European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E133327
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Aus Anlass der Revision werden die Urteile der Vorinstanzen und das ihnen vorangegangene Verfahren als nichtig aufgehoben. Die Klage wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden gegenseitig aufgehoben.
Begründung:
[1] Mit rechtskräftigem Bescheid vom 17. 3. 2016 anerkannte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Anspruch des am * 1. 1954 geborenen Klägers auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer ab 1. 2. 2016 in Höhe von 2.476,44 EUR monatlich brutto. Der Pensionsberechnung wurden 558 Versicherungsmonate (davon 552 Beitragsmonate) zugrunde gelegt. Ab 1. 1. 2020 betrug die Pension monatlich 2.612,57 EUR brutto.
[2] Mit Bescheid vom 31. 3. 2020 wies die Beklagte den Antrag des Klägers vom 25. 2. 2020 auf Gewährung einer abschlagsfreien Pensionsleistung ab 1. 1. 2020 zurück. Eine Neuberechnung der dem Kläger bereits rechtskräftig zuerkannten Alterspension sei gesetzlich nicht vorgesehen, es bestehe keine Bescheidpflicht.
[3] Mit seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung einer Pensionsleistung gemäß § 236 Abs 4b ASVG im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 1. 2020 ohne Verminderung nach dem ASVG sowie nach dem APG. Die dem Kläger zuerkannte Pensionsleistung sei um 8 % vermindert, was gemäß § 236 Abs 4b ASVG auch für eine bereits vor dem 1. 1. 2020 zuerkannte Alterspension unzulässig sei.
[4] Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Klage. § 236 Abs 4b ASVG sei nur auf neue, ab dem 1. 1. 2020 zuerkannte Alterspensionen anwendbar, es bestehe keine Bescheidpflicht.
[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. In der Pensionsversicherung gelte das Antragsprinzip. Die Höhe der Pension sei ausgehend von der Rechtslage an dem durch den Antrag ausgelösten Stichtag vorzunehmen. Dies sei im Fall des Klägers der 1. 2. 2016 gewesen. § 236 Abs 4b ASVG beziehe sich auf die Erfüllung der Wartezeit und sei (nur) auf alle neuen Pensionen bzw Pensionsberechnungen ab 1. 1. 2020 anwendbar.
[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. § 236 Abs 4b ASVG komme lediglich für Stichtage ab dem 1. 1. 2020 in Betracht. Eine zeitliche Differenzierung durch eine Stichtagsregelung verstoße nicht gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz. Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob § 236 Abs 4b ASVG auch auf Stichtage vor dem 1. 1. 2020 anwendbar sei, fehle. Die Rechtslage sei nicht eindeutig.
[7] Gegen dieses Urteil richtet sich die von der Beklagten beantwortete Revision des Klägers, mit der er die Stattgebung des Klagebegehrens anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
[8] Die Revision ist zulässig, weil eine Nichtigkeit der Entscheidungen der Vorinstanzen aufzugreifen ist.
[9] Der Revisionswerber macht geltend, dass § 236 Abs 4b ASVG ausschließlich den Erwerb von 540 Beitragsmonaten als Voraussetzung für die Gewährung einer abschlagsfreien vorzeitigen Alterspension vorsehe. Weder spiele ein Stichtag eine Rolle noch der Umstand, dass eine Pension bereits vor Inkrafttreten dieser Bestimmung gewährt wurde. Bei Dauerrechtsverhältnissen sei die neue Rechtslage ab der Rechtsänderung zu berücksichtigen. Ab dem 1. 1. 2020 sei die Alterspension des Klägers daher abschlagsfrei zu gewähren. Dies ergebe sich auch durch einen Vergleich mit dem ebenfalls mit dem PAG 2020 eingeführten Ausgleichszulagen‑/Pensionsbonus gemäß § 299a ASVG, der aufgrund einer ähnlichen Übergangsbestimmung – § 726 Abs 1 ASVG – auch auf „Altfälle“ anwendbar sei. Bei anderer Auslegung wäre § 236 Abs 4b ASVG gleichheitswidrig: Frühpensionisten mit einem Stichtag ab dem 1. 1. 2020 wären ohne sachliche Rechtfertigung besser gestellt als Frühpensionisten mit einem vor diesem Zeitpunkt liegenden Stichtag. Auch unionsrechtliche Aspekte sprächen gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung des § 236 Abs 4b ASVG.
1. Zulässigkeit des Rechtswegs
[10] 1.1 Gemäß § 67 Abs 1 ASGG darf in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1, 4 und 6 bis 8 ASGG sowie über die Kostenersatzpflicht eines Versicherungsträgers nach § 65 Abs 1 Z 5 ASGG – vorbehaltlich des § 68 ASGG – vom Versicherten eine Klage nur erhoben werden, wenn der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden oder den Bescheid nicht innerhalb der in § 67 Abs 1 Z 2 ASGG genannten Fristen erlassen hat.
[11] 1.2 An einem die Zulässigkeit des Rechtswegs eröffnenden Sachbescheid, mit dem die Beklagte „darüber“ (RS0085867), das heißt über den Anspruch des Klägers auf abschlagsfreie Berechnung seiner Alterspension seit 1. 1. 2020, entschieden hätte, fehlt es im vorliegenden Fall. Liegt wie hier keine meritorische Entscheidung des Versicherungsträgers vor, ist grundsätzlich – von § 68 ASGG und anderen hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen abgesehen – eine Überprüfung durch das Gericht im Rahmen der sukzessiven Kompetenz ausgeschlossen (RS0085867 [T13]).
[12] 1.3 Fehlt es an einem anfechtbaren Sachbescheid, ist Voraussetzung für eine Klageerhebung nach § 67 ASGG das Vorliegen eines Säumnisfalls. Der Säumnisfall erfordert, dass der Versicherungsträger zur Erlassung eines Bescheids verpflichtet ist (10 ObS 119/15w DRdA 2016/39, 349 [Panhölzl] = SSV‑NF 30/3). Wenn der Versicherungsträger zur Erlassung eines Bescheids nicht verpflichtet ist, steht dem Versicherten eine Säumnisklage nicht zu (RS0083900 [T1]). Es ist daher zu prüfen, ob die Beklagte zur Erlassung eines Bescheids über die vom Kläger beantragte Neuberechnung seiner vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer ab 1. 1. 2020 verpflichtet war.
2. Keine Bescheidpflicht der beklagten Pensionsversicherungsanstalt gemäß § 367 Abs 1 ASVG:
[13] 2.1 Die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer (§ 253b ASVG idF BGBl I 2003/71 iVm § 607 Abs 10 ASVG) war eine Pflichtleistung der Pensionsversicherung gemäß § 222 Abs 1 Z 1 ASVG aus dem Versicherungsfall des Alters. Sie zählte damit zu den Leistungen gemäß § 222 Abs 1 ASVG, über die der Pensionsversicherungsträger aufgrund eines Antrags der versicherten Person gemäß § 367 Abs 1 ASVG mit Bescheid zu entscheiden hat. Die Feststellung des Bestands, des Umfangs oder des Ruhens eines Anspruchs auf eine Versicherungsleistung – wie der Alterspension – ist, soweit dabei nicht die Versicherungszugehörigkeit, die Versicherungszuständigkeit, die Leistungszugehörigkeit oder die Leistungszuständigkeit in Frage steht, gemäß § 354 Z 1 ASVG eine Leistungssache.
[14] 2.2 Der Versicherungsfall des Alters gilt mit der Erreichung des Anfallsalters für eine Alterspension als eingetreten (RS0111060). Beim Versicherungsfall handelt es sich um eine primäre Leistungsvoraussetzung der Pensionsversicherung (RS0110083). Im Fall des Klägers trat der Versicherungsfall des Alters, der seinen Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer begründete, unstrittig mit Erreichung des 62. Lebensjahres, daher im Jänner 2016, ein (§ 253b iVm § 607 Abs 10 und 12, § 617 Abs 13 ASVG).
[15] 2.3 Gemäß § 223 Abs 2 ASVG hat die Feststellung, ob der Versicherungsfall (in der Pensionsversicherung) eingetreten ist, ausschließlich zu dem durch die Antragstellung ausgelösten Stichtag zu erfolgen (vgl RS0111054). Die Frage, ob überhaupt der Versicherungsfall eingetreten ist, kann somit nur zum Stichtag geprüft werden. Die Bedeutung des Stichtags liegt nicht nur darin, dass zu diesem Zeitpunkt die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen sind; es sind vielmehr zu diesem Zeitpunkt auch die besonderen Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen und auch der Anfall der Leistungen tritt regelmäßig mit dem Stichtag ein (§ 86 Abs 3 Z 2 ASVG; RS0085980; RS0084524). Dazu gehört auch die Beurteilung, in welchem Ausmaß eine Leistung gebührt (10 ObS 322/89 SSV‑NF 3/134), also auch die Entscheidung über die Pensionshöhe.
[16] 2.4 Der Versicherungsfall des Alters kann nach allen Systemen nur einmal eintreten. Er wird durch die Entscheidung eines Sozialversicherungsträgers über die Gewährung der (vorzeitigen) Alterspension nicht nur für den Bereich dieses Sozialversicherungsgesetzes, sondern auch für den Bereich der anderen Sozialversicherungsgesetze konsumiert (RS0107674). Nach den unstrittigen Unterlagen im Verwaltungsakt der Beklagten (Entscheidungsantrag vom 27. 3. 2020 bei Beil ./2) wurde die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer mit Erreichen des gesetzlichen Regelpensionsalters des Klägers am 1. 2. 2019 in eine gesetzliche Alterspension umgewandelt (§ 253b Abs 4 ASVG aF). Durch diese Umwandlung wird kein neuer Stichtag ausgelöst (10 ObS 130/09d SSV‑NF 23/83).
[17] 2.5 Pensionsleistungen werden für die Zukunft zuerkannt. Eine – wie hier in Bezug auf § 236 Abs 4b ASVG – erst nach rechtskräftiger Zuerkennung der (vorzeitigen) Alterspension erfolgte Rechtsänderung vermag die Rechtskraft der Entscheidung über die Zuerkennung einer Pension nicht zu berühren (RS0085980 für eine erst während des Rechtsmittelverfahrens erfolgte Rechtsänderung).
[18] 2.6 Damit ist der Versicherungsfall des Alters im vorliegenden Fall aufgrund des Antrags des Klägers vom 9. 10. 2015 (Beil ./2) auf Zuerkennung einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer am 1. 2. 2016 eingetreten. Zu diesem Stichtag wurde über den Anspruch des Klägers dem Grund und der Höhe nach entschieden: infolge der vorzeitigen Inanspruchnahme wurde die Pension unstrittig unter Berücksichtigung des Abschlags von 8 % zuerkannt (§ 607 Abs 23 ASVG). Durch den neuerlichen Antrag vom 25. 2. 2020 auf Gewährung einer abschlagfreien Pensionsleistung ab 1. 1. 2020 wurde weder ein „neuer“ Versicherungsfall des Alters noch ein neuer Stichtag ausgelöst. Eine Bescheidpflicht der Beklagten über die Zuerkennung einer Leistung gemäß § 222 Abs 1 ASVG aus der Pensionsversicherung gemäß § 367 Abs 1 ASVG bestand daher nicht.
[19] 3. Infolge der Rechtskraft der Entscheidung auch über die Höhe der dem Kläger zuerkannten Pension ab 1. 2. 2016 kann eine nachträgliche Änderung der Höhe dieser Pension nur dann stattfinden, wenn das Gesetz selbst eine Grundlage für deren Anpassung (§ 367 Abs 3 lit a ASVG) oder Neufeststellung (§ 367 Abs 2 ASVG) bietet.
4. Keine Bescheidpflicht der Beklagten gemäß § 367 Abs 3 lit a ASVG
[20] Die Anpassung von Pensionen aus der Pensionsversicherung regeln im Dauerrecht die §§ 108h, 108k ASVG. Darüber hinaus erfolgen Pensionsanpassungen mit einfachgesetzlichen Eingriffen des Gesetzgebers. Die Pensionsanpassung für das Kalenderjahr 2020 hat ihre Rechtsgrundlage in dem mit dem Pensionsanpassungsgesetz 2020 (PAG 2020), BGBl I 2019/98 geschaffenen § 728 ASVG. Der Kläger stützt weder seinen Antrag noch sein Begehren auf eine dieser Bestimmungen, sondern allein auf § 236 Abs 4b ASVG. Gemäß § 367 Abs 3 lit a ASVG sind Bescheide über die Auswirkung von Renten‑ oder Pensionsanpassungen gemäß den Bestimmungen des Abschnitts VI a des Ersten Teils des ASVG (§§ 108 – 108l ASVG) nur zu erlassen, wenn der Berechtigte dies bis zum Ablauf des Kalenderjahres verlangt, für das die Anpassung (Vervielfachung) vorgenommen wurde. Da § 236 Abs 4b ASVG nicht zu Abschnitt IV a des Ersten Teils des ASVG gehört, war die Beklagte schon aus diesem Grund nicht verpflichtet, einen Bescheid nach § 367 Abs 3 lit a ASVG auszustellen.
5. Keine Bescheidpflicht der Beklagten gemäß § 367 Abs 2 ASVG
[21] 5.1 § 367 Abs 1 ASVG ist gemäß § 367 Abs 2 ASVG entsprechend anzuwenden bei Entziehung, Versagung, Neufeststellung, Widerruf, Abfindung, Abfertigung oder Feststellung des Ruhens eines Leistungsanspruchs, ferner bei Geltendmachung des Anspruchs auf Rückersatz einer unrechtmäßig bezogenen Leistung, bei Aufrechnung auf eine Geldleistung oder Zurückhaltung der Ausgleichszulage. Einziger hier in Frage kommender Tatbestand wäre nach § 367 Abs 2 ASVG die „Neufeststellung“ der dem Kläger gewährten Alterspension.
[22] 5.2 Eine „Neufeststellung“ einer Leistung kennt das ASVG etwa in der Unfallversicherung bei der Neufeststellung einer Rente, wenn sich die Verhältnisse wesentlich geändert haben (§ 183 ASVG). In der Pensionsversicherung ordnet § 254 Abs 8 ASVG die Neufeststellung des Prozentsatzes einer Teilpension bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen an. Aus Anlass jeder Anpassung von Pensionen gemäß § 108h ASVG ist die Erhöhung der Witwen(Witwer‑)pension gemäß § 264 Abs 6 ASVG neu festzustellen (§ 264 Abs 7 letzter Satz ASVG). Bei einer Änderung der für die Zuerkennung der Ausgleichszulage maßgebenden Sach‑ und Rechtslage ordnet § 296 Abs 3 ASVG die Neufeststellung einer Ausgleichszulage über Antrag des Berechtigten oder von Amts wegen an (weitere Fälle einer Neufeststellung einer Leistung s bei Kneihs in SV‑Komm [236. Lfg] § 367 ASVG Rz 34).
[23] 5.3 Die „Neufeststellung“ einer Alterspension kennt das ASVG hingegen nur in Regelungen, die das Übergangsrecht betreffen. So ist in den Fällen des § 607 Abs 10 ASVG, in denen eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer wegen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (§ 253b Abs 2 ASVG) weggefallen ist, die Leistung – mit Ausnahme eines besonderen Steigerungsbetrags (§ 248 ASVG) – mit dem Monatsersten nach dem Erreichen des Regelpensionsalters von Amts wegen neu festzustellen (§ 607 Abs 11 ASVG). Darüber hinaus finden sich zahlreiche Übergangsbestimmungen zur (Neu‑)feststellung (Neu‑)bemessung von Altrenten aus der Pensionsversicherung nach der Einführung des ASVG (§§ 522 ff ASVG; BGBl 1960/294 [Art II]; BGBl 1963/320 [Artikel II Abs 2 ff] ua).
[24] 6.1 Damit stellt sich die Frage, ob § 236 Abs 4b ASVG eine Bestimmung ist, die die Rechtsgrundlage für die Neufeststellung (Neubemessung) einer Alterspension wie jener des Klägers mit einem Stichtag vor dem 1. 1. 2020 im Sinn des § 367 Abs 2 ASVG bietet.
[25] 6.2 Auch § 236 Abs 4b ASVG wurde mit dem PAG 2020 geschaffen. Diese Bestimmung lautet: „(4b) Hat die versicherte Person mindestens 540 Beitragsmonate der Pflichtversicherung auf Grund einer Erwerbstätigkeit erworben, so ist eine Verminderung der Leistung nach diesem Bundesgesetz sowie nach dem APG unzulässig; § 261 Abs. 4 dieses Bundesgesetzes sowie die §§ 5 Abs. 2 und 6 Abs. 1 APG sind nicht anzuwenden. Als Beitragsmonate auf Grund einer Erwerbstätigkeit gelten auch bis zu 60 Versicherungsmonate für Zeiten der Kindererziehung (§§ 8 Abs. 1 Z 2 lit. g, 227a oder 228a dieses Bundesgesetzes oder §§ 3 Abs. 3 Z 4, 116a oder 116b GSVG oder §§ 4a Abs. 1 Z 4, 107a oder 107b BSVG), wenn sie sich nicht mit Zeiten einer Pflichtversicherung auf Grund einer Erwerbstätigkeit decken.“ § 236 Abs 4b ASVG trat mit 1. 1. 2020 in Kraft (§ 727 Abs 1 Z 1 ASVG idF BGBl I 2019/98) und mit Ablauf des 31. 12. 2021 wieder außer Kraft (§ 745 Abs 2 ASVG). Auf Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen nach § 236 Abs 4b ASVG spätestens mit 31. 12. 2021 erfüllen, bleibt diese Bestimmung aber weiter anwendbar (§ 745 Abs 4 ASVG).
[26] 6.3 § 236 Abs 4b ASVG geht auf einen Abänderungsantrag zum Bericht und Antrag des Budgetausschusses über den Entwurf des PAG 2020 (688 BlgNR 26. GP ) zurück. Zu diesem Antrag wird in den Gesetzesmaterialien ausgeführt (AA‑130 26. GP 2): „Wer mindestens 45 Jahre lang erwerbstätig war, soll in Zukunft keine Pensionsabschläge mehr haben, auch wenn der Pensionsantritt vor dem 65. Lebensjahr erfolgt. Dabei werden auch bis zu 60 Versicherungsmonate der Kindererziehung als Beitragsmonate der Erwerbstätigkeit berücksichtigt.“
[27] 6.4 Mit dem PAG 2020 wurde (wieder) die Abschlagsfreiheit bei allen Pensionsarten eingeführt, wenn 540 Beitragsmonate (davon können 60 Beitragsmonate Kindererziehungszeiten sein) vorliegen. Diese Regelung gilt also nicht nur für vorzeitige Alterspensionen, sondern auch für die Schwerarbeitspension, das Sonderruhegeld nach dem NSchG und die Pensionen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit (Invaliditätspension, Berufsunfähigkeitspension, Erwerbsunfähigkeitspension; krit Pöltner/Pacic, ASVG, § 236 ASVG Anm 7d).
[28] 7.1 § 6 ABGB bestimmt, dass einem Gesetz in der Anwendung kein anderer Verstand beigelegt werden darf, als welcher aus der eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhang und aus der klaren Absicht des Gesetzgebers hervorleuchtet. Am Anfang jeder Gesetzesauslegung steht daher die wörtliche (sprachliche) Auslegung, der nach ständiger Rechtsprechung große Bedeutung zukommt (9 ObA 71/20m mwH). Die Gesetzesauslegung darf aber bei der Wortinterpretation nicht stehen bleiben (RS0008788 ua). Der Sinn einer Bestimmung ist unter Bedachtnahme auf deren Zweck zu erfassen (objektiv‑teleologische Interpretation). Die gesetzgeberische Regelung und die darin zum Ausdruck kommenden Wertmaßstäbe sind selbständig weiter und zu Ende zu denken (RS0008836).
[29] 7.2 § 236 ASVG regelt die Erfüllung der Wartezeit, einer sekundären Voraussetzung für den Erwerb eines Pensionsanspruchs (RS0106536). Diese Bestimmung ergänzt die für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer vorhandenen Wartezeitregelungen in den §§ 607 Abs 10 und 12 ASVG. Sie stellt überdies eine Vorschrift für die Berechnung einer solchen Pension dar (vgl Marek in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG [72. Lfg] § 236 Rz 29; Sonntag in Sonntag, ASVG12 § 236 ASVG Rz 7).
[30] 7.3 Weder der Wortlaut des § 236 Abs 4b ASVG noch jener des § 727 Abs 1 Z 1 ASVG enthalten einen Hinweis darauf, dass § 236 Abs 4b ASVG für bereits zuerkannte Alterspensionen mit einem Stichtag vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmung am 1. 1. 2020 gelten sollen (vgl demgegenüber etwa die ausführlichen Übergangsregeln für Altrenten und neue Pensionen aus der Pensionsversicherung in den §§ 522 ff ASVG). Ausgehend vom bereits dargestellten Stichtagsprinzip in der Pensionsversicherung, das die Leistung nicht nur an den Eintritt des Versicherungsfalls (hier: des Alters), sondern auch an eine entsprechende formelle Antragstellung bindet, ergibt sich bereits daraus, dass § 236 Abs 4b ASVG nur auf die Berechnung von (ua) Alterspensionen anwendbar ist, deren Stichtag nach dem Inkrafttreten dieser Bestimmung, also am 1. 1. 2020 oder danach liegt (so auch Marek, Ab Stichtag 1. 1. 2020 kein Abschlag bei Hacklerpensionen für Männer [aber nicht immer], ARD 6672/5/2019; Marek in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG [72. Lfg] § 236 ASVG Rz 31, 32, 37; Sonntag, ASVG12 § 236 ASVG Rz 7; implizit auch Weißensteiner, Aus für Abschlagsfreiheit – Neuer Frühstarterbonus kommt, DRdA ‑ infas 2021, 61 [62]).
[31] 7.4 Demgegenüber vertritt Beck (Pensionsanpassung, Pensionsbonus, abschlagfreie „Frühpension“ sowie Beitragsentlastung versus Sachlichkeitsgebot und Generationengerechtigkeit [Teil III], SozSi 2020, 123 [126]), dass der Gesetzgeber mit der Einführung des § 236b Abs 4 ASVG keine neue vorzeitige Alterspension geschaffen, sondern ganz allgemein festgelegt habe, dass bei Vorliegen von 540 Beitragsmonaten aus der Erwerbstätigkeit bzw beim Sonderruhegeld eine Verminderung der Leistung nicht mehr zulässig sei. Eine Einschränkung auf einen bestimmten Stichtag bzw auf Neuzugänge sei der gesetzlichen Regelung nicht zu entnehmen. Dies zeige auch ein Vergleich mit dem – ebenfalls mit 1. 1. 2020 in Kraft getretenen – Ausgleichszulagen‑/Pensionsbonus, der ebenfalls auf das Vorliegen einer bestimmten Anzahl von Beitragsmonaten aus der Erwerbstätigkeit abstelle. Diese Bestimmung werde in der Vollziehung auf alle Versicherten erstreckt, unabhängig davon, mit welchem Stichtag ihnen eine Pension zuerkannt worden sei. Versicherte mit einem Stichtag vor dem 1. 1. 2020 dürften daher nicht von der Abschlagsfreistellung ausgeschlossen werden, wenn sie 540 Beitragsmonate erworben hätten.
[32] 8.1 Die Ansicht Becks findet bereits im Wortlaut des § 236 Abs 4b ASVG keine Deckung. Denn diese Bestimmung erfasst – worauf die Beklagte hingewiesen hat – nur „versicherte Personen“, nicht aber Personen, die wie der Kläger bereits eine Pension beziehen. Das Pensionsversicherungsrecht des ASVG unterscheidet durchaus die Personengruppen der Versicherten, die (noch) nicht Bezieher einer Pension sind (zB § 247 Abs 2, §§ 253e, 253f, 255, 255a ASVG) von den Beziehern einer Pension (zB §§ 254 Abs 4, 265 ASVG). Beide Gruppen werden zB in den §§ 248c, 254 Abs 1 und 4, 300 Abs 1, 302 Abs 4 ASVG genannt.
[33] 8.2 Wie ausgeführt regelt § 236 ASVG die Wartezeit, deren Erfüllung eine (sekundäre) Voraussetzung für einen Pensionsanspruch ist. Auch gemäß § 236 Abs 4b ASVG gebührt erst bei Erfüllung der dort normierten Voraussetzungen eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer in der in dieser Bestimmung vorgesehenen Höhe, wenn der Versicherungsfall eingetreten ist. Damit ergibt sich auch aus der systematischen Einordnung des § 236 Abs 4b ASVG, dass von dieser Bestimmung nur versicherte Personen erfasst sind, nicht aber Bezieher einer Pension wie der Kläger.
[34] 8.3 Sowohl nach dem Wortlaut als auch nach der systematischen Stellung stellt § 236 Abs 4b ASVG daher keine Regelung über die Neubemessung einer schon zu einem Stichtag vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmung rechtskräftig zuerkannten Pension dar. Dies steht im Einklang mit dem dargestellten System, das – wie dargestellt – in der Regel nach der rechtskräftigen Zuerkennung einer Alterspension nur mehr deren Anpassung, nicht aber deren Neubemessung im Sinn einer Neufeststellung kennt. Die Anpassung bereits gewährter Pensionen will lediglich Kaufkraftverluste der Pensionisten verhindern (Tomandl in Tomandl, System des österreichischen SV‑Rechts [27. ErgLfg], 0.6.4, 38/1). § 236 Abs 4b ASVG ist keine Anpassungsbestimmung. Die Anpassung der Pensionen für das Kalenderjahr 2020 wurde vielmehr zeitgleich mit dem PAG 2020 in § 728 ASVG geregelt. § 728 ASVG verweist – anders als § 236 Abs 4b ASVG – ausdrücklich auf § 108h Abs 1 erster Satz ASVG. Diese Bestimmung regelt die Anpassung von Pensionen, deren Stichtag (§ 223 Abs 2 ASVG) vor dem 1. Jänner des Jahres liegt, für das die Anpassung wirksam werden soll. Dem Gesetzgeber, der § 236 Abs 4b ASVG und § 728 ASVG mit dem gleichen Gesetz geschaffen hat, kann nicht unterstellt werden, dass er vor diesem Hintergrund das Problem der Abschlagfreistellung von vorzeitigen Alterspensionen erst ab einem Stichtag ab dem 1. 1. 2020 übersehen hätte.
[35] 8.4 Aus diesen Gründen war die Beklagte auch nicht gemäß § 367 Abs 2 ASVG verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Gewährung einer abschlagfreien Pensionsleistung ab 1. 1. 2020 einen meritorischen Bescheid zu erlassen.
[36] 9. Zur behaupteten Verfassungs‑ und Unionsrechtswidrigkeit des § 236 Abs 4b ASVG
[37] Der in Art 7 B‑VG normierte Gleichheitsgrundsatz verbietet unsachliche Differenzierungen (RS0053981). Dem Gesetzgeber steht aber ein Gestaltungsspielraum insofern zu, als er in seinen rechts‑ und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen frei ist, sofern keine unsachliche Differenzierung vorliegt (RS0117654 [T5]; RS0053889). Der Ansicht des Revisionswerbers, die Anwendbarkeit des § 236 Abs 4b ASVG lediglich auf Pensionsanträge ab dem Stichtag 1. 1. 2020 sei gleichheitswidrig, hat bereits das Berufungsgericht zutreffend entgegengehalten, dass nach ständiger Rechtsprechung eine zeitliche Differenzierung bei den Anspruchsvoraussetzungen durch eine Stichtagsregelung grundsätzlich nicht gleichheitswidrig ist (10 ObS 30/12b ua; RS0053393 ua).
[38] 10. Die Mitgliedstaaten verfügen bei der Wahl geeigneter Maßnahmen zur Verwirklichung ihrer sozial‑ und beschäftigungspolitischen Ziele über einen weiten Entscheidungsspielraum. Dieser Entscheidungsspielraum ist nur dadurch begrenzt, dass tragende Grundsätze des Unionsrechts nicht ausgehöhlt werden dürfen (10 ObS 49/19g DRdA 2020/49, 551 (Burger) = ZAS 2020/31, 192 [Tomandl] = SSV‑NF 33/76 mwH). Welche Auswirkung ein Wohnsitzwechsel auf die Gewährung der hier zu beurteilenden Pension, die in unveränderter Höhe bei einem Wohnsitzwechsel in einen anderen Mitgliedstaat exportiert werden müsste (Art 7 VO (EG) 883/2004 ), auf tragende Grundsätze des Unionsrechts hätte, vermag der Revisionswerber nicht darzulegen.
[39] 11. Der Oberste Gerichtshof hat die Unzulässigkeit des Rechtswegs als Mangel einer absoluten Prozessvoraussetzung gemäß § 230 Abs 3 ZPO auch von Amts wegen wahrzunehmen, wenn die Vorinstanzen auf die Zulässigkeitsfrage weder im Spruch noch in den Gründen ihrer Entscheidungen eingegangen sind, haben sie doch dann keine den Obersten Gerichtshof gemäß § 42 Abs 3 JN bindende Entscheidung getroffen (RS0046249; vgl 10 ObS 165/10b EvBl 2011/134, 922 [Graf‑Schimek] = SSV‑NF 25/37). Im Anlassfall haben sich die Vorinstanzen mit der Frage der Rechtswegszulässigkeit nicht auseinandergesetzt. Die bloß implizite Bejahung der Zulässigkeit des Rechtswegs durch die meritorische Behandlung des Begehrens reicht für die Annahme einer der Wahrnehmbarkeit des Mangels der Prozessvoraussetzung entgegenstehenden bindenden Entscheidung, die das Prozesshindernis verneint hätte, nicht aus (RS0046249 [T3, T5, T7]).
[40] Aus Anlass der Revision sind daher die Urteile der Vorinstanzen und das Ihnen vorangegangene Verfahren wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs als nichtig aufzuheben (RS0042080). Die Klage ist nach § 73 ASGG zurückzuweisen.
[41] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG und § 51 Abs 2 ZPO.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)