonal zu schulen und die Schulverwaltung umzustrukturieren und fortzubilden (Russland-Analysen 21.2.2020). Im Rahmen dieses Projekts wird auf eine patriotische Erziehung Wert gelegt (NPR o.D.).
Gesetzlich ist Kindern unter 16 Jahren eine Arbeitsaufnahme in den meisten Fällen verwehrt. Die Arbeitsbedingungen für Kinder unter 18 Jahren sind gesetzlich geregelt. Vierzehnjährige dürfen unter bestimmten Bedingungen und mit Erlaubnis der Eltern oder des Vormunds einer Arbeit nachgehen. Eine solche Arbeit darf der Gesundheit bzw. dem Wohlergehen des Kindes nicht schaden. Minderjährigen ist eine berufliche Beschäftigung in bestimmten Bereichen gesetzlich verboten, z. B. Arbeiten unter Tag und in Sektoren, welche die moralische und gesundheitliche Entwicklung von Kindern gefährden. Gesetzliche Vorgaben werden von der Regierung effektiv umgesetzt, obwohl das Strafmaß zu milde ist. Es gibt Berichte über Kinder, welche im informellen Sektor und im Verkauf tätig sind. Einige Kinder sind kommerzieller sexueller Ausbeutung ausgesetzt und werden zum Betteln gezwungen (USDOS 12.4.2022).
Die medizinische Versorgungssituation für Kinder ist sehr angespannt. Es fehlen Physiotherapeuten und Psychologen (AA 28.9.2022). Gemäß dem Welthunger-Index 2022 sind 4,4 % der Kinder unter fünf Jahren ausgezehrt, und 13,4 % weisen Wachstumsverzögerungen auf. Die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren liegt bei 0,5 % (WHI o.D.). Im Jahr 2021 erhielten 12.100 Kinder im Alter zwischen 0 und 14 Jahren antiretrovirale HIV/Aids-Medikamente (UNICEF o.D.). Es existieren Berichte über Vernachlässigung, körperlichen und psychologischen Missbrauch von Kindern, welche in staatlichen Institutionen untergebracht sind. Besonders vulnerabel sind Kinder mit Beeinträchtigungen (USDOS 20.3.2023). Diese erfahren keine Gleichberechtigung, und es gibt zu wenige Unterbringungsmöglichkeiten, Infrastruktur sowie Personal (Humanium o.D.).
Gemäß dem von der NGO Humanium erstellten Index bestehen in Russland wahrnehmbare Probleme bei der Realisierung von Kinderrechten (orange Stufe bzw. 7,84 von 10 maximal erreichbaren Punkten) (Humanium o.D.).
Laut ukrainischen und russischen Behördenvertretern wurden seit 24.2.2022 Hunderttausende Kinder aus der Ukraine in die Russische Föderation gebracht. Zahlenangaben variieren beträchtlich. Von den Deportationen sind unter anderem Kinder in Einrichtungen sowie Kinder, welche aufgrund der Kampfhandlungen kurzfristig den Kontakt mit ihren Eltern verloren haben, betroffen. In Russland wird deportierten ukrainischen Kindern die russische Staatsbürgerschaft verliehen, sie werden in Pflegefamilien untergebracht usw. Für Familienangehörige gestaltet sich die Kontaktaufnahme sowie Rückführung ihrer Kinder in die Ukraine sehr schwierig (UN-HRC 15.3.2023).
Nordkaukasus
Gemäß dem russischen Ministerpräsidenten ist die Kindersterblichkeit im Nordkaukasus um ca. ein Drittel höher als im russischen Durchschnitt (ÖB 30.6.2022; vgl. PR 15.6.2021). Im Zeitraum Jänner-März 2023 starben in Dagestan fünf von 1.000 Neugeborenen. In Tschetschenien verstarben im selben Zeitraum sechs von 1.000 Neugeborenen (Rosstat o.D.). Es gibt im Nordkaukasus nicht genügend Schulen (PR 15.6.2021). In Teilen des Nordkaukasus sind Mädchen Zwangs- bzw. Kinderehen ausgesetzt (USDOS 20.3.2023). Gemäß § 13 des Gesetzes 'Über Kinderrechtsbeauftragte in der Russischen Föderation' haben Regionen in Russland eigene Kinderrechtsbeauftragte (RF 30.4.2021). Seit 2014 wird dieses Amt in Tschetschenien von Chirachmatow Chamsat Asurin-Basiriewitsch bekleidet (UPRTR o.D.). Die derzeitige Kinderrechtsbeauftragte für Dagestan ist Eschowa Marina Jurewna (UGPR o.D.).
Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Gemäß Artikel 27 der Verfassung der Russischen Föderation haben alle Personen, welche sich rechtmäßig auf dem Territorium der Russischen Föderation aufhalten, das Recht auf Bewegungsfreiheit sowie Wahl des Aufenthalts- und Wohnorts. Alle Personen sind laut der Verfassung berechtigt, aus der Russischen Föderation auszureisen. Bürger der Russischen Föderation haben das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren. Gemäß Artikel 61 der Verfassung dürfen Bürger der Russischen Föderation nicht aus der Russischen Föderation ausgewiesen werden (Duma 6.10.2022). Gemäß § 1 des Gesetzes 'Über das Recht der Bürger auf Bewegungsfreiheit' sind Einschränkungen des Rechts auf Bewegungsfreiheit, Wahl des Wohn- und Aufenthaltsorts nur auf gesetzlicher Grundlage möglich. Gemäß § 8 kann dieses Recht unter anderem dann eingeschränkt werden, wenn in den betreffenden Regionen der Ausnahmezustand oder das Kriegsrecht herrscht. Entscheidungen in Bezug auf Bewegungsfreiheit, Wahl des Wohn- und Aufenthaltsortes können von den Bürgern gerichtlich angefochten werden (§ 9) (RF 27.1.2023).
Gemäß § 15 des Gesetzes ’Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation' darf das Recht der Staatsbürger auf Ausreise aus der Russischen Föderation vorübergehend beschränkt werden. Von solchen Beschränkungen sind Personen betroffen, die zum Wehrdienst einberufen oder zum Wehrersatzdienst entsandt wurden (bis zur Beendigung des Wehrdiensts oder Wehrersatzdiensts); Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder unter Anklage stehen; Personen, die wegen Begehung einer Straftat verurteilt wurden (bis die Strafe verbüßt oder eine Strafbefreiung eingetreten ist); Personen, die gegen gerichtlich auferlegte Verpflichtungen verstoßen; Mitarbeiter des Föderalen Sicherheitsdiensts (FSB); sowie Personen, die zahlungsunfähig bzw. insolvent sind (RF 14.4.2023). Bürger, welche im Militärregister aufscheinen, dürfen ab Verkündung einer Mobilmachung ihren Wohnort nur mit behördlicher Erlaubnis verlassen (§ 21 des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung') (RF 4.11.2022). Die Regierung beschränkt Auslandsreisen ihrer Mitarbeiter, darunter Generalstaatsanwaltschaft, Innen- und Verteidigungsministerium usw. (USDOS 20.3.2023; vgl. Bell 7.4.2023). Die Grenz- und Zollkontrollen eigener Staatsangehöriger durch russische Behörden entsprechen in der Regel internationalem Standard (AA 28.9.2022). Im Zuge von Grenzkontrollen kommt es zu Befragungen Ausreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen (AA 28.9.2022).
Auf Grundlage eines EU-Ratsbeschlusses ist seit 12.9.2022 das Visaerleichterungsabkommen zwischen der EU und Russland vollständig ausgesetzt. Dies bedeutet nun unter anderem höhere Gebühren für einen Visumsantrag, Vorlage zusätzlicher Dokumente und längere Bearbeitungszeiten für Visa (Rat 12.5.2023). Auch die USA verhängten Visabeschränkungen, diese gelten für ca. 900 russische Amtsträger, darunter Mitglieder des Föderationsrats und des russischen Militärs (USDOS 2.8.2022). Weitere Länder (die baltischen Staaten, Tschechien, Niederlande) haben die Visavergabe an russische Staatsbürger eingeschränkt (DW 22.8.2022).
Meldewesen
Die Bürger der Russischen Föderation sind verpflichtet, ihren Aufenthalts- und Wohnort innerhalb des Landes registrieren zu lassen. Die Registrierung ist kostenlos (§ 3) (RF 27.1.2023). Die örtlichen Stellen des Innenministeriums sind gemäß § 4 die Meldebehörden (RF 27.1.2023; vgl. AA 28.9.2022). Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Mieter benötigen eine Bescheinigung des Vermieters und werden damit vorläufig ohne Eintragung im Inlandspass registriert (AA 28.9.2022). Das staatliche Melderegister der Russischen Föderation ist nicht öffentlich zugänglich. Informationen werden natürlichen und nicht staatlichen juristischen Personen auf deren Anfrage nur bei Vorhandensein der Zustimmung derjenigen Person, deren Daten angefragt werden, erteilt; staatlichen Organen, soweit dies zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben erforderlich ist (ÖB 1.2.2023).
Die Registrierung des Aufenthaltsortes hat binnen 90 Tagen nach Wohnungsnahme zu erfolgen. Von der Registrierung des Aufenthaltsortes bleibt die Wohnsitzregistrierung unberührt. Aufenthalte bis zu einer Dauer von 90 Tagen bedürfen keiner Registrierung (§ 5 des Gesetzes 'Über das Recht der Bürger auf Bewegungsfreiheit'). Beispiele für Aufenthaltsorte sind Hotels, Sanatorien, Campingplätze, medizinische Einrichtungen, Haftanstalten usw. (§ 2) (RF 27.1.2023). Die Aufenthaltsregistrierung (temporäre Registrierung) wird durch eine Bescheinigung in elektronischer oder in Papierform bestätigt (Gosuslugi o.D.). Temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notfallversorgung (ÖB 30.6.2022).
Bürger, welche ihren Wohnort wechseln, haben binnen sieben Tagen nach Wohnungsnahme die Registrierung zu veranlassen. Dabei ist ein Pass oder ein anderes Identitätsdokument vorzulegen. Anträge können auch elektronisch eingebracht werden, beispielsweise über das Portal Gosuslugi. Die Meldebehörde hat spätestens drei Tage nach Antragstellung die Registrierung vorzunehmen (§ 6) (RF 27.1.2023). Die Wohnsitzregistrierung (Propiska) wird im Pass vermerkt. Kinder bis zu einem Alter von 14 Jahren erhalten eine Registrierungsbescheinigung (Gosuslugi o.D.). Eine permanente Registrierung ist Voraussetzung für stationäre medizinische Versorgung, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld und Pensionszahlungen (ÖB 30.6.2022).
Kaukasus
Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich in andere Teile Russlands reisen (AA 28.9.2022). Einige regionale Behörden schränken die Wohnsitzregistrierung bei ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 2023).
Tschetschenen innerhalb und außerhalb der Russischen Föderation
Die Bevölkerungszahl Tschetscheniens beträgt mit Stand 2023 in etwa 1,5 Millionen (FR o.D.). Laut Aussage des Republiksoberhaupts Kadyrow leben rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region, die eine Hälfte davon in Russland, die andere Hälfte im Ausland (ÖB 30.6.2021). Zwischen Jänner und November 2022 reisten aus Tschetschenien um ca. 4.000 Personen mehr aus, als sich in Tschetschenien niedergelassen haben, ungefähr doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die Binnenmigration in der Republik Tschetschenien ist angestiegen. Die Anzahl derjenigen Tschetschenen, welche in andere Regionen Russlands reisen, ist merklich höher als die Anzahl der Rückkehrer (KR 15.2.2023). Die tschetschenische Diaspora ist in allen russischen Großstädten stark angewachsen (200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben). Sie treffen auf antikaukasische Stimmungen (AA 28.9.2022). Die Migration ins Ausland hat ebenfalls stark zugenommen (KR 15.2.2023). Im Jahr 2022 verließen 1.300 Bewohner Tschetscheniens die Russische Föderation, ein Anstieg um das Vierfache im Vergleich zum Jahr zuvor. Hauptziel der Ausreisen waren Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) (KR 1.3.2023). Die tschetschenische Diaspora in Europa zählt nach verschiedenen Einschätzungen zwischen 150.000 und 300.000 Personen. Eine der größten tschetschenischen Gemeinschaften Europas befindet sich in Frankreich, wo um die 60.000 Tschetschenen leben. In Deutschland, Österreich und Belgien leben nach offiziellen Angaben jeweils zwischen 30.000 und 45.000 Tschetschenen (KU 16.5.2023).
Die 'Ständige Vertretung Tschetscheniens beim russischen Präsidenten' vertritt laut Eigendarstellung die Interessen Tschetscheniens in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Kultur und humanitäre Zusammenarbeit. Außerdem pflegt die Ständige Vertretung Kontakte mit Organisationen der tschetschenischen Diaspora (SVTR o.D.a). Um Belange der tschetschenischen Diaspora kümmern sich beispielsweise folgende Organisationen: der Wiener Rat der Tschetschenen und Inguschen (ZO 29.4.2022), der Weltkongress des tschetschenischen Volks (PTR o.D.), die Vereinigung der Tschetschenen Europas (VTE o.D.) und die Versammlung der Tschetschenen Europas (ACE o.D.). Generalsekretär des Weltkongresses des tschetschenischen Volks ist das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow (PTR o.D.).
Grundversorgung und Wirtschaft
Wirtschaft
Als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die EU mehrere Sanktionspakete angenommen, um die wirtschaftliche Basis Russlands zu schwächen. Der Zugang Russlands zu den Kapital- und Finanzmärkten der EU wurde beschränkt. Für alle russischen Flugzeuge ist der Luftraum der EU geschlossen. Ebenso sind EU-Häfen für alle russischen Schiffe geschlossen. Transaktionen mit der russischen Zentralbank sind verboten. Mehrere russische Banken wurden aus dem SWIFT-System ausgeschlossen. Neue Investitionen in den russischen Energiesektor wurden verboten. Es gilt ein Einfuhrverbot für Eisen und Stahl aus Russland in die EU sowie ein Einfuhrverbot für Kohle, Holz, Zement, Gold, Rohöl, raffinierte Erdölerzeugnisse usw. (Rat 12.5.2023). Sanktionen gegen Russland verhängten außerdem die USA, Kanada, das Vereinigte Königreich, Japan, die Schweiz und die restliche westliche Welt (WKO 3.2023). Der Krieg und die Sanktionen wirken sich auf Wirtschaftssektoren in Russland unterschiedlich aus. In Mitleidenschaft gezogen wurden der Industriesektor sowie der Binnenhandel. Hingegen zählt die Militärproduktion zu den Profiteuren der Sanktionen. Die Energiesanktionen ließen die Staatseinnahmen beträchtlich schrumpfen (WIIW o.D.). Die Wirtschaftssanktionen des Westens haben zu einem Braindrain und einer Kapitalflucht geführt (HF o.D.). Die Isolation Russlands zwingt verstärkt zu einer Eigenproduktion kritischer Waren, darunter Medikamente, Anlagen und Computertechnik (WKO 3.2023). Eine Einschätzung der wirtschaftlichen Situation in Russland ist derzeit schwierig (NDR/Tagesschau 2.8.2022; vgl. Watson 3.2.2023).
Gemäß vorläufigen Daten des Föderalen Amts für Staatliche Statistik (Rosstat) ist das Bruttoinlandsprodukt im 1. Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahr um 1,9 % gesunken (Interfax 17.5.2023). Die Inflation betrug im April 2023 nach Angaben von Rosstat 0,38 % (Interfax 12.5.2023). Um den starken Verfall des Rubels aufzuhalten, führte die Regierung strenge Devisenbeschränkungen sowie weitere einschränkende Maßnahmen zur Stabilisierung der russischen Währung und der Wirtschaft ein (WKO 3.2023). Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2022 14,9 % des Bruttoinlandsprodukts (WIIW o.D.).
Korruption ist weitverbreitet (BS 2022; vgl. HF o.D.). Eine Herausforderung für den Staat stellt die Schattenwirtschaft dar (BS 2022). Innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte ist Russland vom Importeur zum größten Weizenexporteur der Welt aufgestiegen (ZOIS 9.3.2023). Die Wirtschaft ist wenig diversifiziert (BS 2022) und stark von Öl- und Gasexporten abhängig (HF o.D.). Russland gehört historisch zu den größten Erdölproduzenten weltweit. Exporte von Öl und Gas haben traditionell mehr als zwei Drittel der russischen Ausfuhren ausgemacht. Es gelten Exportbeschränkungen für Holzwaren (WKO 3.2023). Um die sinkenden Exporte in die Europäische Union auszugleichen, handelt Russland verstärkt mit China, Indien und der Türkei (FT 19.8.2022).
Grundversorgung
Nach Angaben von Rosstat betrug im Jahr 2022 der Anteil der russischen Bevölkerung mit Einkommen unter der Armutsgrenze 10,5 %, das heißt 15,3 Millionen Personen (Rosstat 10.3.2023). Seit 2021 wird die Armutsgrenze neu berechnet. Die neue Berechnungsmethode wird als willkürliche Verschleierung der wahren Zustände kritisiert (AA 28.9.2022). Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern (vor allem Großfamilien), Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren Moskau und St. Petersburg ist die Armutsquote halb so hoch wie im Landesdurchschnitt. Prinzipiell ist die Armutsgefährdung auf dem Land höher als in den Städten (Russland-Analysen 21.2.2020a). Die Wirkung von Regierungsprogrammen, die sich dem Kampf gegen Armut im ländlichen Raum widmen, ist begrenzt. In den größeren Städten Russlands ist eine beträchtliche Anzahl von Menschen obdachlos (BS 2022).
Gemäß der Weltbank hatten im Jahr 2020 (aktuellste verfügbare Daten) 76 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu sicher verwalteten Trinkwasserdiensten (WB o.D.a). Im Jahr 2021 wurden mehr als 450 Trinkwasserversorgungseinrichtungen und Wasseraufbereitungsanlagen errichtet und modernisiert. Dadurch erhöhte sich der Anteil derjenigen Bürger, welche mit hochwertigem Trinkwasser versorgt werden, auf 86 % (NPR o.D.a). Im Welthunger-Index 2022 belegt die Russische Föderation Platz 28 von 121 Ländern. Mit einem Wert von 6,4 fällt die Russische Föderation somit in die Schweregradkategorie niedrig. Weniger als 2,5 % der Bevölkerung sind gemäß dem Welthunger-Index unterernährt (WHI o.D.). Laut der Weltbank hatten im Jahr 2020 (aktuellste verfügbare Daten) 89 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu einer (zumindest) Basisversorgung im Bereich Hygiene (WB o.D.b). Ein Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Bezahlbare Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für Teile der Bevölkerung unerschwinglich (AA 28.9.2022). Mietkosten variieren je nach Region (IOM 12.2022).
Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 12.2022). Der Mindestlohn darf das Existenzminimum nicht unterschreiten (RN 16.1.2023). Das Existenzminimum wird per Verordnung bestimmt (AA 28.9.2022). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung RUB 15.669 [ca. EUR 184], für Kinder RUB 13.944 [ca. EUR 164] und für Pensionisten RUB 12.363 [ca. EUR 145] (Rosstat 10.1.2023). Die Höhe des monatlichen Mindestlohns beträgt für das Jahr 2023 RUB 16.242 [ca. EUR 191] (Duma 1.1.2023) und kann in jeder Region durch regionale Abkommen individuell festgelegt werden. Jedoch darf die Höhe des regionalen Mindestlohns nicht niedriger als der national festgelegte Mindestlohn sein. In der Stadt Moskau beträgt der Mindestlohn RUB 23.508 [ca. EUR 276] (RN 16.1.2023). Die primäre Versorgungsquelle der russischen Bevölkerung bleibt ihr Einkommen (AA 28.9.2022). Nach staatlichen Angaben betrug die Arbeitslosenrate im März 2023 3,5 % (Rosstat o.D.a). Die Arbeitslosenrate ist von Region zu Region verschieden (IOM 12.2022). Die versteckte Arbeitslosigkeit ist schwer einzuschätzen. Schwer am Arbeitsmarkt haben es ältere Arbeitnehmer. Besonders schwierig bis prekär ist die Lage für viele Migranten, welche überwiegend gering qualifiziert sind. Sie verdienen oft (wenn überhaupt) nur den Mindestlohn (AA 28.9.2022).
Nordkaukasus
Die sozialwirtschaftlichen Unterschiede zwischen russischen Regionen sind beträchtlich. Die ländliche Peripherie, darunter der Nordkaukasus, ist von Entwicklungsproblemen betroffen (BS 2022). Der Nordkaukasus weist eine hohe Armutsrate (KR 19.5.2023) und eine hohe Arbeitslosigkeit auf (KR 19.5.2023; vgl. ÖB 30.6.2022). In Regionen des Nordkaukasus muss jeder Fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen (Russland-Analysen 21.2.2020a). In vielen nordkaukasischen Regionen liegen Lohnniveaus und Lebensstandard weit unter dem Landesdurchschnitt (BS 2022). Der Nordkaukasus ist von einem hohen Niveau an informeller Beschäftigung von Arbeitnehmern gekennzeichnet (KU 29.3.2023a). Tschetschenien, Dagestan und andere nordkaukasische Gebiete gehören zu denjenigen Regionen Russlands, wo der Mittelschichtanteil unter der Bevölkerung am geringsten ist (Statista 7.2022). Im Jahr 2021 zählten Dagestan, Tschetschenien sowie andere nordkaukasische Regionen zu denjenigen russischen Regionen mit dem niedrigsten Bruttoregionalprodukt (Statista 3.2023).
Tschetschenien ist von großer Armut und Arbeitslosigkeit betroffen (BP 3.9.2021; vgl. AA 28.9.2022). Im Jahr 2021 lebten 19,9 % der Bevölkerung in Tschetschenien unter der Armutsgrenze (Rosstat 27.4.2022). Dank Zuschüssen aus dem russischen föderalen Budget haben sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges deutlich verbessert (AA 28.9.2022). Tschetschenien ist von Moskau finanziell abhängig. Mehr als 80 % des Budgets stammen aus Zuwendungen (ORF 30.3.2022). Die Reallöhne der tschetschenischen Bevölkerung sind im Jahr 2021 um beinahe 5 % gesunken. Am besten bezahlt werden Beamte und Mitarbeiter im Finanzbereich (KR 29.8.2022). In Tschetschenien klafft die Einkommensschere weit auseinander (KU 10.5.2023). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung in Tschetschenien RUB 15.042 [ca. EUR 176], für Kinder RUB 13.386 [ca. EUR 157] und für Pensionisten RUB 11.868 [ca. EUR 139] (Rosstat 10.1.2023).
Dagestan zählt zu den von Armut betroffenen Regionen in Russland (Der Standard 21.5.2022). Im Jahr 2021 lebten 14,7 % der Bevölkerung in Dagestan unter der Armutsgrenze (Rosstat 27.4.2022). Es herrscht Unsicherheit bei der Lebensmittelversorgung (FPRI 15.6.2022). Die Preise für Lebensmittel steigen (KR 29.8.2022). In Dagestan ist die Trinkwasserqualität niedrig (KR 15.4.2023). Die Einkommensschere klafft weit auseinander (KU 10.5.2023). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung in Dagestan RUB 14.258 [ca. EUR 167], für Kinder RUB 13.066 [ca. EUR 153] und für Pensionisten RUB 11.250 [ca. EUR 132] (Rosstat 10.1.2023). Dagestan wird in beträchtlichem Ausmaß subventioniert (FPRI 15.6.2022; vgl. MT 13.7.2022).
Sozialbeihilfen
Artikel 7 der russischen Verfassung definiert die Russische Föderation als Sozialstaat. Gemäß dem Verfassungsartikel 75 wird Bürgern soziale Unterstützung garantiert. Die Verfassung sieht eine obligatorische Sozialversicherung vor (Duma 6.10.2022). Es ist ein System der sozialen Sicherheit und sozialen Fürsorge in Russland vorhanden, welches Pensionen auszahlt und die vulnerabelsten Bürger unterstützt. Zum Kreis vulnerabler Gruppen zählen Familien mit mindestens drei Kindern, Menschen mit Behinderungen sowie ältere Menschen (IOM 12.2022). Der Staat bietet verschiedene Sozialleistungen an, wovon unter anderem folgende Personengruppen profitieren: Veteranen, Waisenkinder, ältere Personen, Alleinerziehende, Erwerbslose, Dorfbewohner (WSP o.D.), Menschen mit Behinderungen, Familien, Pensionisten (SFR o.D.a), Bewohner des hohen Nordens sowie Familienangehörige Militärbediensteter und von infolge der Ausübung ihrer Dienstpflichten verstorbenen Bediensteten des Innenressorts (Regierung o.D.). Das föderale Gesetz 'Über die staatliche Pensionsversorgung in der Russischen Föderation' zählt im § 5 folgende staatliche Pensionsleistungen auf: Pensionen für langjährige Dienste; Alters-; Invaliditäts-; Hinterbliebenen- und Sozialpensionen (RF 28.4.2023a).
Mit 1.1.2023 wurden der Pensions- und der Sozialversicherungsfonds zum neu geschaffenen 'Fonds für Sozial- und Pensionsversicherung der Russischen Föderation' (kurz 'Sozialfonds') verschmolzen (SFR 17.1.2023). Zu den Aufgaben des neu geschaffenen Sozialfonds gehört die Auszahlung von Pensionen und staatlicher finanzieller Hilfen. In den einzelnen Subjekten der Russischen Föderation gibt es territoriale Abteilungen des Sozialfonds (SFR 30.3.2023).
Mutterschaft: Mutterschaftskapital, Kinderbetreuungsgeld usw.
Es gibt ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien (AA 28.9.2022). Die Dauer des Mutterschaftsurlaubs beträgt 140 Tage: 70 Tage vor und 70 Tage nach der Geburt. Bei Mehrlingsgeburten erhöht sich die Dauer des Mutterschaftsurlaubs auf 194 Tage. Die Mutterschaftshilfe beträgt im Jahr 2023 mindestens RUB 74.757,2 [ca. EUR 880] und maximal RUB 383.178,6 [ca. EUR 4.510]. Ist die Versicherungsdauer im Rahmen von Beschäftigungsverhältnissen kürzer als sechs Monate, wird eine finanzielle Unterstützung maximal in der Höhe des Mindestlohns zuerkannt (Duma 6.3.2023). Eine Einmalzahlung wird russischen Staatsbürgerinnen gewährt, wenn sie ihre Schwangerschaft spätestens in der 12. Schwangerschaftswoche bei einer medizinischen Einrichtung registrieren und das Pro-Kopf-Einkommen der Familie das regionale Existenzminimum nicht übersteigt (SFR 27.1.2023). Außerdem gibt es eine Einmalzahlung bei der Geburt eines Kindes (SFR o.D.d).
Das Mutterschaftskapital, welches im Gesetz auch als Familienkapital bezeichnet wird (RF 28.12.2022b), wird vorrangig der Mutter gewährt. Wenn beispielsweise die Mutter verstorben ist, bezieht der Vater das Mutterschaftskapital. Für den Erhalt des Mutterschaftskapitals ist kein Antrag erforderlich (Duma 1.2.2023). Das Mutterschaftskapital ist eine bargeldlose, zweckgebundene Leistung (AA 28.9.2022) und darf für die Ausbildung der Kinder, zur Verbesserung der Wohnverhältnisse, für die Altersvorsorge der Mutter und für die gesellschaftliche Integration beeinträchtigter Kinder verwendet werden. Seit 1.2.2023 beträgt die Höhe des Mutterschaftskapitals RUB 587.000 [ca. EUR 6.908] für das erste Kind und RUB 775.600 [ca. EUR 9.109] für das zweite Kind. Familien mit niedrigem Einkommen können das Mutterschaftskapital in Form monatlicher Auszahlungen für die Kinder erhalten (Duma 1.2.2023). Die monatlichen Auszahlungen enden mit dem dritten Geburtstag des Kindes (SFR 29.3.2023; vgl. Duma 1.2.2023).
Kinderbetreuungsgeld wird zuerkannt, bis das Kind 1,5 Jahre alt ist. Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des Kinderbetreuungsgeldes mindestens RUB 8.591,5 [ca. EUR 101] und maximal RUB 33.281,8 [ca. EUR 391] (Duma 6.3.2023). Im Rahmen des Nationalen Projekts 'Demografie' ist der Ausbau von Kindergärten geplant, um bis Ende 2023 allen Kindern zwischen 1,5 und 3 Jahren einen Kindergarten- bzw. Krabbelstubenplatz zur Verfügung zu stellen (NPR o.D.b). Die Kosten für den staatlichen Kindergarten, welche von den Eltern zu tragen sind, werden von den örtlichen Behörden festgelegt. Die Preise sind unter anderem vom Alter des Kindes abhängig. Die örtlichen Behörden entscheiden, wer in den Genuss einer Kostenrückerstattung kommt. In der Regel werden mindestens 20 % der Kosten für 1 Kind rückerstattet, 50 % für das zweite Kind und 70 % für jedes weitere Kind. In einigen Regionen ist die Rückerstattung der Kosten für Privatkindergärten möglich, beispielsweise in Moskau (MF 7.3.2023). Für bedürftige russische Familien, welche sich dauerhaft auf dem Gebiet der Russischen Föderation aufhalten, gibt es seit 1.4.2022 eine monatliche finanzielle Unterstützung für Kinder im Alter von 8-17 Jahren (PRF 31.3.2022).
Arbeitslosenunterstützung
Personen können sich bei den örtlichen Arbeitsämtern des Föderalen Amts für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Sollte es dem Arbeitsamt nicht gelingen, der arbeitssuchenden Person binnen 10 Tagen einen Arbeitsplatz zu beschaffen, wird der betreffenden Person der Arbeitslosenstatus und somit eine monatliche Arbeitslosenunterstützung zuerkannt (IOM 12.2022). Während der ersten drei Monate erhält die arbeitslose Person 75 % des Durchschnittseinkommens des letzten Beschäftigungsverhältnisses, jedoch höchstens RUB 12.792 [ca. EUR 150]. Während der folgenden drei Monate beträgt die Höhe der Arbeitslosenunterstützung 60 % des Einkommens bzw. höchstens RUB 5.000 [ca. EUR 59]. Die Mindesthöhe der Arbeitslosenunterstützung beträgt RUB 1.500 [ca. EUR 18] (RG 23.11.2022). Um den Anspruch auf monatliche Arbeitslosenunterstützung geltend machen zu können, haben sich die Arbeitslosengeldbezieher alle zwei Wochen im Arbeitsamt einzufinden. Außerdem dürfen sie beispielsweise nicht in eine andere Region umziehen und keine Pensionsbezieher sein. Arbeitsämter gibt es überall im Land. Sie stellen verschiedene Dienstleistungen zur Verfügung. Arbeitssuchende, die beim Rostrud registriert sind, dürfen an kostenlosen Fortbildungskursen teilnehmen, um so ihre Qualifikationen zu verbessern (IOM 12.2022).
Wohnmöglichkeiten, Sozialwohnungen
Artikel 40 der russischen Verfassung garantiert das Recht auf Wohnraum. Laut der Verfassung wird bedürftigen Personen Wohnraum kostenlos oder zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung gestellt (Duma 6.10.2022). Bürger ohne Unterkunft oder mit einer Substandard-Unterkunft und sehr geringem Einkommen dürfen kostenfreie Wohnungen beantragen (IOM 12.2022; vgl. RF 28.4.2023b). Jedoch kann die Wartezeit bei einigen Jahren oder Jahrzehnten liegen. Ein Anrecht auf eine kostenlose Unterkunft haben Waisenkinder und Personen mit schwerwiegenden chronischen Erkrankungen (Tuberkulose etc.). Es gibt Schutzunterkünfte für Opfer von Menschenhandel und häuslicher Gewalt, für alleinerziehende Mütter und andere vulnerable Gruppen. Für gewöhnlich werden diese Unterkünfte von örtlichen NGOs verwaltet. Es gibt keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an (mindestens 12 %) (IOM 12.2022). Die Versorgung mit angemessenem Wohnraum stellt ein Problem dar. Bezahlbare Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für Teile der Bevölkerung unerschwinglich (AA 28.9.2022). Wohnungskosten sind regional unterschiedlich (MK 17.3.2023; vgl. Rosrealt o.D.). Es mangelt an ausreichendem Wohnraum für Familien (AA 28.9.2022).
Medizinische Versorgung
Artikel 41 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert russischen Staatsbürgern das Recht auf kostenlose medizinische Versorgung in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen (Duma 6.10.2022). Eine gesetzliche Grundlage stellt das föderale Gesetz 'Über die Grundlagen des Gesundheitsschutzes der Bürger in der Russischen Föderation' dar (RF 28.4.2023d). Es existiert eine durch präsidentiellen Erlass festgelegte Strategie der Entwicklung des Gesundheitswesens in der Russischen Föderation für den Zeitraum bis 2025 (Präsident 27.3.2023).
Das Basisprogramm der obligatorischen Krankenversicherung gewährleistet die kostenlose medizinische Versorgung für Bürger in allen Regionen Russlands. Das entsprechende Territorialprogramm umfasst Programme auf der Ebene der Subjekte der Russischen Föderation (§ 3 des föderalen Gesetzes 'Über die obligatorische Krankenversicherung') (RF 19.12.2022). Der föderale Fonds der obligatorischen Krankenversicherung ist für die Umsetzung der staatlichen Politik zuständig (Regierung o.D.). Es besteht die Möglichkeit einer freiwilligen Krankenversicherung, welche eine medizinische Versorgung auf höherem Niveau erlaubt (Sber Bank o.D.). Im Rahmen einer freiwilligen Krankenversicherung oder gegen direkte Bezahlung können entgeltliche medizinische Dienstleistungen in staatlichen und privaten Krankenhäusern in Anspruch genommen werden. Die Webseiten der einzelnen medizinischen Einrichtungen enthalten für gewöhnlich Preislisten, so zum Beispiel die Webseite der Poliklinik in Grosnyj/Tschetschenien: http://gr-polik6.ru/uslugi (IOM 12.2022). Für Leistungen privater Krankenhäuser müssen die Kosten selbst getragen werden.
Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos (ÖB 30.6.2022). Bestimmte Patientengruppen erhalten kostenlose oder preisreduzierte Medikamente. Befreit von Medikamentengebühren sind Kinder bis zu einem Alter von drei Jahren; Menschen mit Behinderungen; Veteranen; Patienten mit spezifischen Erkrankungen wie HIV/Aids, onkologischen Erkrankungen, Diabetes, psychiatrischen Erkrankungen usw. (EUAA 9.2022). Regionale Behörden dürfen kostenlose Medikamente für zusätzliche Patientengruppen zur Verfügung stellen (IOM 12.2022). Die Verfügbarkeit von Medikamenten schwankt. Die Beschaffung und Verteilung medizinischer Vorräte ist unzuverlässig, was zu Medikamentenknappheit und starken Preisschwankungen führt. Ursachen dafür sind unter anderem politische Sanktionen, welche Importe begrenzen, und der damit verbundene Umstieg auf einheimische Arzneimittel (EUAA 9.2022). Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können mehrere Monate betragen. Die Notfallversorgung ist nicht mehr überall gewährleistet. Durch Sparmaßnahmen sind in vielen russischen Verwaltungseinheiten die Notfall-Krankenwagen nur mit einer Person besetzt, welche die notwendigen Behandlungen nicht alleine leisten kann. Besonders angespannt ist die medizinische Versorgung für Kinder, es fehlen Physiotherapeuten und Psychologen (AA 28.9.2022). Mitunter gibt es Probleme bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB 30.6.2022).
In der Praxis müssen viele Leistungen von Patienten selbst bezahlt werden, obwohl die medizinische Versorgung für russische Staatsangehörige kostenfrei sein sollte (AA 28.9.2022). Patienten dürfen Beschwerden einreichen, wenn öffentliche medizinische Einrichtungen Gebühren für eigentlich kostenfreie Dienstleistungen einzuheben versuchen. Patientengebühren tragen zu steigender Ungleichheit bei. Zuzahlungen werden entweder von unversicherten Personen geleistet oder dienen dazu, die Leistungsdeckung der obligatorischen oder freiwilligen/privaten Krankenversicherung zu erhöhen. Beispiele für Zuzahlungen sind offizielle Zahlungen im öffentlichen oder Privatsektor oder informelle Zahlungen im öffentlichen Sektor, um beispielsweise eine spezielle Behandlung zu erhalten. Personen mit höherem Einkommen sowie Bewohner wohlhabenderer Städte wie Moskau und St. Petersburg leisten höhere Zuzahlungen, vor allem betreffend stationäre Behandlungen. Allerdings steigt die Höhe der Zuzahlungen gemäß einer Quelle aus dem Jahr 2018 für ambulante Leistungen für ärmere Bevölkerungsschichten rascher an (EUAA 9.2022). 27,76 % der Ausgaben im Gesundheitssektor entfielen im Jahr 2020 auf Zuzahlungen (WB o.D.c.).
Das Gesundheitssystem ist zentralisiert. Öffentliche Gesundheitsdienstleistungen gliedern sich in drei Ebenen: Die Primärversorgung umfasst allgemeine medizinische Leistungen, Notfallversorgung sowie einige spezielle Dienstleistungen. Die Sekundärversorgung beinhaltet eine größere Bandbreite spezieller medizinischer Leistungen, und die Tertiärversorgung bietet medizinische Leistungen auf Hightechniveau an. Wegen Personalmangels sind Mitarbeiter auf der Primärversorgungsebene oft überlastet. Es fehlt an Koordination zwischen den Ebenen Primär- und Sekundärversorgung. Dem öffentlichen Gesundheitssystem mangelt es an finanziellen Mitteln, Patientenorientierung sowie an Personal, vor allem in ländlichen Gebieten. Das medizinische Personal weist Ausbildungsdefizite auf. Viele Bedienstete im medizinischen Bereich sind wenig motiviert, was teilweise auf niedrige Gehälter zurückzuführen ist. Hinsichtlich verfügbarer Ressourcen und Dienstleistungen herrschen beträchtliche regionale Unterschiede (EUAA 9.2022). Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben (ÖB 30.6.2022). Die medizinische Versorgung ist außerhalb der Großstädte in vielen Regionen auf einfachem Niveau und in ländlichen Gebieten nicht überall ausreichend. Ein Drittel der Ortschaften in ländlichen Gebieten verfügt über keinen direkten Zugang zu medizinischer Versorgung. Der Weg zum nächsten Arzt kann in manchen Fällen bis zu 400 Kilometer betragen (AA 28.9.2022). Einrichtungen, die hochmoderne Diagnostik sowie Behandlungen anbieten, sind vorwiegend in den Großstädten Moskau und St. Petersburg zu finden (EUAA 9.2022).
Zurückgekehrte Staatsbürger haben ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann dementsprechend gegen Vorlage eines gültigen russischen Reisepasses oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren) eine Krankenversicherungskarte erhalten. Diese wird von der nächstgelegenen Krankenversicherungszweigstelle am Wohnsitzort ausgestellt (IOM 12.2022). Personen ohne Dokumente haben das Recht auf eine kostenlose medizinische Notfallversorgung (EUAA 9.2022).
Die folgende Webseite enthält eine Auflistung medizinischer Einrichtungen in der Russischen Föderation mitsamt Kontaktdetails: https://gogov.ru/clinics (IOM 12.2022).
Rückkehr
Gemäß Art. 27 der Verfassung und im Einklang mit gesetzlichen Vorgaben haben russische Staatsbürger das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren (Duma 6.10.2022; vgl. RF 14.4.2023). Jedoch kommt es de facto beispielsweise im Zuge von Grenzkontrollen zu Befragungen Einreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen. Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments nach Russland einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen beim Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 28.9.2022). Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme (ÖB 30.6.2022; vgl. EUR-Lex 17.5.2007). Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach welchem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, kann diese Person in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB 30.6.2022).
Rückkehrende haben - wie alle anderen russischen Staatsbürger - Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen (IOM 7.2022). Sozialleistungen hängen vom spezifischen Fall des Rückkehrers ab. Zurückkehrende Staatsbürger haben ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann dementsprechend gegen Vorlage eines gültigen russischen Reisepasses oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren) eine Krankenversicherungskarte erhalten. Diese wird von der nächstgelegenen Krankenversicherungszweigstelle am Wohnsitzort ausgestellt (IOM 12.2022). Von Rückkehrern aus Europa wird manchmal die Zahlung von Bestechungsgeldern für grundsätzlich kostenlose Dienstleistungen (medizinische Untersuchungen, Schulanmeldungen) erwartet. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können nicht als spezifische Probleme von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB 30.6.2022).
Es sind keine Fälle bekannt, in welchen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten (AA 28.9.2022). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien für diejenigen Personen ergeben, welche bereits vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB 30.6.2022). Der Kontrolldruck der Sicherheitsbehörden gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. NGOs berichten von willkürlichem Vorgehen der Polizei bei Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen. Letztere finden vor allem in Tschetschenien auch ohne Durchsuchungsbefehle statt (AA 28.9.2022).
Sollte ein Einberufungsbefehl ergangen sein, ist diesem bei Rückkehr Folge zu leisten (ÖB 12.12.2022). Bei Vorliegen eines Einberufungsbefehls werden russische Staatsangehörige aus Tschetschenien - wie auch andere Bürger - nach Rückkehr in die Russische Föderation eingezogen und nach einer Ausbildung im Ukraine-Krieg eingesetzt (ÖB 25.1.2023). Differenziert wird hier zwischen Wehrdienstleistenden oder Reservisten bzw. zur Mobilisierung einberufenen Personen, denn Grundwehrdienstleistende dürfen nicht im Ukraine-Krieg eingesetzt werden (VB 26.4.2023).
Dokumente
Die von den staatlichen Behörden ausgestellten Dokumente sind in der Regel echt und inhaltlich richtig. Dokumente russischer Staatsangehöriger aus den russischen Kaukasusrepubliken (insbesondere Reisedokumente) enthalten hingegen nicht selten unrichtige Angaben. Gründe hierfür liegen häufig in mittelbarer Falschbeurkundung und unterschiedlichen Schreibweisen von beispielsweise Namen oder Orten. In Russland ist es möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie beispielsweise Staatsangehörigkeitsausweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehle und Gerichtsurteile. Es gibt Fälschungen, die auf Originalvordrucken professionell hergestellt werden und nur mit speziellen Untersuchungen erkennbar sind. Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amts hat die Anzahl der im Asylverfahren vorgelegten Vorladungen, Urteile und Beschlüsse, die sich als Fälschungen herausgestellt haben, in der letzten Zeit erheblich zugenommen (AA 28.9.2022). Das niederländische Außenministerium berichtet über manche gefälschte europäische Visa in echten russischen Reisepässen. In der Vergangenheit traten einerseits Fälle gefälschter Einreisestempel in echten russischen Reisepässen auf und andererseits echte russische Reisepässe, welche im Besitz anderer Personen waren (NL-MFA 4.2021).
Weder die Staatendokumentation, noch der Verbindungsbeamte oder die Österreichische Botschaft können die Bedeutung von Reisepassnummern, welche sich auf die ausstellenden Behörden beziehen, nachvollziehen (VB 4.3.2021).
Tschetschenien
Die Verwaltungsstrukturen in Tschetschenien sind größtenteils wiederaufgebaut, sodass die Echtheit von Dokumenten aus Tschetschenien grundsätzlich überprüft werden kann. Probleme ergeben sich allerdings dadurch, dass bei den kriegerischen Auseinandersetzungen viele Archive zerstört wurden (AA 28.9.2022).
EUAA Länderbericht zur medizinischen Versorgung vom 29.09.2022 (auszugsweise, mit deepl.com ins Deutsche übersetzt)
[..]
2. Das Gesundheitssystem
2.1. Organisation des Gesundheitswesens
Die Verfassung der Russischen Föderation garantiert der Bevölkerung Russlands das Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung und medizinische Hilfe, die aus einem Gesundheitsbudget, Versicherungsbeiträgen und anderen Einnahmen finanziert wird. Seit der Verabschiedung der Verfassung der Russischen Föderation, in der das Recht auf unentgeltliche Gesundheitsversorgung festgeschrieben wurde, und der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung (CMI) im Jahr 1993 hat es mehrere Reformrunden im Gesundheitssektor gegeben.
Die russische Bezeichnung für die CMI lautet Обязательноемедицинское страхование; daher wird die CMI mit dem anglisierten Akronym OMS bezeichnet. Die Verwaltungsorganisation der Versicherung ist Федеральный фонд обязательного медицинского страхования (ФФОМС), die mit dem anglisierten Akronym FFOMS bezeichnet wird. Nach einer Phase der Dezentralisierung des Gesundheitssystems auf kommunale Regierungen in den 1990er-Jahren wurde das System Mitte der 2000er-Jahre aufgrund zunehmender Ungleichheiten in der Politik und der Finanzierung in den einzelnen Gebieten erneut zentralisiert.
Im Jahr 2014 wurde eine Reihe von Maßnahmen zur "Optimierung" des Gesundheitssystems beschlossen, um die Gesundheitskosten durch eine Verbesserung der Effizienz des Gesundheitssystems zu senken. Dazu gehörten die Zusammenlegung von Gesundheitszentren und Krankenhäusern, die Erhöhung der Gehälter des medizinischen Personals und die Ausstattung von Polikliniken und Krankenhäusern mit Hightech-Geräten. Diese Maßnahmen führten jedoch unbeabsichtigt zu einer Verringerung der Gesamtzahl der medizinischen Anbieter, wodurch Anbieter in den privaten Sektor gedrängt wurden, das Netz der Primärversorgung, insbesondere in ländlichen Gebieten, schrumpfte und Patienten vom öffentlichen in das private System gedrängt wurden.
Die im Juni 2019 vorgestellte Strategie für die Entwicklung des Gesundheitswesens in der Russischen Föderation bis 2025 sieht die Prävention von Krankheiten und den Ausbau der Primärversorgung und der Palliativdienste vor, um die unverhältnismäßige Konzentration auf die klinische/stationäre Versorgung und die Notfallversorgung auf Kosten von Prävention, Früherkennung, Rehabilitation und Palliativversorgung zu bekämpfen. Das derzeitige Gesundheitssystem ist jedoch zentralisiert, wobei einige Verwaltungs- und Haushaltsbefugnisse auf die regionale und kommunale Ebene übertragen wurden:
- Das russische Gesundheitsministerium (MoH) entwickelt die staatliche Gesundheitspolitik und -gesetzgebung und setzt sie um. Es beaufsichtigt die Leistungserbringung, die Arzneimittel, die sanitären und epidemiologischen Bedingungen, die Überwachung, den Föderalen Fonds für die medizinische Pflichtversicherung (FFOMS) und andere Aktivitäten.
- Die regionalen Gesundheitsabteilungen und -ministerien sind für die Verwaltung der regionalen Gesundheitsprogramme und -dienste zuständig, einschließlich des Gesundheitsschutzes, des Gesundheitspersonals und der Notfalldienste. Die Exekutivbehörden haben die Budgethoheit über die spezialisierte medizinische Versorgung. Die Regionen sind auch für die Verwaltung und Finanzierung der Primärversorgung zuständig.
- Die lokalen Behörden verwalten das Gesundheitssystem auf kommunaler Ebene, einschließlich der Überwachung und Analyse des Gesundheitszustands der Bevölkerung und der Leistungserbringung, der Koordinierung von Gesundheitsaktivitäten und der Umsetzung kommunaler Programme. Die Exekutivbehörden haben die Befugnis, die Kosten für die Notfallversorgung, die medizinische Grundversorgung in ambulanten und stationären Einrichtungen sowie die medizinische Versorgung von Frauen während der Schwangerschaft, während der Geburt und nach der Entbindung zu planen.
Zwischen den Regionen und Gemeinden gibt es erhebliche Unterschiede bei den verfügbaren Ressourcen und Dienstleistungen. Regionen mit besseren wirtschaftlichen Möglichkeiten ziehen mehr Investitionen an, was zu höheren Gehältern und größeren Steuereinnahmen führt, die wiederum größere Gesundheitsbudgets ermöglichen. Die 10 reichsten Regionen verfügen über fast doppelt so viele Mittel für das Gesundheitswesen wie die ärmsten Regionen. Die großen Gebiete mit geringerer Bevölkerungszahl haben mit einer unzureichenden Versorgung mit medizinischen Einrichtungen und einem Mangel an qualifiziertem Personal und Ausrüstung zu kämpfen.
Einige große staatlich kontrollierte Unternehmen bieten ebenfalls Gesundheitsdienste an. Diese selektiv verfügbaren Dienste werden als 'Departmental Healthcare' bezeichnet und nicht vom russischen Gesundheitsministerium betrieben. Sie werden aus verschiedenen Quellen finanziert und verfügen über eine eigene Infrastruktur, die Polikliniken, Krankenhäuser und Sanatorien umfasst. Kontaktperson 1 erklärte, dass es "fast unmöglich" sei, statistische Daten über diese Komponente des Gesundheitssystems zu erhalten.
2.1.1. Öffentlicher Sektor
Die öffentlichen Gesundheitsdienste sind in Primär-, Sekundär- und Tertiärversorgung unterteilt: Die Primärversorgung umfasst allgemeine medizinische Dienste, Notfallversorgung und einige spezialisierte Dienste; die Sekundärversorgung umfasst ein breiteres Spektrum spezialisierter medizinischer Dienste und die Tertiärversorgung bietet hochtechnische medizinische Dienste. In den Städten sind die Polikliniken die wichtigsten Einrichtungen der Primärversorgung, während in dünn besiedelten, ländlichen Gebieten Feldkliniken (ФАП (FAP) - фельдшерско-акушерский пункт) für die Primärversorgung, Geburtshilfe und chirurgische Versorgung zuständig sind. Diese kleinen Kliniken sind mit den wichtigsten medizinischen Diagnose- und Behandlungsgeräten ausgestattet und werden von einem Feldscher (Arzthelfer) und häufig einer Hebamme betreut.
Das öffentliche Gesundheitssystem verfügt auch über ein ausgedehntes Netz von Krankenhäusern und eine hohe Anzahl von Leistungserbringern pro Patient. Die Art der Krankenhäuser in Russland reicht von großen, gut ausgestatteten Tertiärkrankenhäusern in regionalen Hauptstädten, die ein breites Spektrum an medizinischen und chirurgischen Verfahren abdecken, bis hin zu kleinen, einfachen Krankenhäusern in ländlichen Gebieten, die nur Gesundheitsversorgung für gängige klinische Bereiche anbieten. Spezialisierte Zentren für besondere Probleme wie Herz-Kreislauf- und perinatale Erkrankungen gibt es in der Regel nur in regionalen Hauptstädten. Darüber hinaus befinden sich die staatlichen Forschungs- und Behandlungszentren, die modernste Diagnostik und Behandlung anbieten und oft als Hightech-Medizin bezeichnet werden, vor allem in den Großstädten Moskau oder St. Petersburg.
Die Nutzung der Telemedizin hat ebenfalls exponentiell zugenommen, was durch die COVID-19-Pandemie in den Jahren 2020-2021 noch beschleunigt wurde. Die russische Regierung hat als Reaktion auf die zunehmende globale Nutzung der Informationstechnologie und die zunehmende Vernetzung versucht, die Telemedizin einzuführen. Ein Bestandteil ihres Programms zur Schaffung eines einheitlichen staatlichen Gesundheitsinformationssystems (USHIS) ist der "Termin beim Arzt in digitaler Form", der insbesondere die Verkürzung der Warteschlangen in Polikliniken ermöglicht. In der Praxis verfügen jedoch viele Einrichtungen nicht über ein medizinisches Informationssystem (MIS). In denjenigen, die über ein solches verfügen, stehen einige Ärzte dem Ganzen zwiespältig gegenüber, da einige befürchten, dass die Fernbetreuung von Patienten zu mehr medizinischen Fehlern führt.
Während das geltende Recht vorsieht, dass die Telemedizin nur für Konsultationen zur Vorbeugung, Diagnose und Überwachung des Gesundheitszustands eines Patienten sowie für die Beurteilung der Notwendigkeit eines persönlichen Termins genutzt werden kann, wird diese Regelung derzeit aktualisiert, um ihren breiteren Einsatz in Notfällen oder bei Bedrohung durch eine gefährliche Krankheit zu ermöglichen. Eine Behandlung kann nicht aus der Ferne verschrieben werden, ohne dass zuvor ein Arztbesuch stattgefunden hat. Es gibt keine besonderen Beschränkungen für die Art von Arzneimitteln, die danach durch Telemedizin verschrieben werden können. Elektronische Verschreibungen sind derzeit nur in bestimmten Regionen Russlands verfügbar. Telemedizinische Leistungen sind in der Regel nicht durch die staatliche Krankenversicherung erstattungsfähig, können aber im Rahmen von Pilotprogrammen, die in bestimmten Regionen zur Verfügung stehen und aus den regionalen Haushalten finanziert werden, kostenlos angeboten werden.
Zu den Stärken des öffentlichen Gesundheitssystems Russlands gehören der relativ erfolgreiche universelle Zugang in dringenden und Notfallsituationen sowie die Verfügbarkeit einer kostenlosen und qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung in vielen Städten und regionalen Hauptstädten. Die heutige Bevölkerung hat auch die sowjetische Gesundheitsinfrastruktur mit Polikliniken und Krankenhäusern sowie medizinischen Campus in vielen Städten geerbt.
Zu den allgemeinen Schwächen des öffentlichen Gesundheitswesens gehören mangelnde Finanzierung, Patientenorientierung und Benutzerfreundlichkeit sowie vielerorts eine Unterbesetzung, insbesondere in ländlichen Gebieten. Das medizinische Personal erhält regelmäßig eine unzureichende und veraltete Berufsausbildung, und viele sind schlecht motiviert, was teilweise auf die niedrigen Löhne zurückzuführen ist.
Feldscher sind eine besondere Kategorie von medizinischem Personal, das in Russlands öffentlichem Gesundheitssystem beschäftigt ist. Der Begriff bedeutet übersetzt so viel wie "Arzthelfer". Der Kader der Feldscher entstand im 18. Jahrhundert, um als Armeesanitäter oder Dienstleister in ländlichen Gebieten ohne Ärzte zu dienen. Während der Sowjetzeit und danach ging die Zahl der Feldscher jedoch zurück, da sie zunehmend durch Krankenschwestern ersetzt wurden. Vor allem in ländlichen Gebieten sind Feldscher die ersten, die Patienten untersuchen, körperliche Untersuchungen durchführen, Diagnosen stellen und Fälle behandeln, während sie komplizierte Fälle an Ärzte überweisen. In städtischen Gebieten arbeiten Feldscher typischerweise unter einem Arzt. Feldscher arbeiten auch in Ambulanzen, Abteilungen für Hygiene und Epidemiologie sowie in Labors.
Die Überweisungen zwischen der Primärversorgung und den höheren Versorgungsebenen sind schlecht. Aufgrund begrenzter personeller Ressourcen sind die Primärversorger oft überlastet und nicht in der Lage, einen reibungslosen Übergang zu den höheren Ebenen zu gewährleisten, und es gibt nur wenig Koordination zwischen der Primär- und der Sekundärebene. Während 70 % der DVs Überweisungsbriefe verwenden, ist es weniger üblich, dass Fachärzte nach einer Behandlung mit dem überweisenden Arzt kommunizieren. Darüber hinaus kann der Primärversorger auch umgangen werden, indem dem Spezialisten ein Honorar gezahlt wird.
Ein weiterer wesentlicher Schwachpunkt der öffentlichen Gesundheitsdienste in Russland ist die Einführung kostenpflichtiger Leistungen im traditionell kostenlosen öffentlichen Bereich als Folge der reduzierten Bundesmittel für die gesetzliche Krankenversicherung, der Wirtschaftssanktionen und der Inflation. Öffentliche Einrichtungen können für Leistungen außerhalb des Programms der staatlichen Garantien für die medizinische Versorgung (PSG), das vom OMS abgedeckt wird, eine Gebühr erheben. Infolgedessen kann ein Patient einige Verfahren kostenlos in Anspruch nehmen, während er für andere wie Labortests und Diagnosen bezahlen muss. Es gibt ein Verfahren, mit dem sich Patienten offiziell beschweren können, wenn öffentliche medizinische Einrichtungen versuchen, Gebühren für Leistungen zu erheben, die eigentlich kostenlos sein sollten.
Ein Patient kann auch für qualitativ hochwertigere medizinische Geräte als die von der OMS abgedeckten extra bezahlen. Gebühren können auch dann erhoben werden, wenn der Patient nicht offiziell von einem Gesundheitszentrum an ein Krankenhaus überwiesen wird oder die Kosten nicht von der OMS übernommen werden. Besorgniserregend ist, dass die Patienten möglicherweise nicht wissen, welche Verfahren sie benötigen oder was von der Krankenkasse abgedeckt wird, und daher unnötige Kosten zahlen. Die Patientengebühren tragen auch zu größeren Ungleichheiten bei, da Haushalte mit höherem Einkommen für eine Behandlung zahlen können, die für Haushalte mit niedrigerem Einkommen unerschwinglich ist.
[…]
2.2.2. Infrastruktur des Gesundheitswesens
Seit den 1990er Jahren haben die Reformen die Gesamtzahl der Krankenhäuser verringert und gleichzeitig die Ambulanzkapazitäten erweitert. Ländliche Gebiete waren zwischen 2005 und 2013 besonders betroffen, da die Zahl der Gesundheitseinrichtungen in ländlichen Gebieten um 75 % sank.
Russland verfügt über einen gut funktionierenden medizinischen Notdienst, der mit Ärzten und GA Ärzten besetzt ist. Der Rettungsdienst ist kostenlos und wird vom staatlichen Gesundheitssystem abgedeckt, ist in ganz Russland rund um die Uhr erreichbar und können über die Telefonnummer 03 aus dem Festnetz oder Festnetztelefonen oder 112 von Mobiltelefonen aus erreicht werden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde die Zahl der Notrufstationen um 30 % verringert. Der Rettungsdienst umfasst sowohl allgemeine als auch spezialisierte Ambulanzteams. Ein allgemeines Team besteht aus einem Arzt, einem Rettungssanitäter oder einer Krankenschwester und einem Fahrer zusammen, obwohl in kleineren Städten und den meisten ländlichen Gebieten bestehen die Teams aus einem Feldscher und einer Krankenschwester.
[…]
2.4. Patientenpfade
Die Patienten können ihren Primärversorger, d. h. entweder einen Hausarzt oder einen Allgemeinmediziner, in einer ambulanten Einrichtung auswählen. In erster Linie werden die meisten Patienten die Versorgung bei dem Anbieter in Anspruch nehmen, bei dem sie registriert sind. Wenn ein Patient eine medizinische Behandlung benötigt, ordnet der Leistungserbringer die Behandlung an oder überweist den Patienten bei Bedarf an einen Spezialisten in einer ambulanten Einrichtung. Wenn weitere Untersuchungen erforderlich sind, wird der Patient zur stationären Behandlung in eine spezialisierte Einrichtung überwiesen.
Nach der Entlassung erfolgt die Nachsorge in einer ambulanten Einrichtung.
Es gibt auch einen Trend zur Umgehung des Hausarztes und direkt einen Facharzt aufzusuchen, insbesondere für Gynäkologie/Geburtshilfe, Chirurgie, Urologie, Augenheilkunde, Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde (HNO). Der Nachteil dieses Ansatzes ist die mögliche Unterbrechung der Kontinuität der Versorgung, da die Versorgung von verschiedenen Anbietern erfolgt.
Ein zweiter Patientenpfad ist der Notfallpfad: direkter Zugang zur Notfallversorgung und medizinischen Notdiensten. Patienten, die eine Notfallversorgung benötigen, oder jemand in ihrem Namen ruft das EMS-Team an, erklärt das dringende medizinische Problem und nennt den genauen Standort des Patienten. Diese Anrufe werden von medizinisch geschulten Disponenten entgegengenommen, die in der Regel nur Russisch sprechen. Manchmal werden die Anrufe an einen diensthabenden Arzt weitergeleitet, der über die erforderliche Reaktion entscheidet. Die EMS-Teams können den Patienten am Ort des Geschehens dringend versorgen oder ihn in ein geeignetes diensthabendes Krankenhaus zur sofortigen Überprüfung der Versorgung, gefolgt von einer Krankenhauseinweisung, falls erforderlich veranlassen.
3. Wirtschaftliche Faktoren
3.1. Vom Staat/von der öffentlichen Hand/Behörden bereitgestellte Gesundheitsdienste
Das Programm der staatlichen Garantien für die medizinische Versorgung (PSG) gewährleistet die kostenlose medizinische Versorgung der Verfassung und garantiert einheitliche Leistungen, die über einen einzigen nationalen Pool gezahlt werden. Ein Regierungserlass definiert das Leistungspaket innerhalb mehrerer Parameter:
1. Liste der Krankheiten: fast alle Krankheiten der Internationalen Klassifikation der Krankheiten sind enthalten; die Behandlung ist kostenlos.
2. Arten von Leistungen: Grundversorgung, ambulante Facharztversorgung, ambulante Dienste, ambulante Versorgung, Rehabilitationsversorgung, Palliativversorgung, spezialisierte stationäre Versorgung; die Behandlung ist kostenlos.
3. Hochtechnische Versorgung: umfasst nur selektive Versorgung; tertiäre Versorgung (hochspezialisierte Versorgung, die fortschrittliche und komplexe Behandlungen und Verfahren umfasst) kann nur für bestimmte Krankheiten.
4. Wartezeitbeschränkungen: Primärversorgung durch Bezirksärzte - innerhalb von 24 Stunden; Konsultationen durch ambulante Fachärzte - höchstens 14 Tage; instrumentelle Diagnostik und Laboruntersuchungen - 14 Tage; Computertomographie - 30 Tage; ambulante Versorgung – 20 Minuten nach Eingang eines Anrufs; hochtechnologische Versorgung (Tertiärversorgung) - 30 Tage.
5. Arzneimittel: Die Liste der Empfänger von ambulanten Arzneimitteln und die Liste der 788 unentbehrlichen Arzneimittel sind festgelegt.
Darüber hinaus werden bei der Planung und Evaluierung des PSG Nutzungsziele für jede Art von Pro-Kopf-Finanzierung und Stückkostenziel (normativ) für jede Versorgungsart sowie Kriterien der Versorgungsqualität (es gibt 25 Kriterien für die einzelnen Versorgungsarten) festgelegt. In der Praxis weist das PSG mehrere Einschränkungen auf. Es ist nicht klar definiert, welche Leistungen wie und bei welchen Erkrankungen in Anspruch genommen werden sollen, so dass es Raum für Verhandlungen zwischen Anbieter und Patient gibt. Außerdem haben sich die vom PSG abgedeckten Leistungen im Laufe der Zeit eingeschränkt oder entsprechen nicht den tatsächlichen Kosten.
[…]
3.2. Öffentliche Krankenversicherung, nationale oder staatliche Deckung
Das OMS-System ist an den Wohnort und die Staatsbürgerschaft geknüpft, auch für Arbeitslose. Die OMS hat einen nahezu vollständigen Versicherungsschutz (99,2 %). Es deckt allgemeine medizinische Leistungen, spezialisierte medizinische Versorgung und Arzneimittel der VEDL, ausgenommen Leistungen für sozial bedeutsamen Krankheiten oder High-Tech-Verfahren, die von den Bundes- und Regionalbudgets abgedeckt werden Einige Regionen haben spezielle OMS-Fonds eingerichtet, um den Versicherungsschutz für ihre Einwohner zu erweitern. Einige Patientenkategorien erhalten je nach ihrem Status, ihrer Krankheit und der Dauer ihrer Behandlung kostenlose oder ermäßigte Medikamente. Für den Erhalt von kostenlosen Medikamente, muss ein Patient ein gültiges Rezept vorweisen können.
Inhaber föderaler Privilegien, die zum Erhalt kostenloser Medikamente (oder eines entsprechenden Geldwertes) berechtigt sind:
- Helden der Sowjetunion und der Russischen Föderation, ordentliche Ritter des Ordens des Ruhms und, im Falle ihres Todes, einige ihrer direkten Verwandten
- Helden der Arbeit und vollwertige Ritter des Ordens des Ruhmes der Arbeit
- Kinder im Alter von drei Jahren und darunter
- Behinderte Menschen (Gruppen I, II und III)
Inhaber von Bundesprivilegien, die Anspruch auf kostenlose Medikamente (oder einen entsprechenden Geldwert) haben:
- Behinderte Kinder (können gegebenenfalls auch spezielle Ernährung erhalten)
- Veteranen und einige ihrer Familienangehörigen, wenn die Veteranen verstorben sind
- Ehemalige minderjährige KZ-Häftlinge, Ghettobewohner während des Zweiten Weltkriegs
- Personen, die Strahlenschäden erlitten haben
Regionale Privilegierte (Listen der Kategorien werden je nach Region erstellt), die kostenlose Medikamente erhalten (oder gleichwertigen Geldwert) oder 50 % Ermäßigung auf den Medikamentenpreis:
- wie von der Region beschlossen
Patienten mit bestimmten Krankheiten haben Anspruch auf alle Medikamente kostenlos:
- HIV-Infektion und AIDS
- Onkologische Erkrankungen (unheilbare Patienten haben auch Anspruch auf kostenloses Verbandsmaterial)
- Lepra
- Diabetes (zusätzlich können diese Patienten Ethanol (zur Desinfektion), Insulinpens und -nadeln erhalten, und diagnostisches Material)
- Psychiatrische Erkrankungen (für Patienten, die in spezialisierten Industriebetrieben arbeiten, wo sie in Arbeitstherapie, Erlernen neuer Berufe im Anschluss an eine Beschäftigung in diesen Einrichtungen)
- Schizophrenie und Epilepsie
- Gaucher-Krankheit
- Zystische Fibrose
- Mukopolysaccharidose, Typen I, II und VI
- Nicht spezifizierte plastische Anämie
- Hereditärer Mangel an Faktor II (Fibrinogen), VII (labil) und X (Stewart-Prower)
Patienten mit bestimmten Krankheiten haben Anspruch auf kostenlose Arzneimittel für diese Krankheit:
- Zerebrale Lähmung
- Strahlenkrankheit
- Systemische chronische Hautkrankheiten
- Asthma
- Myokardinfarkt (erste 6 Monate)
- Multiple Sklerose
- Myopathie
- Pierre-Marie-Zerebellar-Ataxie
- Parkinson-Krankheit
- Helminthiasis (für bestimmte Gruppen von Personen)
Patienten, die an bestimmten Krankheiten leiden oder sich bestimmten Verfahren unterzogen haben und die Anspruch auf kostenlose Arzneimittel für ein Jahr haben:
- Myokardinfarkt
- Schlaganfall (zerebraler vaskulärer Unfall, Blutung oder Infarkt)
- Koronararterien-Bypass-Operation (CABG)
- Koronarangioplastie und Stenting
- Herz-Ablationsverfahren
Patienten mit 17 weiteren Krankheiten haben Anspruch auf kostenlose Arzneimittel zur Behandlung bestimmter Symptome:
Hepatozerebrale Dystrophie; Phenylketonurie; akute intermittierende Porphyrie; hämatologische Erkrankungen: Hämoblastose (Krankheiten mit anormaler Vermehrung des blutbildenden Gewebes wie Leukämie), Zytopenie (Krankheiten mit einem Mangel an zellulären Elementen des Blutes wie Granulozytopenie, Leukozytopenie, niedrige Thrombozytenzahl), hereditäre Hämopathien (Blutkrankheiten); Brucellose (schwer); rheumatische Erkrankungen: rheumatisches Fieber, rheumatoide Arthritis, systemischer Lupus erythematodes, Morbus Bechterew (Spondylitis ankylosans); Zustand nach Herzklappenoperationen; Zustand nach Transplantation von Organen und Geweben; Hypophysennanismus (Zwergenwuchs; Kleinwuchs; Wachstumsverzögerung); frühzeitige sexuelle Entwicklung; Myasthenie; chronische urologische Erkrankungen; Syphilis; Glaukom, Katarakt; Addison-Krankheit; Erkrankungen des Darms und urologische Erkrankungen, die zur Bildung eines Stomas führen, sowie primäre Immundefizienz (für Patienten unter 18 Jahren)
3.4. Sonstige soziale Sicherheit
Die soziale Sicherheit in Russland umfasst sowohl die Sozialhilfe (beitragsfreie Programme) als auch die Sozialversicherung (Alters- und Invaliditätsrenten), wobei sowohl Geld- als auch Sachleistungen wie kostenlose oder subventionierte Waren und Dienstleistungen (z. B. Mietzahlungen, Haushaltsgeräte, Medikamente, Transportmittel, usw.) umfasst sind. Die meisten Sozialleistungen werden auf der Grundlage persönlicher oder haushaltsbezogener oder Haushaltsmerkmalen, wie z. B. Mutterschaftsbeihilfen, Anzahl der Kinder oder Behinderungen gewährt. Infolgedessen erhalten schätzungsweise drei Viertel der Bevölkerung in irgendeiner Form Unterstützung. Russland hat kürzlich eine nationale Sozialinitiative angekündigt, die einen auf den Menschen ausgerichteten Ansatz verfolgt und die Sozialdienste auf den Haushalt oder das Individuum ausrichtet. Dies soll die Kundenerfahrung, die Qualität und die Zugänglichkeit von Sozialdiensten verbessern. Mit Ausnahme der Programme, die sich auf besondere Verdienste und besondere Arbeitsbedingungen beziehen, zielen die Sozialhilfeprogramme Russlands darauf ab, den Druck durch Einkommensverluste zu mildern.
[…]
3.4.5. Mindestlohn
Der nationale Mindestlohn beträgt ab dem 1. Januar 2021 12 792 RUB, festgelegt durch das Föderale Gesetz Nr. 473-FZ vom 29. Dezember 2020 festgelegt, was einer Erhöhung um 22 % gegenüber 2019 entspricht. Das Arbeitsgesetzbuch legt fest, dass der Mindestlohn dem Existenzminimum der arbeitenden Bevölkerung entspricht, basierend auf dem Existenzminimum der arbeitenden Bevölkerung im zweiten Quartal des Vorjahres (Föderales Gesetz Nr. 421-FZ vom 28. Dezember 2017).
3.4.6. Maßnahmen zur Armutsbekämpfung
Etwa 13 % der russischen Bevölkerung gelten als arm, wobei die Spanne je nach Region von weniger als 1 % bis über 50 %, je nach Region reicht. Viele sind arm aufgrund von niedrigen Gehältern, die unter der Armutsgrenze liegen: Bis zu zwei Drittel der Armen leben in Haushalten, in denen mindestens ein Mitglied erwerbstätig ist. Die Mehrheit der Armen, 79 % im Jahr 2017, erhält zwar irgendeine Form der sozialen Sicherheit, die Programme nicht vorrangig auf die Armen ausgerichtet, und die Leistungen reichen nicht aus, um sie aus der Armut zu führen. Die meisten Programme der sozialen Sicherheit wählen die Begünstigten auf der Grundlage soziodemografischer Kategorien aus und gewähren unabhängig von der tatsächlichen Bedürftigkeit gleiche Leistungen.
[…]
3.5.1. Kosten für Arztbesuche
Laut Gesundheitsinformations-Webseiten für Expatriates in Russland betragen die Kosten für eine Konsultation eines Haus- oder Facharztes im Allgemeinen 21,27 bis 91,88 EUR, eine zahnärztliche Beratung 42,54 bis 62,11 EUR, eine Übernachtung in einem Krankenhaus 42,54 bis 85,11 EUR und ein privates Einzelzimmer kostet bis zu EUR 463.68. OOP-Ausgaben werden zur Ergänzung der OMS- oder VMI-Versorgung oder von Patienten ohne Versicherung verwendet. Bei den OOP-Ausgaben kann es sich sowohl um offizielle Zahlungen im öffentlichen oder privaten Sektor als auch um informelle Zahlungen im öffentlichen Sektor, um eine bestimmte Behandlung zu erhalten, oder als Gratifikation. In 2015 zahlten 3 % der Patienten häufiger informell als formell und häufiger im öffentlichen als im privaten Sektor (29 % bzw. 22 %). Der Rückgang von 7 % im Jahr 2007 deutet darauf hin, dass die informellen Zahlungen allmählich abnehmen.
3.5.2. Kosten von Medikamenten
Die Medikamente in der VEDL sowie die Medikamente für Menschen mit sieben kostenintensiven Krankheitskategorien sind für einige Patientengruppen kostenlos, aber nicht für alle. Die Preise für Medikamente in der VEDL enthaltenen Medikamente werden vom Staat auf allen Ebenen - vom Hersteller bis zur Apotheke - streng kontrolliert. Für bestimmte Gruppen werden Medikamente vollständig erstattet. Medikamente für lebensbedrohliche und chronisch fortschreitende seltene Krankheiten ("Orphan Drugs") können in einigen Regionen kostenlos sein, je nach regionalem Budget. Allerdings sind nur 4 % der Bevölkerung von diesen durch diese Arzneimittelprogramme abgedeckt. Die Kosten für Orphan-Medikamente sind hoch und stellen eine zunehmende Belastung für die regionalen Haushalte dar: Zwischen 2012 und 2016 sind die Gesamtausgaben für die medizinische Versorgung von Bürgern mit seltenen (Orphan-)Krankheiten von 2,13 Milliarden RUB (24,4 Millionen EUR) auf 15,5 Milliarden RUB (177,61 EUR) gestiegen. Dies entspricht einem Viertel der regionalen Ausgaben für Arzneimittel (einschließlich der eingehenden föderalen Transfers). Die allgemeine Bevölkerung muss für ihre Medikamente selbst aufkommen. Dies gilt insbesondere für die ambulante Versorgung. Etwa die Hälfte der OOP-Ausgaben entfällt auf Arzneimittel und medizinische Artikel. Auch die Verfügbarkeit von Medikamenten ist nach wie vor uneinheitlich. Die Beschaffung und Verteilung von Medikamenten sind unzuverlässig, was zu Engpässen bei der Versorgung mit Arzneimitteln oder zu starken Preisschwankungen führt. Zu den Ursachen für dieses Problem sind unter anderem politische Sanktionen, die Importe einschränken, und die anschließende Verlagerung von importierten zu einheimischen Arzneimitteln.
[…]
Informationen des Verbindungsbeamten des BMI, Moskau vom Oktober 2023
Zu welchem ZeitpunktlZeitraum werden Musterungen/Stellungen durchgeführt? Bei 16-Jährigen, 17-Jährigen ...? Was, wenn ein russischer Staatsbürger immer in Österreich gelebt hat und z.B. im Alter von 25 Jahren nach Russland zurückkehrt? Findet in diesem Fall dann erst die Musterung statt?
Stellungen werden in der Russischen Föderation derzeit zwei Mal im Jahr in den Monaten Jänner und Juli, durchgeführt. Hierzu werden Personen erst ab dem 19. Lebensjahr vorgeladen. Die Wehrpflicht endet mit 27 Jahren.
Ist der zeitliche, im Folgenden geschilderte allgemeine Ablauf korrekt? zuerst Einberufungsbefehl, dann Musterung und dann Grundwehrdienst/Kriegseinsatz (oder festgestellte Untauglichkeit)?
Grundsätzlich korrekt, bis auf den letzten Schritt: Erst nach abgeleistetem Grundwehrdienst können Personen zum Kriegsdienst herangezogen werden.
Ist es möglich, dass Einberufungsbefehle an Cousins o. Ä. der Einberufenen übergeben werden?
Nein.
(Wie) Erfolgen Zustellungen von Einberufungsbefehlen an im Ausland lebende Wehrpflichtige?
Bislang ist es ho. Kenntnis nicht zu Zustellungen im Ausland gekommen.
Wie läuft eine elektronische Zustellung von Einberufungsbefehlen genau ab? Via Gosuslugi? Hat Gosuslugi jeder? Bzw. wie kann man sich bei Gosuslugi registrieren?
Die elektronische Zustellung erfolgt über Gosuslugi. Jeder Staatsbürger der RF hat von Geburt an ein Gosuslugi Konto. In der Gesetzgebung der Russischen Föderation gibt es keinen Rechtsakt, der dazu verpflichtet, sich auf dem Portal Gosuslugi zu registrieren. Die Registrierung auf dem Portal erfolgt freiwillig durch jeden Bürger zu persönlichen Zwecken. Die Registrierung auf dem Portal der staatlichen Dienste ist freiwillig. Es gibt kein Gesetz, das sie zur Pflicht macht. Der Dienst wurde eingerichtet, um das Leben der Menschen zu erleichtern. Jeder kann dort ein Konto eröffnen oder es bei Bedarf löschen. Offenbar können sämtliche Sozialhilfen auch bei den jeweiligen Ämtern „unelektronisch“ beantragt werden - Gosuslugi soll nur zur Vereinfachung dienen.
Können Militärbücher von Personen, die nie Wehrdienst leisteten, leer sein?
Ja.
Können in Tschetschenien Webseiten wie Facebook, Instagram und Twitter via VPNs abgerufen werden?
Grundsätzlich werden immer wieder VPN-Anbieter gesperrt und funktionieren über bspw. das mobile Netzwerk am Mobiltelefon nicht mehr. Dies kann oft durch den Wechsel auf einen neuen/anderen Anbieter umgangen werden - jedoch ist es nur eine Frage der Zeit bis jene Anbieter ebenfalls gesperrt werden. Über WLAN-Netzwerke hingegen scheinen VPN-Dienste noch immer zu funktionieren.
Wie läuft die Zustellung von Militärbüchern ab, vor allem auch im Falle von Personen, die nie Wehrdienst leisteten?
Militärbücher werden nicht zugestellt - eine Abholung bei den jeweiligen Ergänzungsstellen ist vorgesehen/möglich. Meist werden Wehrdienstbücher benötigt, zur Vorlage an einen Arbeit- bzw. Dienstgeber. Mit „Ergänzungsstellen" sind jene Stellen gemeint, die in AUT mit den Ergänzungsabteilungen der Militärkommanden zu vergleichen sind. Diese umfassen die Evidenthaltung der Wehrpflichtigen, Einberufung zur Stellung, Stellung, Einberufung zum Grundwehrdienst, Evidenthaltung der Miliz- und Reservepflichtigen, Einberufungen zu Milizübungen, Einberufung der Reserveplichtigen (Teil- und Mobilmachung).
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Russische Föderation Mobilisierung ohne vorhergehenden Militärdienst; Tschetschenien vom 21.09.2023
Sind tschetschenische Männer über 30, die den Militärdienst nicht abgeleistet haben, der Gefahr ausgesetzt, für den UKRAINE-Krieg mobilisiert zu werden, sei es in TSCHETSCHENIEN, sei es in anderen Teilen der RUSSISCHEN FÖDERATION?
Die Beantwortung Ihrer Frage [Sind … der Gefahr ausgesetzt?] stellt eine Einschätzung dar. COI bzw. die Staatendokumentation liefert ausschließlich faktische Grundlagen zu Hintergrund und Situation in Herkunftsländern, welche die verfahrensführende Stelle bei der eigenverantwortlichen Beurteilung diese Frage unterstützen können. Einschätzungen, Prognosen oder andere Aussagen zur Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Ereignisses oder einer eventuellen Gefährdung im Sinne einer rechtlichen Beurteilung sind für COI-Einrichtungen wie die Staatendokumentation unzulässig. Die oben angeführte Frage kann seitens der Staatendokumentation daher nur indirekt bzw. allgemein beantwortet werden.
Der Verbindungsbeamte in Moskau berichtet Folgendes:
Tschetschenien ist ein integraler Bestandteil der Russischen Föderation, sowie jede andere Teilrepublik, […]. Weiters ist noch immer aufrecht, dass Personen, die keinen Wehrdienst abgeleistet haben, auch nicht mobilisiert werden können.
VB – Verbindungsbeamter des BM.I für Russland [Österreich] (15.9.2023): Auskunft des VB, per E-Mail
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Einberufung zum Wehrdienst vor der Teilmobilmachung vom 08.08.2023
1. Ist es vor der Teilmobilmachung schon zur Einberufung zum Wehrdienst und damit zum Einsatz in der Ukraine gekommen? Wenn ja, welche Voraussetzungen waren notwendig, zumal die betreffende Person bereits das 31. Lebensjahr vollendet hatte und bisher keinen Wehrdienst abgeleistet hat?
Der Verbindungsbeamte des BM.I (VB) in Moskau berichtet: Grundwehrdienstleistende sind gesetzlich von der Teilnahme an Einsätzen im Ausland ausgeschlossen (hier im Beispiel: Ukraine). Das Einberufungsalter für den GWD wird mit 01.08.2023 schrittweise von 25 auf 30 Jahre hinaufgesetzt. Eine Mobilmachung ohne zuvor geleisteten Grundwehrdienst ist nicht möglich. Einberufungen dazu können jedoch im Einzelfall irrtümlich erfolgen, welche bislang bei der Stellung jedoch als Fehler erkannt und folglich widerrufen worden sind.
VB – Verbindungsbeamter des BM.I in der Russischen Föderation [Österreich] (3.8.2023): Auskunft des Verbindungsbeamten des BM.I, per E-Mail
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Ausfolgung eines Einberufungsbefehls vom 08.08.2023
1. Welche Funktion hat das im gegenständlichen Fall vorgelegte Schreiben? Wird es zur Einberufung zum Wehrdienst oder Reservedienst oder Mobilmachung verwendet?
Der Verbindungsbeamte des BM.I (VB) in Moskau berichtet: Dieses Schreiben wird für die Stellung betreffend alle genannten Angelegenheiten verwendet und kann bei Tauglichkeit eine unmittelbare Einberufung nach sich ziehen. Bei Vorliegen einer der normierten Ausnahmegründe erfolgt eine Befreiung.
VB – Verbindungsbeamter des BM.I in der Russischen Föderation [Österreich] (3.8.2023): Auskunft des Verbindungsbeamten des BM.I, per E-Mail
2. Wer kann solche Schreiben entgegennehmen? Ist eine Bestätigung des Empfanges, wie im Schreiben ersichtlich, nicht notwendig?
Der Verbindungsbeamte des BM.I (VB) in Moskau berichtet: Das Schreiben kann nur persönlich entgegengenommen werden. Ausgefolgt werden kann es durch die Stellungskommission oder den Arbeitgeber. Die Entgegennahme hingegen kann ausschließlich persönlich erfolgen.
VB – Verbindungsbeamter des BM.I in der Russischen Föderation [Österreich] (3.8.2023): Auskunft des Verbindungsbeamten des BM.I, per E-Mail
Der Verbindungsbeamte des BM.I (VB) in Moskau teilt in weitere Folge Folgendes mit: […] in der Russischen Föderation können Menschen, denen ein Schriftstück zugestellt wird, nicht mit Befehls- oder Zwangsgewalt dazu gezwungen werden [,] die Übernahme schriftlich zu bestätigen. Ob dies rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann [,] entzieht sich meiner Kenntnis. Ergänzend wäre hinzuzufügen, dass eine allfällige Unterschrift der Übernahme ohnedies nicht auf einem Einberufungsbefehl selbst zu finden wäre, sondern allenfalls auf einer Übernahmebestätigung.
VB – Verbindungsbeamter des BM.I in der Russischen Föderation [Österreich] (3.8.2023): Auskunft des Verbindungsbeamten des BM.I, per E-Mail
3. Welcher Zeitraum liegt zwischen einer Ladung oder einem Einberufungsbefehl und dem befohlenen Erscheinen beim Militärkommissariat? Gibt es dafür gesetzliche Regelungen? Kann es sein, dass dieser Zeitraum (nur) 24 Stunden beträgt: also dass eine Person innerhalb 24 Stunden bzw. zu einem bereits vergangenen Zeitpunkt beim Militärkommissariat zu erscheinen hat?
4. Überprüfen die Behörden nicht, ob der Geladene sich im Inland aufhält?
Der Verbindungsbeamte des BM.I (VB) in Moskau berichtet: Rein rechtlich kann sich der Zeitraum zw. 24 Stunden und vier Wochen erstrecken. In der Praxis kann es auch sein, dass so ein Befehl am Vortag der Stellung zugestellt wird. Es gibt hierzu grundsätzlich rechtliche Bestimmungen die ho. nicht abschließend bekannt sind bzw. zitiert werden können.
Eine Überprüfung, ob der Geladene sich im Inland aufhält, ist laut ho. Kenntnisstand nicht die Regel, sondern kann anlassbezogen erfolgen. Beim Verlassen des Landes hingegen wird sehr wohl überprüft, ob ein gültiger Einberufungsbefehl vorliegt.
VB – Verbindungsbeamter des BM.I in der Russischen Föderation [Österreich] (3.8.2023): Auskunft des Verbindungsbeamten des BM.I, per E-Mail
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Echtheit eines Einberufungsbefehls vom 08.08.2023
Kann zur Echtheit des vorgelegten Einberufungsbefehls eine Aussage getroffen werden? Sind hier Fälschungsmerkmale erkenntlich? Ist diese Urkunde ident mit jenen, die in der Russischen Föderation oder Tschetschenien ausgestellt werden?
Die Abgabe von Einschätzungen und Bewertungen ist laut Methodologie der Staatendokumentation nicht zulässig. Echtheitsüberprüfungen von Dokumenten fallen nicht in die Zuständigkeit der Staatendokumentation. Aufgrund der spezifischen Art der Fragestellung wurde diese an eine externe Stelle zur Recherche übermittelt.
Zusammenfassung:
Gemäß der nachfolgend zitierten Quelle bedarf das Erkennen eventueller Fälschungsmerkmale des fraglichen Einberufungsbefehls dessen Originalvorlage in physischer Form. Bisher konnten ähnliche Vorladungen der Russischen Föderation, die nicht einheitlich waren, auf Grund fehlenden Vergleichs- und Informationsmaterials nicht beurteilt werden.
Einzelquelle:
Dem ARGUS-Informationssystem des BM.I, einer im Rechenzentrum des Innenministeriums gehosteten Webanwendung, die basierend auf einem eigens entwickelten Redaktionssystem den Polizeibeamten und den mit fremdenpolizeilichen Angelegenheiten betrauten Dienststellen Informationen liefert, ist Folgendes zu entnehmen:
Grundsätzlich bedarf es für die Untersuchung einer Urkunde die Vorlage dieser in physischer Form.
Es wurden bisher ähnliche Formulare (Vorladungen) der Russischen Föderation zur Untersuchung vorgelegt, diese konnten jedoch auf Grund fehlendem Vergleichs- und Informationsmaterials nicht beurteilt werden. Es handelt sich um keine einheitlichen Formulare, sondern um Ausdrucke in unterschiedlichen Layouts meist nach dem xerographischen Verfahren (Laserdrucker, Laserkopierer oder dgl.) mit handschriftlichen Eintragungen. Diese Arbeitsweise ist sowohl aus arbeitstechnischer Sicht als auch aus ökonomischer Sicht nicht effizient und ungewöhnlich. Zu den aufgebrachten Nassstempelabdrucken fehlt ebenfalls entsprechendes Vergleichsmaterial.
Um eventuelle Fälschungsmerkmale zu erkennen, bedarf es der Vorlage des fraglichen Einberufungsbefehls im Original.
ARGUS – Ausgleichsmaßnahmen, Routen, Grenzkontroll- und Urkundeninformationssystem [Österreich] (25.7.2023): Auskunft, per E-Mail
Ist es üblich, dass zum Beispiel am Kopf des Schreibens weder die Verständigungsroute noch der Aufenthaltsort und Wohnort angegeben ist?
Der Verbindungsbeamte des BM.I (VB) in Moskau berichtet:
Ja, ist üblich. Es wird persönlich übergeben und betreffend die fehlende Adresse: Das Schreiben kann auch über den Arbeitgeber bspw. ausgefolgt werden.
VB – Verbindungsbeamter des BM.I in der Russischen Föderation [Österreich] (3.8.2023): Auskunft des Verbindungsbeamten des BM.I, per E-Mail
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Militärkommissariat für die Bezirke Schalinskij und Kurtschalojewskij vom 08.08.2023
Gibt es das Militärkommissariat für die Bezirke Schalinskij und Kurtschalojewskij in Tschetschenien tatsächlich?
Darf dieses Militärkommissariat Einberufungsbefehle austeilen?
Zusammenfassung:
Einer nachfolgend zitierten Quelle zufolge besteht in der Retschnaja-Straße 3 in der Stadt Schali in Tschetschenien ein Militärkommissariat. Gemäß einer weiteren Quelle besteht in Tschetschenien ein Militärkommissariat für die Bezirke Schalinskij und Kurtschalojewskij, das aktuell in Betrieb ist und Einberufungsbefehle austeilen darf.
Einzelquellen:
Gemäß Google Maps besteht in der Retschnaja-Straße 3 in der Stadt Schali in Tschetschenien ein Militärkommissariat.
Google Maps (3.8.2023): Suchbegriff „военкомат шалинского и курчалоевского районов“ [Militärkommissariat der Bezirke Schalinskij und Kurtschalojewskij], https://www.google.com/maps/place/Voyennyy+Komissariat/ @43.1442606,45.9196104,15z/data=!4m6!3m5!1s0x404e2d6fae732af5:0x8f3eb5d68a93a9c7!8m2!3d43.1546539!4d45.911097!16s%2Fg%2F11flt2shbr?entry=ttu, Zugriff 4.8.2023
Der Verbindungsbeamte des BM.I (VB) in Moskau beantwortet die Fragestellungen wie folgt:
Ja, gibt es.
Ja, darf es.
VB – Verbindungsbeamter des BM.I in der Russischen Föderation [Österreich] (3.8.2023): Auskunft des Verbindungsbeamten des BM.I, per E-Mail
Der Verbindungsbeamte des BM.I (VB) in Moskau teilt in weiterer Folge mit, dass:
[…] bei dem besagten Militärkommissariat [direkt angerufen wurde]. Es wurde unverzüglich abgehoben und auf die Frage, ob man offen habe und arbeite wurde dies bejaht. Eine abermalige Nachfrage, ob das Militärkommissariat nicht geschlossen sei, wurde verneint.
VB – Verbindungsbeamter des BM.I in der Russischen Föderation [Österreich] (7.8.2023): Auskunft des Verbindungsbeamten des BM.I, per E-Mail
Themenbericht der Staatendokumentation: Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs aus dem COI-CMS, Version 1 vom 02.04.2024
Zusammenfassung (Abstract)
Seit Februar 2022 führt Russland einen großflächigen Angriffskrieg gegen die Ukraine, welcher massive Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine verursacht, wovon Zivilisten betroffen sind. Am 21.9.2022 verkündete ein präsidentieller Erlass eine Teilmobilmachung in der Russischen Föderation. Die Teilmobilmachung zielte nach offiziellen Angaben auf eine Einberufung von 300.000 Reservisten ab. Rekrutierungsstellen wandten landesweit uneinheitliche Mobilisierungskriterien an. Obwohl die russische Regierung mittlerweile zur Strategie einer verdeckten Mobilisierung übergegangen ist, ist der präsidentielle Erlass zur Einleitung der Teilmobilmachung vom 21.9.2022 nach wie vor in Kraft. Es werden verschiedene (darunter finanzielle) Anreize geschaffen, um Freiwillige als Kämpfer für den Ukraine-Krieg zu gewinnen. Das Verteidigungsministerium rekrutiert Strafgefangene. Aktuell existieren keine Hinweise auf eine Teilnahme russischer Grundwehrdiener an Kampfhandlungen in der Ukraine. Grundwehrdiener werden entlang der russisch-ukrainischen Grenze für Grenzsicherungszwecke eingesetzt. Auf Grundwehrdiener wird Druck ausgeübt, Verträge mit dem Militär zu unterzeichnen. In der Ukraine sind russische irreguläre Kampfeinheiten wie private Militärunternehmen im Einsatz, obwohl gemäß der Verfassung der Russischen Föderation die Gründung bewaffneter Formationen verboten ist.
Die Mehrheit russischer gefallener Soldaten in der Ukraine entstammt ärmeren, an der Peripherie gelegenen Regionen. In der russischen Republik Tschetschenien finden Rekrutierungen von Kämpfern in einer allgemeinen Atmosphäre des Zwanges und unter Verletzung von Menschenrechtsstandards statt. In vielen Fällen erfolgen Zwangsrekrutierungen. Andere Tschetschenen wiederum lassen sich durch die versprochenen hohen Geldsummen zu einem Kriegseinsatz verleiten und sehen hierin eine Möglichkeit, der Armut zu entfliehen.
Verschiedene Formen von Kriegsdienstverweigerung (Desertion, Befehlsverweigerung, Vortäuschung einer Krankheit usw.) können gemäß dem Strafgesetzbuch mehrjährige Haftstrafen nach sich ziehen. Es wird über Fälle von Soldaten berichtet, welche vom russischen Militär wegen Befehlsverweigerung hingerichtet wurden. Das Recht auf einen Wehrersatzdienst (Zivildienst) aus Gewissens-, religiösen oder anderen Gründen wird durch die russische Verfassung garantiert. Militärkommissariate und Gerichte lehnen Anträge von Personen, die für einen Ukraine-Einsatz eingezogen worden sind und stattdessen Zivildienst leisten wollen, routinemäßig ab.
Überblick über die russische Armee
Ab einem Alter von 16 Jahren ist der freiwillige Besuch einer Militärschule möglich (EBCO 12.5.2023). Die erstmalige militärische Registrierung von Staatsbürgern erfolgt zwischen Jänner und März desjenigen Jahres, in welches der 17. Geburtstag der jeweiligen Person fällt (VMR RUSS o.D.a; vgl. FGWW RUSS 25.12.2023). Von Registrierungsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt werden die Betroffenen durch einen Einberufungsbefehl des Militärkommissariats. Ziele der militärischen Registrierung sind unter anderem die Feststellung der Tauglichkeit von Personen für den Militärdienst (Ausmusterung), Feststellung des Bildungsniveaus und vorhandener Spezialisierungen. Hierbei erfolgt eine medizinische und psychologische Untersuchung (VMR RUSS o.D.a). Es wird berichtet, dass medizinische Kommissionen regelmäßig Rekruten sowie aktiv im Dienst stehende Soldaten, die in der Vergangenheit an Krankheiten und Verletzungen litten, für tauglich erklären (ISW 27.1.2024). Es existieren folgende Tauglichkeitskategorien (FGWW RUSS 25.12.2023):
A [A]: tauglich
Б [B]: tauglich mit geringfügigen Einschränkungen
В [W]: eingeschränkt tauglich
Г [G]: vorübergehend untauglich
Д [D]: untauglich
Verstöße gegen Militärregistrierungspflichten (darunter das Ignorieren eines Ladungstermins beim Militärkommissariat sowie Nichtbekanntmachung eines neuen Wohnorts) stellen Verwaltungsübertretungen dar und ziehen Geldstrafen nach sich (VStGB RUSS 25.12.2023). Das einheitliche Militärregister sollte ab dem Jahr 2025 voll funktionsfähig sein (RBK 19.9.2023).
Gemäß dem föderalen Gesetz 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' unterliegen männliche russische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 30 Jahren der Einberufung zum Grundwehrdienst. Die Entscheidung, ob eine Person einberufen wird oder nicht, darf erst dann getroffen werden, wenn die betreffende Person mindestens 18 Jahre alt ist (FGWW RUSS 25.12.2023). Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr (ÖB Moskau 30.6.2023; vgl. FGWW RUSS 25.12.2023). Immer wieder wird in Russland über eine Verlängerung der Pflichtdienstzeit von einem auf zwei Jahre diskutiert (Gazeta 3.12.2023; vgl. Wedomosti 3.11.2022). Für gewöhnlich findet zweimal jährlich eine Stellung/Einberufung statt: zwischen 1. April und 15. Juli sowie zwischen 1. Oktober und 31. Dezember. Die Grundlage dafür bilden präsidentielle Erlässe (Ukasy). Ausnahmen sind für folgende Personengruppen vorgesehen: Bewohner bestimmter Gebiete des hohen Nordens werden zwischen 1. Mai und 15. Juli oder zwischen 1. November und 31. Dezember einberufen. Bewohner ländlicher Regionen, welche in Aussaat- und Erntearbeiten involviert sind, werden zwischen 15. Oktober und 31. Dezember einberufen. Pädagogische Mitarbeiter von Bildungseinrichtungen werden zwischen 1. Mai und 15. Juli einberufen (FGWW RUSS 25.12.2023). Der Staatspräsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden sollen. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel der jährlich ins wehrdienstpflichtige Alter kommenden jungen Männer. Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium (ÖB Moskau 30.6.2023). Für Herbst 2022 wurden 120.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen (EPEMD11-12/22 RUSS 30.9.2022), für das Frühjahr 2023 147.000 (EPEMD4-7/23 RUSS 30.3.2023) und für Herbst 2023 130.000 Personen (EPEMD10-12/23 RUSS 29.9.2023). Die Anzahl der aus Tschetschenien Einberufenen ist relativ gering, im Durchschnitt 500 Einberufene pro Einberufungsperiode (ÖB Moskau 21.2.2024). Die Tschetschenen werden über das ganze Land verteilt und verschiedenen Militäreinheiten zugewiesen (VQ RUSS1 4.12.2023).
Gemäß dem föderalen Gesetz zur Aus- und Einreise dürfen zum Wehrdienst einberufene Staatsbürger das Land bis zur Beendigung des Wehrdiensts nicht verlassen (FGAE RUSS 4.8.2023). Darüber wird der Grenzschutz des Inlandsgeheimdienstes FSB (Föderaler Sicherheitsdienst) direkt informiert (BAMF 31.7.2023). Nach Ableistung des Grundwehrdiensts werden die Wehrpflichtigen als Reservisten registriert (EUAA 16.12.2022; vgl. BBC 21.9.2022) und dürfen somit mobilisiert werden (MBZ 31.3.2023; vgl. FGMB RUSS 25.12.2023). Die Ableistung des Grundwehrdienstes ist Voraussetzung für bestimmte (vor allem staatliche) berufliche Laufbahnen (ÖB Moskau 30.6.2023; vgl. VMR RUSS o.D.b).
Gemäß den gesetzlichen Vorgaben sind unter anderem Personen vom Wehrdienst befreit, welche wegen ihres Gesundheitszustands untauglich oder eingeschränkt tauglich sind; Söhne oder Brüder von Personen, welche infolge der Ausübung ihrer militärischen Dienstpflichten verstarben; sowie Personen, die einer Straftat verdächtigt werden. Folgende Staatsbürger dürfen den Wehrdienst aufschieben: wer aus gesundheitlichen Gründen als vorübergehend untauglich eingestuft wurde (Aufschub bis zu einem Jahr); pflegende Angehörige; Alleinerziehende; Familien mit mehreren Kindern; Parlamentsabgeordnete; Studierende usw. (FGWW RUSS 25.12.2023). Viele junge Männer, insbesondere wohlhabenderen Gesellschaftsschichten entstammend, sowie Bewohner von Großstädten versuchen, dem Wehrdienst zu entgehen (EUAA 16.12.2022).
Die russische Armee bietet die Möglichkeit, ihr freiwillig auf Vertragsbasis zu dienen (ÖB Moskau 30.6.2023). Bislang kamen als Vertragssoldaten (kontraktniki) russische Staatsbürger im Alter von 18-40 Jahren sowie ausländische Personen zwischen 18 und 30 Jahren infrage. Im Mai 2022 wurden diese Altersgrenzen bis zum Pensionsalter angehoben (Duma 25.5.2022; vgl. NZZ 25.5.2022). Seit mehreren Jahren sind Bemühungen im Gang, die Armee in Richtung eines Berufsheeres umzugestalten (ISW 5.3.2022; vgl. SWP/Klein/Schreiber 7.12.2022, GS o.D.).
Mehr als 39.000 Frauen gehören den russischen Streitkräften an (Wedomosti 7.3.2023). Frauen sind nicht militärdienstpflichtig (Connection 8.10.2023), doch weiblichen Staatsbürgern steht ein freiwilliger Armeedienst auf Vertragsbasis offen (ÖB Moskau 30.6.2023). Frauen mit bestimmten beruflichen Spezialisierungen gehören [automatisch; Anm. der Staatendokumentation] der Reserve an (FGWW RUSS 25.12.2023). Arbeiten sie in kriegswichtigen Berufen, wie beispielsweise im medizinischen Bereich, können sie für einen Kriegseinsatz herangezogen werden (Connection 8.10.2023).
Gemäß dem föderalen Gesetz 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' werden Einberufungsbefehle in schriftlicher Form und zusätzlich elektronisch übermittelt (FGWW RUSS 25.12.2023). Die elektronische Zustellung erfolgt über das Online-Portal Gosuslugi (VB Moskau 15.9.2023), was eine Registrierung auf https://www.gosuslugi.ru/ erfordert (Gosuslugi o.D.). Die Registrierung geschieht auf freiwilliger Basis (objasnjaem 3.9.2023). Die Einberufungsbefehle werden vom Militärkommissariat per eingeschriebenem Brief verschickt. Möglich ist auch die persönliche Aushändigung des Einberufungsbefehls durch Mitarbeiter des Militärkommissariats oder durch andere für Militärregistertätigkeiten verantwortliche Personen. So die Zustellung eines Einberufungsbefehls auf die hier dargestellte Art und Weise nicht möglich ist, gilt der Einberufungsbefehl spätestens sieben Tage nach dessen Eintragung ins Einberufungsbefehlsregister als zugestellt. Verweigert ein Bürger den Erhalt des per Post zugestellten oder persönlich ausgehändigten Einberufungsbefehls des Militärkommissariats, gilt der Einberufungsbefehl am Tag der Verweigerung als zugestellt. Personen, welche innerhalb von 20 Tagen einem zugestellten Einberufungsbefehl (Ladungstermin) unentschuldigt nicht Folge leisten, unterliegen vorübergehenden Einschränkungen, darunter Unternehmensregistrierungsverbot, Einschränkungen im Umgang mit Immobilien, eingeschränktem Recht auf Fahrzeuglenkung und Verbot eines Kreditvertragsabschlusses (FGWW RUSS 25.12.2023).
Prinzipiell erhalten alle Personen, welche den Wehrdienst abgeleistet haben, ein Militärbuch. Es häufen sich Aussagen, dass immer mehr Männer, die nie gedient haben, mit Vollendung des 25. Lebensjahres ein Militärbuch erhalten. Dieses besagt dann jedoch, dass sie nie dienten und daher auch nicht zur Reserve zählen (ÖB Moskau 21.2.2024). Die Ausstellung eines Militärbuchs (woennyj bilet) erfolgt per Antrag. Das Militärbuch erhält man beim örtlichen Militärkommissariat (Armyhelp 24.3.2023). Es wird nicht zugestellt, sondern muss abgeholt werden. Meist werden Militärbücher zur Vorlage an einen Arbeitgeber benötigt (VB Moskau 15.9.2023).
Im Militärbereich ist Korruption weitverbreitet (USDOS 20.3.2023; vgl. SWP/Klein/Schreiber 7.12.2022, MoD@DefenceHQ 2.2.2024). Die Teilmobilmachung in Russland hat zu Kleinkorruption in Form von Manipulationen des Wehrpflichtigenregisters sowie in Form von Bestechung an Grenzübergängen geführt (FH 24.5.2023). Es wird über mehrere Fälle russischer Soldaten berichtet, welche ihre Kommandanten bestochen haben, um nicht in den Ukraine-Krieg ziehen zu müssen (WG 30.10.2023). In den russischen Militäreinheiten, welche in der Ukraine kämpfen, ist Bestechung weitverbreitet. Für Soldaten besteht die Möglichkeit, Verwundungen, Urlaub, Rotationen und die Nichtteilnahme an Angriffen zu 'kaufen' (NGE 28.11.2023). 2015 wurden die Aufgaben der Militärpolizei erheblich erweitert. Seitdem zählt hierzu ausdrücklich die Bekämpfung der Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade sowie von Diebstählen innerhalb der Streitkräfte. In diesem Zusammenhang ist auch die sogenannte Dedowschtschina ('Herrschaft der Großväter') zu nennen. Hierbei handelt es sich um ein System der Erniedrigung bis hin zur Vergewaltigung von sich ausgeliefert fühlenden Rekruten durch dienstältere Mannschaften in Verbindung mit abgelegenen Standorten und keinem Ausgang bzw. kaum Urlaub. Es ist zu vermuten, dass es nach wie vor zu Delikten kommt, jedoch nicht mehr in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit (AA 28.9.2022). NGOs gehen von Hunderten Gewaltverbrechen pro Jahr im Heer aus. Laut Menschenrechtsvertretern existiert Gewalt in den Kasernen zumindest in bestimmten Militäreinheiten als System und wird von den Befehlshabenden unterstützt bzw. geduldet (ÖB Moskau 30.6.2023). Sexuelle Minderheiten sind in der Armee einem erhöhten Missbrauchsrisiko ausgesetzt (MBZ 31.3.2023). Die Diskreditierung der Armee kann gemäß dem Strafgesetzbuch unter anderem zu Geldstrafen, Zwangsarbeit oder Freiheitsentzug von bis zu sieben Jahren führen (StGB RUSS 14.2.2024). Für Strafverfahren gegen Militärangehörige sind Militärgerichte zuständig, welche in die zivile Gerichtsbarkeit eingegliedert sind. Freiheitsstrafen wegen Militärvergehen sind ebenso wie gewöhnliche Freiheitsstrafen in Haftanstalten oder Arbeitskolonien zu verbüßen. Militärangehörige können jedoch bis zu zwei Jahre in Strafbataillone, die in der Regel zu Schwerstarbeit eingesetzt werden, abkommandiert werden (AA 28.9.2022). Gemäß dem föderalen Gesetz 'Über den Status Militärbediensteter' haben Militärbedienstete das Recht, den Schutz ihrer Interessen auf gerichtlichem Wege einzufordern (FGSM RUSS 26.2.2024).
Laut der Verfassung ist der Präsident der Russischen Föderation Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Verfassung RUSS 6.10.2022). Gemäß einem präsidentiellen Erlass vom 1.12.2023 wurde die russische Armee auf einen Personalstand von 2.209.130 Bediensteten aufgestockt, davon 1.320.000 bewaffnete Kräfte (EPPS RUSS 1.12.2023). Bis 2026 ist eine Erhöhung der Anzahl der bewaffneten Kräfte auf 1,5 Millionen geplant (Iswestija 17.1.2023). Die genauen Zahlen über die Stärke und Neuaufstellungen der russischen Armee sind schwer zugänglich (BAMF 7.8.2023). Im Jahr 2022 betrugen die Militärausgaben 4,1 % des Bruttoinlandsprodukts (SIPRI o.D.). Für das Jahr 2024 sind 38,6 % des Gesamtbudgets für die Bereiche Sicherheit und Verteidigung vorgesehen (Iswestija 13.11.2023). Die Militarisierung der Gesellschaft schreitet schnell voran, was beispielsweise zusehends durch die militärische Erziehung von Kindern in Schulen und diversen Organisationen wie Junarmija erfolgt (ÖMZ/Goiser/Riemer 1.2024). Junarmija ('Jugendarmee') wurde im Jahr 2016 auf Initiative des russischen Verteidigungsministers gegründet und zählt heute laut Eigenangaben mehr als 1.300.000 Mitglieder (Kinder und Jugendliche zwischen acht und achtzehn Jahren) (Junarmija o.D.).
Von Russland begangene Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine
[…]
Der Krieg in der Ukraine verursacht massive Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht (OHCHR 12.12.2023). Von russischen Streitkräften werden willkürliche Angriffe verübt, welche den Tod und Verletzungen von Zivilisten zur Folge haben. Die meisten Todesfälle und Verletzungen unter der Zivilbevölkerung sind auf Angriffe mit Explosivwaffen zurückzuführen. In verschiedenen ukrainischen Regionen, die weiter entfernt von der Frontlinie liegen, kommt es zur Zerstörung von Wohngebäuden und anderen zivilen Objekten durch Explosivwaffen. Vertreter russischer Behörden verüben Kriegsverbrechen - vorsätzliche Tötungen, Folter, sexuelle Gewaltverbrechen (wie Vergewaltigung) sowie Deportation von Kindern in die Russische Föderation (UIUKU 20.10.2023). Dokumentiert wurden mehrere Fälle von Hinrichtungen im Schnellverfahren (OHCHR 4.10.2023). Folter ist weitverbreitet und wird von russischen Behörden systematisch angewandt. Opfer berichten über Folterung durch russische Streitkräfte, die russische Nationalgarde sowie Soldaten der ehemaligen sogenannten Volksrepublik Donezk. Es herrschen unmenschliche Haftbedingungen (UIUKU 20.10.2023). Ukrainische Kriegsgefangene berichten über weitverbreitete Anwendung von Folter zur Gewinnung von Geständnissen und Zeugenaussagen (OHCHR 12.12.2023). In von Russland besetzten ukrainischen Gebieten kommt es zu willkürlichen Verhaftungen von Zivilisten durch russische Streitkräfte und zur Verhängung von Isolationshaft (OHCHR 4.10.2023). Russische Streitkräfte setzen gemäß Berichten verstärkt chemische Waffen in der Ukraine ein und verstoßen damit gegen die Chemiewaffenkonvention (ISW 25.1.2024; vgl. RUSI 20.6.2023). Russland ist ein Mitgliedsstaat der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW o.D.a), welche für die Umsetzung der Chemiewaffenkonvention verantwortlich ist (OPCW o.D.b). Russische Streitkräfte verüben Großangriffe auf die Infrastruktur der Ukraine. Ab Oktober 2022 wurde die ukrainische Energieinfrastruktur Ziel massiver Attacken (UIUKU 20.10.2023). Die massive Zerstörung aufgrund des Kriegs beeinträchtigt die Bereitstellung essenzieller Dienstleistungen, darunter Zugang zu Bildung, Gesundheitsleistungen und die Wasserversorgung (UNOCHA 11.10.2023). Hunderte Gesundheits- und Bildungseinrichtungen wurden durch Angriffe beschädigt oder zerstört. Dutzende Angriffe beschädigten oder zerstörten außerdem Getreideproduktionseinrichtungen. Die Kampfhandlungen verursachen beträchtliche Umweltschäden. Der Einsatz von Explosivwaffen führt zu Luftverschmutzung und Bodenverseuchung (OHCHR 22.2.2024). Wiederholt hat Russland mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht (CUHI/Bentley 1.1.2023).
Am 17.3.2023 erließ der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Putin sowie die Kinderrechtsbeauftragte Russlands Marija Lwowa-Belowa. Ihnen wird das Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Deportation von Kindern aus der Ukraine in die Russische Föderation zur Last gelegt (IStGH 17.3.2023). Unter dem Deckmantel von beispielsweise Ferienlagern und medizinischer Rehabilitation werden ukrainische Kinder nach Russland deportiert. Die russischen Behörden verwenden die Ferienlager dazu, ukrainische Kinder zu indoktrinieren, prorussische und antiukrainische Ideologien zu verbreiten (ISW 30.1.2024) und die Kinder zu russifizieren. In manchen Fällen durchlaufen Kinder eine militärische Ausbildung. Eine solche Ausbildung wird beispielsweise von Lagern in Tschetschenien betrieben (YSPH 14.2.2023). Von den Deportationen sind vor allem Kinder in Einrichtungen betroffen (OHCHR 4.10.2023; vgl. YSPH 14.2.2023), darunter Kinder mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen. Unter den deportierten Kindern befinden sich außerdem Waisen sowie Kinder, deren Eltern die Obsorge entzogen wurde. Dies macht die Wiederauffindung dieser Kinder umso mühsamer. Für viele Eltern und gesetzliche Vormunde gestaltet sich die Rückführung der Kinder in die Ukraine sehr schwierig (OHCHR 4.10.2023). Den deportierten ukrainischen Kindern wird in Russland die russische Staatsbürgerschaft verliehen, sie werden in Pflegefamilien untergebracht usw. (UIUKU 16.3.2023). Zudem werden Adoptionen durchgeführt (YSPH 14.2.2023).
Die UN Human Rights Monitoring Mission gibt an, dass seit Februar 2022 in der Ukraine in etwa 10.000 Zivilisten getötet und 20.000 verletzt wurden. Die Dunkelziffer dürfte um einiges höher sein (OHCHR 22.2.2024). Mit Stand 15.2.2024 wurden gemäß Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) weltweit 6.479.700 ukrainische Flüchtlinge gezählt (UNHCR 15.2.2024).
Mobilisierung
Teilmobilisierung
Am 21.9.2022 verkündete ein Erlass (Ukas) des Präsidenten Putin eine Teilmobilmachung in der Russischen Föderation (EPVT RUSS 21.9.2022). Dieser Erlass definiert die Zielgruppe der zu Mobilisierenden als 'Bürger der Russischen Föderation, welche im Rahmen der Mobilisierung einberufen werden, um in den Streitkräften der Russischen Föderation ihren Dienst zu tun.' Mobilisierte genießen denselben Status wie Vertragssoldaten der Streitkräfte und sind auch hinsichtlich der Entlohnung gleichgestellt. Verträge der Vertragssoldaten behalten bis zum Abschluss der Teilmobilmachung ihre Gültigkeit. Während des Zeitraums der Teilmobilmachung dürfen gemäß dem präsidentiellen Erlass vom 21.9.2022 die Dienstverhältnisse des militärischen Vertragspersonals sowie mobilisierter Personen nur aus folgenden Gründen aufgelöst werden (EPVT RUSS 21.9.2022):
aus Altersgründen - nach Erreichen der Altersgrenze
aus gesundheitlichen Gründen - so die betreffende Person von der militärärztlichen Kommission als untauglich für den Militärdienst eingestuft wurde
im Falle des Vorliegens eines rechtskräftigen Gerichtsurteils über Verhängung einer Freiheitsstrafe (EPVT RUSS 21.9.2022)
Punkt 7 des präsidentiellen Erlasses vom 21.9.2022 enthält ausschließlich den Hinweis 'für den Dienstgebrauch' (EPVT RUSS 21.9.2022). [Der Inhalt des Punkts 7 ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Der für die Öffentlichkeit zugängliche Teil des Erlasses enthält keinerlei Informationen über die Anzahl der zu mobilisierenden Personen, keine Altersgrenzen und auch keine präzise Definition der zu Mobilisierenden; Anm. der Staatendokumentation] Im Rahmen eines Fernsehinterviews konkretisierte am 21.9.2022 der Verteidigungsminister Sergej Schojgu, dass die Teilmobilmachung auf eine Einberufung von 300.000 Reservisten abzielt (RG 21.9.2022). Die zu Mobilisierenden sollten nach Angaben von Präsident Putin in den russischen Streitkräften gedient und bestimmte militärische Spezialisierungen erworben haben (RBK 28.9.2022; vgl. EUAA 16.12.2022). Personen, welche der Reserve angehören, werden im Allgemeinen in drei Kategorien unterteilt, für welche jeweils unterschiedliche Altersgrenzen gelten (FGWW RUSS 25.12.2023). [Eine genaue Darstellung der Reservisten-Kategorien findet sich im Anhang des vorliegenden Themenberichts; Anm. der Staatendokumentation]. Im Falle einer Mobilisierung werden zuerst die Reservisten der Kategorie 1 einberufen (RIA Nowosti 19.10.2022). Die ab September 2022 in Russland durchgeführte Teilmobilisierung betraf in erster Linie Reservisten der Kategorie 1 (TASS 21.9.2022). Zu unterscheiden sind die beiden Begriffe aktive (mobilisierte) und passive (normale) Reserve. Der normalen Reserve gehören alle Personen an, die ihren obligatorischen Wehrdienst abgeleistet haben, aber keine weiteren Verpflichtungen mit dem Verteidigungsministerium eingegangen sind. Diese Reservisten sind, wie oben beschrieben, in drei Kategorien eingeteilt. Im Gegensatz zur passiven Reserve haben sich die Mitglieder der aktiven Reserve zur jährlichen Teilnahme an Reserveübungen verpflichtet (BAMF 24.7.2023). Das föderale Gesetz 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' bezeichnet die aktive und passive Reserve (sapas) als Mobilisierungspersonalreserve (mobilisazionnyj ljudskoj reserw) bzw. Mobilisierungspersonalressource (mobilisazionnyj ljudskoj resurs). Die Mitglieder der Mobilisierungspersonalreserve stehen in einem Vertragsverhältnis zum Verteidigungsministerium (FGWW RUSS 25.12.2023). Gemäß der unabhängigen russischen Zeitung Nowaja gaseta, welche sich auf eine Quelle innerhalb der Präsidialverwaltung beruft, erlaubt der geheim gehaltene Punkt 7 des Erlasses vom 21.9.2022 dem Verteidigungsministerium eine Mobilisierung von bis zu einer Million Personen (NGE 22.9.2022). Den Subjekten (Regionen) der Russischen Föderation wird vom Erlass die Einberufung der zu Mobilisierenden auferlegt (EPVT RUSS 21.9.2022). Gemäß Aussage eines Regionaloberhaupts haben die regionalen Regierungen Schwierigkeiten, den materiellen Bedarf für den Ukraine-Krieg abzudecken (ISW 15.10.2023).
Punkt 9 des präsidentiellen Erlasses vom 21.9.2022 gewährt Staatsbürgern, die im Rüstungsindustriesektor beruflich tätig sind, das Recht auf einen Mobilisierungsaufschub. Diejenigen Personenkategorien, welche ein Recht auf Aufschub haben, werden von der Regierung festgelegt (EPVT RUSS 21.9.2022). Das föderale Mobilisierungsgesetz gewährt unter anderem folgenden Bürgern ein Recht auf einen Mobilisierungsaufschub: Bürgern, deren Gesundheitszustand vorübergehend eine Mobilisierung nicht gestattet (Aufschub für eine Dauer von bis zu sechs Monaten); pflegenden Angehörigen; kinderreichen Familien und Alleinerziehenden; Kindern alleinerziehender, kinderreicher Mütter; Senatoren der Russischen Föderation und Duma-Abgeordneten; sowie Mitgliedern von Freiwilligenformationen. Weiteren Personen oder Personengruppen kann durch präsidentielle Erlässe ein Mobilisierungsaufschub gewährt werden (FGMB RUSS 25.12.2023). Der Herausgabe des präsidentiellen Erlasses zur Einleitung der Teilmobilisierung folgten diverse Erlässe und offizielle Verlautbarungen, welche die von der Mobilisierung ausgenommenen Personengruppen definierten (MBZ 31.3.2023). Ein Mobilisierungsaufschub wurde durch präsidentiellen Erlass Studierenden gewährt (EPGM RUSS 5.10.2022). Ausgeschlossen von der Mobilmachung wurden außerdem Mitarbeiter im Finanz- und Telekommunikationssektor, IT-Bereich sowie Mitarbeiter von Massenmedien (Garant 23.9.2022). Die von der Mobilisierung ausgenommenen Personengruppen waren örtlichen Rekrutierungsstellen nicht immer bekannt, oder aber sie standen in einem Widerspruch zur Gesetzgebung (MBZ 31.3.2023). Mehrmals wurden die Bedingungen für Mobilisierungsfreistellungen und -aufschübe geändert. Dies führte dazu, dass Rekrutierungsstellen landesweit uneinheitliche Mobilisierungskriterien anwandten (EUAA 16.12.2022). Mehrere Quellen bezeichneten die Durchführung der Mobilmachung als 'chaotisch' (DW 30.9.2022; vgl. RFE/RL 2.10.2022, Guardian 1.10.2022, MBZ 31.3.2023). Gemäß weitverbreiteten Berichten wurden Einberufungsbefehle durch die Behörden willkürlich zugestellt (Landinfo 10.8.2023). Es erfolgten Einberufungen von Personen, welche eigentlich von der Mobilmachung ausgenommen waren, darunter Schwerkranke (Kommersant 26.9.2022; vgl. UN News 27.9.2022b). Söhne der russischen Elite zahlten Berichten zufolge hohe Bestechungssummen, um nicht an die Front geschickt zu werden (Standard 28.9.2022). Der Kreml räumte Fehler bei der Umsetzung der Teilmobilmachung ein (Kommersant 26.9.2022).
Mit Stand März 2023 nahmen gemäß dem Verteidigungsminister 1.100 Frauen am Ukraine-Krieg teil (Wedomosti 7.3.2023). Nur wenige Frauen sind auf russischer Seite im Ukraine-Krieg als Frontkämpfer eingesetzt (MoD@DefenceHQ 30.10.2023). Frauen sind hauptsächlich als Ärztinnen und Köchinnen im Kriegseinsatz (WG 23.10.2023).
Mit 28.10.2022 erklärte der Verteidigungsminister die Teilmobilmachung für beendet (TASS 28.10.2022). Am 31.10.2022 bestätigte Putin mündlich das Ende der Teilmobilmachung (Kreml 31.10.2022). Jedoch ist gemäß einer schriftlichen Mitteilung der russischen Präsidialverwaltung vom 30.12.2022 der präsidentielle Erlass zur Einleitung der Teilmobilmachung (21.9.2022) nach wie vor in Kraft (Jabloko 17.1.2023). Auch Dmitrij Peskow, der Kreml-Pressesprecher, bestätigte dies (ISW 20.1.2023). [Der präsidentielle Erlass vom 21.9.2022 enthält keinerlei Hinweise auf das zeitliche Ende der Teilmobilmachung. Bis zum heutigen Tag veröffentlichte die russische Regierung keinen Erlass zur Beendigung der Teilmobilisierung; Anm. der Staatendokumentation]
Die Mobilmachung führte in Russland zu Protesten, Festnahmen (UN News 27.9.2022b) sowie zu einer Ausreisebewegung. Im Zuge der Teilmobilmachung verließen mindestens 700.000 Bewohner Russlands ihr Land (ISW 23.12.2023). Manche Personen, die während der Mobilisierung die Flucht versuchten, trafen an der Grenze auf Sicherheitspersonal, welches ihnen Einberufungsbefehle aushändigte (FH 2023). Gemäß den gesetzlichen Vorgaben dürfen im Militärregister aufscheinende Bürger ab Verkündung einer Mobilmachung ihren Wohnort nur mit behördlicher Erlaubnis verlassen (FGMB RUSS 25.12.2023).
Bei Gerichten eingebrachte Beschwerden gegen Mobilisierungsentscheidungen entfalten keine aufschiebende Wirkung (EUAA 16.12.2022).
Verdeckte Mobilisierung
Wegen der Unpopularität der Teilmobilmachung und der folgenden Massenemigration sind die russischen Behörden von einer Teilmobilmachung zu einer bis heute andauernden sogenannten verdeckten Mobilisierung übergegangen (ISW 23.12.2023). Bereits vor der im September 2022 verkündeten Teilmobilisierung war eine verdeckte Mobilisierung betrieben worden (MBZ 31.3.2023). Unter den Begriff der verdeckten Mobilisierung fallen die Rekrutierung Freiwilliger sowie Zwangseinberufungen von Migranten und kürzlich eingebürgerter russischer Staatsbürger (ISW 23.12.2023). Lokale Behörden führen umfassende Kampagnen, um für den Vertragsdienst in der Armee zu werben. Beispielsweise wenden sich Rekrutierungsstellen direkt telefonisch an die Zielgruppen. Zudem finden sich Plakate in verschiedenen Städten, Werbung auf Social-Media-Plattformen, Regierungswebseiten sowie auf Webseiten und in Social-Media-Kanälen staatlicher Einrichtungen wie Bibliotheken und Schulen (EUAA 3.10.2023). Es werden verschiedene Anreize geschaffen, um Freiwillige als Kämpfer für den Ukraine-Krieg zu gewinnen. In der Moskauer Region wird Freiwilligen eine Summe von 1 Million Rubel [ca. EUR 10.133] geboten, außerdem wird mit Steuerbefreiungen, Arbeitsplatzerhalt und der Aussetzung von Gerichtsverfahren gelockt (RIA Nowosti 20.11.2023). Mit dem Ziel der Planerfüllung konkurrieren Regionen miteinander und werben Vertragssoldaten mit attraktiven finanziellen Angeboten an (NGE 3.8.2023). Seit Beginn des Ukraine-Kriegs wurde der Militärdienst im Rahmen der russischen Streitkräfte immer lukrativer (MoD@DefenceHQ 29.8.2023). Bei Weitem nicht alle Kriegsteilnehmer kommen jedoch schließlich in den Genuss der vom Staat versprochenen hohen Geldsummen, was möglicherweise auf bürokratisches Chaos oder Sparzwänge zurückzuführen ist (NGE 3.8.2023). Verwundete vermelden immer häufiger, dass ihnen die vom Präsidenten versprochenen Gelder verwehrt bleiben (KR 21.1.2024). Unternehmen zahlen Mitarbeitern, welche einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen, Bonusse. Um Rekrutierungsquoten zu erfüllen, stellen Unternehmen gezielt neues Personal ein, das gewillt ist, Militärverträge abzuschließen (ISW 7.7.2023). Das Bildungsministerium empfiehlt russischen Universitäten, Bewerber vorzuziehen, welche am Ukraine-Krieg teilgenommen haben (ISW 30.6.2023). Gemäß einem behördeninternen Dokument werden Regionalbehörden angehalten, unter anderem folgende Personen als Vertragssoldaten für den Ukraine-Krieg zu gewinnen: Migranten, zahlungsunfähige Personen, Erwerbslose und andere vulnerable Bevölkerungsschichten (WG 2.11.2023).
Bewohner besetzter ukrainischer Gebiete sind Zwangsrekrutierungen durch die russische Besatzungsmacht ausgesetzt (ISW 6.11.2023). Russland ruft Bürger benachbarter Staaten dazu auf, sich den Kämpfen in der Ukraine anzuschließen. Online-Inserate in Armenien und Kasachstan bieten Anfangszahlungen von RUB 495.000 [ca. EUR 5.016] und Gehälter ab RUB 190.000 [ca. EUR 1.925]. In einer nördlichen Region Kasachstans wurden Rekrutierungsbemühungen registriert, welche auf die ethnische russische Bevölkerung abzielen (MoD@DefenceHQ 3.9.2023). In der Ukraine kämpfen auf russischer Seite Staatsangehörige verschiedener Länder, darunter von russischen Behörden angeworbene serbische Staatsbürger (ISW 12.1.2024) und Kubaner (ISW 30.9.2023). Auch syrische Söldner wurden zur Unterstützung Russlands für den Kampf in der Ukraine rekrutiert (Rat der EU 22.7.2022).
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bieten juristische Beratung für Soldaten an (ÖB Moskau 30.6.2023; vgl. KK 12.10.2022). Seit Kriegsbeginn erreichten Präsident Putin insgesamt mehr als 180.000 Beschwerden von Bürgern zu Militärthemen. Die meisten der Beschwerden beziehen sich auf die finanzielle Entlohnung von Vertragssoldaten. Mehr als 12.000 Beschwerden betreffen die medizinische Versorgung von Soldaten. Nicht selten werden schwer verwundete Soldaten nach der medizinischen Behandlung gezwungen, abermals in den Krieg zu ziehen. Die präsidentielle Administration gab für Regionalbeamte eine Empfehlung heraus, Proteste von Personen, welche die Rückkehr ihrer mobilisierten Familienangehörigen von der Front fordern, mit Geld zu 'ersticken' (WG 29.11.2023).
Situation von Grundwehrdienern (Rekruten)
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Aktuell gibt es keine Hinweise auf eine Teilnahme russischer Grundwehrdiener an Kampfhandlungen in der Ukraine (ISW 29.12.2023; vgl. ÖB Moskau 21.2.2024, VQ RUSS1 4.12.2023). Immer wieder beteuern die Behörden, dass russische Grundwehrdiener nicht in den Ukraine-Krieg geschickt werden (ISW 29.12.2023; vgl. AP 1.12.2023, ISW 3.10.2023, BBC 5.8.2023, NYT 1.8.2023, Wedomosti 2.11.2022). Am 8.3.2022 schloss Putin die Einbeziehung von Grundwehrdienern in den Ukraine-Krieg aus, jedoch wurde kurz danach publik, dass Grundwehrdiener als Teil von Einheiten der russischen Streitkräfte in der Ukraine stationiert waren. Putin ordnete diesbezüglich Ermittlungen der Militärstaatsanwaltschaft an (Wedomosti 2.11.2022). Im Juni 2022 verkündete die Generalstaatsanwaltschaft die Bestrafung von zwölf Offizieren und die Rückholung von 600 Grundwehrdienern nach Russland (RBK 19.10.2022).
Grundwehrdiener werden auf der von Russland besetzten ukrainischen Halbinsel Krim (EUAA 16.12.2022) sowie für Grenzsicherungszwecke entlang der russisch-ukrainischen Grenze eingesetzt (BBC 5.8.2023; vgl. ISW 8.12.2023, EUAA 16.12.2022, VQ RUSS1 4.12.2023). Auf Grundwehrdiener wird Druck ausgeübt, Verträge mit dem Militär zu unterzeichnen (WG 29.11.2023). Gemäß den gesetzlichen Vorgaben dürfen russische Staatsbürger und auch Bürger anderer Staaten ab einem Alter von 18 Jahren einen Vertrag mit dem russischen Militär abschließen (FGWW RUSS 25.12.2023).
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bieten juristische Beratung für Grundwehrdiener an (ÖB Moskau 30.6.2023; vgl. KK 12.10.2022).
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Situation in Tschetschenien
Tschetschenische Gruppierungen kämpfen in der Ukraine seit Kriegsbeginn (EUAA 16.12.2022). Die vom russischen Präsidenten Putin am 21.9.2022 verkündete Teilmobilmachung (EPVT RUSS 21.9.2022) wurde in Tschetschenien nicht durchgeführt. Ramsan Kadyrow, das Oberhaupt der Republik Tschetschenien, begründete dies damit, dass Tschetschenien bereits überproportional viele Kämpfer in die Ukraine entsandt hatte und somit die Quote übererfüllt war (KK 23.9.2022). Gemäß Kadyrow hat die Mobilisierung in Tschetschenien am 24.2.2022 begonnen (KK 14.12.2023). Bereits vor Beginn der Teilmobilisierung schlug Kadyrow vor, in den Regionen eine Selbstmobilisierung durchzuführen (KK 29.12.2022). Nach Verkündung der Teilmobilmachung durch Putin wandte sich Kadyrow an Kampfunwillige und nannte diese Feiglinge, Verräter und Menschen zweiter Klasse (KK 11.10.2023). Am 21.9.2022 unternahmen mehrere Dutzend Frauen in Tschetscheniens Hauptstadt Grosnyj den Versuch, Antimobilisierungsproteste zu veranstalten. Die Aktion rief Kadyrows Zorn hervor. Alle Protestteilnehmerinnen wurden festgenommen. Söhne, Ehemänner und andere Verwandte der festgenommenen Frauen wurden gezwungen, als 'Freiwillige' in den Krieg zu ziehen. Im Herbst 2022 befahl Kadyrow, Einberufungsbefehle an diejenigen Bevölkerungsteile zu versenden, welche sich der Einberufung zu entziehen versuchen (KR 11.10.2023). Zudem forderte Kadyrow hohe Geldstrafen für Militärdienstverweigerer (KK 18.10.2023). 2022 sprach sich Kadyrow dafür aus, ein Viertel der regionalen Bevölkerung in die Ukraine zu entsenden (KR 11.10.2023).
Legitimierung des Ukraine-Kriegs durch die tschetschenische Führung
Ramsan Kadyrow stellt den Ukraine-Krieg als einen Kampf zwischen 'Satanismus' und Christen/Muslimen dar (KR 25.10.2022), insbesondere als einen Kampf gegen die 'satanische Demokratie' (KK 31.1.2023). Kadyrow erklärt, vor allem die Religion und Familienwerte zu verteidigen (KR 25.10.2022). Der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments Magomed Daudow und Kadyrow bezeichnen den Ukraine-Krieg als Dschihad (KR 17.10.2023; vgl. KK 26.10.2023a) - einen für Muslime heiligen Krieg. Laut Daudow verteidigen die tschetschenischen Kämpfer in der Ukraine den Islam (KR 17.10.2023). Früher hatte Kadyrow den Kampf in der Ukraine immer wieder mit der Verteidigung des ukrainischen Volks begründet. Nach Kriegsbeginn übte Kadyrow wiederholt Kritik am Verteidigungsministerium sowie an dessen Heerführern, jedoch später begann er, sich aufseiten der Behörden zu stellen (KK 26.10.2023a).
Die Bevölkerung Tschetscheniens unterstützt den Krieg größtenteils nicht (SOS-NK 8.6.2023). Es wird berichtet, dass die Tschetschenen mit den Ukrainern sympathisieren. Historisch gesehen standen die Tschetschenen den Ukrainern wohlwollend gegenüber. Bislang existieren keine Untersuchungen bzw. Analysen zum Verhältnis der Tschetschenen zum Ukraine-Krieg. Jedoch ist es möglich, die Stimmung innerhalb der tschetschenischen Bevölkerung indirekt zu messen, indem soziale Netzwerke, Chats usw. untersucht werden. Unter den Tschetschenen genoss der Militärdienst nie ein hohes Ansehen (VQ RUSS2 23.1.2024).
Rekrutierungsmethoden und Zielgruppen der Rekrutierung
In Tschetschenien finden Rekrutierungen von Kämpfern in einer allgemeinen Atmosphäre des Zwanges und unter Verletzung von Menschenrechtsstandards statt. In vielen Fällen erfolgen Zwangsrekrutierungen (EUAA 16.12.2022; vgl. KR 8.6.2023). Behörden in Tschetschenien betreiben eine aggressive Anwerbungskampagne, um Einheimische als 'freiwillige' Kämpfer für die Ukraine zu gewinnen (RFE/RL 10.11.2022). Auf Einzelpersonen in Tschetschenien wird Druck ausgeübt (ÖB Moskau 25.1.2023). Kadyrow betreibt in Bezug auf den Ukraine-Krieg eine intensive mediale Propaganda (VQ RUSS2 23.1.2024). Oft ruft er die Bewohner Tschetscheniens dazu auf, am Ukraine-Krieg teilzunehmen (KK 14.12.2023). Religionsvertreter in Tschetschenien rufen alle Bewohner des Nordkaukasus und generell alle Muslime Russlands dazu auf, in den Ukraine-Krieg zu ziehen (KR 16.9.2023). Kadyrow drohte Kampfunwilligen mit der 'Hölle' (KK 17.7.2022) und ordnete die Streichung von Sozialleistungen für Familien von Kriegsdienstverweigerern an (KK 25.8.2022). Kadyrow und Beamte beleidigen offen Personen, die nicht an die Front wollen (KR 19.2.2023). Kampfunwillige werden von Kadyrow als 'unzuverlässige Schwächlinge' bezeichnet (KR 11.10.2023).
Beamten, Imamen und Kommandanten in Tschetschenien sind Rekrutierungsquoten für den Ukraine-Krieg auferlegt. Um diese normativen Vorgaben erfüllen zu können, werden Tschetschenen in Geheimgefängnissen rechtswidrig festgehalten. So sie einen Kriegseinsatz ablehnen, werden Repressalien gegen ihre Verwandten angedroht (KR 7.8.2023). Häufig werden Einwohner Tschetscheniens von Behördenmitarbeitern (Silowiki) entführt, um ihre Kriegsteilnahme zu erzwingen (KR 7.8.2023; vgl. EUAA 17.2.2023). Einige der Entführten werden vor die Wahl gestellt, entweder in den Krieg zu ziehen (KR 7.8.2023; vgl. AI 28.3.2023, EUAA 17.2.2023) oder Lösegeld zu bezahlen (EUAA 17.2.2023), Folter über sich ergehen zu lassen und wegen fingierter Straftaten gerichtlich verurteilt zu werden (KR 7.8.2023; vgl. AI 28.3.2023, EUAA 17.2.2023). Gedroht wird außerdem mit der Entführung von Familienmitgliedern sowie der Demütigung weiblicher Verwandter. Die Entführten sind meistens junge Männer, welche bereits zuvor im Visier der Behörden waren (EUAA 17.2.2023).
Die meisten tschetschenischen Kriegsteilnehmer entstammen dem ländlichen Raum und leben mit ihren Familien in bescheidenen Verhältnissen. Die versprochenen hohen Geldsummen verleiten sie zu einem Kriegseinsatz. Weiters nehmen am Ukraine-Krieg tschetschenische Berufs- bzw. Vertragssoldaten teil. Diesen machte Kadyrow ein schlechtes Gewissen und erklärte ihnen, es sei nun an der Zeit, ihren in Friedenszeiten empfangenen 'hohen' Sold abzuarbeiten. Außerdem nehmen (noch nicht gerichtlich verurteilte) Gesetzesbrecher am Krieg teil, welchen man einen Kriegseinsatz als 'Freiwillige' nahelegt. Besonders betroffen davon sind Personen, welche sich des Drogenmissbrauchs und Alkoholismus schuldig machten, sowie Diebe (VQ RUSS2 23.1.2024). Ebenfalls unter den unfreiwillig Rekrutierten befinden sich Strafgefangene (EUAA 16.12.2022). Gemäß Berichten kommt es im Zuge von Verkehrskontrollen und Streitigkeiten zwischen Verkehrspolizisten und Autofahrern zur Aushändigung von Einberufungsbefehlen (KK 24.11.2023). Tschetschenen, welchen eine homosexuelle Orientierung unterstellt wird, sind ebenfalls Zielgruppe von Kriegsentsendungen. Gleich ergeht es Personen, die spezielle politische Ansichten vertreten (VQ RUSS2 23.1.2024). Rekrutiert werden hauptsächlich Menschen, welche ihre Unzufriedenheit mit der tschetschenischen Führung oder dem Ukraine-Krieg ausdrückten, und auch Personen, die auf irgendeine Art und Weise in Ungnade gefallen sind (DIS 9.12.2022). In der Praxis kommt es zur Kriegsentsendung von Familienangehörigen illoyaler Tschetschenen (KR 9.8.2023a). Beispielsweise wurden vier Angehörige der Familie Jangulbaew, welche zu den Kritikern des Kadyrow-Regimes zählt, zwangsweise in die Ukraine entsandt. Dasselbe Schicksal ereilte den Bruder eines oppositionellen Bloggers sowie den Neffen des Oberhaupts der 'Exilregierung Itschkerija' (KR 9.8.2023b). Die tschetschenische 'Republik Itschkerija' stellte zwischen 1991 und 2000 ein nicht anerkanntes separatistisches Staatsgebilde dar (KK 12.7.2022). In Tschetschenien ist die Praxis der kollektiven Verantwortung weitverbreitet (KR 2.3.2023). Verwandte väterlicherseits, mütterlicherseits und auch die Familie der Ehefrau können zur Verantwortung gezogen werden (VQ RUSS2 23.1.2024). Es wird über tschetschenische Frauen berichtet, welche als medizinisches Personal in die Ukraine entsandt werden (OFPRA 25.8.2023).
Tschetschenische Kampfeinheiten in der Ukraine
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs wurden in Tschetschenien mehrere Bataillone und Regimenter auf Linie des russischen Verteidigungsministeriums gebildet. Zusätzlich entstanden gemäß Kadyrow mehrere der Nationalgarde untergeordnete Einheiten (KK 18.9.2023). Im November 2022 forderte Kadyrow die tschetschenischen Sufismus-Vertreter auf, Kampfeinheiten nach dem Prinzip der Zugehörigkeit zu religiösen Bruderschaften zu bilden (KK 18.11.2022). Der Sufismus, eine von großer Vielfalt gekennzeichnete Bewegung des islamischen Mystizismus, erfreut sich in Tschetschenien großer Beliebtheit und fügt sich in Kadyrows religiöse Vorstellungen ein (USCIRF 26.10.2021). Im Folgenden eine Aufzählung tschetschenischer Gruppierungen, welche in der Ukraine an Kriegshandlungen beteiligt sind:
Die Mobile Einheit für Sonderaufgaben (OMON) 'Achmat-Grosnyj' ist eine spezielle Einheit innerhalb der russischen Nationalgarde (Rosgwardija) unter dem Kommando von Ansor Bisaew. 'Achmat-Grosnyj' trägt den Namen des ersten Präsidenten Tschetscheniens Achmat Kadyrow (KK 16.5.2023), des im Jahr 2004 ermordeten Vaters von Ramsan Kadyrow (KK 6.8.2023).
OMON 'Achmat-1' ist ebenfalls eine Einheit innerhalb der Nationalgarde (TASS 26.10.2023). Mannschaftsstärke sowie Anzahl der OMON-Einheiten stellen ein Staatsgeheimnis in Russland dar (KK 26.10.2023a).
Die Sondereinheit 'Achmat' (KK 18.9.2023; vgl. KK 26.10.2023a) ist Teil der Streitkräfte des Verteidigungsministeriums (KK 18.9.2023). Kadyrow berichtete im Oktober 2023 über den Eintritt von mehr als 170 früheren Wagner-Kämpfern in die Sondereinheit 'Achmat' (KK 31.10.2023).
Die Bataillone 'Nord-Achmat', 'Süd-Achmat', 'West-Achmat' und 'Ost-Achmat' sind an das Verteidigungsministerium angegliedert (KK 11.11.2023; vgl. KK 26.10.2023a). Wegen des Personalmangels stammen Mitglieder dieser Bataillone hauptsächlich aus tschetschenischen Polizeieinheiten und der Nationalgarde (EUAA 16.12.2022). Auch aktuell (jüngste Meldung vom 24.2.2024) wird über die Beschickung von 'Achmat'-Verbänden mit Polizeieinheiten berichtet (KK 24.2.2024).
Die Regimenter 'Achmat-Russland' und 'Achmat-Tschetschenien' sind an das Verteidigungsministerium angegliedert (KK 20.6.2023; vgl. GI 10.6.2023).
Das 'Scheich-Mansur'-Bataillon ist dem Verteidigungsministerium unterstellt (KK 26.10.2023b).
Das 'Bajsangur-Benoewskij'-Bataillon ist der russischen Nationalgarde unterstellt (KK 26.10.2023b).
Die sogenannten Kadyrowzy nahmen seit 2014 an Kampfhandlungen im ukrainischen Donbas-Gebiet teil (KK 16.5.2023). Unter den Begriff Kadyrowzy fielen früher nur diejenigen Personen (Silowiki) in Tschetschenien, welche formal ein Teil der Nationalgarde waren, jedoch praktisch ausschließlich Ramsan Kadyrow unterstellt waren (KR 7.9.2022; vgl. SWP/Klein/Schreiber 7.12.2022, VQ RUSS2 23.1.2024). Im Laufe der Zeit wurde der Kadyrowzy-Begriff immer mehr erweitert und umfasst heute alle Personen, welche Kadyrows Kurs aktiv unterstützen und rechtfertigen und dessen Persönlichkeitskult vorantreiben (VQ RUSS2 23.1.2024). Die Kadyrowzy stellen die gegenüber den tschetschenischen Behörden loyalste Bevölkerungsgruppe dar (Nowaja gaseta/Milaschina 29.9.2022). Auch umschließt der Begriff Kadyrowzy mittlerweile Bewohner anderer russischer Regionen, die ihre Ausbildung in der tschetschenischen Stadt Gudermes durchlaufen, um als Söldner an die Front geschickt zu werden (KR 7.9.2022; vgl. KR 22.1.2024).
Der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments Magomed Daudow gibt die Anzahl der aus Tschetschenien in die Ukraine entsandten Soldaten mit ungefähr 36.000 an, darunter 16.000 Freiwillige, welche aus allen Regionen Russlands stammen und in der tschetschenischen Stadt Gudermes rekrutiert wurden (KR 2.2.2024) [zu Gudermes siehe weiter unten; Anm. der Staatendokumentation]. Die Objektivität und Richtigkeit der von der tschetschenischen Führung angegebenen Zahlen tschetschenischer Kämpfer in der Ukraine werden von Experten angezweifelt (KR 4.8.2023).
Kadyrow unternimmt Versuche, die Reputation der tschetschenischen Truppen zu verbessern (ISW 24.1.2024). Er hat sich sehr darum bemüht, die Tschetschenen nicht zum Kanonenfutter der russischen Soldaten werden zu lassen, und hat für seine Kämpfer ein relativ sicheres Umfeld inmitten der Kriegshandlungen geschaffen (Nowaja gaseta/Milaschina 29.9.2022; vgl. VQ RUSS2 23.1.2024). Im Jahr 2023 gelang es Kadyrow nicht mehr, seine Kämpfer von der Front fernzuhalten. Dies vor dem Hintergrund, dass die frühere Wagner-Gruppe bzw. deren mittlerweile verstorbener Anführer Ewgenij Prigoschin damals den Wunsch äußerte, sich von der Front zurückzuziehen. Immer wieder nun ist Kadyrow gezwungen, der Verwendung seiner Truppen für Kampfhandlungen an der Frontlinie zuzustimmen. Verluste unter den in der Ukraine kämpfenden Tschetschenen stellen eine potenzielle Bedrohung der Stabilität des von Kadyrow in Tschetschenien etablierten Regimes dar (VQ RUSS2 23.1.2024). Im Februar 2023 forderte Kadyrow von den Regionaloberhäuptern, Angaben zu Opferzahlen in der Ukraine zu unterlassen (KK 14.10.2023). Kadyrow selbst verschweigt die Anzahl der im Ukraine-Krieg gefallenen Tschetschenen (KR 18.2.2023). Ein tschetschenischer Aktivist und Menschenrechtsverteidiger unternahm bald nach Kriegsausbruch einen Versuch der Zählung der tschetschenischen Kriegsopfer. Ein paar Monate später musste er dieses Unterfangen wegen des Risikos für seine freiwilligen Helfer aufgeben. Die Freiwilligen haben Tschetschenien mittlerweile verlassen (KR 31.10.2023). Nach offiziellen Angaben forderte der Ukraine-Krieg bisher das Leben von mindestens 172 tschetschenischen Soldaten (KK 23.2.2024).
Es existieren mehrere tschetschenische Formationen, welche auf ukrainischer Seite kämpfen (KK 26.10.2023a), darunter das 'Scheich-Mansur'-Bataillon [Namensgleichheit mit dem auf russischer Seite kämpfenden Verband - siehe oben; Anm. der Staatendokumentation], das 'Dschochar-Dudaew'-Bataillon, die SOG (Spezielle Operative Gruppe), das 'Chamsat-Gelaew'-Bataillon sowie das OBON-Bataillon der 'Streitkräfte' der 'Tschetschenischen Republik Itschkerija' (KR 20.10.2023).
Militärische Organisation (Ausbildung, Sold)
Regional verantwortlich für die Anwerbung und Entsendung von Ukraine-Kämpfern ist der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments Magomed Daudow (KR 15.8.2023). Eines der Ausbildungszentren für Ukraine-Kämpfer ist die sogenannte Russische Universität für Spezialkräfte (Rossijskij uniwersitet speznasa) in der tschetschenischen Stadt Gudermes (KK 1.7.2023), welche nach Kriegsbeginn zum größten Ausbildungszentrum für Söldner aus dem ganzen Land wurde (KR 29.6.2023). Die Zulassung zu dieser Ausbildungsstätte gestaltet sich zu Kriegszeiten nicht schwierig (WG 29.6.2023). Es ist ausreichend, sich beim Bürgermeisteramt in Grosnyj mit folgenden Worten zu melden: 'Ich bin ein Freiwilliger.' (KK 1.7.2023; vgl. RUSK o.D.). Die Ausbildung ist kostenlos (KR 15.10.2023) und nicht anspruchsvoll (WG 29.6.2023). Nach einer Ausbildungsdauer von in etwa zehn Tagen werden die als Freiwillige bezeichneten Kämpfer in die Ukraine entsandt (KK 1.7.2023).
Die regionale Einmalzahlung, welche in Tschetschenien Ukraine-Kriegsteilnehmern zuteil wird, beträgt RUB 300.000 [ca. EUR 3.040] und zählt zu den höchsten Geldsummen im Land (KR 4.8.2023). In Tschetschenien wird Kämpfern eine Versicherung sowie drei Millionen Rubel [ca. EUR 30.334] im Falle einer Kriegsverwundung versprochen (KR 23.11.2023). Gemäß Berichten werden die Versprechen nicht immer erfüllt (EUAA 16.12.2022). Im Juni 2023 wurden aus dem Krieg zurückgekehrte 'Freiwillige' öffentlich gemaßregelt, da sie sich über ihre Entlohnung beschwert hatten. Diesbezüglich fand ein Treffen mit dem Vorsitzenden des tschetschenischen Parlaments statt, und letztendlich verzichteten die 'Freiwilligen' vor laufender Kamera auf ihre Ansprüche (KR 1.12.2023).
Bewegungsfreiheit / Formen der Kriegsdienstverweigerung
Die Furcht vor dem Erhalt eines Einberufungsbefehls fördert Migrationstendenzen junger Männer. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs ist die Anzahl derjenigen Personen, welche Tschetschenien verlassen haben, beträchtlich gestiegen (DIS 9.12.2022; vgl. KR 15.2.2023). Die Bewegungsfreiheit der Tschetschenen wird verstärkt kontrolliert (SOS-NK 8.6.2023). Einwohner Tschetscheniens treffen auf Probleme beim Erhalt von Reisepässen (KR 19.7.2023; vgl. VQ RUSS2 23.1.2024). Gemäß Angaben von Menschenrechtsverteidigern begann die örtliche Bevölkerung, 'massenhaft' Anträge auf Reisepässe zu stellen, und mehrere der Antragsteller wurden angeblich entführt (KR 11.12.2023). Es wurde damit begonnen, Personen zu Militärübungen einzuberufen, die kürzlich einen Antrag auf einen Reisepass gestellt oder versucht hatten, ihre Meldeanschrift zu ändern (KR 11.10.2023). Wollen Männer im wehrpflichtigen Alter einen Reisepass erhalten, müssen sie mittlerweile über einen Bürgen verfügen und seit Kriegsbeginn außerdem eine Bescheinigung des Militärkommissariats vorlegen. Die Ausstellung einer solchen Bescheinigung zieht sich ohne Angabe von Gründen häufig in die Länge (KR 11.12.2023). Jedoch ist es gemäß Angaben einer vertraulichen Quelle möglich, diese Hürden durch Bestechung zu umgehen (VQ RUSS2 23.1.2024). In Tschetschenien wurden Listen aller ins Ausland ausgereisten Männer erstellt (KR 11.12.2023). Das tschetschenische Republiksoberhaupt hat damit gedroht, Ausgereisten eine spätere Rückkehr nach Tschetschenien zu verbieten (KR 19.2.2023).
Manche Personen versuchen, durch eine Einschreibung an einer Universität in Tschetschenien der Einberufung zu entkommen (VQ RUSS2 23.1.2024). Die Führung Tschetscheniens leugnet Fälle tschetschenischer Soldaten, die den Kriegseinsatz in der Ukraine verweigern (KR 31.12.2022). 2023 bearbeitete das Militärgericht in Grosnyj 78 strafrechtliche Fälle, wovon 47 Fälle Kriegsdienstverweigerung, darunter Desertion, betrafen. Die große Mehrheit der Urteile ist auf der Webseite des Gerichts nicht veröffentlicht (KR 22.1.2024).
Unterstützungsmöglichkeiten durch NGOs
In Tschetschenien gibt es keine NGOs, welche eingezogene Personen unterstützen (EUAA 16.12.2022; vgl. VQ RUSS2 23.1.2024).
[…]
Wehr-/Kriegsdienstverweigerung
Desertion
Gemäß dem russischen Strafgesetzbuch (StGB) bedeutet Desertion das eigenmächtige Verlassen der Militäreinheit oder des Dienstorts mit dem Ziel, dem Wehrdienst zu entgehen. Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren geahndet. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Desertion Folge schwieriger Umstände war. Desertion mit einer Waffe sowie die Desertion einer Personengruppe ziehen eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren nach sich. Desertion während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, im Rahmen bewaffneter Konflikte oder Kampfhandlungen wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren geahndet (StGB RUSS 14.2.2024). In Bezug auf den Ukraine-Krieg vermeidet Russland den Begriff Krieg und spricht stattdessen von einer 'militärischen Spezialoperation' (VMR RUSS 2.2.2024). Desertion ist schwer beweisbar (VQ RUSS1 4.12.2023; vgl. Moscow Times 4.12.2023), da sie im Gegensatz zu anderen Formen der Kriegsdienstverweigerung mit der Absicht verbunden ist, für immer dem Militärdienst den Rücken zu kehren (KK 26.12.2023; vgl. BOGMS RUSS 18.5.2023). Um als Desertion im Sinne des Strafgesetzbuches gelten zu können, ist Vorsatz erforderlich (ÖB Moskau 21.2.2024). Eine Desertion kann nur dann begangen werden, wenn bereits aktiver Wehrdienst geleistet wird. Eine Nichtbefolgung eines Einberufungsbefehls stellt daher nie eine Desertion dar (ÖB Moskau 9.2.2024). Deserteure können Wehrdienstleistende, Vertragssoldaten sowie Reservisten sein. Reservisten können von Militärkommissariaten zu militärischen Übungen einberufen werden. Die bloße Ausreise eines Reservisten ohne Einberufungsbefehl stellt keine Desertion im Sinne des Strafgesetzbuches dar (ÖB Moskau 21.2.2024). Gemäß den gesetzlichen Vorgaben sind russische Staatsbürger jedoch zu einer Meldung an die Behörden verpflichtet, so sie für mehr als sechs Monate aus der Russischen Föderation ausreisen oder in die Russische Föderation einreisen (FGWW RUSS 25.12.2023). Das Ausreiserecht russischer Staatsbürger, die zum Wehrdienst einberufen wurden, darf vorübergehend eingeschränkt werden (bis zur Beendigung des Wehrdienstes) (FGAE RUSS 4.8.2023).
Haben einberufene Reservisten an einer militärischen Übung noch nicht teilgenommen und erscheinen sie (ohne gerechtfertigten Grund) nicht zur Übung, so liegt keine Desertion vor, sondern eine Verwaltungsübertretung. Haben hingegen einberufene Reservisten an der militärischen Übung bereits teilgenommen und erscheinen sie nicht zum weiteren Dienst mit dem Vorsatz, sich auf Dauer dem Militär zu entziehen, liegt Desertion gemäß dem Strafgesetzbuch vor (ÖB Moskau 21.2.2024).
Es wird über tschetschenische Einheiten in der Ukraine berichtet, welche als sogenannte Sperrtrupps eingesetzt werden, um russische Deserteure aufzuhalten (ISW 11.9.2023; vgl. KR 18.12.2023, VQ RUSS2 23.1.2024).
Andere Formen der Wehr-/Kriegsdienstverweigerung
Das Strafgesetzbuch der Russischen Föderation enthält mehrere Paragrafen, welche verschiedene Formen von Wehr-/Kriegsdienstverweigerung unter Strafe stellen (StGB RUSS 14.2.2024):
§ 328 StGB: Die Verweigerung der Wehrdiensteinberufung zieht folgende Strafen nach sich: Geldstrafen von bis zu RUB 200.000 [ca. EUR 2.027] oder in der Höhe von bis zu 18 Monatseinkommen, Zwangsarbeit von bis zu zwei Jahren, Arrest von bis zu sechs Monaten oder Freiheitsentzug von bis zu zwei Jahren.
§ 332 StGB: Wer in Zeiten des Kriegsrechts, zu Kriegszeiten, im Rahmen von Kampfhandlungen oder bewaffneten Konflikten den Befehl eines Vorgesetzten nicht befolgt und die Teilnahme an Kriegs- oder Kampfhandlungen verweigert, wird mit Freiheitsentzug von zwei bis drei Jahren bestraft. Sind die Taten nach § 332 mit schwerwiegenden Folgen verbunden, zieht dies eine Freiheitsstrafe von drei bis zehn Jahren nach sich.
§ 333 StGB: Auflehnung gegen einen Vorgesetzten, verbunden mit Gewalt oder einer Gewaltandrohung, während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, im Rahmen bewaffneter Konflikte oder Kampfhandlungen wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren geahndet.
§ 334 StGB: Gewaltanwendung gegen einen Vorgesetzten während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, im Rahmen bewaffneter Konflikte oder Kampfhandlungen wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren geahndet.
§ 337 StGB: Einberufene oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, im Rahmen bewaffneter Konflikte oder Kampfhandlungen die Militäreinheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als zwei Tagen bis max. zehn Tagen ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren bestraft. Einberufene oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, im Rahmen bewaffneter Konflikte oder Kampfhandlungen die Militäreinheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als 10 Tagen bis max. einem Monat ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von bis zu sieben Jahren bestraft. Einberufene oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, im Rahmen bewaffneter Konflikte oder Kampfhandlungen die Militäreinheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als einem Monat ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von fünf bis zehn Jahren bestraft. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Tat Folge schwieriger Umstände war. Reservisten sind während Militärübungen strafrechtlich für Taten nach diesem Paragrafen (§ 337) verantwortlich.
§ 339 StGB: Wehrdienstverweigerung durch Betrug (Vortäuschung einer Krankheit, Selbstverletzung, Selbstverstümmelung, Fälschung von Dokumenten usw.) wird folgendermaßen geahndet: Wehrdienstbeschränkung von bis zu einem Jahr, Arrest von bis zu sechs Monaten oder Disziplinarhaft (Inhaftierung in einer militärischen Disziplinareinheit) von bis zu einem Jahr. Dieselbe Tat (jedoch mit dem Ziel, sich gänzlich den militärischen Pflichten zu entziehen) zieht eine Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren nach sich. Taten gemäß § 339 StGB, die während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder Kampfhandlungen begangen wurden, ziehen eine Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren nach sich. Zum oben verwendeten Begriff der Wehrdienstbeschränkung: Gemäß dem Strafgesetzbuch bedeutet Wehrdienstbeschränkung eine verminderte Besoldung sowie das Aussetzen dienstlicher Beförderungen.
§ 352.1 StGB: Wer sich freiwillig in Kriegsgefangenschaft begibt, wird mit Freiheitsentzug von drei bis zehn Jahren bestraft. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn sie Maßnahmen für ihre Befreiung ergriffen haben, zu ihrer Truppe oder Dienstort zurückgekehrt sind und wenn sie während der Kriegsgefangenschaft nicht andere Straftaten begangen haben.
Der oben dargestellte § 328 StGB bezieht sich gemäß dem Obersten Gerichtshof ausschließlich auf Personen, die zum Grundwehrdienst einberufen wurden (BOGPF RUSS 18.5.2023). Im Gegensatz zu mobilisierten Reservisten sind Grundwehrdiener bereits ab dem Augenblick eines ignorierten Einberufungsbefehls strafrechtlich belangbar. Mobilisierte Personen sind erst nach Registrierung bei der Rekrutierungsstelle und Zuordnung zu einer Militäreinheit strafrechtlich verantwortlich (MBZ 31.3.2023).
Die Weigerung, in der Ukraine zu kämpfen, ist auf folgende Ursachen zurückzuführen: Ausbildungsmängel, unzureichende Motivation und massive Stressbelastung an der Front (MoD@DefenceHQ 30.8.2023). Als mildernde Umstände in Fällen der Kriegsdienstverweigerung werden ein der Straftat vorangegangener Ukraine-Kriegseinsatz sowie das Versprechen der Angeklagten, abermals in der Ukraine Kriegsdienst zu leisten, gewertet (KR 17.12.2023). Das Versprechen, sich erneut an die Front zu begeben, führt oft zu bedingten Haftstrafen, wodurch eine weitere Kriegsteilnahme unterstützt wird (KR 21.11.2023). Militärgerichtsverfahren enden kaum mit Freisprüchen, sondern hauptsächlich mit Schuldsprüchen (Moscow Times 4.12.2023). Versuche, gegen Urteile zu berufen, sind mehrheitlich erfolglos (KR 24.11.2023a). Das Verhalten der Gerichte ist schwer vorhersehbar (VQ RUSS1 4.12.2023) und von Ort zu Ort verschieden, je nach moralischer Verfassung der Richter (DIS 9.12.2022). Da Gerichte nur einen geringen Teil ihrer Urteile veröffentlichen, gestaltet sich eine Gesamteinschätzung der Urteile schwierig (KR 15.6.2023). Üblicherweise sind Gerichte zur Veröffentlichung all ihrer Entscheidungen verpflichtet - abgesehen von bestimmten Ausnahmen (VQ RUSS1 4.12.2023; vgl. BOGBV RUSS 27.9.2017), worunter Gerichtstexte fallen, welche die nationale Sicherheit betreffen oder einem Staatsgeheimnis oder Ähnlichem unterliegen (FGZI RUSS 14.7.2022). Gerichte haben mit der Führung von Verfahren in absentia begonnen [d. h. Gerichtsverfahren in Abwesenheit des Angeklagten; Anm. der Staatendokumentation] (EUAA 17.2.2023).
Auf dem Gelände russischer Militärübungsplätze finden sich Belege für Foltergruben (Erdlöcher), wohin Personen verbracht werden, die gegen Vorschriften verstoßen. Bei den Betroffenen handelt es sich um russische Soldaten, welche vor der Kriegsentsendung in die Ukraine stehen (WG 24.10.2023). Einige Soldaten wurden von russischen Kommandanten in illegale Haftanstalten in den ukrainischen Regionen Luhansk und Donezk gebracht, da sie sich geweigert hatten, mit ungeeigneter Ausrüstung und unvorbereitet an Sturmangriffen teilzunehmen (ISW 24.10.2023). Es wird über Fälle von Soldaten berichtet, welche vom russischen Militär wegen Befehlsverweigerung hingerichtet wurden. Weiters drohen russische Kommandanten mit der Hinrichtung ganzer Einheiten, so diese versuchen sollten, vor dem ukrainischen Beschuss zurückzuweichen (REU 27.10.2023). Familienangehörige mobilisierter Personen aus der Region Stawropol berichteten im Juni 2023, dass russische Militärkommandanten Mobilisierte ohne Munition in den Kampf schicken und ihnen mit Hinrichtung drohen, so sie sich weigern, Angriffe auszuführen (ISW 26.6.2023).
Internationale und unabhängige russische Medien berichten über zahlreiche Fälle von Vertragssoldaten, welche die Entsendung in die Ukraine verweigern oder die Ukraine verlassen haben, um zu ihren Militäreinheiten in Russland zurückzukehren (EUAA 16.12.2022). Über einen zahlenmäßigen Anstieg der Fälle von Personen, die einen Kriegseinsatz ablehnen, wird berichtet (Sib.R 4.9.2023; vgl. Moscow Times 4.12.2023). Es ist jedoch nicht möglich, genaue Zahlen über Desertion, Kriegsdienstverweigerung und Militärdienstentziehung zu erhalten (Connection 8.10.2023). Gemäß einer Information vom November 2023 bearbeiteten die russischen Militärgerichte seit Mobilisierungsbeginn 4.630 Strafsachen in Bezug auf Paragrafen, welche den Militärdienst betreffen (KR 24.11.2023b).
Organisationen wie Idite lesom unterstützen Personen, die eine Kriegsteilnahme vermeiden wollen (Moscow Times 4.12.2023; vgl. IL o.D.).
Wehrersatzdienst/Zivildienst
Das Recht auf einen zivilen Ersatzdienst (Zivildienst) aus Gewissens-, religiösen oder anderen Gründen wird durch die Verfassung garantiert (Verfassung RUSS 6.10.2022). Eine weitere rechtliche Grundlage stellt das föderale Gesetz 'Über den alternativen Zivildienst' dar (FGZD RUSS 4.8.2023). Ein alternativer Zivildienst kann abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die persönliche (politische, pazifistische) Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person spricht (ÖB Moskau 30.6.2023) oder diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditionelle Lebensweise dem Wehrdienst widerspricht (ÖB Moskau 30.6.2023; vgl. FGZD RUSS 4.8.2023). Gesetzlich ist nicht festgelegt, welche Religionsgemeinschaften einen Anspruch auf Wehrersatzdienst geltend machen dürfen (Kommersant 7.11.2023). Die Zivildienstzeit beträgt 18 Monate als ziviles Personal bei den russischen Streitkräften, hingegen 21 Monate in anderen staatlichen Einrichtungen (VMR RUSS o.D.c; vgl. FGZD RUSS 4.8.2023). Jährlich wird eine Liste von Tätigkeiten, Berufen und Organisationen erstellt, in welchen die Ableistung eines alternativen Zivildiensts möglich ist (FAAB o.D.). Die Anzahl der für den zivilen Ersatzdienst verfügbaren Plätze ist beschränkt und von Jahr zu Jahr unterschiedlich (Kommersant 7.11.2023).
Anträge auf Zivildienstableistung sind beim örtlichen Militärkommissariat spätestens sechs Monate vor den jährlichen Einberufungsterminen zu stellen und müssen eine Begründung enthalten. Die Anträge werden von der Einberufungskommission geprüft (FGZD RUSS 4.8.2023). Wer bereits den Wehrdienst ableistet, darf keinen Antrag auf Wehrersatzdienst mehr stellen (EUAA 16.12.2022). Gemäß dem föderalen Gesetz 'Über den alternativen Zivildienst' kommen für den alternativen Zivildienst nur männliche Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 30 Jahren infrage, welche nicht der Reserve angehören (FGZD RUSS 4.8.2023). Jährlich werden laut Angaben des Verteidigungsministeriums in etwa 2.000 Wehrersatzdienstanträge gestellt, wovon geschätzt die Hälfte positiv beschieden wird (AJ 5.5.2022; vgl. EUAA 16.12.2022). Mit Stand August 2023 absolvierten laut Angaben des Föderalen Amts für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) 1.199 russische Staatsbürger einen alternativen Zivildienst. In Tschetschenien und Dagestan absolvierte gemäß dieser Statistik niemand den alternativen Zivildienst, ebenso in drei weiteren nordkaukasischen Republiken: Inguschetien, Kabardino-Balkarien sowie Karatschai-Tscherkessien. In der Moskauer Region betrug die Anzahl der Zivildienstleistenden 59, in der Stadt Moskau 42 und in St. Petersburg 73 (FAAB 1.8.2023). Der Wehrersatzdienst ist in Russland mit einem Stigma behaftet (AJ 5.5.2022). Von Verletzungen des Rechts auf Wehrdienstverweigerung ist die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas betroffen (EBCO 12.5.2023; vgl. WHJW 21.3.2022). Mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation wurden die Zeugen Jehovas in Russland mitsamt ihren örtlichen religiösen Organisationen als extremistische Organisation eingestuft und aufgelöst. Die Tätigkeit der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation wurde verboten (BOG RUSS 20.4.2017). Lehnt die Einberufungskommission den Antrag einer Person auf Ableistung des Zivildiensts ab, kann diese Entscheidung gerichtlich angefochten werden. Eine solche Anfechtung (Beschwerde) entfaltet bis zur rechtskräftigen gerichtlichen Klärung eine aufschiebende Wirkung (FGZD RUSS 4.8.2023). Gerichtsverfahren mangelt es an Transparenz (EBCO 12.5.2023).
Das Recht Zivildienstleistender auf Ausreise aus der Russischen Föderation darf gesetzlich vorübergehend beschränkt werden. Diese Beschränkung gilt bis zur Beendigung des Wehrersatzdiensts. Die betreffende Person hat für den Zeitraum der Ausreisebeschränkung ihren Reisepass bei der Behörde, die den Reisepass ausgestellt hat, abzugeben bzw. in Verwahrung zu geben (FGAE RUSS 4.8.2023). Ein Reisepass, welcher ohne stichhaltige Gründe innerhalb der vorgegebenen Frist nicht in Verwahrung gegeben wird, verliert seine Gültigkeit und kann an der Grenze beschlagnahmt werden (RS 11.12.2023).
Die Verweigerung der Zivildienstableistung zieht gemäß dem Strafgesetzbuch folgende Strafen nach sich: Geldstrafen von bis zu RUB 80.000 [ca. EUR 811] oder in der Höhe von bis zu sechs Monatseinkommen, bis zu 480 Stunden Pflichtarbeiten oder Arrest von bis zu sechs Monaten (StGB RUSS 14.2.2024).
Wehrersatzdienst in Verbindung mit Mobilmachung
Wer den alternativen Zivildienst abgeleistet hat, zählt zur Reserve (FGWW RUSS 25.12.2023) und darf somit mobilisiert werden, so kein Recht auf einen Mobilisierungsaufschub besteht. Gemäß dem Mobilisierungsgesetz ist bei Verkündung einer Mobilmachung die Fortsetzung des zivilen Ersatzdienstes in Einrichtungen der russischen Streitkräfte sowie in anderen militärischen Einrichtungen gestattet. Staatsbürger, welche zu Zeiten einer Mobilmachung den zivilen Ersatzdienst in nichtmilitärischen Einrichtungen absolvieren, können als ziviles Personal in Einrichtungen der russischen Streitkräfte sowie in anderen militärischen Einrichtungen zum Einsatz kommen (FGMB RUSS 25.12.2023). Militärkommissariate und Gerichte lehnen Anträge von Personen, die für einen Ukraine-Einsatz eingezogen worden sind und stattdessen Zivildienst leisten wollen, routinemäßig ab. Zur Begründung heißt es (AI 28.3.2023; vgl. Forum 9.10.2023), dass es keine spezifischen gesetzlichen Zivildienstregelungen in Zeiten einer Teilmobilmachung gibt (AI 28.3.2023; vgl. FH 24.5.2023, Forum 9.10.2023). Gemäß Medienberichten vom November 2023 hat der Oberste Gerichtshof einem Mobilisierten das Recht auf Ableistung eines alternativen Zivildienstes zugesprochen. Der Betreffende hatte sich auf seinen religiösen Glauben berufen (BAMF 27.11.2023; vgl. Meduza 23.11.2023).
[…]
Anhang: Reservisten: Kategorisierung / Altersgrenzen
militärische Ränge | Kategorie 1 | Kategorie 2 | Kategorie 3 |
Soldat, Matrose, Unteroffizier (serschanty), Maat (starschiny), Fähnrich (praporschtschiki, mitschmany) | 40 Jahre | 50 Jahre | 55 Jahre |
Nachwuchsoffizier (mladschie ofizery) | 50 Jahre | 55 Jahre | 60 Jahre |
Major, Korvettenkapitän (kapitany 3 ranga), Oberstleutnant (podpolkowniki), Fregattenkapitän (kapitany 2 ranga) | 55 Jahre | 60 Jahre | 65 Jahre |
Oberst (polkowniki), Kapitän zur See (kapitany 1 ranga) | 60 Jahre | 65 Jahre |
|
höherer Offizier | 65 Jahre | 70 Jahre |
|
Zur Reserve zählende Frauen gehören der Kategorie 3 an. Für weibliche Offiziere gilt eine Altersgrenze von 50 Jahren, für alle anderen militärischen Ränge gilt in Bezug auf weibliche Militärbedienstete eine Altersgrenze von 45 Jahren (FGWW RUSS 25.12.2023).
Für Staatsbürger, welche Teil der sogenannten reserw sind, gelten je nach Dienstgrad bzw. militärischem Rang folgende Altersgrenzen (FGWW RUSS 25.12.2023):
höherer Offizier: 70 Jahre
Stabsoffizier (starschij ofizer): 65 Jahre
Nachwuchsoffizier (mladschie ofizery): 60 Jahre
andere Dienstgrade: 55 Jahre
Wer die Altersgrenze erreicht, scheidet aus der Reserve aus und wird aus dem Militärregister entfernt (FGWW RUSS 25.12.2023).
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: TSCHETSCHENIEN/RUSSLAND: Hüftdysplasie vom 12.04.2024
Patient: weiblich, 7 Jahre alt, Diagnose(n): Hüftdysplasie am linken Bein, bereits erfolgte Behandlung(en): Im September 2022 wurde eine „Salter-Beckenosteotomie bei Hüftdysplasie (Q65.8) links durchgeführt. Die Entfernung der eingesetzten Materialien (Stifte und Osteosynthesematerial) erfolgte im Mai 2023. Sie erlitt in weitere Folge eine Fraktur des rechten Mittelfußes (S92.3). Im Februar 2024 ist eine Kontrolle empfohlen. Medikamente (Wirkstoffe): Dolgit 200mg
TSCHETSCHENIEN
Können nachfolgende Kontrollen in der Orthopädie aufgrund der durchgeführten „Salter-Osteotomie“ und den entfernten eingesetzten Materialien sowie aufgrund einer Mittelfußfraktur in Tschetschenien durchgeführt werden? Wenn ja, wo und mit welchen Kosten ist zu rechnen?
Sind Physiotherapien für Kinder in Tschetschenien möglich. Wenn ja, wo und mit welchen Kosten sind zu erwarten?
Ist das Medikament, bzw. der Wirkstoff in Tschetschenien verfügbar? Wie hoch belaufen sich die Kosten?
Aufgrund der medizinisch-spezifischen Art der Fragestellungen wurden diese an MedCOI zur Recherche übermittelt.
Zusammenfassung:
Der nachfolgend zitierten Quelle AVA 17836 ist zu entnehmen, dass folgende Behandlungen und Untersuchungen in Grosny in Tschetschenien verfügbar sind:
• Ambulante Behandlung und Nachsorge durch einen Allgemeinmediziner
• stationäre und ambulante Behandlung sowie Nachsorge durch einen Chirurgen für Kinderorthopädie
• stationäre und ambulante Behandlung sowie Nachsorge durch einen pädiatrischen Physiotherapeuten im Republikanischen Kinderkrankenhaus nach E.P. Glinki in Grosny
• diagnostische Bildgebung mittels Röntgenuntersuchung ist ebenso verfügbar
Ferner ist anzumerken, dass die oben angeführten Behandlungen auch für Erwachsene in Grosny verfügbar sind (AVA 17836).
Der angefragte Wirkstoff Ibuprofen ist verfügbar (AVA 17836).
Die Kosten für die Wirkstoffe bzw. Behandlungen und Untersuchungen entnehmen Sie bitte dem PDF ACC 7923.
In ACC 7923 liefert MedCOI Informationen zur staatlichen Versicherung und zu subventionierten Medikamenten:
Staatliche Versicherung
Gemäß dem Föderalen Gesetz Nr. 236 „Über die obligatorische Krankenversicherung“ ist die öffentliche Krankenversicherung (OMS) obligatorisch und gilt auf dem gesamten Gebiet der Russischen Föderation, in deren Rahmen die medizinische Versorgung kostenlos ist. Die Gesundheitsfürsorge für Kinder ist in Russland allgemein über das öffentliche Gesundheitssystem zugänglich, wobei die Leistungen für Kinder von 0 bis 18 Jahren kostenlos sind.
Russische Staatsbürger, die nach Russland zurückkehren, werden von OMS abgedeckt, sobald sie als rechtmäßige Einwohner registriert sind.
Die medizinische Versorgung im Rahmen des OMS umfasst die medizinische Grundversorgung, spezialisierte medizinische Versorgung, medizinische Rehabilitation, Palliativversorgung und medizinische Notfallversorgung.
Kosten für Arzneimittel
Medikamente, die in der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel (VEDL) aufgeführt werden für bestimmte Bevölkerungsgruppen und Krankheiten vollständig subventioniert, wenn sie von einem Arzt des öffentlichen Sektors verschrieben werden. Die subventionierten Arzneimittel können gegen Vorlage der erforderlichen Unterlagen in der vom behandelnden Arzt angegebenen Apotheke bezogen werden; siehe: https://www.vbr.ru/strahovanie/help/strahovanie_help/medicinskij-preparaty-i-lekarstva-po-oms/ .
RUSSLAND
Können nachfolgende Kontrollen in der Orthopädie aufgrund der durchgeführten „Salter-Osteotomie“ und den entfernten eingesetzten Materialien sowie aufgrund einer Mittelfußfraktur in Russland durchgeführt werden? Wenn ja, wo und mit welchen Kosten ist zu rechnen?
Sind Physiotherapien für Kinder in Russland möglich. Wenn ja, wo und mit welchen Kosten sind zu erwarten?
Ist das Medikament, bzw. der Wirkstoff verfügbar? Wie hoch belaufen sich die Kosten?
Zusammenfassung:
Der nachfolgend zitierten Quelle AVA 17837 ist zu entnehmen, dass folgende Behandlungen und Untersuchungen in der Russischen Föderation, bzw. in Moskau verfügbar sind:
• Ambulante Behandlung und Nachsorge durch einen Allgemeinmediziner
• stationäre und ambulante Behandlung sowie Nachsorge durch einen Chirurgen für Kinderorthopädie
• stationäre und ambulante Behandlung sowie Nachsorge durch einen pädiatrischen Physiotherapeuten im Morozovskaya Children's City Clinical Hospital in Moskau
• diagnostische Bildgebung mittels Röntgenuntersuchung ist ebenso verfügbar
Ferner ist anzumerken, dass die oben angeführten Behandlungen auch für Erwachsene in Moskau verfügbar sind (AVA 17837).
Der angefragte Wirkstoff Ibuprofen ist verfügbar. Alternativ zum angefragten Wirkstoff Ibuprofen sind die Wirkstoffe Diclofenac, Ketoprofen und Ketorolac aus derselben Medikationsgruppe verfügbar (AVA 17837).
Die Kosten für die Wirkstoffe bzw. Behandlungen und Untersuchungen entnehmen Sie bitte dem PDF ACC 7925.
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: TSCHETSCHENIEN/RUSSLAND: Laryngitis, Pharyngitis, Adenotosillar Hyperplasie vom 15.04.2024
Patient: Männlich, Alter 4, Diagnose(n): Chronische Hals- und Rachenentzündung (Laryngitis, Pharyngitis) mit Fieber und wiederholter stationärer Pflege. Adenotosillarhyperplasie. Im Februar 2024 erfolgt die Entfernung der Mandel. Medikamente (Wirkstoffe): Infectotexakrupp Saft (Wirkstoff Dexamethason), Nasivin (Wirkstoff Oxymetazolinhydrochlorid), Nureflex 4 % (Wirkstoff Ibuprofen), Prednosolon 30 mg, Racepinephrin (Ws.: Epinephrin).
TSCHETSCHENIEN
Kann eine Adenotonsillarhyperplasie in Tschetschenien behandelt und kontrolliert werden. Kann eine Mandeloperation in Tschetschenien durchgeführt werden. Wenn ja, wo und mit welchen Kosten ist zu rechnen?
Besteht in diesem Bereich ein Mangel an Medikation (Schmerzmittel für Kinder, Hustensäfte, Antibiotika, Infektodexkrupsaft, Nasivin usw.) und ist eine allfällige Notversorgung in Tschetschenien möglich?
Aufgrund der medizinisch-spezifischen Art der Fragestellungen wurden diese an MedCOI zur Recherche übermittelt.
Zusammenfassung:
Der nachfolgend zitierten Quelle ist zu entnehmen, dass folgende Behandlungen verfügbar sind:
- stationäre und ambulante Behandlung und Nachsorge durch einen Kinderarzt;
- stationäre und ambulante Behandlung und Nachsorge durch einen pädiatrischen Pulmologen;
- Diagnostische Untersuchung: Lungenfunktionstests (z. B. Spirometrie);
- Behandlung auf der Intensivstation (ICU).
- stationäre und ambulante Behandlung und Nachsorge durch einen Facharzt für Innere Medizin (Internist) (AVA 17838).
Alle angefragten Wirkstoffe, Dexamethason, Oxymetazolin, Ibuprofen, Adrenalin (AVA 17838) und Prednosolon (AVA 17562), sind verfügbar.
Die Kosten für die Wirkstoffe bzw. Behandlungen/Untersuchungen/Laborleistungen etc. entnehmen Sie bitte dem PDF ACC 7932.
Darüber hinaus berichtet MedCOI, dass Medikamente, die in der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel (VEDL) aufgeführt sind, für bestimmte Bevölkerungsgruppen (wie Kinder unter 3 Jahren oder Behinderte) und Krankheiten (wie HIV, onkologische Erkrankungen, Diabetes) vollständig subventioniert werden, wenn sie von einem Arzt des öffentlichen Sektors verschrieben werden. Die subventionierten Arzneimittel können gegen Vorlage der erforderlichen Unterlagen in der vom behandelnden Arzt angegebenen Apotheke bezogen werden.
Gemäß dem Föderalen Gesetz Nr. 236 "Über die obligatorische Krankenversicherung" ist die öffentliche Krankenversicherung (OMS) obligatorisch und gilt auf dem gesamten Gebiet der Russischen Föderation, wobei die medizinische Versorgung kostenlos ist.15 Die Gesundheitsversorgung für Kinder in Russland ist allgemein über das öffentliche Gesundheitssystem verfügbar, wobei die Leistungen für Kinder im Alter von 0 bis 18 Jahren kostenlos sind. Russische Staatsbürger, die nach Russland zurückkehren, werden von OMS abgedeckt, sobald sie als rechtmäßige Einwohner registriert sind.
In Übereinstimmung mit Artikel 41 der Verfassung der Russischen Föderation, wonach jeder Bürger das Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung und medizinische Behandlung hat, die in einem garantierten Umfang und ohne Zahlung einer Gebühr zur Verfügung gestellt wird, genehmigt die Russische Föderation jedes Jahr das Programm der staatlichen Garantien für die Bereitstellung kostenloser medizinischer Versorgung der Bürger.
Im Rahmen dieses Programms werden die folgenden Behandlungen kostenlos angeboten:
1. Primäre Gesundheitsversorgung, einschließlich:
- primäre prämedizinische Versorgung durch Sanitäter, Hebammen und anderes medizinisches Fachpersonal mit sekundärer medizinischer Ausbildung auf ambulanter Basis in Tageskliniken;
- die medizinische Grundversorgung durch Allgemeinmediziner und Kinderärzte, auch auf lokaler Ebene;
- die primäre fachärztliche Versorgung durch Fachärzte.
2. Spezialisierte medizinische Versorgung, die in Krankenhäusern und Tageskliniken von Fachärzten erbracht wird. Sie umfasst die Vorbeugung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten und Zuständen, die den Einsatz spezieller Methoden und komplexer medizinischer Technologien erfordern;
3. Medizinische Hightech-Versorgung unter Einsatz neuer komplexer und/oder einzigartiger Behandlungsmethoden sowie ressourcenintensiver Behandlungsmethoden mit wissenschaftlich nachgewiesener Wirksamkeit, einschließlich Zelltechnologien und Robotertechnologien.
4. Krankenwagen, einschließlich fachärztlicher Notversorgung, bei Krankheiten, Unfällen, Verletzungen, Vergiftungen und anderen Zuständen, die eine dringende medizinische Behandlung erfordern (ACC 7932).
RUSSLAND
Kann eine Adenotonsillarhyperplasie in der Russischen Föderation behandelt und kontrolliert werden. Kann eine Mandeloperation in der Russischen Föderation durchgeführt werden. Wenn ja, wo und mit welchen Kosten ist zu rechnen?
Besteht in diesem Bereich ein Mangel an Medikation (Schmerzmittel für Kinder, Hustensäfte, Antibiotika, Infektodexkrupsaft, Nasivin usw.) und ist eine allfällige Notversorgung in der Russischen Föderation möglich?
Zusammenfassung:
Der nachfolgend zitierten Quelle ist zu entnehmen, dass folgende Behandlungen verfügbar sind:
- stationäre und ambulante Behandlung und Nachsorge durch einen Kinderarzt;
- stationäre und ambulante Behandlung und Nachsorge durch einen pädiatrischen Pulmologen;
- Diagnostische Untersuchung: Lungenfunktionstests (z. B. Spirometrie);
- Behandlung auf der Intensivstation (ICU).
Obwohl im Allgemeinen Internisten zur Verfügung stehen, werden Kinder, die eine internistische Betreuung benötigen von einem Kinderarzt betreut (AVA 17839).
Alle angefragten Wirkstoffe, Dexamethason, Oxymetazolin, Ibuprofen, Adrenalin (AVA 17839) und Prednosolon (AVA 17214), sind verfügbar.
Die Kosten für die Wirkstoffe bzw. Behandlungen/Untersuchungen/Laborleistungen etc. entnehmen Sie bitte dem PDF ACC 7935.
Darüber hinaus berichtet MedCOI, dass Medikamente, die in der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel (VEDL) aufgeführt sind, für bestimmte Bevölkerungsgruppen (z. B. Kinder unter 3 Jahren, Behinderte) und Krankheiten (z. B. HIV, onkologische Erkrankungen, Diabetes) vollständig subventioniert werden, wenn sie von einem Arzt des öffentlichen Sektors verschrieben werden. Die subventionierten Arzneimittel können gegen Vorlage der erforderlichen Unterlagen in der vom behandelnden Arzt angegebenen Apotheke bezogen werden.
Gemäß dem Föderalen Gesetz Nr. 236 „Über die obligatorische Krankenversicherung“ ist die öffentliche Krankenversicherung (OMS) obligatorisch und gilt auf dem gesamten Gebiet der Russischen Föderation, wobei die medizinische Versorgung kostenlos ist. Die Gesundheitsversorgung für Kinder in Russland ist allgemein über das öffentliche Gesundheitssystem verfügbar, wobei die Leistungen für Kinder im Alter von 0 bis 18 Jahren kostenlos sind. Russische Staatsbürger, die nach Russland zurückkehren, sind von OMS abgedeckt, sobald sie als rechtmäßige Einwohner registriert sind.
In Übereinstimmung mit Artikel 41 der Verfassung der Russischen Föderation, wonach jeder Bürger das Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung und medizinische Behandlung hat, die in einem garantierten Umfang und ohne Zahlung einer Gebühr erbracht wird, genehmigt die Russische Föderation jedes Jahr das Programm der staatlichen Garantien für die Bereitstellung kostenloser medizinischer Versorgung für Bürger. Im Rahmen des Territorialprogramms werden folgende Leistungen kostenlos erbracht:
1) die medizinische Grundversorgung, einschließlich der prämedizinischen, medizinischen und fachärztlichen Versorgung. Dazu gehören Maßnahmen zur medizinischen Vorbeugung von Krankheiten, einschließlich Maßnahmen zur Vorbeugung von Impfungen und Präventivuntersuchungen, Förderung einer gesunden Lebensweise, Diagnose und Behandlung von Krankheiten und Zuständen, ambulante Beobachtung von Frauen während der Schwangerschaft, gesunden Kindern und Menschen mit Behinderungen, chronischen Krankheiten, Vorbeugung von Schwangerschaftsabbrüchen, sanitäre und hygienische Aufklärung der Bürger sowie die Durchführung anderer Aktivitäten im Zusammenhang mit der Bereitstellung der primären Gesundheitsversorgung der Bürger;
2) spezialisierte medizinische Versorgung, einschließlich Hightech, die in einem Krankenhaus und in einer Tagesklinik von Fachärzten erbracht wird und die Vorbeugung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten und Zuständen (einschließlich während der Schwangerschaft, der Geburt und der Wochenbettperiode), die den Einsatz spezieller Methoden und komplexer medizinischer Technologien erfordern, sowie medizinische Rehabilitation umfasst. Die Einwohner Moskaus können von den staatlichen Gesundheitsorganisationen eine fortgeschrittene medizinische Versorgung gemäß den genehmigten Listen der medizinischen Hochtechnologieverfahren erhalten;
3) Ambulanz, einschließlich fachärztlicher Notfallversorgung bei Krankheiten, Unfällen, Verletzungen, Vergiftungen und anderen Zuständen, die eine dringende medizinische Versorgung erfordern;
4) palliativmedizinische Versorgung durch spezialisierte medizinische Einrichtungen.
Krankheiten des Atmungssystems sind in der Liste der Krankheiten und Zustände enthalten, für die die medizinische Versorgung im Rahmen des Programms der staatlichen Garantien für die kostenlose medizinische Versorgung der Bürger im Jahr 2024 kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Laryngitis (J04.0), Pharyngitis (J02) und Adeno-Tonsillar-Hyperplasie (J35.1) sind in dieser Liste enthalten (ACC 7935).
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt der belangten Behörde, durch Einvernahme der BF im Rahmen zweier öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (Verhandlungsprotokoll 1 und 2) sowie durch Sichtung der im Laufe des Verfahrens in Vorlage gebrachten bzw. vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Beweismittel.
Hinweis: die Aktenseiten (AS) sowie Ordnungszahlen (OZ) beziehen sich allgemein auf den Akt des BF1, außer es wird Gegenteiliges angeführt.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person der BF:
Die Identität der BF steht auf Grund der Vorlage von Personendokumente (russische Inlandsreisepass von BF1 ausgestellt 2010 und BF2 sowie Heiratsurkunde und Vaterschaftsurkunde betreffend BF3: AS 45-55 der BF2 des Vorverfahrens; russischer Führerschein des BF1: AS 61 des Vorverfahrens; österreichischer Führerschein des BF1: AS 67) und den gleichbleibenden Angaben der BF im gesamten Verfahren fest. Die Identität der BF wurde auch bereits im Vorverfahren und vom Bundesamt unstrittig festgestellt. Dass die BF russische Staatsangehörige sind, tschetschenischen Volksgruppe angehören und sich zum muslimischen Glauben bekennen, steht ebenso aufgrund ihren diesbezüglich schlüssigen und nachvollziehbaren Angaben in der mündlichen Verhandlung fest, welche mit den Angaben und Feststellungen im Vorverfahren sowie im behördlichen Verfahren und zu ihren Sprachekenntnissen in Einklang stehen (Seite 1-2 des Erstbefragungsprotokolls des BF1 und der BF2; Seite 6 und 14 des Verhandlungsprotokolls 1; Seite 6 und 9 des Verhandlungsprotokolls 2). Die Feststellungen zu den Sprachkenntnissen der BF basieren ebenfalls auf ihren gleichbleibenden und vor dem Hintergrund ihrer Herkunft plausiblen Angaben im gesamten Verfahren sowie dem Umstand fest, dass die BF bis zu ihrer Ausreise in der Russischen Föderation aufwuchsen, lebten und die volljährigen BF die Grundschule für 9-11 Jahre besuchten. Die minderjährigen BF wachsen auch in Österreich im Familienverband mit ihren Eltern auf und sprechen gemäß den Angaben ihrer Eltern in der mündlichen Verhandlung ebenfalls Russisch und Tschetschenisch, was vor dem Hintergrund, dass ihre Eltern der BF1 und die BF2 kaum bis erste Deutschkenntnisse haben und Kontakt mit tschetschenischen Familien besteht, auch nachvollziehbar erscheint (Seite 22 des Verhandlungsprotokolls 1; Seite 4 des Verhandlungsprotokolls 2).
Dass der BF1 und die BF2 miteinander verheiratet sind und zwei minderjährige Kinder, die BF3 und den BF4 haben, basiert gleichfalls auf den vorlegten Dokumenten, dem Vorverfahren und auf ihre gleichbleibenden und übereinstimmenden Angaben im gesamten Verfahren (Seite 7 und 14f des Verhandlungsprotokolls 1). Der BF1 und die BF2 geben zwar übereinstimmend an, bereits seit 2015 verheiratet zu sein, aber die vorgelegte Heiratsurkunde stammt von 2016, sohin sind sie spätestens seit 2016 standesamtlich verheiratet (AS 57 des Vorverfahrens).
2.1.2. Die Feststellungen zum Lebenslauf der BF (Geburt, ihr Aufwachsen in Tschetschenien, ihre Schulbildung sowie die Bestreitung ihres Lebensunterhalts) gründen auf den diesbezüglich schlüssigen sowie im Wesentlichen übereinstimmenden Angaben in den mündlichen Verhandlungen, die auch mit ihren Angaben aus dem Vorverfahren in Einklang stehen (vgl. Seite 13f Bescheid des Vorverfahrens vom 22.03.2021; Seite 8 des rechtskräftigen Erkenntnisses des BVwG vom 15.07.2021, XXXX ua; Seite 7-10, 15-16 des Verhandlungsprotokolls 1). Die Feststellungen zu den minderjährigen BF und dem Aufwachsen in Tschetschenien basieren auf den Angaben ihrer Eltern in den mündlichen Verhandlungen (Seite 7, 11, 15 des Verhandlungsprotokolls 1). Dass die BF3 in Tschetschenien nicht den Kindergarten aufgrund ihrer Hüftfehlstellung besuchen durfte, wie es die BF2 in der mündlichen Verhandlung steigernd vorbringt, ist nicht glaubhaft. Im Widerspruch hierzu gab die BF2 im Vorverfahren noch an, dass ihre Tochter aufgrund abgelehnter verpflichtenden Impfungen nicht in den Kindergarten habe gehen dürfen und nicht wegen Hüftproblemen oder einer Behinderung sie nicht zum Kindergarten zugelassen worden sei. Sohin lag die Entscheidung bei der BF2 ihre Tochter nicht in den Kindergarten zu geben und besteht auch im Bundesgebiet für gewisse Kinderkrankheiten verpflichtende Impfungen (vgl. Seite 9-10 des Einvernahmeprotokolls im Vorverfahren; Seite 23 des Verhandlungsprotokolls 1).
Auffallend ist dennoch, dass der BF1 sehr vage Angaben zu seinen beruflichen Tätigkeiten machte und das erkennende Gericht daher davon ausgeht, dass er durchgängig mit verschiedenen Gelegenheitsjob in der Russischen Föderation erwerbstätig war, näheres und eine genauere chronologische zeitliche Eingrenzung konnte den Angaben des BF1 nicht entnommen werden (Seite 8 des Verhandlungsprotokolls 1). Der BF1 und die BF2 gaben übereinstimmend in der mündlichen Verhandlung an, dass sie gemeinsam mit den Eltern des BF1 und seinem Bruder in einem Haus gelebt haben und Gemüse in Glashäusern anbauten und der BF1 danach verkaufte. Nicht glaubhaft ist, dass ihnen von der tschetschenischen Politik die Glashäuser weggenommen worden sind, denn hierzu machte der BF widersprüchliche Angaben auch in Zusammenschau mit dem Vorverfahren. Im rechtskräftigen Erkenntnis vom 15.07.2021, XXXX ua wurde unter anderem festgestellt, dass die Familie des BF1 drei Glashäuser hat und Gemüse verkauft. Im gegenständlichen Verfahren gab der BF neu und widersprüchlich sowie erst auf mehrmaligen Nachfragen an, dass er drei Glashäuser und sein Bruder drei eigene hatte und seine weg sind und die seines Bruders auch, obwohl er vorher befragt wovon sein Bruder lebt, sagte von drei Glashäusern (Seite 10-11 des Verhandlungsprotokolls 1). Vielmehr ist davon auszugehen, wie auch bereits im Vorverfahren festgestellt, dass die Familie des BF1 im Herkunftsort drei Glashäuser bewirtschaftete und Gemüse verkaufte. So ist auch daraufhinzuweisen, dass die BF 2 in der zweiten mündlichen Verhandlung darauf verwies, dass die Glashäuser noch teilweise existieren aufgrund des Verbotes der Betreibung dieser mit Gas, die Bewirtschaftung eingestellt wurde (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 22.05.2024). Von einer Wegnahme durch die tschteschenischen Behörden berichtete die BF 2 nichts. Sodass nicht davon auszugehen ist, dass diese Glashäuser verkauft oder enteignet wurden.
2.1.3. Die Feststellungen zu den Familienmitgliedern der BF und ihren aktuellen Aufenthaltsorten ergeben sich aus den diesbezüglich aktuellen Angaben der BF in den mündlichen Beschwerdeverhandlungen sowie den übereinstimmenden Angaben im Vorverfahren (vgl. Seite 8 des rechtskräftigen Erkenntnisses des BVwG vom 15.07.2021, XXXX ua; Seite 10-13, 16 des Verhandlungsprotokolls 1; Seite 6, 9-10 des Verhandlungsprotokolls 2). Außerdem gaben sie übereinstimmend in der mündlichen Verhandlung an, den Kontakt zu ihren Familienangehörigen telefonisch per WhatsApp auch von Österreich aus aufrecht zu halten (Seiten 20 und 26 des Verhandlungsprotokolls1; Seite 6 des Verhandlungsprotokolls 2). Die Angaben zum Alter ihrer Brüder der BF2 in der mündlichen Verhandlung waren vor dem Hintergrund ihren Angaben zu ihren Brüdern im Vorverfahren widersprüchlich. So gab sie im Vorverfahren bei der Einvernahme im Jahr 2021 noch an, dass ihr jüngster Bruder 32 Jahre sei und nunmehr in der ersten mündlichen Verhandlung im Jahr 2023, sohin 2 Jahre später, ihr jüngster Bruder sei 40 Jahre alt. Bei den Altersangaben in der zweiten mündlichen Verhandlung war die BF 2 wiederum widersprüchlich, so gab sie an, dass ihr älterer Bruder über 40 ist, der zweite unter 40, danch jedoch der jüngste ist unter 40 (Seite 10 des zweiten Verhandlungsprotokolls). Die BF 2 ist sehr gut gebildet und ist es daher nicht nachvollziehbar, dass die Altersangaben ihrer Brüder so unterschiedlich, zumal sie mit ihrem Alter auch einen Anhalt hat. Es zeigt sich, dass die BF 2 versuchte die Altersangaben zu verschleiern. Es wurden die genannten und nachvollziehbaren Altersangaben aus dem Vorverfahren den Feststellungen zugrunde gelegt (Seite 8 des Einvernahmeprotokolls vom 05.02.2021 des Vorverfahrens, sohin die Altersangaben + 3 Jahre), sodass die Brüder unter 40 bzw. der älterste über 40 Jahre alt ist.
2.1.4. Die Feststellungen zum aktuellen Gesundheitszustand der BF gründen auf den Angaben der BF in der aktuellen zweiten mündlichen Verhandlung, wo der BF1 und die BF2 übereinstimmend angaben sowohl sie als auch ihre beiden minderjährigen Kinder BF3 und BF4 seien jetzt gesund. Die BF2 bestätigte im Verlauf der Verhandlung auf Nachfrage, dass die Kinder derzeit nicht krank sind (Seite 5 und 11 des Verhandlungsprotokolls 2). Die weiteren Feststellungen zu den erfolgten Behandlungen und Vorerkrankungen oder gestellten Diagnosen der BF3 und des BF4 basieren auf dem Konvolut an vorgelegten medizinischen Unterlagen, Befunden und stationären Entlassungsberichten aus dem Zeitraum 2021-2024 (AS 73-93 der BF2; AS 233-239; Beilagen OZ 8; Beilagen mündliche Verhandlung 1; insbesondere Dokumentenvorlage OZ 23 und OZ 24). Aus der letzten Vorlage OZ 24 ist betreffend die BF3 und in Einklang mit den Angaben der BF2 in der zweiten mündlichen Verhandlung zu entnehmen, dass eine Verlaufskontrolle in weiteren 6 Monaten und danach eine jährliche kinderorthopädische Kontrolle empfohlen wird. Die BF leiden somit zum Entscheidungszeitpunkt an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen. Hinzu kommt, dass den Länderberichten zur medizinische Versorgung in der Russischen Föderation zu Folge und den eingeholten Anfragebeantwortungen zu den diagnostizierten Vorerkrankungen der BF3 und des BF4 die medizinische Versorgung, die empfohlenen kinderorthopädischen Kontrolluntersuchung der BF3 oder bei Bedarf auch die medizinische Behandlung von Atemwegserkrankungen des BF4 sowie die notwendigen Medikamente in der Russischen Föderation, auch in der Teilrepublik Tschetschenien gewährleistet ist (insbesondere Pkt.II.1.5.: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: TSCHETSCHENIEN/RUSSLAND: Hüftdysplasie vom 12.04.2024; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: TSCHETSCHENIEN/RUSSLAND: Laryngitis, Pharyngitis, Adenotosillar Hyperplasie vom 15.04.2024). Es zeigt sich, dass die Versorgung der Kinder kostenlos ist und bei Bedarf die notwendigen Medikamente zur Verfügung stehen und großteil kostenlos. Die BF 1 und 2 sind aber auch in der Lage in der Russischen Föderation einer Arbeit nachzugehen und ist es ihnen möglich eventuelle Kosten, wie Medikamente oder Schuheinlagen zu bezahlen.
2.1.5. Die Arbeitsfähigkeit des BF1 und der BF2 ergibt sich einerseits aus ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung, wonach sie beide über zum Teil weitreichende Arbeitserfahrung in der Russischen Föderation berichten sowie der Berufsausbildung der BF2 (Seite 8 und 15 des Verhandlungsprotokolls 1) sowie der illegalen Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet (Seite 7-8 und 11-12 des Verhandlungsprotokolls 2) und andererseits aufgrund ihres Alters mit 34 und 31 Jahren und ihrem Gesundheitszustand.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der BF gründen auf den eingeholten Strafregisterauszügen. Die minderjährigen BF sind aufgrund ihres Alters noch nicht strafmündig.
2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen der BF:
2.2.1. Der BF1 und die BF2 brachten im Wesentlichen im gesamten Verfahren vor, dass sie gemeinsam nach Österreich reisten und hier auch nach dem rechtskräftig negativ entschiedenen vorangegangenen Asylverfahren auch verblieben sind, weil der BF1 eine Ladung vom Militär erhalten habe. Er befürchte im Falle einer Rückkehr zwangsweise zum Wehrdienst in den Krieg in der Ukraine eingezogen zu werden. Der BF1 und die BF2 brachten darüber hinaus für sich keine weiteren sowie auch für die minderjährigen BF keine eigenen Fluchtgründe vor und machten insgesamt mit ihren vagen sowie auf Spekulationen gestützten sowie vor dem Hintergrund der Länderinformationen nicht plausiblen Angaben keine Verfolgung glaubhaft:
Das Fluchtvorbringen des BF1 hinsichtlich seines ersten Antrages auf internationalen Schutz wurde nach eingeholten Akteninhalt (Zl. XXXX ) rechtskräftig negativ entschieden und der BF im Jahr 2015 auch nach Russland abgeschoben, wo er dann nach eigenen Angaben wieder an seinen Herkunftsort zurückkehrte und bis zur neuerlichen Ausreise im Jahr 2020 lebte, heiratete, eine Familie gründete und erwerbstätig war (Seite 10 des Verhandlungsprotokolls 1). Sohin ist aus diesen Gründen eine bestehende Verfolgungsgefahr nicht weiter anzunehmen und wurde vom BF auch im darauffolgenden zweiten Asylverfahren und im gegenständlichen dritten Verfahren auch nicht weiter vorgebracht deswegen Bedrohungen oder anderen Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen zu sein oder noch weiter zu befürchten.
Auch die fluchtauslösenden Gründe der BF im zweiten bzw. ersten Asylverfahren zu willkürlichen Verhaftungen des BF1 durch die Polizei, auf die sich auch die BF2 und die minderjährigen Kinder stützten, ist mit rechtskräftigen abgeschlossenen Verfahren, als nicht glaubhaft erachtet worden und wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung der BF in die Russische Föderation zulässig ist (Zl. XXXX ; insbesondere auch Erkenntnis des BVwG vom 15.07.2021, XXXX ). Dieses Vorbringen hielt der BF1 auch nicht weiter substantiiert aufrecht, sondern gab im gegenständlichen Verfahren lediglich vage an, dass er am Anfang nach Österreich wegen der Politik von Tschetschenien gekommen sei und bekräftigte im gegenständlichen Verfahren, dass der einzige Grund für den erneuten Antrag auf internationalen Schutz seine Vorladung zum Militär aufgrund des Kriegs zwischen der Ukraine und Russland sei (Seite 27 des Verhandlungsprotokolls 1). Sohin ist auch eine gegen den BF 1 gerichtete konkrete Verfolgung aufgrund seines Fluchtvorbringens im zweiten Asylverfahren, mehrmals von der Polizei in Tschetschenien angehalten und geschlagen worden zu sein, nicht glaubhaft.
Nunmehr brachte der BF1 zwar im behördlichen und verwaltungsgerichtlichen Verfahren zusammengefasst gleichbleibend als Fluchtgrund vor, dass er eine Ladung vom Militärkommando für den 01.06.2022 bekommen habe und er nicht im Krieg gegen die Ukraine kämpfen wolle und es viele Menschen, die in die Russische Föderation zurückgekehrt seien in die Ukraine zum Kämpfen geschickt werden sowie dass ihm wegen Nichterscheinen eine Strafe drohe sowie weiterhin eine verdeckte Mobilisierung laufe (Seite 4 des Erstbefragungsprotokolls des BF1 ; Seite 5, 7 des Einvernahmeprotokolls des BF1; Seite 27 des Verhandlungsprotokolls 1; Seite 13 des Verhandlungsprotokolls 2), aber erweist sich das nur sehr vage und zum Teil widersprüchliche Fluchtvorbringen insbesondere vor dem Hintergrund der Länderinformationen und Feststellungen zur Person des BF1 und der BF2 (Alter, Familienangehörige) nicht plausibel und auch nicht glaubhaft.
Die BF2 stützte ihren zweiten Antrag auf internationalen Schutz, wie auch ihren ersten, auf das Fluchtvorbringen des BF1 sowie auf die medizinische Versorgung ihrer Kinder. Eine konkrete, persönliche individuelle gegen sie gerichtete Verfolgung oder Bedrohung brachte sie im gesamten Verfahren nicht vor, sondern verneinte diese auch explizit. Auch eigene Verfolgungsgründe, bis auf die medizinischen Behandlungen im Bundesgebiet, wurden von der BF2 oder dem BF1 für die minderjährigen BF3 und BF4 nicht vorgebracht (Seite 4 des Erstbefragungsprotokolls der BF2; Seite 5-6 des Einvernahmeprotokolls der BF2; Seite 35 und 37 des Verhandlungsprotokolls 1; Seite 13-15 des Verhandlungsprotokolls 2).
Des Weiteren hat weder der BF1 noch die BF2 im Zusammenhang mit ihrem Fluchtvorbringen im gegenständlichen Verfahren vorgebracht, jemals im Herkunftsstaat inhaftiert gewesen zu sein oder vorbestraft zu sein. Darüber hinaus machten der BF1 als auch die BF2 im gesamten Verfahren keine Angaben zu einer journalistischen oder politischen Aktivität im Herkunftsland noch ergeben sich hier Anhaltspunkte eines exilpolitischen oder regimekritischen Engagements zu ihren Schilderungen zu ihren Lebensumständen im Bundesgebiet (Seite 7-9, 11-13 des Verhandlungsprotokolls 2). Vielmehr verneinte der BF1 und die BF2 sowohl im Vorverfahren, als auch aktuell im verwaltungsgerichtlichen Verfahren explizit an politischen Demonstrationen teilgenommen zu haben oder jemals gegen Kadirov oder Russland aufgetreten zu sein (Seite 34, 37 des Verhandlungsprotokolls 1). Sohin steht fest, dass die volljährigen BF im Herkunftsstaat nicht vorbestraft sind und auch nie inhaftiert waren und sich auch nicht in sonstiger Weise jemals politisch oder regimekritisch aktiv waren. Folglich steht für das erkennende Gericht vor diesem Hintergrund und den unglaubwürdigen Fluchtvorbringen im Vorverfahren fest, dass der BF1 und die BF2 die Russische Föderation gemeinsam mit ihren minderjährigen Kindern im Jahr 2020 weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität, noch wegen Lebensgefahr verlassen haben, sondern vielmehr aus wirtschaftlichen und gesundheitlichen Motiven.
Damit in Einklang steht auch, dass der BF1 und die BF2 im Jahr 2020 mit ihren russischen Inlandsreisepässen ausreisten, welche sie sich laut ihren Angaben bei der Erstbefragung ihres vorangegangenen Antrages auf internationalen Schutz im Jahr 2019 vom Passamt Grosny ausstellen ließen. Damit steht auch fest, dass die BF vor ihrer Ausreise 2020 zumindest bei der Reisepassausstellung oder auch bei der standesamtlichen Hochzeit oder der Ausstellung der Geburtsurkunde in Kontakt mit den russischen und tschetschenischen Behörden waren oder ist der BF1 auch in Besitz eines russischen Reisepasses und sohin auch keine erkennbaren Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsstaat hatten (Seite 4 des Erstbefragungsprotokolls der BF1-2 im Vorverfahren Zl. XXXX ; AS 45-55 des Vorverfahrens der BF2, Zl. XXXX ). Dies wurde auch nicht substantiell zu keinem Zeitpunkt vorgebracht und ist dies auch insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Großteil der Familienangehörigen der BF weiterhin im Herkunftsort und in der Russischen Föderation ohne Repressalien ausgesetzt zu sein, leben können.
Vorladung zum Militär und Gefahr der Einberufung zum Wehrdienst im Angriffskrieg gegen die Ukraine
Darauf aufbauend ist auch eine neu im gegenständlichen Verfahren vorgebrachte konkrete und individuell gegen den BF1 gerichtete Verfolgung oder Bedrohung wegen den Erhalt einer Vorladung zum Militär nicht glaubhaft:
Betreffend die vorgelegte Vorladung (AS 69-75), hat das erkennende Gericht umfangreiche Bedenken bezüglich ihrer Echtheit, auch wenn die Polizei laut kriminaltechnischer Untersuchung vom 11.07.2023 anführte, dass keine Anhaltspunkte für eine Fälschung oder Verfälschung festgestellt wurden. Gleichzeitig war aber eine abschließende Beurteilung zum derzeitigen Wissensstand nicht möglich. Demnach wurde auch nicht die Echtheit des Dokuments zweifelsfrei festgestellt (OZ 7) und liegt dies im Widerspruch zum Vorbringen der Rechtsvertretung. Daran anknüpfend ist der geschilderte Erhalt dieser Vorladung des BF1 nicht nachvollziehbar sowie widersprüchlich und unter Zugrundelegung der Länderinformationen hierzu auch nicht plausibel.
Wonach der BF1 die Schlüsse zieht, dass er vom Militär für den Ukrainekrieg eingezogen wird, konnte der BF1 nicht plausibel auch vor dem Hintergrund der Länderinformationen und der vorgelegten Ladung, darlegen (Seite 27-30 des Verhandlungsprotokolls 1). So geht auch aus den Länderinformationen hervor, dass Grundwehrdienstleistende gesetzlich von der Teilnahme an Einsätzen im Ausland ausgeschlossen (hier im Beispiel: Ukraine) sind. Das Einberufungsalter für den Grundwehrdienst wird schrittweise von 25 auf 30 Jahren hinaufgesetzt. Eine Mobilmachung ohne zuvor geleisteten Grundwehrdienst ist nicht möglich. Einberufungen dazu können jedoch im Einzelfall irrtümlich erfolgen, welche bislang bei der Stellung jedoch als Fehler erkannt und folglich widerrufen worden sind.
Gemäß dem föderalen Gesetz 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' männliche russische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 30 Jahren der Einberufung zum Grundwehrdienst unterliegen. Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr. Der Staatspräsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden sollen. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel der jährlich ins wehrdienstpflichtige Alter kommenden jungen Männer. Für Herbst 2022 wurden 120.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen, für das Frühjahr 2023 147.000 und für Herbst 2023 130.000 Personen. Die Anzahl der aus Tschetschenien Einberufenen ist relativ gering, im Durchschnitt 500 Einberufene pro Einberufungsperiode.
Der BF1 liegt mit seinen knapp 34 Jahren, der Anstieg des Einberufungsalters auf 30 Jahre erfolgte erst nach 2023, deutlich darüber und ist daher eine Einberufung zum obligatorischen Grundwehrdienst, welchen er nach eigenen Angaben nie abgeleistet hat, bereits aufgrund seines Alters gemäß den Länderinformationen nicht plausibel sowie auch eine Mobilmachung für den Ukraine-Krieg ohne abgeleisteten Grundwehrdienst nicht objektivierbar. Auch dass die Ladung von einem Sprengelpolizisten den Eltern des BF1 übergeben wurde und nicht per eingeschriebenen Brief oder elektronisch odre persönlich dem BF, ist gleichfalls nicht plausibel, weil laut den Länderberichten die Entgegennahme ausschließlich persönlich erfolgen kann (vgl. Pkt.II.1.5. Themenbericht Militärdienst: gemäß dem föderalen Gesetz „Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst“ werden Einberufungsbefehle in schriftlicher Form und zusätzlich elektronisch übermittelt. Die elektronische Zustellung erfolgt über das Online-Portal Gosuslugi). Der BF1 machte auch nur sehr vage Angaben hinsichtlich den Erhalt dieses Schreibens, obwohl er darauf den Antrag auf internationalen Schutz stützt und konnte auch auf Nachfragen und vorgehaltenen Widersprüche keine konkreteren und nachvollziehbaren Angaben machen (Seite 30-32 des Verhandlungsprotokolls 1). So ist widersprüchlich, dass der BF1 angibt, Anfang Juni 2022 von seinem Bruder über den Erhalt dieses Schreibens informiert worden zu sein, aber der BF1 bereits am 01.06.2022 dort erscheinen hätte sollen. Ein Erscheinungsdatum, welches in der Vergangenheit liegt ist nicht nachvollziehbar (Seite 31 des Verhandlungsprotokolls 1). Auch auf Nachfrage, weshalb die Ladung unvollständig ausgefüllt wurde, reagierte der BF1 in der mündlichen Verhandlung lediglich ausweichend und konnte oder wollte sich hierzu auch nicht nachvollziehbar erklären. Wenngleich in der Anfragebeantwortung seitens des Verwaltungsgerichts nicht übersehen wird, dass die Ladungen teilweise unvollständig ausgefüllt sind und die militärischen Einrichtung besteht, jedoch nochmals auch hier die persönliche Übergabe bestätigt wurde, der BF diese jedoch nicht persönlich erhalten hat aber auch nicht über seinen Arbeitgeber, sondern anscheinend über seine Eltern und nicht in den Berichten festgestellt wurde, dass Ladungen über Verwandte zugestellt werden. Eine nunmehr elektronische Zustellung wurde nicht vorgebracht.
Widersprüchlich und keinesfalls nachvollziehbar ist auch, dass der BF1 in der mündlichen Verhandlung ausführte, dass der Sprengelpolizist die Ladung seiner Familie übergeben habe, ohne zu fragen, wo der BF1 ist und ungefähr 1 Monat später noch einmal gekommen sei und nach dem BF1 gefragt habe. So ist ua. der BF war jedoch seit Jahren nicht mehr in Tschetschenien aufhältig und kann daher den Behörden nicht mehr als anwesend aufgefallen sein, so ist eine Zustellung über den Arbeitgeber möglich, ein solcher kann jedoch seit Jahren nicht mehr aktuell gewesen sein. Danach sei dem Polizisten erklärt worden, dass der BF1 nicht zu Hause sei und es ist auch nichts weiter passiert. So lebt auch der zwei Jahre ältere Bruder des BF1 im selben Familienhaus, nahm auch dieser die gegenständliche Ladung oder auch die Eltern des BF1 entgegen und hat nach den Angaben des BF1 der Bruder selbst keine Ladung erhalten und war die Familie des BF1 auch keinen weiteren Repressalien ausgesetzt, obwohl dies laut den Länderinformationen als Druckmittel von den russischen Behörden angewendet wird, wenn der Wehrdienst verweigert wird (Seite 32 des Verhandlungsprotokolls 1 – Themebericht – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs). So ist im Themenbericht erkennbar und wurde auch von der Rechtsvertretung vorgebracht, dass es zu Rekrutierungen mittels Zwang und unter Menschenrechtsverletzungen kommt. Zu einem ist ersichtlich, dass im Bericht „Unter den Begriff der verdeckten Mobilisierung fallen die Rekrutierung Freiwilliger sowie Zwangseinberufungen von Migranten und kürzlich eingebürgerter russischer Staatsbürger(ISW 23.12.2023).“ (Seite 13 des Themeberichts). Der BF hat sich nicht freiwillig rekrutieren lassen und ist kein Migrant oder kürzlich eingebürgerter russischer Staatsbürger, sodass von keiner Zwangseinberufung auszugehen ist.
Im Bereich Tschetscheniens
„finden Rekrutierungen von Kämpfern in einer allgemeinen Atmosphäre des Zwanges und unter Verletzung von Menschenrechtsstandards statt. In vielen Fällen erfolgen Zwangsrekrutierungen (EUAA 16.12.2022; vgl. KR 8.6.2023). Behörden in Tschetschenien betreiben eine aggressive Anwerbungskampagne, um Einheimische als ’freiwillige’ Kämpfer für die Ukraine zu gewinnen (RFE/RL 10.11.2022). Auf Einzelpersonen in Tschetschenien wird Druck ausgeübt (ÖB Moskau 25.1.2023). Kadyrow betreibt in Bezug auf den Ukraine-Krieg eine intensive mediale Propaganda (VQ RUSS2 23.1.2024). Oft ruft er die Bewohner Tschetscheniens dazu auf, am Ukraine-Krieg teilzunehmen (KK 14.12.2023). Religionsvertreter in Tschetschenien rufen alle Bewohner des Nordkaukasus und generell alle Muslime Russlands dazu auf, in den Ukraine-Krieg zu ziehen (KR 16.9.2023). Kadyrow drohte Kampfunwilligen mit der ’Hölle’ (KK 17.7.2022) und ordnete die Streichung von Sozialleistungen für Familien von Kriegsdienstverweigerern an (KK 25.8.2022). Kadyrow und Beamte beleidigen offen Personen, die nicht an die Front wollen (KR 19.2.2023). Kampfunwillige werden von Kadyrow als ’unzuverlässige Schwächlinge’ bezeichnet (KR 11.10.2023). (Seite 18 des Themenberichts).
Der BF war jedoch seit Beginn des Krieges nicht in Tschetschenien und kann daher keiner aggressiven „Werbung“ unterlegen sein. Es ist auch nicht nachvollziehbar, warum gerade der BF eine entsprechende Ladung bekommen haben soll, die weiteren Verwandten wie Bruder des BF 1 oder Brüder der BF 2 nicht in den Ukraine-Krieg tatsächlich eingezogen wurden. Insbesondere, wenn auch berichtet wird, dass Repressalien gegen Verwandte ausgeübt wird. Die BF berichten von Situationen indem die nahen Familienangehörigen (Brüder) nicht in den Krieg müssen, jedoch der BF, welcher seit Jahren nicht mehr in Tschetschenien aufhältig ist, eingezogen werden sollte, dies erscheint lebensfremd.
Vielmehr beziehen die Eltern des BF1 eine Pension, dass diese gekürzt wurde, brachte er nie vor und sein Bruder ist erwerbstätig. Im Widerspruch zu den Angaben des BF1, schilderte die BF2 in der mündlichen Verhandlung, dass ein Sprengelpolizist den Eltern ihres Mannes (BF1) die Ladung übergeben haben soll und danach noch mehrmals, auf Nachfrage 2, 3 Mal gekommen sein soll. Dies wisse sie von den Eltern des BF1 bzw. als er mit seinen Eltern gesprochen habe, aber hat der BF1 selbst dies in der mündlichen Verhandlung nicht angegeben (Seite 35-36 des Verhandlungsprotokolls 1).
Im eklatanten Widerspruch zum Vorbringen des BF1, dass alle solche Ladungen erhalten haben und in Folge alle in die Ukraine zum Kämpfen geschickt werden ist, dass auch die anderen Familienmitglieder des BF1, seine zahlreichen Cousins oder auch die Brüder der BF2 solche Ladungen nicht erhalten haben, ohne Probleme weiterhin in Tschetschenien im Herkunftsort des BF1 leben und arbeiten und haben sie eine Ladung erhalten, sind sie dieser auch nicht nachgekommen und es folgten auch keinerlei Konsequenzen. Der BF1 gibt auch selbst zu, dass es Freiwillige gibt, die für Geld als Berufssoldat am Ukraine-Krieg teilnehmen, so auch ein Freund von ihm, der obwohl der BF1 vorbringt gegen diesen Krieg zu sein, weiterhin sein Freund bleibt (Seite 29-30 des Verhandlungsprotokolls). Auch die BF2 konnte nicht nachvollziehbar erklären, weshalb ihre vier in Tschetschenien aufhältigen Brüder im Alter zwischen 35 und 45 auch keine Ladungen erhalten haben (Seite 34 des Verhandlungsprotokolls 1), wogegen bei der „zwangsweisen“ Rekrutierung in Tschetschenien im Gegensatz zu den Wehr-Reservedienstpflichtigen keine Altersbegrenzung angegeben wird. Die BF2 führte zwar in der mündlichen Verhandlung an, dass auch ihre Cousins mitgenommen wurden, obwohl sie die einzigen Söhne gewesen sein, aber handelte es sich hierbei um Polizisten, die sohin eine entsprechende für das russische Militär bestehende Ausbildung haben und ist den Länderinformationen nicht zu entnehmen, dass „einzige Söhne“ vom Wehrdienst befreit wären. So zeigt sich, dass in Tschetschenien Altersgrenzen nicht gemäß den Wehrgesetzen eingehalten werden, aber auf (para)militärische oder polizeiliche Ausbildungen Rücksicht genommen wird und auch diese weist der BF 1 nicht vor. Gemäß den gesetzlichen Vorgaben sind unter anderem Personen vom Wehrdienst befreit, welche wegen ihres Gesundheitszustands untauglich oder eingeschränkt tauglich sind; Söhne oder Brüder von Personen, welche infolge der Ausübung ihrer militärischen Dienstpflichten verstarben; sowie Personen, die einer Straftat verdächtigt werden.
Der BF1 machte insgesamt auf konkrete Fragestellungen hinsichtlich einer drohenden Einberufung zum Militärdienst und zwangsweisen Einsatz im Ukrainekrieg auch durchgängig nur pauschale, spekulative Angaben – „man wird einberufen vom Militärkommissariat. Dann wird man 1 oder 2 Wochen unterrichtet im Gebrauch von Waffen und danach geht es in die Ukraine. Weil es in Tschetschenien so gehandhabt wird. Man wird in die Ukraine geschickt. Ich sehe, was um mich passiert. Ich weiß, dass Leute einberufen werden, um in die Ukraine geschickt zu werden. Dort werden täglich auf beiden Seiten Menschen getötet.“ (Seite 27-28 des Verhandlungsprotokolls) –, reagierte auf Vorhalte ausweichend und konnte aufkommende Widersprüche (Alter; Brüder der BF2 oder Bruder des BF1 oder Cousins erhielten keine Ladung) nicht nachvollziehbar entkräften.
Des Weiteren ist den Länderinformationen zu entnehmen, dass die von den staatlichen Behörden ausgestellten Dokumente in der Regel echt und inhaltlich richtig sind. Dokumente russischer Staatsangehöriger aus den russischen Kaukasusrepubliken (insbesondere Reisedokumente) enthalten hingegen nicht selten unrichtige Angaben. Gründe hierfür liegen häufig in mittelbarer Falschbeurkundung und unterschiedlichen Schreibweisen von beispielsweise Namen oder Orten. Aber ist es in Russland auch möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie beispielsweise Staatsangehörigkeitsausweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehle und Gerichtsurteile. Es gibt Fälschungen, die auf Originalvordrucken professionell hergestellt werden und nur mit speziellen Untersuchungen erkennbar sind. Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amts hat die Anzahl der im Asylverfahren vorgelegten Vorladungen, Urteile und Beschlüsse, die sich als Fälschungen herausgestellt haben, in der letzten Zeit erheblich zugenommen haben. Sohin geht auch aus diesem Grund das erkennende Gericht davon aus, dass es sich bei der erhaltenen Ladung auch um ein gekauftes Dokument handelt, um den vorgebrachten Fluchtgrund zu untermauern und wird vor dem Hintergrund der vagen, spekulativen, widersprüchlichen und vor dem Hintergrund der Länderinformationen nicht objektivierbaren Angaben des BF1 und der BF1 davon ausgegangen, dass es sich um kein echtes und richtiges Dokument handelt bzw. nicht von der Richtigkeit und Echtheit ausgegangen werden kann.
Auch wenn Medienberichten davon schreiben, dass der Kreml seine Bemühungen fortsetzt, mehr Männer zum Dienst zu bewegen, indem er unhaltbare finanzielle Anreize verspricht, die sich langfristig auf die russische Wirtschaft auswirken werden, hat der BF1 bis dato keinen Einberufungsbefehl erhalten und gibt selbst an, nicht zum Militär zu gehen. Seine Eltern leben gemeinsam mit seinem Bruder im Familienhaus, wo der BF1 gemeinsam mit der BF2 und den minderjährigen BF vor der Ausreise ebenfalls lebten. Außerdem gilt auch nach wie vor, dass der BF1 nicht mehr im wehrdienstpflichtigen Alter ist und Tschetschenien ist ein integraler Bestandteil der Russischen Föderation, sowie jede andere Teilrepublik, und ist noch immer aufrecht, dass Personen, die keinen Wehrdienst abgeleistet haben, auch nicht mobilisiert werden können.
Auch wenn weitere Berichte wie von EUAA oder IWF davon sprechen, dass es bei der Einberufung von Personen zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist, so kann auch daraus nicht geschlossen werden, dass der BF1 mit seinem Profil als 34-jähriger Mann ohne militärischer Grundausbildung, nunmehr zum Wehrdienst mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einberufen wird.
Hinzu kommt, dass der BF1 zwar sein erhaltenes Wehrdienstbuch vorlegte (OZ 14), der BF1 selbst aber nach eigenen Angaben nie den verpflichteten Grundwehrdienst geleistet hat und somit auch nicht entgegen seinem Vorbringen, als Reservist zum Militär einberufen werden könnte. Dies ist vor dem Hintergrund der eingeholten Länderinformationen, insbesondere den aktuellen Themenbericht der Staatendokumentation zum Militärdienst Version 1 vom 02.04.2024 nicht objektivierbar und sohin auch nicht plausibel. Diesem ist zu entnehmen, dass prinzipiell alle Personen, welche den Wehrdienst abgeleistet haben, ein Militärbuch erhalten. Es erhalten aber auch Männer, laut gehäuften Aussagen, die nie gedient haben ein Militärbuch. Dieses besagt dann jedoch, dass sie nie diensten und daher auch nicht zur Reserve zählen. Dies deckt sich auch mit dem vorgelegten übersetzten Wehrdienstbuch ausgestellt auf den BF1, wo der BF zwar als Tauglich in der Kategorie „A“ vermerkt wurde, aber auch explizit notiert wurde, dass der BF nicht gedient hat (OZ 19). Somit zählt der BF in Übereinstimmung mit den Länderinformationen nicht zur Reserve. Damit in Einklang ergeht aus den Länderberichten, dass Wehrpflichtige als Reservisten nach der Ableistung des Grundwehrdiensts registriert werden und somit mobilisiert werden dürfen. Da der BF daher nicht als Grundwehrdiener registriert wurde, wird er auch bei einer Rückkehr nicht von den russischen/tschetschenischen Behörden als „Wehrdienstverweigerer“ angesehen werden und wird es ihm daher möglich sein, sich im gesamten Gebiet der Russsichen Föderation mit seiner Familie niederzulassen.
Hinzu kommt, dass Personen, welche der Reserve angehören, im Allgemeinen in drei Kategorien unterteilt werden, für welche jeweils unterschiedliche Altersgrenzen gelten (Eine genaue Darstellung der Reservisten-Kategorien findet sich im Anhang des vorliegenden Themenberichts; Kategorie 1 betrifft die militärischen Ränge: Soldat, Matrose, Unteroffizier (serschanty), Maat (starschiny), Fähnrich (praporschtschiki, mitschmany) und die Altersgrenze beläuft sich auf 40 Jahre). Im Falle einer Mobilisierung werden zuerst die Reservisten der Kategorie 1 einberufen. Die ab September 2022 in Russland durchgeführte Teilmobilisierung betraf in erster Linie Reservisten der Kategorie 1. Zu unterscheiden sind die beiden Begriffe aktive (mobilisierte) und passive (normale) Reserve. Der normalen Reserve gehören alle Personen an, die ihren obligatorischen Wehrdienst abgeleistet haben, aber keine weiteren Verpflichtungen mit dem Verteidigungsministerium eingegangen sind. Wiederholend ist anzumerken, dass der BF1 weder seinen obligatorischen Wehrdienst abgeleistet hat und folglich auch kein Soldat ist oder auch keinen anderen militärischen Rang hat. Er gilt nicht als Reservist und fällt auch nicht unter die Kategorie 1 der Reservisten, die im Rahmen der Teilmobilmachung einberufen und mobilisiert wurden und läuft der BF1 auch aus diesem Grund im Falle seiner Rückkehr nicht Gefahr zwangsweise im Angriffskrieg gegen die Ukraine eingesetzt zu werden und ist alleine auch deswegen der Erhalt eines Einberufungsbefehls Anfang Juni 2022, obwohl die Teilmobilisierung von 300.000 Reservisten der Kategorie 1 erst im September 2022 begonnen hat nicht glaubhaft.
Schließlich ist noch anzuführen, dass allgemein laut Länderinformationen auch das Recht auf einen zivilen Ersatzdienst (Zivildienst) aus Gewissens-, religiösen oder anderen Gründen durch Artikel 59 der Verfassung garantiert wird. So kann ein alternativer Zivildienst abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die persönliche (politische, pazifistische) Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person spricht, oder falls diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditionelle Lebensweise dem Wehrdienst widerspricht. Die Zivildienstzeit beträgt 18 Monate als ziviles Personal bei den russischen Streitkräften bzw. 21 Monate in anderen staatlichen Einrichtungen, wie beispielsweise Kliniken oder Feuerwehr. Jährlich wird eine Liste an Tätigkeiten, Berufen und Organisationen erstellt, in welchen die Ableistung eines alternativen Zivildiensts möglich ist. Hierzu ist ein begründeter Antrag beim Militärkommissariat zu stellen und von den jährlich etwa 2.000 gestellten Anträge auf Wehrersatzdienst werden geschätzt die Hälfte positiv beschieden, wobei die Entscheidung der Einberufungskommission auch noch gerichtlich angefochten werden kann.
Insgesamt ist sohin festzustellen, dass der BF1 im Falle einer Rückkehr nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer Einberufung unter der Teilmobilmachung, die bereits laut Länderinformationen auch abgeschlossen ist, betroffen ist, weil er mit knapp 34 Jahren über dem grundwehrdienstpflichtigen Alter ist, nie den Militärdienst geleistet hat und keine militärische Ausbildung hat und auch ein bereits bestehendes Interesse der russischen Behörden an dem BF1, weil er gegen das tschetschenische System sei, nicht glaubhaft ist. Der BF1 und die BF2 treten in Österreich auch nicht öffentlich bzw. auffällig regimekritisch gegen Putin auf und waren nie politisch oder journalistisch tätig.
2.2.2. Für die minderjährigen BF wurden von der BF2 und vom BF1 keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht und ergaben sich auch amtswegig vor dem Hintergrund der Länderinformationen und den Feststellungen zu dem minderjährigen BF keine Anhaltspunkte für eine konkrete aktuelle Verfolgung oder Bedrohung. So wuchsen die BF3 und der BF4 im Familienverband mit ihren Eltern BF1 und BF2 und ihren Großeltern und einem Onkel im gemeinsamen Haushalt auf und bestehen keine Anhaltspunkte, dass die minderjährigen BF von häuslicher Gewalt betroffen waren oder sind, nachdem dies im Nordkaukasus laut Länderinformationen weit verbreitet ist, wurde zu keinem Zeitpunkt vorgebracht und ergaben sich hierfür auch keine Hinweise. Gemäß Berichten kommt es vor, dass Kinder (darunter Obdachlose) Opfer von Sexhandel in Russland und in anderen Ländern werden oder dass Kinder in staatlichen Waisenheimen von Menschenhändlern, Zwangsbettelei, Zwangskriminalität, Kinderpornografie, Sexhandel betroffen sind. Diese länder-und kinderspezifische Gefahren treffen auf dien minderjährigen BF nicht zu, die durchgehend im geschützten Familienverband aufwuchsen und auch der Besuch des Kindergartens oder in Zukunft die Schule nicht verwehrt werden wird, nachdem auch der BF1 und die BF2 über eine Schul- und Hochschulbildung verfügen. Dass die Tochter nicht in die Schule aufgenommen werden wird ist maßgeblich nicht wahrscheinlich, zumal sie keine offensichtlichen Probleme mit der Hüfte in der derzeitigen Schule hat und auch im täglichen Leben keine etwaigen Probleme vorgebracht wurden. Aber auch die BF 2 war nur sehr vage mit ihren Ausführungen, dass sie denke, dass ihre Tochter vielleicht in eine Privatschule müsse, eine vollständige Verweigerung des Schulbesuches brachte aber auch sie nicht vor: „In die Schule würde sie gehen können, aber eine normale Schule wäre für sie gefährlich. Vielleicht müsste sie in eine Privatschule. Es kann sein, dass es kein Problem ist und sie aufgenommen wird in die Schule, aber es kann auch sein, dass sie nicht aufgenommen wird und in eine Privatschule gehen müsste.“ (Seite 24 des ersten Verhandlungsprotokolls), sodass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass die Tochter die Schule besuche wird können. Aber auch bestehen in der Heimatregion keine Gefahren durch die Kriegsführung der Russischen Föderation, zumal dort kein Kriegsgebiet besteht und daher keine etwaige Gefahren wie Bomben, Minen usw. gegeben sind.
2.2.3. Eine aktuelle Verfolgung aus religiösen Gründen brachte der BF1 oder auch die BF2 zu keinem Zeitpunkt im Verfahren vor. Die BF sind Angehörige des Islams, der in der Russischen Föderation die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft ist. In der Russischen Föderation leben rund 20 Millionen Muslime. Eine aktuelle Verfolgung aus diesem Grund ist den Länderberichten mit Blick auf die BF nicht zu entnehmen.
Eine Verfolgung der BF aus ethnischen Gründen kann ebenso nicht erkannt werden, weil tschetschenische Volksangehörige in der Russischen Föderation weit verbreitet und nicht grundsätzlicher Benachteiligung oder Übergriffen ausgesetzt sind. Eine solche brachten die BF auch nicht glaubhaft vor.
Sohin steht fest, dass den BF bei einer Rückkehr in die Russische Föderation individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch russische Behörden oder durch andere Personen droht. Ihnen droht keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten, insbesondere auch nicht wegen der vom BF1 im Asylverfahren vorgebrachten drohenden zwangsweise Mobilisierung für den Ukraine-Krieg.
2.2.4. Dass die BF im Falle der Rückkehr wegen ihres Aufenthalts in Österreich oder der Antragstellung auf internationalen Schutz keiner Gefährdung ausgesetzt sind, ergibt sich ebenfalls aus den Länderberichten, denen zufolge Rückkehrer gewöhnlich mit keinerlei Diskriminierung seitens der Behörden konfrontiert sind.
2.3. Zu den Feststellungen zu einer möglichen Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat:
2.3.1. Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat ergeben sich aus den o.a. Länderberichten zur Russischen Föderation und aus den Feststellungen zu ihren persönlichen Umständen. Die Sicherheitslage in der Russischen Föderation ist insbesondere für gewöhnliche Bürger stabil. Aus den übereinstimmenden Angaben der volljährigen BF in den mündlichen Verhandlungen wie bereits oben zu den Lebensumständen der BF in der Russischen Föderation ausgeführt, lebten die BF gemeinsam auch mit den Eltern des BF1 und seines Bruders vor ihrer Ausreise in einem Haus im Herkunftsort der BF und die Familienangehörigen wohnen weiterhin dort, weshalb den BF auch möglich wäre wieder im Herkunftsort gemeinsam im Haus mit der Familie des BF1 zu leben. In der Russischen Föderation besteht gemäß den Länderinformationen Bewegungsfreiheit und somit können die BF auch an einen anderen Ort in Tschetschenien oder auch außerhalb in der Russischen Föderation ziehen.
2.3.2. Aufgrund der Länderfeststellungen zur Grundversorgung und der Feststellungen zur Person der BF steht fest, dass diese nicht Gefahr laufen, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft im Falle einer Rückkehr nicht befriedigen zu können. Die BF1 und der BF2 verfügen über eine schulische und die BF2 über eine berufliche Ausbildung sowie insbesondere der BF1 über eine vielseitige Arbeitserfahrung im Baubereich, Transportbereich sowie Lebensmittelanbau und Verkauf (BF1: 9 Jahre Grundschule, Führerschein, Lkw-Fahrer, Bauarbeiten, Gemüseanbau in den familieneigenen Glashäusern; BF2: 11 Jahre Grundschule, 3 Jahre islamische Hochschule, Nähausbildung und Kochkurs), welche sie in ihrem Herkunftsstaat abgeschlossen bzw. gesammelt haben. Der BF1 und die BF2 sorgten auch vor ihrer Ausreise für den Lebensunterhalt und die Kinder. Die volljährigen BF sind gesund und gibt es keinen Grund an der Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit zu zweifeln. Die 7-jährige BF3 kann gemäß den Länderfeststellungen auch die Schule besuchen und spricht mit Russisch und Tschetschenisch auch zwei Ländersprachen. Gleichfalls kann der 4-jährige auch den Kindergarten in der Russischen Föderation besuchen. Es ist den BF daher auch möglich, sich an einem anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens wie zB St. Petersburg, Moskau, ein neues Leben aufzubauen und können sie unterstützend die verfügbaren Sozialleistungen, zB betreffend die Schaffung von Wohnraum oder der Arbeitslosenunterstützung, in Anspruch nehmen. Wobei die BF in Tschetschenien oder auch außerhalb über zahlreiche familiäre Anknüpfungspunkte verfügen, die ein Einkommen (Pension oder erwerbstätig) haben und es ihnen daher sicherlich möglich ist vorübergehend auch bei den Familienangehörigen Unterkunft zu beziehen oder finanzielle Unterstützung zu erhalten.
Aber auch kinderspezifische Gefahren für die BF 3-4 sind in der Russischen Föderation nicht gegeben. Wenngleich die Russische Föderation im Krieg gegen die Ukraine befindet, sind keine Gefahren für die russischen Bürger oder Kinder in der Russischen Föderation gegeben. Die BF3 und der BF4 reisen gemeinsam im Familienverbund mit ihren Eltern zurück und sind in der Obhut ihrer Eltern. Sie können in der Russischen Föderation den Kindergarten und die Schule besuchen, mit den Eltern eine Unterkunft beziehen und mit Unterstützung der Eltern ihren Lebensunterhalt finanzieren, dies wurde von der BF2 auch in der mündlichen Verhandlung bestätigt (Seite 24 des Verhandlungsprotokolls 1). Weiters gibt es auch für Familien soziale Unterstützung, an welchen Sie als russische Staatsbürger Anspruch haben. Die medizinische Versorgung ist in der Russischen Föderation gewährleistet und kostenlos. Auch für die BF2 als Frau sind keine frauenspezifische Gefahren gegeben. Sie kehrt ebenfalls mit ihrem Mann zurück und kann wie bisher als Hausfrau oder auch vor dem Hintergrund ihrer Hochschulausbildung eine Erwerbstätigkeit ausüben.
Dass die BF im Falle einer Rückkehr auch nicht in ihrem Recht auf Leben gefährdet sind oder gefährdet sind, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder zu einer Todesstrafe verurteilt zu werden, geht aus dem Länderinformationen zur Russischen Föderation hervor; dies wurde von den BF auch nicht glaubhaft behauptet. Der BF1 brachte nur unsubstantiiert dar, dass er Angst habe, dass die russischen Behörden ihn verhaften und womöglich foltern oder sogar töten würden sowie zwangsweise zum Wehrdienst einberufen und im Ukrainekrieg einsetzen. Laut den Länderfeststellungen besteht keine allgemeine Gefährdung für die körperliche Unversehrtheit von Rückkehrern. Die BF haben nie aktiv gegen das Regime opponiert, waren weder exilpolitisch noch journalistisch tätig, sodass den BF auch aufgrund ihrer vorgebrachten politischen Gesinnung keine Gefahr droht. Der BF 1 unterliegt auch bei Rückkehr nicht mehr dem Wehrdienst. Wie bereits dargelegt, ist er auch nicht als Grundwehrdiener oder Soldat registriert und unterliegt daher keiner Reservedienstverpflichtung. Beim BF 1 liegt auch keine sonstige militärische oder polizeiliche Ausbildung vor, sodass auch hier kein Interesse am BF 1bei Rückkehr bestehen wird. Er trat nie gegen das Regime oder Kadyrov auf und ist daher auch hier nicht im Blickfeld der Behörden. Eine Zwangsrekrutierung ist maßgeblich nicht wahrscheinlich, da er keiner Minderheit angehört und schon seit Geburt russischer Staatsbürger ist. Die Verwandten wurden bis dato keinen Represallien ausgesetzt und ist daher auch erkennbar, dass die BF nicht ins Blickfeld der Behörden geraten sind, sei es durch Aureise oder Nichtmeldung in Tschetschenien bzw. der nicht glaubhaften Vorladung vor den militärischen Behörden. Es ist ihnen daher bei Rückkehr einer aggressiven Anwerbungspolitik seitens der tschetschenischen Regierung zu entgehen, indem sie sich in anderen Orten wie Moskau oder St. Petersburg niederlassen.
Dass die BF mit der Lebensart und Kultur Tschetscheniens vertraut sind, steht auf Grund des persönlichen Eindrucks, den sie in der hg. mündlichen Verhandlung vermittelten, fest und mit den Feststellungen, dass sie ihr gesamtes Leben bis zur Ausreise im Jahr 2020 in Tschetschenien lebten, dort sozialisiert wurden und im Familienverband aufgewachsen sind und auch in Österreich mit dem Bruder des BF1 und weiteren tschetschenischen Familien und Freunde der BF in Kontakt sind, in Einklang. Die BF verfügen zudem über familiäre Anknüpfungspunkte (Eltern und Geschwister des BF1 und der BF2) in der Russischen Föderation, und zu denen sie auch weiterhin Kontakt halten.
2.2.3. Auch auf Grund des jeweiligen Gesundheitszustandes der BF haben sich keine Anhaltspunkte ergeben, die eine Rückkehr in die Russische Föderation iSd Art. 3 EMRK unzulässig machen würden. Laut den Länderberichten wird die medizinische Versorgung in der Russischen Föderation von staatlichen und privaten Einrichtungen zu Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung und ist davon auch die kostenlose Medikamentenabgabe hinsichtlich einer Vielzahl an Erkrankungen umfasst. Jeder russische Staatsangehörige, egal ob er einer Arbeit nachgeht oder nicht, ist von der Pflichtversicherung erfasst und können medizinische Leistungen ohne unzumutbaren Aufwand regionsunabhängig in Anspruch genommen werden. Die BF leiden an keinen schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen Krankheiten und gaben die BF2 und der BF1 aktuell in der mündlichen Verhandlung an, dass ihre Kinder die BF3 und der BF4 jetzt gesund sind (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls 2). Die angeführten gesundheitlichen Probleme der BF3 und des BF4 wurden im Bundesgebiet erfolgreich behandelt, sodass aktuell bis auf jährliche kinderorthopädische Kontrolluntersuchungen betreffend die BF3 keine weiteren medizinischen, stationären oder medikamentösen Behandlungen notwendig sind. Bei Bedarf wären diese Kontrolluntersuchungen oder in Zukunft andere notwendigen Behandlungsmaßnahmen oder die in der Vergangenheit betreffend der Hüftdysplasie der BF3 oder der chronischen Hals- und Rachenentzündung (Laryngitis, Pharyngitis) des BF4 gemäß den eingeholten medizinischen Anfragen bei der Staatendokumentation verfügbar und gewährleistet (Pkt. II.1.5.).
2.4. Zu den Feststellungen zur Situation der BF in Österreich:
2.4.1. Die Feststellungen zur Einreise des BF1, zum ersten rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahren des BF1 und seiner Abschiebung, zur erneuten Einreise der BF im Jahr 2020 sowie zum zweiten bzw. ersten rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren auf internationalen Schutz und dem Verfahrensgang ergeben sich aus dem unstrittigen Akteninhalt und eingeholten Akten der Vorverfahren, insbesondere auch aus den Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.07.2021, XXXX ua.
2.4.2. Die Feststellungen zur erneuten (dritten und zweiten) Antragstellung auf internationalen Schutz sowie dem weiteren Verfahrensgang ergeben sich ebenso aus dem unstrittigen Akteninhalt.
2.4.3. Die Feststellungen zu den Lebensumständen der BF in Österreich (Wohnsitz, Lebensunterhalt) gründen auf einen Auszug aus dem GVS betreffend Erhalt von Sozialleistungen, Auszug aus dem ZMR betreffend ihren Wohnsitz in Österreich und den diesbezüglichen übereinstimmenden Angaben des BF1 und der BF2 in der der Einvernahme und in den mündlichen Verhandlungen (Seite 7 des Einvernahmeprotokolls des BF 1; Seite 6f des Einvernahmeprotokolls der BF2; Seite 7f, 12 des Verhandlungsprotokolls 2).
2.4.4. Die weiteren Feststellungen zur aktuellen Situation der BF in Österreich, zu ihrer Aufenthaltsdauer, ihren Deutschkenntnissen, ihren Tagesabläufen, Freizeit, basieren insbesondere auf den aktuellen Angaben des BF1 und der BF2 in den mündlichen Verhandlungen. Die festgestellten geringen und anfänglichen Deutschkenntnisse des BF1 und der BF2 beruhen zudem auf den persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung, wo den BF auch ein paar Fragen ohne Verdolmetschung auf Deutsch gestellt wurden (vgl. Seite 17-26 des Verhandlungsprotokolls 1:
„BF2:
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Ja, ein bisschen sprechen Deutsch. Ich nicht so sprechen, aber verstehen alles.
RI: Erzählen Sie mir über ihren Tagesablauf!
BF: Manchmal nichts machen, manchmal Pensionat, dort brauchen Transfer oder ich brauche helfen. Ich mache alles. Was Chef sagen, kaufen so so und geben Geld. Neue Leute kommen, ich auch helfen, egal ob Russisch oder Syri oder Ukrainisch.
RI: Was tun Sie sonst noch?
BF: Was er sagt, ich mache alles.
RI: Sie stehen in der Früh auf. Was machen Sie dann?
BF: Das ich nicht verstehen.
RI: Gehen Ihre Kinder in den Kindergarten?
BF: Ja, beide. Nächstes Jahr XXXX geht in Kindergarten. Schule, Papiere auch.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen Großteils verstanden und mit gebrochenem Deutsch beantwortet hat.
BF1:
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Nein.
RI: Erzählen Sie mir über ihren Tagesablauf!
BF: Ich nichts verstehen. Meine Frau gute sprechen, aber ich nicht.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen teilweise verstanden und nicht entsprechend auf Deutsch beantwortet hat.
RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Das erlaubt man uns nicht.“;
Seite 7-9; 11-13 des Verhandlungsprotokolls 2:
BF2:
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Ja, bisschen.
[…]
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und auf Deutsch beantwortet hat.
BF1:
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Bisschen.
[…]
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen nicht verstanden und nicht richtig auf Deutsch beantwortet hat.“).
Es ergaben sich keine Hinweise an deren Angaben zu zweifeln. Der BF1 und die BF2 haben seit ihrer Einreise in Österreich im Jahr 2020 kaum soziale und sprachliche Integrationsmaßnahmen gesetzt, aber zeigten sich hinsichtlich der Hilfe für den Unterkunftgeber arbeitswillig, wobei beide über keine Arbeitsbewilligung verfügen und es sich hierbei um keine legale Erwerbstätigkeit handelt.
Dass die BF ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sind und trotz rechtskräftiger Rückkehrentscheidung vom 15.07.2021 unrechtmäßig im Bundesgebiet verblieben ergibt sich unstrittig aus dem Akteninhalt und brachten die BF auch selbst nicht vor, Österreich verlassen zu haben, sondern gaben selbst an, nicht ausgereist zu sein (Seite 5 des Einvernahmeprotokolls des BF1, Seite 5 des Einvernahmeprotokolls der BF2).
Die Feststellungen zu den minderjährigen BF und den Lebensumständen in Österreich beruhen auf den aktuellen Angaben des BF1 und der BF2 in den mündlichen Verhandlungen hierzu und den vorgelegten Integrationsunterlagen (Seite 20-22 des Verhandlungsprotokolls 1; Seite 11-13 des Verhandlungsprotokolls 2; Beilage mündliche Verhandlung 1: Bestätigungsschreiben Kindergartenbesuch). Die 7-jährige BF3 wollte befragt in der mündlichen Verhandlung zu ihren Leben in Österreich nichts erzählen (Seite 12 des Verhandlungsprotokolls).
2.4.5. Die Feststellungen zu den familiären und sozialen Bindungen in Österreich basieren gleichfalls auf den Angaben hierzu der BF in den mündlichen Verhandlungen (Seite 17, 24 des Verhandlungsprotokolls 1; Seite 9 des Verhandlungsprotokolls 2). Sowohl der BF1 als auch die BF2 verneinen in der mündlichen Verhandlung eine finanzielle Abhängigkeit zum Bruder des BF1 und beide führen darüber hinaus fast ausschließlich Kontakte zu tschetschenischen Freunde und Familien an, aber konnten anhand den Schilderungen zu den sozialen Bindungen im Bundesgebiet keine wichtigen Kontaktpersonen auch zu Österreichern außerhalb der Kernfamilie im Bundesgebiet festgestellt werden.
Insgesamt konnten vor dem Hintergrund der noch als kurz anzusehenden Aufenthaltsdauer von ca. 3,5 Jahren, bis auf den regelmäßigen Kontakt mit dem Bruder des BF1 und anderen tschetschenischen, afghanischen oder syrischen Familien, mit denen sie aber nicht in einem gemeinsamen Haushalt wohnen, kaum vorhandenen Deutschkenntnissen, keine außergewöhnlichen Integrationsmaßnahmen des BF1 und der BF2 festgestellt werden. Es wird nicht übersehen, dass der BF bereits vor der letzten Einreise in Österreich im Rahmen des ersten Antrages auf internationalen Schutzes in Österreich aufhältig war.
2.4.6. Dass der Aufenthalt der BF nie geduldet war, steht auf Grund des IZR-Auszuges fest und wurde von diesen auch nicht Gegenteiliges behauptet. Auch wurde von den BF nie vorgebracht, dass sie Zeugen oder Opfer von strafbaren Handlungen oder Opfer von sonstiger Gewalt waren.
2.5. Zu den Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation:
2.5.1. Die Parteien traten den den Länderfeststellungen zu Grunde liegenden Berichten bzw. ihren Quellen, zu denen das Bundesverwaltungsgericht Parteiengehör in den mündlichen Verhandlungen einräumte oder mittels Parteiengehör und Stellungnahmefristen auch verschickte, nicht substantiiert entgegen, sondern stützten sich selbst darauf.
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichten aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben und wurde die aktuellste Version 13 vom November 2023 der Länderinformationen der Staatendokumentation sowie auch weitere Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation sowie der Themenbericht der Staatendokumentation, die auch umfangreich Bezug auf den Ukraine-Krieg nehmen bereits ins Verfahren eingebracht sowie auch aufgrund der vorgelegten medizinischen Unterlagen betreffend die minderjährigen BF eine medizinische Anfragebeantwortung der Staatdokumentation eingeholt.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zulässigkeit und Verfahren:
Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da im vorliegenden Verfahren keine Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, liegt gegenständlich Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung, des Agrarverfahrensgesetzes und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Zu A)
3.2. Entscheidung über die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.):
3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen gefürchtet hätte (VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074). Die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung muss zudem in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen stehen (VwGH 22.03.2017, Ra 2016/19/0350).
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185; VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz dann zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010).
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd Zivilprozessordnung (ZPO) zu verstehen. Es genüge daher, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG § 45, Rz 3). Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht setztet positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der „hierzu geeigneten Beweismittel“, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (VwGH 19.03.1997, 95/01/0466).
Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt ist die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben ist (§ 11 Abs. 1 AsylG 2005).
3.2.2. Aus den in der Beweiswürdigung dargelegten Gründen brachte der BF1 keine asylrelevante Verfolgung oder den Erhalt eines Einberufungsbefehls und eine drohende Zwangsrekrutierung bzw. Einsatz im Krieg gegen die Ukraine glaubhaft vor. Der BF1 und die BF2 waren auch nie Mitglied in einer politischen Partei oder sonstigen politischen Gruppierung, waren weder öffentlich journalistisch oder sonst öffentlich und auf ihre Person rückverfolgbar regimekritisch tätig, und konnte daher auch nicht nachvollziehbar darlegen, weshalb ein Interesse der russischen Behörden an dem BF1 oder der BF2 bestehen sollte, zumal der BF1 vor seiner Ausreise mit den staatlichen Behörden nicht in Konflikt geraten war und sich im Jahr 2012 einen russischen Führerschein und für den minderjährigen BF2 im März 2022 einen Auslandsreisepass ausstellen ließ oder auch im Jahr 2017 sich eine Arbeitsbestätigung der Polizei, wo er 1995 bis 1997 ohne Ausbildung im Posten- und Patrouillendienst als Untersergeant tätig war, ausstellen. Auch aus dem Vorbringen hinsichtlich einer möglichen Einberufung zum Wehrdienst bzw. Reservedienst konnte aus den in der Beweiswürdigung angeführten Gründen keine konkrete und individuelle Verfolgung bezüglich des BF1 glaubhaft gemacht werden. Der BF ist mit dem Alter über 30 Jahren nicht mehr grundwehrdienstpflichtig und war dies auch zum Zeitpunkt des Beginns des Ukrainekrieges nicht, leistete keinen Grundwehrdients und ist daher nicht Reservedienstpflichtig bzw. nicht in der Kategorie 1 der Reservisten, wodurch er auch nicht für die Teilmobilmachung gegen den Krieg in die Ukraine vorgesehen war, wozu noch anzmerken ist, dass diese bereist abgeschlossen ist. Der BF unterliegt keiner verdeckten Mobilisierung, ihm wurde kein finanzielles Angebot zur Teilnahme am Krieg gegen die Ukraine übergeben und gehört keiner Minderheit an oder ist er kürzlich russsicher Staatsbürger geworden, wodurch ein Interessse einer zwangsweisen Rekrutierung an ihm bestand oder bestehen würde. Die Angaben, dass ein Sprengelpolizist eine Ladung den Eltern des BF1 übergeben hat, wonach er sich bei der Polizeistelle melden sollte, waren widersprüchlich und auch wenn im Bundesgebiet die Polizei keine Verfälschung der Ladung nach ihrem Wissenstand feststellte, so stellte sie auch nicht fest, dass die Ladung echt ist und geht das erkennende Gericht wie in der Beweiswürdigung ausführlich dargelegt von einem Gefälligkeitsdokument gegen Bezahlung aus, wie es in den letzten Jahren häufig vorkommt und in den Länderberichten festgehalten ist. Der BF blieb grob und vage in seinen Angaben und konnte durch die äußerst spekulativen und vor den Hintergrund der Länderberichte nicht plausiblen Ausführungen eine drohende Einberufung zum Wehrdienst und Einsatz im Ukrainekrieg nicht glaubhaft darlegen. Auch aus den eingebrachten Berichten ist nicht ableitbar, dass nunmehr jeder in den Krieg in die Ukraine einberufen werden, zumal auch die Teilmobilisierung beendet ist, wenngleich nicht formell, aber der BF1 mit seinem Alter und nicht vorhandener militärischer Ausbildung nicht in den Fokus der Behörden geraten ist und er nie einen Grundwehrdienst geleistet hat und nicht mehr im wehrfähigen Alter ist. Eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit der Einziehung des BF1 und zwangsweisen Einsatz im Ukrainekrieg ist vor dem Hintergrund der Länderinformationen nicht objektivierbar und nicht plausibel. Auch war die zugestellte Ladung nicht glaubhaft, zumal die Brüdes BF 1 und der BF 2 sowie die Eltern weiterhin ungehindert in Tschetschenien leben konnten und soziale Leistungen erhielten, obwohl den Länderberichten zu entnehmen ist, dass bei Nichtbefolgung des Einsatzes gegen die Ukraine es zu Repressalien gegen Verwandte kommt, gerade auch dies nicht geschehen ist. Es ist weiterhin lebensfremd, dass gerade jene Person der Familie des BF 1 und BF 2 (Brüder) zwangsweise zum Militärdienst herangezogen wirde, welcher seit Jahren nicht mehr in Tschetschenien lebt, die anderen Brüder jedoch ungehindert einer Arbeit nachgehen können. Zudem wäre dem BF1 gemeinsam mit den restlichen BF auch eine innerstaatliche Fluchtalternative offen gestanden, falls er mit dem gefälschten Schreiben unter Druck gesetzt worden wäre. Er hätte sich auch außerhalb der Teilrepublik Tschetscheniens in einem anderen Teil der Russischen Föderation niederlassen können, zumal er als Person mit über 30 Jahren und ohne Grundwehrdienst in keiner entsprechenden Reservedienstliste aufscheint. Auf vollständige Mobilmachung hat noch nicht stattgefunden. Darüber hinaus wurden bis auf die erhaltene Ladung, keine anderen Verfolgungs- oder Bedrohungsgründe im Herkunftsstaat zu keinem Zeitpunkt im Verfahren vorgebracht. Die BF2 sowie die 7-jährige BF3 und der 4-jährige BF4 haben keine eigenen Fluchtgründe bzw. konnten auch keine frauen- oder kinderspezifischen Gründe einer Bedrohung oder Verfolgung festgestellt werden.
Es kann auch keine konkrete und individuelle Verfolgung aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit der BF festgestellt werden.
Die BF waren und sind keiner konkreten und individuell gegen sie gerichteten Verfolgung oder Bedrohung in der Russischen Föderation ausgesetzt.
3.2.3. In Ermangelung von den BF individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt im Lichte der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu prüfen, ob sie im Herkunftsstaat aufgrund generalisierender Merkmale – etwa wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tschetschenen oder zur Religionsgruppe des Islams – unabhängig von individuellen Aspekten einer über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehenden „Gruppenverfolgung“ ausgesetzt wäre. Für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung ist zwar nicht entscheidend, dass sich die Verfolgung gezielt gegen Angehörige nur einer bestimmten Gruppe und nicht auch gezielt gegen andere Gruppen richtet (VwGH 17.12.2015, Ra 2015/20/0048, mit Verweis auf VfGH 18.09.2015, E 736/2014).
Muslimen droht als Angehörigen der zweitgrößten Glaubensgemeinschaft und einer der traditionellen Hauptreligionen Russlands keine Verfolgung. Aus den Länderberichten geht auch hervor, dass in der Russischen Föderation rund 20 Millionen Muslime leben. Lediglich Dschihadisten und radikalere, aus dem Nahen und Mittleren Osten beeinflussten Gruppen, drohen strenge Strafen und stehen diese insbesondere im Nordkaukasus unter scharfer Beobachtung der Behörden; dass die BF zu diesen Gruppen gehören, haben sie nicht behauptet und ist auch nicht ersichtlich.
Es kann auf Grund der Länderberichte auch keine ethnische Gruppenverfolgung von Tschetschenen festgestellt werden: Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert für alle ethnischen Gruppen gleiche Rechte und Freiheiten. Der Vielvölkerstaat Russland umfasst mehr als 190 ethnische Minderheiten. Tschetschenen leben überall in der Russischen Föderation. Es ist sohin nicht erkennbar, dass die BF in der Russischen Föderation grundsätzlich benachteiligt bzw. Übergriffen ausgesetzt sind und wurde dies auch vom BF1 oder BF2 selbst nie substantiell vorgebracht.
3.2.4. Den BF droht aus den in der Beweiswürdigung dargelegten Gründen bei seiner Wiedereinreise in die Russischen Föderation daher keine Gefahr. Zurückkehrende werden wegen der Stellung eines Asylantrages im Ausland oder ihrem Aufenthalt im Ausland nicht verfolgt.
3.2.5. Da keiner der BF Familienangehöriger eines Asylberechtigten ist, kommt auch eine Asylgewährung im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 3 AsylG 2005 nicht in Frage.
3.2.6. Das Vorbringen der BF zu den Fluchtgründen ist nicht glaubhaft (siehe Beweiswürdigung); es bestehen daher keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass das Leben oder die Freiheit der BF im Falle ihrer Rückkehr aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten bedroht ist.
Aufgrund der getroffenen Feststellungen und der durchgeführten Beweiswürdigung ist die Entscheidung der belangten Behörde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten zu bestätigen und waren die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. abzuweisen.
3.3. Entscheidung über die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.):
3.3.1. Wird ein Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen, so ist dem Fremden gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß Art. 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
Unter realer Gefahr ist eine ausreichend echte, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (vgl. VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573). Es müssen stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre. Weiters müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die betroffene Person einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus.
Die Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen, die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu gelangen.
Gemäß der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erfordert die Beurteilung des Vorliegens eines tatsächlichen Risikos eine ganzheitliche Bewertung der Gefahr an dem für die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK auch sonst gültigen Maßstab des „real risk“, wobei sich die Gefahrenprognose auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582; 31.05.2005, 2005/20/0095).
Es obliegt grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde. Es reicht für den Asylwerber nicht aus, sich bloß auf eine allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage zu berufen (VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016; VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307; VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134).
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137; VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016).
3.3.2. Es sind keine Umstände amtsbekannt, dass in der Russischen Föderation aktuell eine solche extreme Gefährdungslage besteht, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, einer Gefährdung im Sinne des Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt ist. Wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt, ist die Situation in der Russischen Föderation auch nicht dergestalt, dass eine Rückkehr der BF für sie als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde; in der Russischen Föderation ist eine Zivilperson aktuell nicht alleine aufgrund ihrer Anwesenheit einer solchen Bedrohung ausgesetzt.
Auch Kinder sind keiner spezifischen Gefahr ausgesetzt die eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit befürchten lassen. Die BF3 und der BF4 können gemeinsam mit ihren Eltern zurückkehren, einen Kindergarten und eine Schule besuchen, eine Ausbildung absolvieren und später einen Beruf nachgehen. Der Unterhalt kann von den Eltern finanziert werden, welche einer Arbeit nachgehen können, wie sie es auch vor der Ausreise gemacht haben und bei Bedarf gibt es soziale Unterstützung, welche zwar seit dem Beginn des Krieges vermindert ist jedoch noch ausreichend oder können die BF auch anfänglich durch die Eltern oder auch Geschwister des BF1 sowie Eltern und Geschwister der BF2 und vielen weiteren Verwandten im Herkunftsgebiet finanziell unterstützt werden, wenngleich dies zur Erhaltung des Lebensunterhaltes nicht notwendig ist. Die BF können auch wieder in das Familienhaus zurückkehren und wie vor ihrer Ausreise im gemeinsamen Haushalt mit den Eltern und dem Bruder des BF1 leben oder können der BF1 und die BF2 für sich und die minderjährigen BF3-4 selbst eine Wohnung mieten und den Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit bestreiten. Die BF, auch die BF3 und der BF4 sind aktuell bis auf empfohlene kinderorthopädische Kontrolluntersuchungen betreffend die BF3, gesund und nicht pflegebedürftig.
3.3.3. Das Vorbringen der BF zu den Fluchtgründen ist nicht glaubhaft (siehe Beweiswürdigung); es bestehen daher keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass das Leben oder die Freiheit der BF im Falle ihrer Rückkehr aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten bedroht ist.
3.3.4. Vor dem Hintergrund der genannten Erkenntnisquellen und den darauf basierenden Feststellungen finden sich weder Anhaltspunkte dafür, dass die BF bei einer Rückkehr bzw. Einreise in ihren Herkunftsstaat mit der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer Gefährdungssituation im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ausgesetzt sind, noch das „außergewöhnliche Umstände“ der Rückkehr bzw. Einreise der BF in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen. Es steht fest, dass den BF in der Russischen Föderation die notdürftigste Lebensgrundlage nicht fehlt, zumal ihnen als Staatsangehörige der Russischen Föderation und Beherrschung der russischen und tschetschenischen Sprache der Zugang zum staatlichen Sozial- und Krankenversicherungssystem offensteht. Entsprechend ihrer bisherigen Ausbildung und Arbeitserfahrung können die volljährigen BF eine Beschäftigung ausüben und somit den Lebensunterhalt bestreiten. Den BF ist es somit möglich, ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Sie können wieder in ihrer Herkunftsprovinz Tschetschenien Fuß fassen und im Familienhaus des BF1 wohnen, aber auch außerhalb des Nordkaukasus oder auch bei den Familienangehörigen (Geschwister und Eltern der BF2, zahlreiche weitere Verwandten) in Tschetschenien oder in anderen Regionen der Russischen Föderation z.b Moskau, St. Petersburg Unterkunft erlangen, wo sie ebenfalls als innerstaatliche Fluchtalternative sich niederlassen können, zumal in der Russischen Föderation Niederlassungsfreiheit besteht. Weiters haben die BF zahlreiche familiäre Anknüpfungspunkte, welche ihnen bei der Arbeitssuche oder anderen anfänglichen Schwierigkeiten unterstützen können. Die 7-jährige BF3 kann die Schulde und der 4-jährige BF4 den Kindergarten und später die Schule besuchen und im Familienverband aufwachsen. Dies wird auch mit Unterstützung ihrer Eltern trotz den aktuell erfolgreich behandelten Vorerkrankungen der minderjährigen BF (Hüftprobleme der BF3 und chronische Rachenentzündungen des BF4) möglich sein.
3.3.5. Die BF sind aktuell, bis auf Kontrolluntersuchungen der BF3 betreffend ihrer Hüftoperation gesund und steht aufgrund der Länderberichte und entsprechend den vorgelegten medizinischen Unterlagen auch eingeholten medizinischen Anfragebeantwortungen fest, dass eine allgemeine medizinische Versorgung sowie auch kinderorthopädische oder auch eine stationäre und ambulante Behandlung und Nachsorge durch einen Kinderarzt und pädiatrischen Pulmologen sowohl in Tschetschenien, als auch in anderen Teilen der Russischen Föderation gewährleistet ist. Exzeptionelle Umstände wurden zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr behauptet und kann nicht festgestellt werden, dass die BF an akuten und lebensbedrohlichen Erkrankungen leiden, welche in der Russischen Föderation nicht behandelbar sind und im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat allenfalls zu einer Überschreitung der hohen Eingriffsschwelle des Art. 3 EMRK führen würden, sodass auch ihre gesundheitliche Verfassung einer Abschiebung nicht entgegensteht (zur Judikatur hinsichtlich der Abschiebung kranker Fremder vgl. VfSlg. 18.407/2008).
Unter Berücksichtigung der Länderberichte und der persönlichen Situation der BF steht in einer Gesamtbetrachtung fest, dass sie im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation nicht in eine ausweglose Lebenssituation geraten und real Gefahr laufen werden, eine Verletzung ihrer durch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden. Es liegen keine exzeptionellen Gründe vor, die einer Rückkehr in die Russische Föderation entgegenstehen. Die Prüfung der maßgeblichen Kriterien führt im konkreten Fall zu dem Ergebnis, dass den BF eine Rückkehr möglich und auch zumutbar ist. Auf Grund der Länderberichte steht auch fest, dass sich die BF nicht nur in Tschetschenien, sondern auch an jedem anderen Ort in der Russischen Föderation (zB Moskau oder St. Petersburg) niederlassen und registrieren lassen können.
3.3.6. Auch unter Berücksichtigung des von Russland geführten Ukraine-Kriegs ergeben sich keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne des Art. 3 EMRK. Russland setzt im Krieg in der Ukraine Berufssoldaten ein und wurde keine Generalmobilmachung verkündet, sodass auf Grund des Alters des BF1 und nicht abgeleisteten Grundwehrdienst, fehlenden speziellen militärischen Ausbildung und auch nicht unter die Kategorie 1 der Reservisten fällt, nicht Gefahr läuft, zwangsweise im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt zu werden.
3.3.7. Da kein „real risk“ besteht, dass die Rückführung der BF in ihren Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK führen wird und keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die gegen eine Abschiebung in die Russische Föderation sprechen, vorliegen, ist den BF der Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen.
Auch kommt eine Gewährung subsidiären Schutzes im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 3 AsylG 2005 nicht in Betracht, da keiner der BF Familienangehöriger eines subsidiär Schutzberechtigten ist.
Das Bundesamt hat daher den BF den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu Recht nicht zuerkannt und waren die Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide daher abzuweisen.
3.4. Entscheidung über eine Rückkehrentscheidung und damit in Zusammenhang stehende Absprüche (Spruchpunkt III.-V.):
3.4.1. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht zu erteilen ist.
3.4.2. Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen, wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt (Z 1), wenn dies zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel notwendig ist (Z 2) oder wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist (Z 3).
Die BF befinden sich seit November 2020 im Bundesgebiet, wobei sie von Juli 2021 bis Juli 2022 unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig waren. Der Aufenthalt der BF ist im Bundesgebiet nicht im Sinne der soeben dargelegten Bestimmung geduldet bzw. zur Gewährleistung einer Strafverfolgung erforderlich. Sie sind aktuell weder Zeugen oder Opfer von strafbaren Handlungen noch Opfer von Gewalt in einem laufenden Verfahren. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies weder im verwaltungsbehördlichen, noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren behauptet wurde.
3.4.3. Gemäß § 52 Abs. 2 FPG iVm § 10 AsylG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Die BF sind als Staatsangehörige der Russischen Föderation keine begünstigten Drittstaatsangehörigen und es kommt ihnen kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu, weil mit der erfolgten Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz das Aufenthaltsrecht nach § 13 AsylG 2005 mit der Erlassung dieser Entscheidung endet.
Daher liegen die Voraussetzungen für die Prüfung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 FPG vor.
3.4.4. Das Bundesamt hat gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG rechtskräftig auf Dauer für unzulässig erklärt wurde.
Ob eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, ergibt sich aus § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG: Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist nach § 9 Abs. 1 BFA-VG die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen: die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet war (Z 9).
Gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruhen, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff. NAG) verfügten, unzulässig wäre.
Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn darf eine Ausweisung nicht erlassen werden, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden schwerer wiegen, als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes, gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wurde – die oben genannten Kriterien zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 18.224/2007; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; 26.01.2006, 2002/20/0423).
3.4.4.1. Vom Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z. B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, Appl. 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, Appl. 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, welche miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Art. 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig. Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus; die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammenleben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind (vgl. etwa VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423; 08.06.2006, 2003/01/0600; 26.01.2006, 2002/20/0235, worin der Verwaltungsgerichtshof feststellt, dass das Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern nicht automatisch mit Erreichen der Volljährigkeit beendet wird, wenn das Kind weiter bei den Eltern lebt).
Der BF1 und die BF2 sind verheiratet und die mj. BF3 und der mj. BF4 sind ihre Kinder. Die BF leben zusammen in einem Haushalt, der BF1 und die BF2 sind obsorgeberechtigt.
Die BF verfügen darüber hinaus mit einem Bruder und einem Cousin des BF1 über weitere Familienangehörige im Bundesgebiet. Sie haben zu ihren Familienangehörigen bzw. Verwandten regelmäßig über Besuche oder telefonischen Kontakt. Der Bruder des BF1 bringt Süßigkeiten für die Kinder bei Besuchen mit, aber besteht darüber hinaus keine regelmäßige finanzielle Unterstützung und leben die BF mit ihren Verwandten nicht in einem gemeinsamen Haushalt und besteht kein Abhängigkeitsverhältnis. Die BF beziehen Leistungen aus der Grundversorgung und leben zusammen in einem Haushalt.
Die Beziehung der BF zueinander fällt sohin als schützenswertes Familienleben in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK. Zu den Verwandten (Bruder und Cousin des BF1) der BF besteht zwar Kontakt, aber kein Abhängigkeitsverhältnis, sodass dieses Verhältnis nicht unter das Familienleben, sondern unter das Privatleben der BF zu subsumieren ist. Sonstige Familienangehörige oder Verwandte haben die BF im Bundesgebiet nicht. Durch die gemeinsame Ausweisung bzw. Rückkehrentscheidung betreffend eine Familie wird nicht in das Familienleben der Fremden eingegriffen (VwGH 18.03.2010, 2010/22/0013; 19.09.2012, 2012/220143; 19.12.2012, 2012/22/0221; vgl. EGMR 09.10.2003, Fall Slivenko, NL 2003, 263).
3.4.5.2. Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. EGMR 16.06.2005, Fall Sisojeva ua., Appl. 60654/00, EuGRZ 2006, 554).
Bei der Beurteilung der Frage, ob der BF in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügt, spielt die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle, da – abseits familiärer Umstände – eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541). Einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zu (VwGH 15.03.2016, Ra 2016/19/0031; VwGH 23.06.2015, Ra 2015/22/0026). Im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG ist es jedoch maßgeblich relativierend, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitprunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthalts bewusst sein musste (vgl. VwGH 09.03.2022, Ra 2022/14/0044-0047, mwN).
Die BF reisten gemeinsam illegal im November 2020 ins Bundesgebiet ein, der BF1 reiste bereits zuvor im Jahr 2014 nach Österreich und wurde im Jahr 2015 nach Russland abgeschoben. Sie hielten sie sich zunächst auf Grund ihrer Asylantragstellung als Asylwerber bis zu mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.07.2021 rechtskräftigen Rückkehrentscheidung im Bundesgebiet auf und kamen danach ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nach. Am 07.07.2022 stellten die BF ihre zweiten Anträge bzw. der BF1 seinen dritten Antrag auf internationalen Schutz und halten sich bis dato (wiederum) als Asylwerber rechtmäßig auf. Im Hinblick darauf ist die Dauer des Aufenthalts der BF im Bundesgebiet von ca. 3,5 Jahren verhältnismäßig kurz, zumal sie sich davon ca. 1 Jahr unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten. Der BF1 hielt sich zuvor von 2014 bis 2015 bereits ca. 1 Jahr im Bundesgebiet auf, aber wurde 2015 nach Russland abgeschoben und lebte im Anschluss wieder von 2015 bis 2020 sohin für 5 Jahre in der Russischen Föderation. Der Aufenthaltsdauer allein wird keine maßgebliche Bedeutung zugemessen, zumal der rechtmäßige Aufenthalt lediglich aufgrund der jeweiligen Asylverfahren bestand bzw. besteht und die BF einer rechtskräftigen Rückkehrentscheidung nicht entsprochen haben, sondern neuerlich Anträge auf internationalen Schutz gestellt haben. Auch wenn man davon ausginge, dass die BF über geschütztes Privatleben iSd Art. 8 EMRK in Österreich verfügen, wäre der Eingriff verhältnismäßig:
Zunächst ist nochmals darauf zu verweisen, dass gegen die BF bereits eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung erlassen wurde. Im Rahmen der erlassenen Rückkehrentscheidung wurde bereits eine Beurteilung aus dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK durchgeführt. Da diese Entscheidung nunmehr knapp 3 Jahre zurückliegt ist damit zu rechnen, dass sich hier der Sachverhalt maßgeblich ändern konnte, sodass hier erneut aufgrund konkreter, individueller Umstände und einen persönlichen Eindruck eine Interessensabwägung durchzuführen ist. So hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass der „relativ geringe zeitliche Abstand von ungefähr zwei Jahren (vgl. VwGH 22.07.2011, 2011/22/0138 bis 0141), aber auch ein etwa mehr als zweieinhalbjähriger Zeitablauf (vgl. VwGH 15.12.2011, 2010/21/0228) für sich allein noch keine maßgebliche Sachverhaltsänderung sei, die eine Neubeurteilung im Sinne des Art. 8 EMRK erforderlich macht, aber liegt gegenständlich die erlassene Rückkehrentscheidung bereits fast drei Jahre zurück.
Die BF reisten nicht rechtmäßig nach Österreich ein und der Aufenthalt der BF gründet seither auf ihren – von Anfang an unbegründeten – ersten und zweiten Asylantrag; ihr Aufenthalt war während des ersten und zweiten Asylverfahrens rechtmäßig. Das Verfahren über den – ersten – Asylantrag der BF dauerte nur ca. 8 Monate und das Verfahren über den gegenständlich zweiten Asylantrag ca. 2 Jahre, wobei hinsichtlich der zahlreichen vorgelegten medizinischen Unterlagen betreffend der minderjährigen BF spezielle Länderinformationen zur medizinischen Versorgung im Herkunftsland eingeholt wurden und damit sich das Verfahren etwas verzögerte und die BF sind unbescholten.
Im Vergleich zu den noch stark ausgeprägten Bindungen zum Herkunftsstaat sind die Bindungen der BF zu Österreich noch zu gering:
Das erkennende Gericht übersieht nicht, dass die BF sich in den Jahren ihres Aufenthalts um ihre Integration bemüht sind, auch die vereinzelten Empfehlungsschreiben sind hier berücksichtigt, aber besuchten der BF1 und die BF2 während ihres mittlerweile über dreijährigen Aufenthalts keinen Deutschkurs und absolvierten auch keine Deutsch- und oder Integrationsprüfung. Der BF1 hat kaum Deutschkenntnisse, die BF2 hat sich Basiskenntnisse in Deutsch angeeignet. Darüber hinaus bildeten sich die volljährigen BF nicht weiter und sind nicht selbsterhaltungsfähig, obwohl sie glaubhaft arbeitswillig sind, aber abgesehen von illegalen Erwerbstätigkeiten ohne notwendige Arbeitsbewilligung keiner legalen Beschäftigung nachgehen und auch nicht ehrenamtlich tätig sind oder sonst anderwärtig kulturellen oder sportlichen Aktivitäten in Vereinen nachgehen.
Die Kinder besuchten den Kindergarten und erlernten bereits besser die deutsche Sprache und die BF3 besucht seit September 2023 die Volksschule. Entsprechend dem Aufenthalt in einer altersgemäß anpassungsfähigen Lebensphase sprechen die BF3 und der BF4 gut Deutsch und sind durch den Kindergarten- und Schulbesuch sozial und sprachlich integriert. Die 7-jährige BF3 und der erst 4-jährige BF4 wachsen gleichzeitig im tschetschenischen Familienverband auf und sind die BF2 und der BF1 ihre Hauptbezugspersonen.
Die BF leben in einer Bundesbetreuungsstelle und haben abgesehen vom Bruder und Cousin des BF1, keine sonstigen enge sozialen Bindungen im Bundesgebiet und finanzieren ihren Aufenthalt durch Leistungen aus der Grundversorgung. Sie haben somit auch außerhalb ihren tschetschenischen Verwandten noch kaum soziale Bindungen im Bundesgebiet aufgebaut und sind diese vor dem Hintergrund der Rechtsprechung zu relativieren, weil den BF ihr unsicherer Aufenthalt bewusst sein musste. Eine intensive soziale Beziehung zu anderen Personen konnten weder der BF 1 noch die BF 2 darlegen, welche zwar angaben einige Bekannte und Freunde zu haben, jedoch beziehen sie sich hier vordergründig auf andere tschetschenische Familien und Freunde oder auf lose Bekanntschaften aus dem Grundversorgungsquartier.
Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.
In einer Gesamtbetrachtung stellt sich der Grad der sprachlichen, sozialen und beruflichen Integration der BF daher in Relation zur Aufenthaltsdauer als nicht außergewöhnlich dar, wobei ein Integrationswille erkennbar ist.
Im Vergleich zu den kaum vorhandenen sprachlichen, sozialen und beruflichen Bindungen in Österreich, sind die Bindungen zum Herkunftsstaat noch stark:
Der BF1 und die BF2 haben aufgrund dessen, dass sie ihr Leben bis zur Ausreise 2020 (abgesehen der BF1 von 2014-2015 in Österreich war) in Tschetschenien verbracht haben und im Herkunftsort (Eltern und Geschwister des BF1 und der BF2) oder auch außerhalb in Tschetschenien oder auch in Russland Verwandte (Onkel, Tanten, Cousin und Cousinen des BF1) haben, sehr starke Bindungen an ihren Herkunftsstaat. Sie sprechen fließend Russisch und Tschetschenisch, sind mit der russischen und tschetschenischen Kultur und Lebensart sozialisiert worden und mit dieser noch vertraut, sie besuchten dort die Grundschule, die BF2 auch die Hochschule, machte eine Nähausbildung sowie einen Kochkurs und waren dort selbsterhaltungsfähig und auch in der Russischen Föderation erwerbstätig. Der BF1 und die BF2 gründeten in der Russischen Föderation eine Familie und lebten gemeinsam in einem Haus. Ihre Kinder, die BF3 und der BF4 haben aufgrund ihres jeweiligen Alters vergleichsweise geringere Bindungen an den Herkunftsstaat, haben jedoch dort bis zu ihrer Ausreise 2020 die BF3 zumindest 4 Jahre und der BF 4 1 Jahr gelebt und haben die russische und tschetschenische Sprache auch im tschetschenischen Familienverband im Bundesgebiet gelernt und kennen über ihre Eltern und den regelmäßigen Kontakt mit den Familienangehörigen in Tschetschenien die tschetschenische und russische Kultur und beherrschen daher zwei Sprachen, welche in der Schule und im öffentlichen Bereich verwendet wird aber auch in ihrem privaten und sozialen Umfeld.
Dass der Fremde strafrechtlich unbescholten ist, vermag weder sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich zu verstärken noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen (zB VwGH 25.2.2010, 2009/21/0070; 13.10.2011, 2009/22/0273; 19.4.2012, 2011/18/0253).
Das Interesse der BF an der Aufrechterhaltung ihres Privatlebens in Österreich ist noch zusätzlich dadurch geschwächt, dass sie sich bei allen Integrationsschritten ihres unsicheren Aufenthalts und damit auch der Vorläufigkeit ihrer Integrationsschritte bewusst sein mussten, insbesondere nach der bereits rechtskräftigen Rückkehrentscheidung im Juli 2021. Die BF durften sich hier bisher nur auf Grund ihres Antrags auf internationalen Schutz aufhalten, der zu keinem Zeitpunkt berechtigt war (vgl. zB VwGH 20.2.2004, 2003/18/0347; 26.2.2004, 2004/21/0027; 27.4.2004, 2000/18/0257; sowie EGMR 08.04.2008, Fall Nnyanzi, Appl. 21.878/06, wonach ein vom Fremden in einem Zeitraum, in dem er sich bloß aufgrund eines Asylantrages im Aufnahmestaat aufhalten durfte, begründetes Privatleben per se nicht geeignet war, die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffes zu begründen). Auch der Verfassungsgerichtshof misst in ständiger Rechtsprechung dem Umstand im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK wesentliche Bedeutung bei, ob die Aufenthaltsverfestigung des Asylwerbers überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgte, weil der Asylwerber über keine, über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung verfügte. In diesem Fall muss sich der Beschwerdeführer bei allen Integrationsschritten im Aufenthaltsstaat seines unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte bewusst sein (VfSlg. 18.224/2007, 18.382/2008, 19.086/2010, 19.752/2013). Wenngleich minderjährigen Kindern der unsichere Aufenthaltsstatus nicht vorzuwerfen ist, muss das Bewusstsein der Eltern über die Unsicherheit ihres Aufenthalts auch auf die Kinder durchschlagen, wobei diesem Umstand allerdings bei ihnen im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zukommt (VwGH 28.02.2020, Ra 2019/14/0545; VwGH 07.03.2019, Ra 2019/21/004; VfGH 10.03.2011, B1565/10).
Der VwGH hat festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Ausweisung als dringend geboten erscheinen lässt (vgl. VwGH 31.10.2002, 2002/18/0190).
Die ersten Anträge der BF auf internationalen Schutz wurden in erster und zweiter Instanz negativ entschieden. Die negativen Entscheidungen und Rückkehrentscheidungen wurden rechtskräftig und kamen die BF ihren Ausreiseverpflichtungen nicht nach, verblieben unrechtmäßig im Bundesgebiet und stellten ca. 1 Jahr später neuerlich Anträge auf internationalen Schutz, sodass sie seitdem erneut lediglich aufgrund des laufenden Asylverfahrens aufenthaltsberechtigt sind. In Bezug auf die Aufenthaltsdauer und da keine Aspekte einer außergewöhnlichen Integration hervorgekommen sind, ist nicht erkennbar, dass aus dem im Zeitraum des lediglich aufgrund der Asylverfahren rechtmäßigen Aufenthaltes entstandenen Privatlebens die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig zu erklären wäre.
Vor diesem Hintergrund wiegt in Anbetracht der erst sehr kurzen Aufenthaltsdauer (3,5 Jahre, davon ein Jahr nicht rechtmäßig) und nicht nachkommen der Ausreiseverpflichtung im Juli 2021 und ersten Integrationsbemühungen des BF1 und der BF2 dennoch im Vergleich zu den stark ausgeprägten Bindungen im Herkunftsstaat das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung schwerer als ihr Interesse an der Aufrechterhaltung ihres Privatlebens in Österreich.
3.4.4.3. Gemäß § 9 Abs. 1 und 2 BFA-VG sind bei einer Rückkehrentscheidung, von welcher Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, die bestehenden Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt hinsichtlich der Beurteilung des Kriteriums der Bindungen zum Heimatstaat nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 10.09.2021, Ra 2021/18/0158 bis 0163; mwN).
Das „Kindeswohl“ ist ein Rechtsbegriff, der letztlich von den Behörden und Gerichten zu beurteilen ist. § 138 ABGB enthält eine nicht abschließende Aufzählung von für das Wohl des Kindes bedeutenden Aspekten, um in allen das minderjährige Kind betreffenden Angelegenheiten unter anderem den Behörden und Gerichten Anhaltspunkte für die Beurteilung dieses Rechtsbegriffs zu bieten (vgl. VwGH 15.05.2019, Ra 2018/01/0076).
§ 138 ABGB dient auch im Bereich verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in denen auf das Kindeswohl Rücksicht zu nehmen ist, als Orientierungsmaßstab (vgl. VwGH 29.09.2021, Ra 2021/01/0294 bis 0295; 14.12.2020, Ra 2020/20/0408; 23.09.2020, Ra 2020/14/0175; 30.04.2020, Ra 2019/21/0362 bis 0365; 24.09.2019, Ra 2019/20/0274). Insbesondere ist der Frage der angemessenen Versorgung und sorgfältigen Erziehung der Kinder (Z 1), der Förderung ihrer Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten (Z 4) sowie allgemein um die Frage ihrer Lebensverhältnisse (Z 12) nachzugehen. Aus der genannten Bestimmung ergibt sich überdies, dass auch die Meinung der Kinder zu berücksichtigen ist (Z 5) und dass Beeinträchtigungen zu vermeiden sind, die Kinder durch die Um- und Durchsetzung einer Maßnahme gegen ihren Willen erleiden könnten (Z 6). Ein weiteres Kriterium ist die Aufrechterhaltung von verlässlichen Kontakten zu wichtigen Bezugspersonen und von sicheren Bindungen zu diesen Personen (Z 9) (vgl. VwGH 30.04.2020, Ra 2019/21/0362 bis 0365). Die Berücksichtigung des Kindeswohls stellt im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen lediglich einen Aspekt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung dar; das Kindeswohl ist daher bei der Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen von Fremden nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium. Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung bzw. Interessenabwägung hängt vielmehr von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab (vgl. VwGH 29.09.2021, Ra 2021/01/0294 bis 0295; 08.09.2021, Ra 2021/20/0166 bis 0170).
Führt die Überprüfung des Kriteriums nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG 2014 zu dem Ergebnis, dass ein/e Minderjährige/r zum Heimatland keine oder nur mehr äußerst geringe Bindungen aufweist, wird das - vorausgesetzt, er/sie ist unbescholten und hat in Österreich einen ausreichenden Grad an Integration erreicht - in der Regel dafür sprechen, ihm/ihr den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen, und zwar jedenfalls dann, wenn nicht - in zumutbarer Weise - erwartet werden kann, dass er/sie sich im Falle einer Rückführung an die Verhältnisse im Heimatland, etwa das Erlernen der dortigen Sprache, den Aufbau neuer Kontakte, die Fortsetzung einer begonnenen Ausbildung, usw., wieder anpassen kann. In einem solchen Fall kommt auch bei einer verhältnismäßig kurzen Aufenthaltsdauer in Österreich den fehlenden Bindungen der Minderjährigen zum Heimatstaat im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung großes Gewicht zu. Um von einem - für die Abwägungsentscheidung relevanten - Grad an Integration (§ 9 Abs. 2 Z 4 BFA-VG 2014) ausgehen zu können, muss sich der/die Minderjährige während seiner/ihrer Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet bereits soweit integriert haben, dass aus dem Blickwinkel des Kindeswohles mehr für den Verbleib im Bundesgebiet als für die Rückkehr in den Herkunftsstaat spricht, und dieses private Interesse mit dem öffentlichen Interesse eines friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft und damit des Zusammenhalts der Gesellschaft in Österreich korreliert. Aus der Sicht der Minderjährigen bedeutet dies vor allem, dass sie sich gute Kenntnisse der deutschen Sprache aneignen, ihre Aus- und/oder Weiterbildung entsprechend dem vorhandenen Bildungsangebot wahrnehmen und sich mit dem sozialen und kulturellen Leben in Österreich vertraut machen, um - je nach Alter fortschreitend - am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich teilnehmen zu können (vgl. VwGH vom 30.08.2017, Ra 2017/18/0070).
Wie in der Beweiswürdigung ausgeführt, waren die BF3 und der BF4 zum Zeitpunkt der Einreise ins Bundesgebiet relativ jung. Die BF3 war 4 Jahre und der BF4 1 Jahre alt. Zunächst zeigt sich, dass auch die minderjährige BF3 länger in der russischen Föderation lebte als nunmehr in Österreich. Die BF3 und der BF4 haben sich aufgrund des Kindergartenbesuchs sowohl Schulbesuchs der BF3 seit Herbst 2023 in Österreich zweifelsfrei integriert, auch erfolgten daher soziale Kontakte, welche bei einer Rückkehr nicht mehr dermaßen aufrecht erhalten werden können, mit Ausnahme unter Verwendung der sozialen Medien. Der Kindergartenbesuch in Österreich bildet das vergleichsweise stärkste Interesse an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet, wobei der BF4 noch nicht die Schule besuchte, die BF3 erst das erste Schuljahr besucht und beide noch sehr jung sind, der Aufenthalt im Bundesgebiet kurz ist und aufgrund der Kenntnisse der russischen und tschetschenischen Sprache auf muttersprachlichen Niveau ist die Fortsetzung der Ausbildung mit dem Kindergarten- und Schulbesuch im Herkunftsstaat zumutbar, zumal sich die BF3 und der BF4 im anpassungsfähigen Alter befinden und ihnen ihre wichtigsten Bezugspersonen (die Eltern) erhalten bleiben. Aber auch in Österreich haben die Kinder Kontakt mit tschetschenischen Kindern.
Neben dem Kindergarten- und Schulbesuch wird die BF3 und der BF4 auch mit seiner Familie in den Herkunftsstaat zurückkehren, sodass sie hier bei der Sicherung ihres Lebensunterhaltes eine Unterstützung erhalten werden. Seine Eltern verfügen über eine Unterkunft in Tschetschenien, sodass auch für ihn die Unterkunft gesichert ist. Aber auch familiäre Anknüpfungspunkte sind den Großeltern und zahlreichen Tanten und Onkeln gegeben und besteht auch von Österreich aus Kontakt mit den Familienangehörigen in der Russischen Föderation. Selbst bei einer Niederlassung in Moskau oder St. Petersburg wird es den mj BF möglich sein eine Schule oder den Kindergarten zu besuchen, weil sie auch Russisch sprechen. Die medizinische Versorgung ist sichergestellt und auch eine etwaige weitere Behandlung oder Kontrolluntersuchungen der Hüftprobleme wird insbesondere auch in größeren Städten wie Moskau oder St. Petersburg möglich sein.
Kinderspezifische Gefahren sind für die BF3 und den BF4, welche in einer behüteten Familie aufwachsen nicht vorhanden. Der Krieg gegen die Ukraine bringt keine Gefahren für die minderjährigen BF aus derzeitiger Sicht.
Es sind für die minderjährigen BF vor diesem Hintergrund keine Schwierigkeiten in ihrer Entwicklung bei der Rückkehr zu erwarten, weil sie insbesondere vor dem Hintergrund des erst kurzen Aufenthaltes in Österreich und noch sehr jungen Alters sich kaum außerhalb der Kernfamilie (Mutter und Vater) aufwachsen und mit dem BF1 und der BF2 bleiben auch die wichtigste Bezugsperson des 4-jährigen BF3 und der 7-jährigen BF4 erhalten, die sich auch vor der Ausreise fürsorglich um die minderjährigen BF kümmerten und in das Familienhaus, wo sie auch bereits vor ihrer Ausreise gemeinsam mit den Großeltern und einem Onkel samt Familie lebten, zurückkehren können. Eine Rückkehr der BF3 und des BF4 gemeinsam mit dem BF1 und der BF2 steht sohin auch dem Kindeswohl der BF3 und des BF4 nicht entgegen.
Zusammengefasst ist daher davon auszugehen, dass eine neuerliche Anpassung der BF3 und des BF4 in Hinblick auf die Sprache, die Fortsetzung begonnener Ausbildungen (Kindergarten, Schule) und den Aufbau neuer Kontakte im Herkunftsstaat zumutbar ist. Die noch sehr jungen BF können die Schule in der Russischen Föderation anfangen und so auch wie die anderen Kinder lesen und schreiben in Russisch und Tschetschenisch lernen. Selbst Schwierigkeiten der (Re)Integration sind in Fällen der gemeinsamen Ausreise mit den Eltern nach der ständigen Rechtsprechung im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen in Kauf zu nehmen (vgl. VwGH 05.07.2011, 2008/21/0282).
Die Bindungen der BF zur Russischen Föderation sind daher auch unter Berücksichtigung des Kindeswohls in der Gesamtheit stärker als ihre Bindungen zu Österreich.
3.4.5. In einer Gesamtabwägung überwiegen daher das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens die Interessen der BF an der Aufrechterhaltung ihres Familien- und Privatlebens in Österreich auch vor dem Hintergrund des Kindeswohles (vgl. VwGH 14.08.2023, Ra 2023/14/0041; VwGH vom 09.03.2022, Ra 2022/14/0044). Den Beschwerden waren daher auch in Bezug auf die Rückkehrentscheidung als unbegründet abzuweisen.
3.4.6. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Nach § 50 Abs. 2 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 GFK), es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).
Nach § 50 Abs. 3 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
Eine derartige Empfehlung besteht für die Russische Föderation nicht.
Die Abschiebung der BF in ihren Herkunftsstaat ist zulässig, weil bei der Nichtgewährung des Status des Asylberechtigten der BF und der Nichtgewährung von subsidiärem Schutz zugrundeliegenden Feststellungen zufolge keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergibt.
3.4.7. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides. Dies, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, jene Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen. Derartige Gründe wurden im Verfahren nicht vorgebracht und es liegen keine Anhaltspunkte vor, die eine längere Frist erforderlich machen würden.
Da somit alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung und die gesetzte Frist für die freiwillige Ausreise vorliegen, ist die Beschwerde der BF als unbegründet abzuweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen – im Rahmen der rechtlichen Beurteilung bereits wiedergegebenen – Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.
Im gegenständlichen Fall war die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz bereits aufgrund der mangelnden Glaubhaftigkeit des individuellen Fluchtvorbringens des BF1 und aktueller Länderberichte zu treffen. Auch verfahrensrechtlich wurden keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen.
Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen, auch der Abwägung des Privat- und Familienlebens sowohl Kindeswohls, auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung zu Fragen des Art. 8 EMRK wurde bei den Erwägungen II.3.4. wiedergegeben. Insoweit die dort angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Es war spruchgemäß zu entscheiden.
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