Spruch:
Aus Anlass der Revision werden die Urteile der Vorinstanzen und das ihnen vorangegangene Verfahren als nichtig aufgehoben. Die Klage wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden gegenseitig aufgehoben.
Text
Begründung
Ein Arzt für Allgemeinmedizin verschrieb dem 1942 geborenen, seit 1952 an insulinabhängigem Diabetes mellitus leidenden Kläger mit Verordnungen vom 11. 12. 2008 sechs Packungen One Touch Ultra Teststreifen à 50 Stück, drei Packungen One Touch Ultra Soft Lanzetten à 100 Stück und zwei Packungen Keto Diabur Test 5000 à 50 Stück.
In seinem Antrag auf Bescheiderlassung vom 22. 12. 2008 führte der Kläger aus, dass sich diese Verordnungen auf das vierte Quartal 2008 bezögen.
Mit Bescheid vom 25. 2. 2009 lehnte die beklagte Partei die Gewährung der dem Kläger am 11. 12. 2008 verordneten Mittel ab.
Der Kläger begehrte mit seiner Klage von der beklagten Partei die Übernahme der Kosten der am 11. 12. 2008 verordneten Mittel, in eventu die Zahlung der Kosten für diese Mittel in Höhe von 285 EUR (Teststreifen 234 EUR, Lanzetten 30 EUR, Keto Test 5000 21 EUR). Ihm sei empfohlen worden, täglich den Blutzucker zwölfmal zu messen. Ihm sei auch die Überprüfung von Ketonen im Urin bei immer wieder vorkommenden Blutzuckerwerten von >250 mg % (im vierten Quartal 2008 63 mal) in allen Schulungen angeraten worden und „werde auch vom benützten Blutzuckermessgerät verlangt“. Er müsse daher annehmen, dies entspreche dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft. Daraus ergebe sich der den regulären Quartalsbedarf übersteigende klagsgegenständliche Bedarf an Heilbehelfen (je 1052 Blutzucker-Messstreifen und Lanzetten, 63 Keton-Messstreifen), weil er infolge Gastroparese nicht vorhersehen könne, wann konsumierte Kohlenhydrate ins Blut resorbiert würden. Er habe praktisch keine Hypoglykämiewahrnehmung mehr.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Nach dem Stand der Medizin seien höchstens acht Blutzuckermessungen täglich zweckmäßig. Die Messung des Harnzuckers sei erst dann erforderlich, wenn die Einzelmessungen ohne Ergebnis blieben. Der Kläger habe von ihr vom zweiten Quartal 2007 an bis einschließlich dem vierten Quartal 2008 (640 Tage) 9550 Teststreifen, 7200 Lanzetten und 2850 Keton Teststreifen erhalten. Bei Verwendung der zweckmäßigen Anzahl ergebe sich in diesem Zeitraum ein Bedarf von je 5120 Teststreifen und Lanzetten. Die Gewährung sei daher abzulehnen gewesen. Bei vier Messungen am Tag mit Keton Teststreifen, deren Notwendigkeit für die beklagte Partei nicht nachvollziehbar sei, seien in diesem Zeitraum 2560 Stück erforderlich.
Das Erstgericht entschied nicht über das Hauptklagebegehren und gab dem Eventualklagebegehren statt.
Die von ihm getroffenen Feststellungen beurteilte das Erstgericht rechtlich dahin, der Kläger habe sich an die Empfehlungen gehalten, den Blutzucker zwölfmal und den Harnzucker viermal täglich zu messen. Er habe daher Anspruch auf Ersatz der Kosten der zwar im letzten Quartal 2008 verordneten, jedoch im ersten Quartal 2009 verwendeten Teststreifen und Lanzetten.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und wies das Klagebegehren ab. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Die bekämpfte Feststellung, dass der Kläger seit Jahren zwölfmal bis vierzehnmal täglich den Blutzucker messe, übernahm es nicht. Es sei unstrittig, dass der Kläger die klagsgegenständlichen Hilfsmittel bzw Heilbehelfe erst am 27. 5. 2009 auf eigene Kosten angeschafft habe. Der Kläger habe in seinem Antrag auf Bescheiderlassung detailliert dargelegt, dass die Verordnungen vom 11. 12. 2008 der Abdeckung des Bedarfs vom 7. 12. bis 31. 12. 2008 diene. Gehe man von der Notwendigkeit von zwölf Blutzuckermessungen und von vier Harnzuckermessungen täglich aus, so seien dem Kläger vom zweiten Quartal 2007 bis vierten Quartal 2008 1870 Stück One Touch Ultra Teststreifen „zuviel“ und 290 Stück Keto Teststreifen „zuviel“ bewilligt worden. Er müsse am 11. 12. 2008 auch One Touch Ultra Lanzetten in ausreichendem Ausmaß gehabt haben, zumal er erst am 27. 5. 2009 Lanzetten auf eigene Kosten gekauft habe. Am 11. 5. 2008 sei es daher nicht notwendig gewesen, dem Kläger die den Klagsgegenstand bildenden Heilbehelfe/Hilfsmittel zu verordnen. Ein einer Kostenübernahme für ein Heilmittel in Bezug auf einen im Zeitpunkt der Verordnung bestehenden Gesundheitszustand stattgebendes Urteil komme nicht in Betracht, wohl aber ein Kostenerstattungsanspruch, wenn die Verordnung des Heilmittels notwendig gewesen sei und es der Patient während der Gültigkeitsdauer des Rezepts beschafft habe. Nach den Bestimmungen der Krankenordnung der beklagten Partei müssten Rezepte innerhalb eines Monats, Verordnungsscheine für Heilbehelfe und für Hilfsmittel innerhalb von 14 Tagen nach dem Ausstellungstag oder nach dem Tag, an dem die Kasse die Bewilligung erteilt habe, eingelöst werden. Am 27. 5. 2009 seien die Verordnungen vom 11. 12. 2008 nicht mehr gültig gewesen. Auch die Richtlinie über die ökonomische Verschreibweise von Heilmitteln und Heilbehelfen ermögliche bei chronischer Krankheit die Verschreibung einer größeren Menge bloß für die Versorgung von bis zu drei Monaten und verpflichte den Arzt zur Überprüfung, ob eine Wiederholung der Verschreibung aufgrund der Art und Menge von Patienten bereits verbrauchter Mittel erforderlich sei und ob die verbrauchte Menge mit der vorgesehenen Anwendungszeit übereinstimme. Mangels einer im Zeitpunkt der Beschaffung gültigen Verordnung habe der Kläger keinen Kostenerstattungsanspruch. Das Heilmittel müsse von einem Arzt verordnet und so Teil eines ärztlichen Behandlungsplans sein, um von einem Heilmitteleinsatz sprechen zu können. Selbstmedikation sei daher keine Krankenbehandlung und von der Leistungpflicht der Krankenversicherung nicht umfasst.
Die ordentliche Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu dem für die Beurteilung einer Kostenerstattung für Heilbehelfe/Heilmittel relevanten Zeitpunkt und zur Frage der Gültigkeitsdauer von Rezepten bzw Verordnungsscheinen fehle.
Dagegen richtet sich die von der beklagten Partei beantwortete Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinn der Wiederherstellung des Urteils des Erstgerichts abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Rechtliche Beurteilung
Das Erstgericht hat über das Begehren auf Kostenübernahme nicht entschieden. Die Nichterledigung dieses Urteilsbegehrens verstieß gegen die Vorschrift des § 404 Abs 1 ZPO. Der Kläger hätte dies mit Berufung als Verfahrensmangel gemäß § 496 Abs 1 Z 1 ZPO geltend machen oder beim Erstgericht gemäß § 423 ZPO einen Ergänzungsantrag stellen können. Da er innerhalb der ihm dafür zur Verfügung stehenden Fristen weder durch Ergänzungsantrag noch durch Berufung Abhilfe gegen die Nichterledigung des Kostenübernahmebegehrens suchte, ist dieser Anspruch aus dem Verfahren ausgeschieden (10 ObS 135/09i; RIS-Justiz RS0041490; RS0042365), wie das Berufungsgericht zutreffend erkannte.
Bei einer Leistung aus der Krankenversicherung handelt es sich um eine Leistungssache gemäß § 354 Z 1 ASVG, die vom zuständigen Versicherungsträger auf Antrag (§ 361 Abs 1 Z 1 ASVG) festzustellen ist. Für die Feststellung von Leistungsansprüchen in der Krankenversicherung gilt somit das Antragsprinzip; eine Leistungsgewährung ist daher nur aufgrund eines Antrags zulässig (10 ObS 119/08k = SSV-NF 22/67 = DRdA 2010/22, 295 [Binder]).Bei der Beurteilung von Anträgen der Versicherten durch die Sozialversicherungsträger muss der Antrag im Zweifel zugunsten des Versicherten ausgelegt werden. Die Fiktion eines tatsächlich nicht gestellten Antrags lässt sich aber auch aus den Grundsätzen sozialer Rechtsanwendung nicht ableiten (RIS-Justiz RS0085092 [T3, T5, T7 und T8 mwN]). Im Fall der gänzlichen oder teilweisen Ablehnung der beantragten Leistung aus der Krankenversicherung hat der Versicherungsträger über Verlangen des Versicherten einen Bescheid zu erlassen (§ 367 Abs 1 Z 2 ASVG). Im Anlassfall hat die beklagte Partei über Verlangen des Klägers mit Bescheid ausgesprochen, dass sie die dem Kläger am 11. 12. 2008 verordneten Heilbehelfe/Hilfsmittel nicht gewährt. Dieser Bescheid bildete den Grund der Klage, mit der ursprünglich Naturalleistung begehrt wurde.
Gegen einen Bescheid des Versicherungsträgers in einer Leistungssache nach § 354 ASVG kann vom Versicherten nach dem in Sozialrechtssachen geltenden Grundsatz der sukzessiven Kompetenz Klage beim Arbeits- und Sozialgericht erhoben werden. Mit der Klage tritt der Bescheid im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft (§ 71 Abs 1 ASGG) und die Entscheidungskompetenz geht auf das Gericht über (RIS-Justiz RS0112044).
Nach § 67 Abs 1 ASGG kann - von den hier nicht vorliegenden Säumnisfällen abgesehen - eine Klage jedoch nur erhoben werden, wenn der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden hat. Aus dem Zweck der sukzessiven Zuständigkeit, den Gerichten nur die wirklich strittigen Fälle zuzuführen, ist abzuleiten, dass nur eine meritorische Entscheidung des Sozialversicherungsträgers über den der betreffenden Leistungssache zugrunde liegenden Anspruch des Versicherten den Weg zum Sozialgericht ebnet. Liegt eine solche nicht vor, so ist grundsätzlich - von § 68 ASGG und anderen hier nicht vorliegenden Fällen abgesehen - der Rechtsweg versperrt. Das dargestellte Erfordernis („darüber“) bewirkt zudem in Fällen, in denen die Klage zulässig ist, eine Eingrenzung des möglichen Streitgegenstands: Dieser kann grundsätzlich nur Ansprüche umfassen, über die der Sozialversicherungsträger bescheidmäßig abgesprochen hat. Die Klage darf daher im Vergleich zum vorangegangenen Antrag weder die rechtserzeugenden Tatsachen auswechseln noch auf Leistungen (Gestaltungen, Feststellungen) gerichtet sein, über die der Versicherungsträger im bekämpften Bescheid gar nicht erkannt hat. Daraus ergibt sich, dass jedenfalls ein „Austausch“ des Versicherungsfalls oder der Art der begehrten Leistungen im gerichtlichen Verfahren nicht zulässig ist; für solche Begehren fehlt es an einer „darüber“ ergangenen Entscheidung des Versicherungsträgers. In diesem Fall ist auch eine Klagsänderung iSd § 86 ASGG bzw § 235 ZPO nicht zulässig, sondern als einziger Weg der Anspruchsverfolgung bleibt hier die Stellung eines neuen Antrags im vorgeschalteten Verwaltungsverfahren (10 ObS 119/08k mwN = SSV-NF 22/67 = DRdA 2010/22, 295 [Binder]; RIS-Justiz RS0107802).
Nach ständiger Rechtsprechung besteht keine generelle Verpflichtung der Krankenversicherung, jede einzelne Leistung tatsächlich in natura zu erbringen und deshalb kein durchsetzbarer Anspruch auf Gewährung als Sachleistung (10 ObS 36/09f = SSV-NF 23/23; RIS-Justiz RS0111541). Im vorliegenden Fall hat die beklagte Partei mit Bescheid die Gewährung der von einem Arzt verordneten Heilbehelfe/Heilmittel in natura abgelehnt, nicht aber über einen vom Kläger gar nicht gestellten Antrag über einen möglichen Kostenerstattungsanspruch entschieden. Nach dem in Sozialrechtssachen geltenden Grundsatz der sukzessiven Kompetenz ist es dem Kläger verwehrt gegen diesen Bescheid eine Klage auf Kostenerstattung für die von ihm für die Anschaffung der Mittel entstandenen Auslagen gerichtete Klage einzubringen. Es liegt dem Begehren zwar derselbe Versicherungsfall zugrunde, aber es handelt sich bei der Sachleistung und Kostenerstattung um verschiedene Leistungsansprüche. Für die Kostenerstattung hätte ein eigener Leistungsantrag gestellt werden müssen (vgl 10 ObS 119/08k = SSV-NF 22/67 = DRdA 2010/22, 295 [Binder]). Dem Kostenerstattungsbegehren, das allein noch Gegenstand des Verfahrens ist, steht daher die Unzulässigkeit des Rechtswegs entgegen.
Der Oberste Gerichtshof hat die Unzulässigkeit des Rechtswegs als Mangel einer absoluten Prozessvoraussetzung gemäß § 230 Abs 3 ZPO (früher: § 240 Abs 3 ZPO) auch von Amts wegen wahrzunehmen, wenn die Vorinstanzen auf die Zulässigkeitsfrage weder im Spruch noch in den Gründen ihrer Entscheidungen eingegangen sind, haben sie doch dann eine den Obersten Gerichtshof gemäß § 42 Abs 3 JN bindende Entscheidung nicht getroffen (1 Ob 50/99f = SZ 72/76; RIS-Justiz RS0046249; vgl 10 ObS 112/02x). Im Anlassfall haben sich die Vorinstanzen mit der Frage der Rechtswegszulässigkeit nicht auseinandergesetzt. Die bloß implizite Bejahung der Zulässigkeit des Rechtswegs durch die meritorische Behandlung des Begehrens reicht für die Annahme einer der Wahrnehmbarkeit des Mangels der Prozessvoraussetzung entgegenstehenden bindenden Entscheidung, die das Prozesshindernis verneint hätte, nicht aus (RIS-Justiz RS0046249 [T3, T5, T7]).
Aus Anlass der Revision des Klägers waren daher die Urteile der Vorinstanzen und das Ihnen vorangegangene Verfahren wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs als nichtig aufzuheben. Die Klage war nach § 73 ASGG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG und § 51 Abs 2 ZPO.
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