AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1 Z2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §18 Abs5
BFA-VG §19
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2025:I415.2305961.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hannes LÄSSER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. TUNESIEN, vertreten durch BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.12.2024, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) reiste am 02.01.2024 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. In seiner Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 03.01.2024 zu seinen Fluchtgründen befragt gab er im Wesentlichen an, von der Familie seiner Freundin bedroht worden zu sein. Er habe mit seiner Freundin geschlafen und ihre Familie habe das herausgefunden. Im Falle seiner Rückkehr in seine Heimat befürchte er den Tod.
In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge: BFA/belangte Behörde) am 16.12.2024 gab er befragt zu seinen Fluchtgründen an, er sei, nachdem er mit seiner Freundin geschlafen habe, von deren Familie bzw. den Brüdern seiner Freundin und einem Cousin dieser Brüder bedroht worden. Das sei im Jänner 2021 gewesen. Im September 2021 sei er dann nach Serbien ausgereist. Sie hätten gedroht, ihn zu töten. Diese Drohungen habe er nicht direkt von den Brüdern erhalten, sondern er habe über andere erfahren, dass sie mit seiner Beziehung zu ihrer Schwester nicht einverstanden wären und die Gefahr bestünde, dass sie ihn töten könnten. Ein Bruder seiner Freundin habe ihn im Jänner 2021 einmal in den Arm geschnitten, als er im Einkaufszentrum auf ihn getroffen sei. Im Krankenhaus sei er daraufhin genäht worden. Eine Anzeige bei der Polizei habe er daraufhin nicht erstattet. Im September 2021 sei er dann nach Serbien gereist, wo er zwei Jahre lang gearbeitet habe. Einen Asylantrag habe er dort nicht eingebracht. Er möchte in Österreich arbeiten. Bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat befürchte er, wiederum von der Familie seiner Freundin bedroht zu werden.
Mit Bescheid der belangten Behörde vom 18.12.2024 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Tunesien abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie festgestellt, dass seine Abschiebung nach Tunesien zulässig sei (Spruchpunkt V.). Ihm wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.)
In der gegen diesen Bescheid fristgerecht eingebrachten Beschwerde vom 14.01.2025 wurde die Verletzung von Verfahrensvorschriften und die inhaltliche Rechtswidrigkeit moniert. Ergänzend wurde vorgebracht, die Familie seiner Freundin habe die Beziehung vor allem deshalb nicht akzeptiert, weil die Frau Muslima und der BF selbst aber nicht gläubig sei. Er sei zwar geborener Moslem, nehme jedoch schon lange nicht mehr an den religiösen Bräuchen teil. Obwohl die Beziehung der beiden nicht akzeptiert worden sei, seien er und seine Freundin miteinander intim geworden, was die drohende Rache durch ihre Familie ausgelöst habe. Er könne auch keine Unterstützung durch seine Angehörigen erhalten, weil seine Familie ihn aufgrund seines mangelnden Glaubens verstoßen habe. Ebenso werde auf die bestehende Korruption der Polizei und der staatlichen Behörden verwiesen, welche ihm keinen Schutz gewähren könnten. Dieses ergänzende Vorbringen stehe dem Neuerungsverbot gemäß § 20 BFA-VG nicht entgegen.
Am 16.01.2025 langte die Beschwerde samt Verwaltungsakt von Seiten der belangten Behörde beim Bundesverwaltungsgericht ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der unter I. ausgeführte Verfahrensgang wird als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:
1.1. Zur Person des BF:
Der volljährige BF ist ledig, kinderlos und Staatsangehöriger von Tunesien. Er gehört der Volksgruppe der Araber an und spricht Arabisch. Seine Identität steht nicht.
Der BF verließ im September 2021 legal Tunesien per Flugzeug und hielt sich etwa eineinhalb Jahre lang in Serbien auf, wo er illegal als Koch tätig war, aber keinen Asylantrag stellte. Der BF reiste schließlich nach Österreich und erreichte am 02.01.2024 das Bundesgebiet, wo er am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er besuchte in Tunesien die Grundschule und verfügt über vielfältigste Berufserfahrung (Küchenhilfe, Taxifahrer, als Koch in Serbien). Aufgrund seiner bisherigen Arbeitserfahrung hat der BF auch hinkünftig die Chance, am tunesischen Arbeitsmarkt unterzukommen.
Seine Eltern und seine zwei Schwestern leben in Tunesien. Ab Jänner 2021 bis zu seiner Ausreise aus Tunesien im September 2021 wohnte der BF bei seiner Großmutter in einem Bauernhaus und wurde von ihr unterstützt. In Österreich verfügt der BF über keine maßgeblichen privaten und familiären Beziehungen. Zu seiner Freundin hat der BF seit über drei Jahren keinen Kontakt mehr.
Der BF weist in Österreich keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf. Der BF bezieht seit seinem Aufenthalt im Bundesgebiet Grundversorgungsleistungen. Er ging seit seinem Aufenthalt im Bundesgebiet keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt auch über keine qualifizierten Sprachkenntnisse in Deutsch. Strafgerichtlich ist er unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtmotiven des BF:
Der BF hat bei der Asylantragstellung für das Verlassen seines Herkunftsstaates eine Privatverfolgung durch Familienangehörige seiner Freundin angeführt, weil er mit ihr intim geworden sei. In der Beschwerdeschrift ergänzte er dieses Fluchtvorbringen dahingehend, dass er angab, die Familie seiner Freundin habe diese Beziehung und den außerehelichen Geschlechtsverkehr mit seiner Freundin deshalb nicht akzeptiert, weil der BF selbst nicht gläubig sei. Der von ihm behaupteten Gefahr einer Verfolgung seiner Person durch Privatpersonen kommt in Anbetracht einer grundsätzlich anzunehmenden Schutzfähigkeit und -willigkeit der tunesischen Behörden sowie des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative keine Asylrelevanz zu.
Es besteht auch keine reale Gefahr, dass der BF im Fall seiner Rückkehr nach Tunesien einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein wird. Der BF möchte in Österreich arbeiten und sein zukünftiges Leben hier gestalten.
Der BF wird in seinem Herkunftsland Tunesien weder aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe noch aufgrund seiner politischen Gesinnung verfolgt und ist in seinem Herkunftsstaat nicht gefährdet, aus solchen Gründen verfolgt zu werden.
Es existieren keine Umstände, welche einer Abschiebung des BF aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich entgegenstünden. Der BF wird im Fall seiner Rückkehr nach Tunesien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner realen Gefahr der Folter, einer unmenschlichen Bestrafung oder Behandlung oder der Todesstrafe ausgesetzt sein. Im Fall seiner Rückkehr nach Tunesien droht dem BF nicht die Gefahr, durch einen innerstaatlichen oder zwischenstaatlichen Konflikt in seinem Herkunftsstaat in seiner körperlichen Integrität verletzt zu werden. Ihm droht im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat auch keine reale Gefahr, in seiner Existenz bedroht zu werden.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Tunesien ist gemäß § 1 Z 11 HStV (Herkunftsstaaten-Verordnung) ein sicherer Herkunftsstaat.
Hinsichtlich der aktuellen Lage im Herkunftsstaat des BF sind gegenüber den im angefochtenen Bescheid vom 18.12.2024 getroffenen Feststellungen keine entscheidungsmaßgeblichen Änderungen eingetreten.
Im angefochtenen Bescheid wurde das aktuelle (Version 8, Stand 03.08.2023) „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Tunesien vollständig zitiert. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens ist auch keine Änderung bekannt geworden, sodass das Bundesverwaltungsgericht sich diesen Ausführungen vollinhaltlich anschließt und auch zu den seinen erhebt.
Fallbezogen werden nachstehende Passagen daraus hervorgehoben:
A. Sicherheitslage
Letzte Änderung 2023-07-28 12:51
Die Sicherheitslage in Tunesien ist vor allem in den südlichen Wüstengebieten (Grenze zu Libyen und Algerien) angespannt, sowie entlang der Grenze zu Algerien im Westen des Landes, dort vor allem im Gebiet um den Jebel Chaambi westlich von Kasserine. Das Risiko von terroristischen Anschlägen ist weiterhin gegeben, es ist aber eine spürbare Verringerung in den letzten Jahren feststellbar. Das Jahr 2015 bildete mit drei großen Anschlägen einen Höhepunkt, seitdem und vor allem 2021 und 2022 kam es zu einer deutlichen Reduktion terroristischer Aktivitäten. Gefahr geht dabei vorwiegend von Rückkehrern aus, v. a. aus Libyen. Die Terrorismusbekämpfung und die Sicherheit an den Grenzen gehören somit weiterhin zu den wichtigsten Prioritäten der tunesischen Regierung. Die tunesischen Behörden haben eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um Terrorzellen zu zerschlagen, insbesondere wurde die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht. Die Zahl der Terroranschläge in Tunesien ist in der Folge in den letzten Jahren zurückgegangen, da sich die Sicherheitsstrukturen des Landes erheblich verbessert haben, was zu einer Stabilisierung der Lage geführt hat. Dies ist auch an statistischen Auswertungen des Global Terrorism Index der Jahre 2021 und 2022 ersichtlich (STDOK 11.4.2023).
Die von den bisherigen Regierungen angestrebte Verbesserung der Sicherheitslage im Inneren und der Kampf gegen den Terrorismus bleiben trotz vermehrter Anstrengungen und zahlreichen Verhaftungs- und Durchsuchungsaktionen weiter eine Herausforderung. Nach mehreren Anschlägen 2015 und einem schweren Angriff von IS-Milizen auf die Grenzstadt Ben Guerdane im März 2016 hat sich die Sicherheitslage zwar verbessert (AA 22.6.2023), bleibt jedoch besonders angespannt (AA 13.7.2023) und es kommt immer wieder zu Anschlägen (AA 22.6.2023). Mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz in diesen Regionen ist zu rechnen (AA 13.7.2023). Zuletzt im Mai 2023, verübte ein Angehöriger der maritimen Nationalgarde einen Anschlag während einer jüdischen Wallfahrt an der La Ghriba-Synagoge und tötet 5 Menschen (AA 22.6.2023).
Im Westen des Landes ist mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz zu rechnen, es kommt zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Terroristengruppen (BMEIA 5.6.2023).
Laut österreichischem Außenministerium gilt (für österreichische Staatsbürger) eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für die Saharagebiete, das Grenzgebiet zu Algerien und die westlichen Landesteile. Reisewarnungen bestehen für die Region südlich der Orte Tozeur – Douz – Ksar Ghilane – Tataouine – Zarzis. Mit gewaltsamen Aktionen terroristischer Organisationen ist zu rechnen. Das militärische Sperrgebiet an der Grenze zu Algerien in der Nähe des Berges Chaambi ist teilweise vermint und kann von den Sicherheitskräften kurzfristig ausgedehnt werden. Im Westen des Landes ist mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz zu rechnen; es finden bewaffnete Auseinandersetzungen mit Terroristengruppen statt (BMEIA 5.6.2023). Die Behörden haben insbesondere die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht, vor allem in den Touristenorten (EDA 9.5.2023; vgl. BMEIA 5.6.2023).
Im Juni 2022 wurden zwei Sicherheitskräfte bei einem Messerangriff im Zentrum von Tunis verletzt und bereits im Jänner kam es zu einem Messerangriff in einem Tram bei Tunis (EDA 9.5.2023).
Der nach der Attentatsserie von 2015 verhängte Ausnahmezustand ist nach wie vor in Kraft, wird regelmäßig verlängert und gilt im ganzen Land (AA 24.5.2023). Er gewährt den Sicherheitsbehörden einen erweiterten Handlungsspielraum, der von der Zivilgesellschaft kritisch beobachtet wird (ÖB 10.2022; vgl. FH 13.4.2023). Die Behörden verfügen somit über eine weitreichende Erlaubnis, die Bewegungsfreiheit von Einzelpersonen einzuschränken, und Tausende von Menschen sind von solchen Verfügungen betroffen (FH 13.4.2023). Mit vermehrten Polizeikontrollen ist landesweit zu rechnen (AA 13.7.2023).
Landesweit kommt es regelmäßig zu vor allem wirtschaftlich und sozial motivierten, oftmals spontanen Protesten, die nicht selten auch in Gewalt umschlagen. Gegen den Staatsumbau von Staatspräsident Saïed kam es im Laufe des Jahres 2022 und rund um die Parlamentswahlen zu Jahresbeginn 2023 zu regelmäßigen Protesten von Ennahdha und anderen Oppositionsparteien/-bündnissen, die jedoch friedlich blieben und derzeit merklich abgeflaut sind (AA 22.6.2023). Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften können dabei nicht ausgeschlossen werden (AA 13.7.2023).
Ferner besteht südlich, bzw. südöstlich in den Sperrzonen der Grenzgebiete zu Algerien und Libyen sowie abseits der Touristenzentren am Rande der Sahara ein erhöhtes Entführungsrisiko (BMEIA 5.6.2023; vgl. AA 13.7.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.7.2023): Tunesien: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tunesiensicherheit/219024 , Zugriff 13.7.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
BMEIA - Bunesministerium Europäische und internationale Angelegenheiten [Österreich] (5.6.2023): Tunesien (Tunesische Republik), https://www.bmeia.gv.at/reise-services/reiseinformation/land/tunesien/ , Zugriff 7.6.2023
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (9.5.2023): Reisehinweise für Tunesien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tunesien/reisehinweise-fuertunesien.html#eda931a7d , Zugriff 7.6.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
STDOK - Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (11.4.2023): Themenbericht intern: Nordafrika - Terrorismus in Ägypten, Libyen, Marokko und Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2090998/NAFR_THEM_Terrorismus_2023_04_11_KE.pdf , Zugriff 13.7.2023
B. Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung 2023-07-28 13:35
Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor, aber die Regierung respektiert die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz nicht (USDOS 22.3.2023). Im September 2021 setzte Präsident Saïed die Verfassung von 2014 größtenteils außer Kraft und erteilte sich selbst nahezu unbegrenzte Befugnisse, um per Dekret zu regieren. Er nutzte diese Befugnis zur Konsolidierung der Macht im Jahr 2022, indem er eine Reihe von regressiven Reformen einführte und die Unabhängigkeit der Justiz untergrub (HRW 12.1.2023). Die nur langsam voranschreitende Justizreform war und ist eine der wichtigsten Säulen des tunesischen Transitionsprozesses. Das Programm zur Unterstützung der Justizreform (PARJ) dessen Finanzierungsvereinbarung den Reformprozess der Regierung erleichtern und die Rechtsstaatlichkeit in Tunesien stärken sollte, ist zum Stillstand gekommen. Zwischen den Prinzipien der Verfassung und den Gesetzen, die in Tunesien tatsächlich in Kraft sind, gibt es noch große Diskrepanzen (ÖB 10.2022). In der neuen Verfassung sind zwar viele Rechte verankert, doch wurden die für ihren Schutz erforderlichen Kontrollmechanismen ausgehebelt. Die Unabhängigkeit der Justiz und des Verfassungsgerichts wird nicht vollständig gewährleistet (HRW 12.1.2023).
Bereits im September 2021 setzte Präsident Saied die Verfassung von 2014 größtenteils außer Kraft und erteilte sich selbst nahezu unbegrenzte Befugnisse, um per Dekret zu regieren (HRW 12.1.2023). Ferner nutze Saïed diese Befugnisse und führte eine Reihe von regressiven Reformen ein, welche die Unabhängigkeit der Justiz untergruben. In der neuen Verfassung sind zwar viele Rechte verankert, doch werden die für ihren Schutz erforderlichen Kontrollmechanismen ausgehebelt. Die Unabhängigkeit der Justiz und des Verfassungsgerichts, das Tunesien erst noch einrichten muss, wird nicht vollständig gewährleistet (HRW 12.1.2023; vgl. AI 27.3.2023). Aktivisten der Zivilgesellschaft erklärten, dass das Versäumnis der Regierung, ein Verfassungsgericht einzurichten, das Land ohne Kontrolle der Exekutivgewalt und ohne eine unabhängige Instanz zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen, insbesondere in Bezug auf die Grundfreiheiten und die Rechte des Einzelnen, dastehen lässt (USDOS 20.3.2023). Die neue im August 2022 in Kraft getretene Verfassung stellt einen weiteren Schritt des Präsidenten Richtung Autoritarismus dar. Darüber hinaus untersagt die Verfassung Richtern zu streiken und schränkt damit ihr Recht auf friedliche Versammlung und Protest erheblich ein (ÖB 10.2022).
Die Regierungen und Gesetzgeber haben es jedoch wiederholt versäumt, den Verfassungsgerichtshof einzurichten, wie es die Verfassung von 2014 vorsieht; seine Aufgabe wäre es gewesen, die Verfassungsmäßigkeit von Verordnungen und Gesetzen zu bewerten. Das Fehlen eines solchen Gerichts wurde 2021 besonders problematisch, da es keinen maßgeblichen Mechanismus gab, um die Verfassungsmäßigkeit der Notstandsmaßnahmen von Saïed zu beurteilen (FH 13.4.2023). Die neue Verfassung enthält zwar Bestimmungen zur Schaffung eines solchen Gerichts, räumt aber dem Präsidenten das letzte Wort bei der Ernennung der Mitglieder ein (AI 27.3.2023).
Am 12.2.2022 löste Saïed den Obersten Justizrat (High Judicial Council- HJC) auf (USDOS 20.3.2023; vgl. HRW 12.1.2023, FH 13.4.2023). Der Oberste Justizrat war das höchste Gremium der tunesischen Justiz und überwachte die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten, ihre Disziplin und ihre berufliche Entwicklung. Präsident Saïed ersetzte den Obersten Justizrat durch ein provisorisches Gremium, das zum Teil vom Präsidenten ernannt wurde, und erteilte sich selbst die Befugnis, in die Ernennung, Laufbahn und Entlassung von Richtern und Staatsanwälten einzugreifen (HRW 12.1.2023). Präsident Kaïs Saïed hat sich dadurch weitgehende Einflussmöglichkeiten auf die Justiz gesichert (AA 22.6.2023).
Während die neue Verfassung sowohl den Obersten Justizrat als auch das Verfassungsgericht dem Namen nach beibehält, räumt sie dem Präsidenten die endgültige Befugnis zur Ernennung von Richtern auf Vorschlag des Obersten Justizrates ein, während die Charta von 2014 die Ernennungsempfehlungen des Obersten Justizrates für die Exekutive verbindlich gemacht hatte. Darüber hinaus wurde in der neuen Verfassung eine Klausel der Verfassung von 2014 gestrichen, die dem Verfassungsgerichtshof die Befugnis einräumte, über den Umfang der Befugnisse des Präsidenten zu entscheiden (FH 13.4.2023).
Am 1.7.2022 erließ Saïed ein Dekret, das die Unabhängigkeit der Justiz weiter aushöhlte (HRW 12.1.2023; vgl. AA 22.6.2023) und entließ einseitig 57 Richter, darunter den ehemaligen Präsidenten des Obersten Justizrats, nachdem er Korruptions- und andere Fehlverhaltensvorwürfe erhoben hatte, von denen Kritiker bezweifelten, dass sie tatsächlich begründet seien. Zivilgesellschaftliche Organisationen wiesen weitgehend Behauptungen zurück, die Entlassungen hätten irgendetwas mit Antikorruptionsbemühungen zu tun und behaupteten, die Entlassungen seien ein Vorwand gewesen, um freie Stellen in der Justiz mit Richtern zu besetzen, die den Präsidenten eindeutig unterstützen würden. Ab dem 6.6.2022 startete die Vereinigung tunesischer Richter (AMT) einen vierwöchigen landesweiten Streik aus Protest gegen die Entlassungen. Während des Streiks setzte das AMT Gerichtsverfahren außer in Fällen im Zusammenhang mit Terrorismus und Bestattungsgenehmigungen aus (USDOS 20.3.2023).
Am 25.7.2022 ordnete Präsident Saïed ein nationales Referendum über einen neuen Verfassungsentwurf an, der die Verfassung von 2014 ersetzen soll. Saïeds Verfassungsentwurf wurde von einem Gremium ausgearbeitet, dessen Mitglieder der Präsident selbst ernannte und das hinter verschlossenen Türen arbeitete und kaum oder gar keine Beiträge von anderen einholte. Der Entwurf wurde nur drei Wochen vor dem Referendum veröffentlicht, sodass praktisch keine Zeit für eine öffentliche Debatte blieb. Die neue Verfassung wurde am 26.7.2022 von 94,6 % der Wahlberechtigten angenommen, bei einer Wahlbeteiligung von nur 30,5 %. Sie trat am 17.8.2022 nach Bekanntgabe der endgültigen Ergebnisse in Kraft (HRW 12.1.2023).
Allerdings setzte das Verwaltungsgericht Tunis am 10.8.2022 die Entscheidung des Präsidenten in Bezug auf 49 der 57 Richter aus und ordnete ihre Wiedereinstellung an. Aber das Justizministerium weigerte sich, die Richter wieder einzustellen (HRW 12.1.2023; vgl. AI 27.3.2023).
Am 22.9.2022 fällte der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker ein wichtiges Urteil, in dem er feststellte, dass die von Saïed getroffenen außergewöhnlichen Maßnahmen unverhältnismäßig waren. Das Gericht ordnete die Aufhebung mehrerer Dekrete an, einschließlich des Dekrets, mit dem der größte Teil der Verfassung von 2014 außer Kraft gesetzt wurde, und ordnete die Einrichtung des Verfassungsgerichts innerhalb von zwei Jahren an (HRW 12.1.2023).
Dem Justizsystem mangelt es an Effizienz und Unabhängigkeit; lange Verfahrensdauer, mangelnde Beachtung der Prozedere und Kapazität haben einen Vertrauensverlust in der Bevölkerung zur Folge. Die heikle Sanierung in Richtung einer unabhängigen und professionellen Justiz ist dringend geboten, um Korruption und Steuerflucht effizient zu bekämpfen. Das Fehlen eines Verfassungsgerichtshofs wird auch international angeprangert (ÖB 10.2022).
Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist gesetzlich verankert, und die unabhängige Justiz setzt dieses Recht im Allgemeinen durch, obwohl sich Angeklagte darüber beschweren, dass die Behörden die gesetzlichen Bestimmungen über die Gerichtsverfahren nicht konsequent befolgen. Vor zivilen Gerichten haben Angeklagte das Recht auf die Unschuldsvermutung. Sie haben auch das Recht, einen Anwalt zu konsultieren oder auf öffentliche Kosten einen Anwalt stellen zu lassen, Zeugen und Beweise vorzulegen und Urteile gegen sie anzufechten. Das Gesetz schreibt vor, dass Angeklagte unverzüglich und detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert werden müssen, gegebenenfalls mit freier Auslegung. Sie müssen auch ausreichend Zeit und Gelegenheit erhalten, ihre Verteidigung vorzubereiten, und dürfen nicht gezwungen werden, auszusagen oder Schuld zu bekennen (USDOS 20.3.2023).
Die Militärgerichte verfolgten weiterhin Zivilisten, allerdings seltener als im Jahr 2021 (AI 27.3.2023). Militärgerichte sind befugt, Fälle zu verhandeln, in denen es um Angehörige der Sicherheits- oder Streitkräfte und Zivilisten geht, denen nationale Sicherheitsverbrechen oder Straftaten wie die Beleidigung des Präsidenten (als Oberbefehlshaber der Streitkräfte) oder anderer Militärangehöriger vorgeworfen werden. Berufungen gegen Entscheidungen der Militärgerichte, an denen Zivilisten beteiligt sind, werden vom Kassationsgericht, dem höchsten Berufungsgericht des Landes, verhandelt und sind Teil des zivilen Justizsystems (USDOS 20.3.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
AI - Amnesty International (27.6.2023): The Human Rights Council should address the rapidly growing human rights crisis in Tunisia, https://www.amnesty.org/en/wp-content/uploads/2023/06/MDE3069262023ENGLISH.pdf , Zugriff 9.7.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085505.html , Zugriff 30.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
C. Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung 2023-07-28 13:35
Dem Innenministerium untersteht die Nationalpolizei und übt die Exekutivfunktion bzw. Strafverfolgung in Großstädten aus. Die Nationalgarde bzw. Gendarmerie übt die Exekutivfunktion in ländlichen Gebieten und kleineren Städten aus, patrouilliert dort und übernimmt die Grenzsicherung. Zivile Behörden kontrollieren den Sicherheitsapparat, wiewohl es weiterhin regelmäßig zu ungestraften Übergriffen durch die Sicherheitskräfte kommt (USDOS 20.3.2023; vgl. AI 27.3.2023, CIA 16.5.2023). Die Behörden haben es weitgehend versäumt, Angehörige der Sicherheitskräfte, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, zur Rechenschaft zu ziehen (AI 27.3.2023). Es gibt seit langem Beschwerden über Brutalität seitens der Polizei, wobei die Beamten beschuldigt werden, Zivilisten und Inhaftierte ungestraft zu misshandeln (FH 13.4.2023). Die Sicherheitskräfte unterbinden regelmäßig Demonstrationen, indem sie den Zugang zu bestimmten Orten blockieren und übermäßige Gewalt anwenden, um Demonstranten zu vertreiben (HRW 12.1.2023). Die Polizeigewerkschaften haben sich einer Reform widersetzt, mit der das Problem angegangen werden sollte (FH 13.4.2023). Die Regierung unternimmt Schritte, um gegen Beamte zu ermitteln, die mutmaßlich Übergriffe begangen haben, aber die diesbezüglichen Untersuchungen sind nicht transparent und es kommt häufig zu langen Verzögerungen und verfahrenstechnischen Hindernissen (USDOS 20.3.2023).
Der Sicherheitsapparat war unter dem Ben-Ali-Regime allgegenwärtig und sicherte dessen Machterhalt. Die Rolle der Sicherheitskräfte während des Umsturzes aber teilweise auch bei gewaltsam aufgelösten Demonstrationen gegen die ersten beiden Interimsregierungen im Frühjahr 2011 vertieften den Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber den Sicherheitsorganen, insbesondere der Polizei und den Sondereinheiten des Innenministeriums. Zwar wurde die Geheimpolizei („police politique“) aufgelöst, allerdings steht eine umfassende Reform des Innenministeriums und der nachgeordneten Behörden bis heute aus. Die Sicherheitskräfte stehen immer wieder in der Kritik; es mangelt an Transparenz, zudem hält die Straflosigkeit für Vergehen der Sicherheitskräfte an (AA 22.6.2023).
Das Militär genießt aufgrund seiner zurückhaltenden Rolle während der Revolution 2011 ein sehr hohes Ansehen in der Bevölkerung, welches bis dato anhält. Durch die derzeit starke Einbindung des Militärs in den Antiterrorkampf als auch bei der Sicherung der Grenzen (so ist z. B. der Süden Tunesiens militärische Sperrzone) ist das Militär nach wie vor wichtiger Stützpfeiler der äußeren, aber auch der inneren Sicherheit (AA 22.6.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
AI - Amnesty International (27.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; The State of the World's Human Rights; Tunisia 2022, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089657.html , Zugriff 9.7.2023
CIA - Central Intelligence Agency [USA] (21.6.2023): The World Factbook, Tunisia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/tunisia/ , Zugriff 30.6.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085505.html , Zugriff 30.5.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
D. Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2023-07-31 06:56
Seit Beginn des von Präsident Kaïs Saïed vorangetriebenen Staatsumbaus („Prozess des 25. Juli“) ist beim Menschenrechtsschutz eine Trendumkehr zu verzeichnen. Insbesondere seit Jahresbeginn 2023 hat sich die Lage nochmals deutlich verschlechtert (AA 22.6.2023). Die Bedrohung der Meinungsfreiheit, die Schwächung der Zivilgesellschaft, die Schikanierung von Menschenrechtsaktivisten, die offenkundige Einmischung der Exekutive in Gerichtsverfahren, deren Instrumentalisierung mit dem Ziel, dem politischen Pluralismus ein Ende zu setzen, und die Umsetzung mehrerer Initiativen, die einseitig im Rahmen von Ausnahmemaßnahmen ergriffen wurden, verzerren den demokratischen Prozess zusätzlich. Das autoritäre Regime von Präsident Kais Saïed hat sich in eine Paranoia verwandelt, die bisher nur verbal war und von ihm in zahlreichen öffentlichen Reden verbreitet wurde. Es kommt zu einer Zunahme von Verhaftungen und der Schweigepflicht für die Opposition, ferner kommt es auch zu einem schrumpfenden Spielraum für die Zivilgesellschaft und die Einführung von Gesetzen, die jegliche Kritik verbieten (EMHRN 26.5.2023).
Die neue Verfassung vom 25.7.2022 hat die seit 2011 hart errungene, aber seit Jahren krisengeplagte parlamentarische Demokratie Tunesiens in ein hyper-präsidentielles System umgebaut: nahezu vollständige Machtkonzentration auf den Staatspräsidenten, Schwächung des Parlaments, Fehlen institutioneller „checks and balances“ zur Einhegung der Macht des Präsidenten, zudem zahlreiche mögliche Einfallstore für die Einschränkung von Grundrechten, obgleich diese weitgehend wortgleich aus der Verfassung von 2014 in die übernommen wurden. Dies ist jedoch nur die Papierform, in der Praxis sind die Menschenrechte und insbesondere die politischen und bürgerlichen Rechte und Freiheiten in Tunesien immer stärker unter Druck (AA 22.6.2023).
Tunesien hat somit die meisten Konventionen der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte einschließlich der entsprechenden Zusatzprotokolle ratifiziert und bestehende Vorbehalte größtenteils zurückgezogen. Die Umsetzung der Konventionen in nationales Recht dauern weiterhin an. Das zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe (OP2-ICCPR) wurde bislang nicht signiert (AA 22.6.2023).
Der zur Erleichterung der Terrorabwehr seit November 2015 immer wieder verlängerte Ausnahmezustand (auf Grundlage eines Dekrets von 1978) gestattet den Sicherheitsbehörden nicht nur weitreichende Eingriffe in die Bewegungsfreiheit, sondern dadurch auch mittelbar in weitere Grundrechte. Zuletzt wurde der Ausnahmezustand am 1.2.2023 durch Präsidialdekret bis Jahresende 2023 verlängert (AA 22.6.2023).
Am 17.8.2022 trat eine neue Verfassung in Kraft, die nach dem Referendum am 25.7.2022 von den Wählern angenommen worden war. Die Verfassung spricht Präsident Kaïs Saïed zunehmend autoritäre Entscheidungskraft zu, schränkt die Gewaltentrennung substanziell ein und wurde so gut wie im Alleingang vom Präsidenten erstellt. Der Vorgang zeichnete sich durch Intransparenz und Missachtung des Rechts der Öffentlichkeit, Informationen darüber einzuholen, aus. Die Einschränkungen bei der Durchsetzung von Menschenrechten seit dem Ausrufen des Ausnahmezustands als Antwort auf die Terroranschläge 2015 werden nun durch die neue Verfassung weiter vertieft. Die Verfassung beinhaltet zwar unterschiedlichste Menschenrechtsbestimmungen im Kapitel „Rechte und Freiheiten“, hat jedoch jegliche Referenz zu universellen Menschenrechten in der Präambel verloren und schränkt die institutionelle Garantie für Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Menschenrechte im Vergleich zur Verfassung von 2014 erheblich ein. Die neue Verfassung räumt dem Präsidenten weitreichende Notstandsbefugnisse ohne den erforderlichen Kontrollmechanismus ein, die zur Beschneidung der Menschenrechte und zur Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit genutzt werden können. Darüber hinaus untergräbt die neue Verfassung die Garantien für die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts, einer wichtigen Institution für den Schutz der Menschenrechte, und schränkt dessen Mandat ein, indem sie ihm die Kontrolle über die Verfassungsmäßigkeit der Verlängerung des Ausnahmezustands entzieht. Die Rechte auf persönliche Freiheit, auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sind aufgrund von Verlängerungen des Ausnahmezustands teilweise noch immer eingeschränkt. Der Tatbestand der "Gefährdung der öffentlichen Moral" gilt weiterhin, ebenso wie immer wieder Fälle von Folter angeprangert werden. Zudem fehlt ein verfassungsrechtliches Höchstgericht (ÖB 10.2022).
Zu den wesentlichen Menschenrechtsproblemen gehören glaubwürdige Berichte über Folter durch Regierungsagenten; willkürliche Festnahmen oder Inhaftierungen; schwerwiegende Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Medienfreiheit, einschließlich Verhaftungen oder strafrechtlicher Verfolgung von Journalisten, Zensur oder Durchsetzung oder Androhung der Durchsetzung von strafrechtlichen Verleumdungsgesetzen zur Einschränkung der Meinungsäußerung; Korruption in der Regierung; Diskriminierung und gesellschaftlicher Missbrauch; Straftaten mit Gewalt oder Androhung von Gewalt gegen sexuelle Minderheiten; wie auch Gesetze, die einvernehmliches gleichgeschlechtliches Sexualverhalten zwischen Erwachsenen unter Strafe stellen, und die Durchsetzung dieser Gesetze; und die schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Die Regierung ergriff Schritte, um gegen Beamte zu ermitteln, die mutmaßlich Missbräuche begangen haben. Den Ermittlungen zu Missbräuchen durch Polizei, Sicherheitskräfte und Beamte der Haftanstalten mangelte es jedoch an Transparenz und es kommt häufig zu langen Verzögerungen und verfahrenstechnischen Hindernissen. Auch den hochkarätigen Ermittlungen gegen ehemalige Regierungsbeamte, Parlamentsabgeordnete und Geschäftsleute wegen Korruptionsvorwürfen mangelte es an Transparenz (USDOS 20.3.2023).
Menschenrechtsorganisationen konstatieren in vielen Bereichen wie der Normsetzung, Respekt für und Durchsetzung von Menschenrechten sowie der Offenheit der Regierung für Konsultationen mit der Zivilgesellschaft und den Opfern von Menschenrechtsverletzungen einen negativen Trend, der schon vor der politischen Krise im Sommer 2021 spürbar war, sich seither aber merklich verstärkt hat (AA 22.6.2023).
2014 richtete Tunesien eine Kommission für Wahrheit und Würde (IVD) ein, um die seit 1956 begangenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verbrechen zu untersuchen. Anfang 2018 stimmte das Parlament gegen eine Verlängerung des Mandats der Kommission, eine Entscheidung, die von Rechtsaktivisten als Schwächung der Bemühungen um eine Übergangsjustiz kritisiert wurde. Die Kommission legte ihren Abschlussbericht 2019 vor und veröffentlichte ihn offiziell 2020. Er stützt sich auf mehr als 62 000 Beschwerden tunesischer Bürger gegen den Staat wegen Menschenrechtsverletzungen. Tunesische Gerichte begannen mit der Prüfung von 69 Anklagen und 131 Verweisen der IVD, aber die Notstandsmaßnahmen des Präsidenten im Jahr 2021 schufen Unsicherheit über die Zukunft des Prozesses der Übergangsjustiz (FH 13.4.2023). Die Empfehlungen der IVD zur Umsetzung wichtiger institutioneller Reformen bleiben unerfüllt. Nichtsdestotrotz war sie eine relevante Instanz bei der Sichtbarmachung der Rolle der ehemaligen Präsidenten sowie anderer hochrangiger Beamter bei Folter, willkürlichen Inhaftierung und vielen anderen Misshandlungen. Am 31.12.2021 endete das Mandat der Kommission (ÖB 10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
EMHRN - EuroMed Rights (ehemals: Euro-Mediterranean Human Rights Network, EMHRN) (26.5.2023): Human rights and the rule of law in Tunisia: the slide continues, https://euromedrights.org/publication/human-rights-and-the-rule-of-law-in-tunisia-the-slide-continues/ , Zugriff 21.7.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
E. Religionsfreiheit
Letzte Änderung 2023-07-31 15:26
98-99 % der Bevölkerung sind Muslime – mehr oder weniger praktizierend. Die meisten sind Sunniten. Neben Muslimen leben in Tunesien rund 25.000 Christen (zum Großteil Katholiken), wobei die Gemeinden zum Großteil aus ausländischen Bürgern bestehen, und 1.500 Juden (CIA 13.7.2023; vgl. USDOS 20.3.2023, AA 22.6.2023). Des Weiteren gibt es noch Schiiten und Baha’i (CIA 13.7.2023; vgl. USDOS 15.5.2023). Bis zur Revolution im Jänner 2011 konnte der Islam über die Befolgung der grundlegenden muslimischen Riten hinaus kaum gesellschaftliche und politische Aktivitäten entfalten. Außerhalb der Gebetszeiten blieben die Moscheen geschlossen. Zudem wurden die Freitagspredigten sowie alle religiösen Gemeinschaften vom Staat überwacht. Mit der Revolution ist der Islam im gesellschaftlichen und politischen Leben des Landes allmählich immer sichtbarer geworden (AA 22.6.2023).
Der Islam ist offizielle Religion Tunesiens und der Staatspräsident muss laut Verfassung von 2022 Muslim sein. Die neue Verfassung, die in einem Referendum am 25.7.2022 angenommen wurde und im August in Kraft trat, verlangt vom Staat, die Ziele des Islam zu unterstützen und voranzutreiben, und sieht vor, dass „Tunesien Teil der islamischen Umma [Gemeinschaft oder Nation] ist“. Der Staat muss daran arbeiten, die Ziele des Islam zu erreichen und Leben, Ehre, Eigentum, Religion und Freiheit zu bewahren. In der Verfassung heißt es außerdem, dass dies im Rahmen eines demokratischen Systems geschehen wird. Die Verfassung besagt, dass sie Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Freiheit der Religionsausübung garantiert (USDOS 15.5.2023). Mit der neuen Verfassung von 2022 kam es zu einigen Änderungen. Dabei wurde beispielsweise Tunesien nicht mehr, als ein Staat dessen Religion der Islam ist genannt, sondern als zugehörig zu einer Umma, deren Religion der Islam ist. Zur Erklärung, die Umma ist die Weltgemeinschaft der Muslime. Dieser Bezug auf die Religion und die Ziele des Islams in der Verfassung, gepaart mit der Streichung des Hinweises auf den zivilen Charakter des Staates stellen eine Gefahr für die Freiheiten dar, argumentieren viele NGOs (ÖB 10.2022).
Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird in Tunesien mit gewissen Einschränkungen gewährt (AA 22.6.2023). Die Verfassung reflektiert das herrschende Gleichgewicht zwischen religiösem und säkularem Lager in Gesellschaft und Politik: Der Islam ist als Religion des Landes anerkannt, aber die islamische Scharia wurde nicht in der Verfassung verankert. Ein ziviler Staat ist die Grundlage der Verfassung, in der ausdrücklich auf die universellen Menschenrechte Bezug genommen wird (AA 22.6.2023; vgl. USDOS 15.5.2023).
Juden und Christen werden als gleichberechtigte Bürger akzeptiert (BS 2022). Medienberichten zufolge wurden am 9.5.2023 mehrere jüdische Personen bei einem Angriff auf die El Ghriba-Synagoge in Djerba getötet, weitere verletzt (BAMF 15.5.2023; vgl. DW 14.5.2023). Staatspräsident Kaïs Saïed betonte trotz anderslautender Vorwürfe, sein Land sei weiterhin sicher für Menschen jüdischen Glaubens und der Fall werde untersucht (BAMF 15.5.2023).
Es ist rechtlich möglich, vom Islam zum Christentum zu konvertieren. Missionierung und das Verteilen religiösen Materials sind der katholischen Kirche jedoch verboten (AA 22.6.2023). Es gibt erheblichen gesellschaftlichen Druck gegen die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion (USDOS 15.5.2023). Tunesische Konvertiten (einige hundert im Land) werden innerhalb ihres sozialen und familiären Umfelds zwar zunächst häufig geächtet, mittelfristig aber gesellschaftlich wieder akzeptiert und integriert (AA 22.6.2023); Konvertiten werden häufig schikaniert und diskriminiert (FH 13.4.2023; vgl. USDOS 15.5.2023). Laut NGO Minority Rights Group International (MRGI) berichten Organisationen der Zivilgesellschaft, dass die Zahl muslimischer Konvertiten zum Christentum zunimmt, die gesellschaftlichen Tabus jedoch nach wie vor so stark und weit verbreitet seien, dass diese Personen ihre Konvertierungen im Allgemeinen lieber geheim hielten. Ferner berichten Christen, dass Familienmitglieder Konvertiten häufig beschuldigen, „Schande“ über die Familie zu bringen (USDOS 15.5.2023).
Religiöse Minderheitengruppen berichteten im Laufe des Jahres von extremen Verwaltungsverzögerungen und mangelnder Reaktion der Regierung bei der Bearbeitung ihrer Anträge auf eine Rechtsvereinigung; einige Anträge reichen bis ins Jahr 2017 zurück (USDOS 20.3.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (15.5.2023): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw20-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 7.6.2023
BS - Bertelsmann Stiftung (2022): Tunesien Country Report 2022, https://bti-project.org/de/reports/country-report/TUN , Zugriff 27.7.20 23
CIA - Central Intelligence Agency [USA] (13.7.2023): The World Factbook, Tunisia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/tunisia/ , Zugriff 21.7.2023
DW - Deutsche Welle (14.5.2023): Tunesien: Djerba: Die tödlichen Schüsse vor der Synagoge, https://www.dw.com/de/djerba-die-t%C3%B6dlichen-sch%C3%Bcsse-vor-der-synagoge/a-65604859 , Zugriff 30.5.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.20 23
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
USDOS - US Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2091916.html , Zugriff 30.5.2023
F. Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung 2023-08-03 07:36
Elf Jahre nach der Jasminrevolution konnten die hohen Erwartungen hinsichtlich eines besseren und gerechteren Lebens in wirtschaftlicher Hinsicht nicht realisiert werden. Großen Fortschritten im Bereich Meinungsfreiheit und Parteienvielfalt stehen eine schwere Wirtschaftsrezession und eine Verarmung weiter Bevölkerungsschichten gegenüber. Keiner der zahlreichen Regierungen seit 2011 ist es gelungen, substanzielle und für die Bevölkerung spürbare Verbesserungen ihrer Lebensumstände herbeizuführen; das Gegenteil war der Fall. Auslöser der Jasminrevolution von 2011 waren Armut, sozialer Ausschluss, Ungerechtigkeit und Mangel an Perspektiven. Elf Jahre später hat sich die Lage keineswegs verbessert, es haben sich die Lebensumstände für viele Tunesier zum Teil dramatisch verschlechtert und die Korruption alle Lebensbereiche erfasst (ÖB 10.2022). Tunesien erlebt derzeit einen Zustand des Aufruhrs und der Spannungen, da die meisten Preise für Grundnahrungsmittel von den Märkten ausgegangen sind, insbesondere Zucker und Speiseöl. Parallel dazu heizten die hohen Preise und die steigenden Steuern und Treibstoffkosten, parallel zur verspäteten Zahlung der Gehälter, die Situation an (MW 11.3.2022). Waren die Herausforderungen in wirtschaftlicher, sozialer, moralischer und kultureller Hinsicht bereits bisher enorm, sind sie nun seit Ausbruch der COVID-19-Krise Mitte März 2020 nochmals um ein Vielfaches angewachsen (ÖB 10.2022).
So erlebte Tunesien 2022 einen Zustand des Aufruhrs und der Spannungen, da die meisten Grundnahrungsmittel nicht mehr auf den Märkten erhältlich waren, insbesondere Zucker und Speiseöl. Parallel dazu heizten die hohen Preise und die steigenden Steuern und Treibstoffkosten, parallel zu verspäteten Auszahlungen der Gehälter, die Situation weiter an (MW 11.3.2022).
Trotz Beruhigung der COVID-19-Situation bekommt Tunesien die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine zu spüren. Die ukrainischen Weizenlieferungen blieben lange Zeit aus und die Preise für Erdöl und Erdgas haben stark angezogen (WKO 4.2023). Traditionell importiert Tunesien über 50 % seines Getreidebedarfs aus der Ukraine (WKO 4.2023; DFK 14.3.2023), was eine sehr hohe Inflation zur Folge hat. Laut dem tunesischen Institut für Statistik lag die nationale Inflationsrate im Feber 2023 bei 10,4 % – Tendenz steigend. Zusätzlich zu den steigenden Preisen komme es ständig zu Engpässen bei Gütern des Grundbedarfs; Grundnahrungsmittel wie Milch und Butter werden knapp, der Preis für Speiseöl verdoppelte sich zuletzt (DFK 14.3.2023). Die Knappheit gewisser Rohstoffe und Energieträger und die daraus induzierten Preissteigerungen führten zu einem Anstieg der Inflation. Die Folge ist, dass die Kaufkraft der Tunesier weiter sinkt. Zudem stieg COVID-bedingt die Arbeitslosigkeit 2020 auf 15,9 %. Im Jahresverlauf 2022 war diese wiederum leicht rückläufig aufgrund des langsam wieder anlaufenden Tourismus und belief sich auf 15,5 %. Die tunesischen Exporte entwickeln sich ebenfalls positiv (WKO 4.2023).
Generell hat sich die wirtschaftliche Lage im Land und damit die Situation der Menschen in den vergangenen Jahren konstant verschlechtert. Laut tunesischem Jurist und Politikexperte Hamadi Redissi ist die wirtschaftliche Lage des Landes „dramatisch“. Die Rating-Agentur Moody's stufte Tunesien bereits Ende Jänner 2023 auf die schlechteste Klasse herab (DFK 14.3.2023).
Somit bleibt Tunesien auch finanziell in einer Schieflage. Die Regierung hofft auf einen Milliarden-Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), um einen Staatsbankrott abwenden zu können. Der IWF fordert im Gegenzug die Aufhebung von Subventionen unter anderem für Kraftstoffe und Nahrungsmittel sowie weitere Reformen. Das wiederum lehnen die Gewerkschaften ab (DFK 14.3.2023; vgl. WKO 4.2023).
Die Weltbank erklärte, dass die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise auf den internationalen Märkten zu einem höheren tunesischen Haushaltsdefizit führen werden, welches für 2023 auf -6,1 % und für 2024 auf -5,2 % des BIP geschätzt wird. Im Jahr 2021 betrug die Staatsverschuldung Tunesiens 81,8 % des BIP und Ende 2022 betrug die Schuldenquote bereits 88,8 % des BIP. Ein Finanzierungsbedarf von 19,9 Mrd. TND (d.s. 13,7 % des BIP) ist nötig, um das Budgetdefizit auszugleichen, doch die steigende Inflation und die Situation in der Ukraine werden wohl höhere Zuschüsse erforderlich machen. Die Weltbank merkt auch an, dass Tunesiens Schwierigkeiten beim Zugang zu internationalen Finanzmitteln zunehmen werden, um die Defizite auch künftig finanzieren zu können. Die tunesische Wirtschaft bleibt somit weiterhin unter Druck. Die Regierung hofft auf ein Darlehen in Höhe von 1,9 Mrd. USD des Internationalen Währungsfonds (IWF), um einen Staatsbankrott abwenden zu können. Ohne rasche Umsetzung von Strukturreformen, den Verkauf von staatlichen Unternehmen und Grundbesitz, einer grundlegenden Reform des Subventionssystems und der Kontrolle des Anstiegs der Gehälter aller öffentlich Bediensteten, um den Haushalt zu sanieren (WKO 4.2023; vgl. HBS 7.3.2023). Es ist allerdings wohl kein neues Abkommen mit dem IWF zu erwarten (WKO 4.2023).
Tunesiens Präsident lehnte die Bedingungen des IWF Rettungspakets am 6.4.2023 deutlich ab (AN 6.4.2023). Vergangenen September (2022) hatte sich Tunesien mit dem IWF im Grundsatz auf einen Kredit über 1,9 Milliarden Dollar (1,74 Mrd Euro) geeinigt (NTV 6.4.2023; SRF 16.6.2023). Dessen Bewilligung liegt jedoch in weiter Ferne, da Tunesien die vom IWF formulierten Voraussetzungen dafür nicht erfüllt. Im Zentrum steht eine Übereinkunft zwischen der landesweit größten Gewerkschaft UGTT, der Regierung, dem Präsidenten und dem Arbeitgeberverband UTICA (HBS 7.3.2023). Da Tunesien bereits wichtige Verpflichtungen versäumt hat, und die Geber davon ausgehen, dass die Finanzen des Staates zunehmend von den Zahlen abweichen werden, die zur Berechnung der Vereinbarung herangezogen wurden. Ohne einen Kredit steht Tunesien vor einer ausgewachsenen Zahlungsbilanzkrise und der Zahlungsunfähigkeit (AN 6.4.2023) bzw. einem Staatsbankrott (HBS 7.3.2023).
Die Rettungsgespräche mit dem IWF sind seit Monaten ins Stocken geraten. Zudem haben die drei großen internationalen Ratingagenturen das Fehlen eines IWF-Darlehens als Hauptgrund für die Herabstufung der Bonitätsbewertungen tunesischer Staatsanleihen in den letzten Monaten angegeben. Diese schlechten Bonitätsbewertungen haben den Import von lebenswichtigen Gütern wie Weizen behindert (AN 6.4.2023). Gleichzeitig hängt die Industrieproduktion von der Konjunktur in Europa ab. Die Prognosen für das Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) liegen für 2023 bei knapp unter 2 %. Welche Reformen auf den Weg gebracht werden, ist nach wie vor unklar. Die Verzögerung der Entscheidung des IWF zeigt, dass Klärungsbedarf besteht. Währenddessen nehmen die Spannungen zwischen Regierung, Zentralbank und Gewerkschaften zu. Einige der zu erwartenden Maßnahmen, wie die Reform von Staatsunternehmen und die weitere Senkung von Subventionen, bergen Zündstoff (GTAI 15.4.2023).
Gemäß Weltbankstatistiken leben mehr als 2,5 Mio. Tunesier (bei einer Bevölkerung von 12 Mio.) unter der Armutsgrenze. Allein aufgrund der COVID-19-Krise kamen über 600.000 dazu. Somit ist deren Zahl von 15,5 % vor der Krise auf 21 % angestiegen. Es bestehen regional große Unterschiede. In einigen Regionen im Landesinneren beträgt der Armutsanteile über 50 %. Die Regierung lässt den Ärmsten unregelmäßig – von der Weltbank finanzierte – direkte Unterstützungen zukommen, ohne allerdings die zugrunde liegenden Ursachen zu bekämpfen. Ein flächendeckendes direktes Unterstützungsprogramm für bedürftige Familien ist in Ausarbeitung und soll – wie vom IWF gefordert – das bisherige produktorientierte Subventionssystem ablösen (ÖB 10.2022).
Die Kaufkraft der Tunesier sinkt, jedoch war die Arbeitslosigkeit im Jahresverlauf 2022 mit 15,5 % leicht rückläufig. Grund dafür ist die positive Entwicklung bzw. Erholung des Tourismus und der tunesischen Exporte (WKO 14.4.2023; vgl. WKO 4.2023). Mit Stand März 2023 lag die Arbeitslosenquote bei 14,7 % (WKO 4.2023). Zu dem hohen Anteil an jungen und diplomierten Arbeitslosen kommen die Schulabbrecher (jährlich ca. 100.000), die vom privaten Sektor und vor allem auch im Tourismus krisenbedingt Entlassenen sowie das Heer an Beschäftigten des informellen Sektors (der auf 50 % der Wirtschaftsleistung geschätzt wird), welchen ihre Existenzgrundlage entzogen wurde (ÖB 10.2022). Aufgrund der relativ hohen Inflation müssen Gehälter fortwährend angepasst werden. So variiert die Beschäftigungsquote je nach Region innerhalb Tunesiens. Tendenziell ist die Lage an der Küste und im Norden des Landes besser, was auf die Tourismusbranche sowie die dort angesiedelte Industrie zurückzuführen ist (ABG 2.2023).
Tunesien ist ein Niedriglohnland. Die durchschnittlichen Monatslöhne im produzierenden Gewerbe liegen zwischen 500 und 800 Dinar [160-250 Euro]. Arbeiter im öffentlichen Sektor verdienen rund 900 Dinar, Beamte 1.000-1.600 Dinar [310-500 Euro]. Der staatliche Mindestlohn (sogenannter SMIG), liegt bei 403 Dinar [ca. 120 Euro]. Etwa 25,4 % der Bevölkerung leben in Armut, d. h. sie leben von weniger als dem staatlichen Mindestlohn (sogenannter SMIG), der umgerechnet bei ca. 140 Euro liegt. Auch für die bisherige Mittelschicht wird die Diskrepanz zwischen Verdienst und Deckung der tatsächlichen Bedürfnisse immer größer und die Verschuldung der Privathaushalte hat stark zugenommen. Die Kaufkraft der tunesischen Bevölkerung ist seit der Revolution 2011 um 30 % zurückgegangen. Grund für die dramatische Verschlechterung der Einkommenssituation sind Jahrelanges (so gut wie) Nullwachstum, im Jahr 2020 eine schwere Rezession bedingt durch COVID-19, hohe Inflation, der stets zunehmende Mangel an Arbeitsplätzen für die z. T. schlecht bzw. nicht den Bedürfnissen entsprechend ausgebildeten Arbeitskräfte, ein Niedergang des in Tunesien sehr bedeutenden staatlichen Industriesektors, Misswirtschaft sowie Korruption. Der Wegbruch des Tourismus traf Tunesien besonders hart, er trägt 11 % zum BNP bei (ÖB 10.2022).
Laut Weltbank führen die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise auf den internationalen Märkten zu einem höheren tunesischen Haushaltsdefizit (WKO 4.2023). Immerhin gibt es in einigen Bereichen Erfolgsmeldungen. Die Einnahmen aus dem Tourismus stiegen bereits 2022 wieder stark an, für 2023 haben mehrere Fluglinien ihre Verbindungen nach Tunesien ausgebaut (GTAI 15.3.2023). Der tunesische Tourismussektor erholt sich langsam von der COVID-Pandemie. Die Einnahmen beliefen sich im Jahr 2022 auf 1,2 Mrd. Euro. Aufgrund der Situation in der Ukraine kommt es zu einem Ausbleiben der Touristen aus dieser Region, was etwa 7 % der Gesamteinnahmen dieses Tourismus-Sektors ausmacht. Das Wirtschaftswachstum für das Jahr 2022 betrug +2,5 % (WKO 4.2023).
Der Agrarsektor kam vergleichsweise gut durch das Corona-Jahr 2020. Und auch zu Beginn 2020 lief die Produktion von Phosphat gut. Die Pharmaindustrie gilt weiterhin als Hoffnungsträger und bietet Exportchancen. Nachdem es 2019 gute Aussichten für die Textilbranche gab, ist die Produktion im letzten Jahr um circa 20 % zurückgegangen. Mit mehr als 100.000 Beschäftigten ist Tunesien ein etablierter IT-Standort. Zudem etabliert sich das Land als Start-up-Hub für die Region. E-Commerce und Digitalisierung profitieren auch in Pandemiezeiten. Wegen niedriger Gehälter wandern jährlich allerdings etwa 2.500 Informatiker ins Ausland ab (ABG 2.2023).
Bei einer in drei tunesischen Städten (Great Tunis, Sousse und Sfax) durchgeführten Umfrage zu sozio-ökonomischen Faktoren wurden, mittels Computer Assisted Telephone Interviewing (CATI)-Methode und Quotenstichproben auf der Grundlage der neuesten verfügbaren offiziellen Bevölkerungsdaten im Zeitraum 5.-8.1.2022 in jeder der genannten Zielstädte, Einwohner, bzw. eine Stichprobe von 300 Personen zwischen 16 und 35 Jahren, von One to One for Research and Polling befragt. Dort geben 42 % der Befragten an, dass sie ihren Haushalt kaum oder gar nicht mit Lebensmitteln versorgen können, was eine schwierige Situation für den Großteil der Befragten darstellt. Problematischer ist es, wenn es um den Kauf von grundlegenden Konsumgütern wie Kleidung oder Schuhe geht, denn nur 16 % schaffen es, ihren Haushalt mit diesen Gütern zu versorgen, 28 % schaffen es gerade so, und 53 % können diese Art von Gütern entweder kaum oder gar nicht für ihren Haushalt besorgen. Dennoch geben 44 % der Befragten an, eher zufrieden zu sein mit ihrem Leben. Unter den Einwohner mit niedrigen Einkommen sind 37,3 % der Befragten eher zufrieden, 28,2 % sind gar nicht zufrieden und 16,7 % sind sehr zufrieden mit ihrem Leben. Die für dieses Ergebnis ausschlaggebende demografische Variable ist das Einkommensniveau (BFA 5.2.2022).
Die Grundversorgung der Bevölkerung ist zwar vor allem dank staatlicher Subventions- und Interventionspolitik bis auf saisonale Versorgungsengpässe einigermaßen gesichert, hingegen besteht ein eklatantes Einkommensgefälle zwischen wohlhabenderer Küstenregion sowie dem Großraum Tunis (mit allein ca. 50 % der Bevölkerung) und den benachteiligten ruralen Gebieten im Hinterland (ÖB 10.2022).
Es existiert ein an ein sozialversichertes Beschäftigungsverhältnis geknüpftes Kranken- und Rentenversicherungssystem (CNAM und CNSS) (AA 22.6.2023). Das tunesische Sozialsystem bietet zwar keine großzügigen Leistungen, stellt aber dennoch einen gewissen Grundschutz für Bedürftige, Alte und Kranke dar. Der Deckungsgrad beträgt 95 % (ÖB 10.2022). Nahezu alle Bürger finden Zugang zum Gesundheitssystem. Die Regelungen der Familienmitversicherung sind großzügig und umfassen sowohl Ehepartner als auch Kinder und sogar Eltern der Versicherten. Allerdings gibt es keine allgemeine Grundversorgung oder Sozialhilfe. Die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Lasten müssen überwiegend durch den traditionellen Verband der Großfamilie aufgefangen werden, deren Zusammenhalt allerdings schwindet (AA 22.6.2023). Folgende staatlichen Hilfen werden angeboten: Rente, Arbeitslosengeld, Kindergeld, Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Sterbegeld, Witwenrente, Waisenrente, Invalidenrente, Hilfen für arme Familien, Erstattung der Sach- und Personalkosten bei Krankenbehandlung, Kredite für Familien (ÖB 10.2022).
Eine Arbeitslosenunterstützung wird für maximal ein Jahr ausbezahlt – allerdings unter der Voraussetzung, dass man vorab sozialversichert war. Gemäß Nationalem Statistikinstitut INS zählt der informelle Sektor rund 1,5 Mio. Beschäftigte, die nicht mit einer Finanzhilfe rechnen können. Laut tunesischem Industrieverband UTICA wurden alleine während der ersten COVID-19-Welle 165.000 Arbeitsplätze vernichtet. Während der COVID-Lockdowns kam es zu zahlreichen Protesten, da sich viele ihrer Einkommensgrundlage beraubt sahen. Die früher relativ breite, weit definierte Mittelschicht Tunesiens aus selbstständigen Kleinunternehmern, Angestellten und Beamten sieht ihre Kaufkraft zunehmend schwinden und droht, in die Prekarität abzugleiten. Die schmale Oberschicht aus traditionell einige Wirtschaftszweige beherrschenden Familien ist mehr an Machterhalt als an Beschäftigung zusätzlicher Arbeitskräfte interessiert. Die allmächtige traditionelle Gewerkschaft UGTT lehnt bisher jede Änderung des Status quo rigoros ab und behindert so eine Umstrukturierung des ineffizienten auf Nepotismus und Rentenmentalität beruhenden öffentlichen Sektors. Es gibt folgende Arbeitsvermittlungsinstitutionen: Nationale Arbeitsagentur (ANETI), Berufsbildungsagentur (ATFP), Zentrum für die Ausbildung der Ausbilder und die Entwicklung von Lehrplänen (CENAFFIF), Zentrum für die Weiterbildung und Förderung der beruflichen Bildung (CNFCPP) (ÖB 10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
ABG - Africa Business Guide (2.2023): Länderprofil Wirtschaft in Tunesien: Etablierter Produktionsstandort mit Blick auf Europa, https://www.africa-business-guide.de/de/maerkte/tunesien , Zugriff 21.7.2023
AN - Arab News (6.4.2023): Tunisia president rejects IMF ‘diktats’, casting doubt on bailout, https://www.arabnews.com/node/2282506/middle-east , Zugriff 23.6.2023
BFA Staatendokumentation (Herausgeber) [Österreich], ONE TO ONE for Research and Polling (Autor) (5.4.2022): Dossier Tunisia; Socio-Economic Survey 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2071025/TUNISIA_Socio-Economic+Survey+2022.pdf , Zugriff 25.7.2023
DFK- Deutschlandfunk Kultur (14.3.2023): Verhaftungswelle und Proteste Tunesien kämpft gegen einen Frontalangriff auf die Demokratie, https://www.deutschlandfunkkultur.de/tunesien-innenpolitische-lage-proteste-100.html , Zugriff 22.6.2023
GTAI - Germany Trade & Invest (15.4.2023): Politische Lähmung dämpft wirtschaftliche Aussichten, https://www.gtai.de/de/trade/tunesien/wirtschaftsumfeld/politische-laehmung-daempft-wirtschaftliche-aussichten-241246 , Zugriff 12.6.2023
HBS - Heinrich Böll Stiftung (7.3.2023):Verschwörungstheorien und Gewalt: Tunesien rutscht tiefer in die Krise, https://www.boell.de/de/2023/03/07/verschwoerungstheorien-und-gewalt-tunesien-rutscht-tiefer-die-krise , Zugriff 23.6.2023
MW - MideastWire (11.3.2022): Experts to Arabi 21: Confusing social tension in Tunisia foreshadows explosion, https://mideastwire.com/page/articleFree.php?id=77461 , Zugriff 25.7.2023
NTV- ntv Nachrichtenfernsehen GmbH (6.4.2023): Hilfe nur gegen Reformen Tunesien überwirft sich mit Internationalem Währungsfonds, https://www.n-tv.de/ticker/Tunesien-ueberwirft-sich-mit-Internationalem-Waehrungsfonds-article24038669.html , 12.6.2023
SRF- Schweizer Radio und Fernsehen (16.6.2023): Staatsverschuldung Tunesiens-Der IWF fordert Wirtschaftsreformen in Tunesien, https://www.srf.ch/news/international/staatsverschuldung-tunesiens-der-iwf-fordert-wirtschaftsreformen-in-tunesien , Zugriff 23.6.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
WKO [Österreich] (14.4.2023): Tunesien: Neuer Wirtschaftsbericht, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-tunesische-wirtschaft.html , Zugriff 12.6.2023
WKO [Österreich] (4.2023): Wirtschaftsbericht Tunesien – Außenwirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/tunesien-wirtschaftsbericht.pdf , Zugriff 12.6.2023
G. Medizinische Versorgung
Letzte Änderung 2023-08-03 07:37
Die medizinische Versorgung (einschließlich eines akzeptabel funktionierenden staatlichen Gesundheitswesens) hat das für ein Schwellenland übliche Niveau (AA 22.6.2023) - es ist zumindest in Tunis gut. Außerhalb der Hauptstadt ist mit einigen Einschränkungen zu rechnen (AA 13.7.2023). Tunesien hat lange Zeit in das Gesundheitswesen investiert, es gibt in allen Landesteilen staatliche Gesundheitseinrichtungen. Allerdings sind die rund 2.200 Einrichtungen trotz guter medizinischer Ausbildung der Beschäftigten oft in desolatem Zustand. Gerade die COVID-19-Pandemie zeigte die starken Defizite auf (ÖB 10.2022). Üblicherweise ist eine weitreichende Versorgung in den Ballungsräumen (Tunis, Sfax, Sousse) gewährleistet; Probleme gibt es dagegen in den entlegenen Landesteilen (AA 22.6.2023).
Bei einer in drei tunesischen Städten (Great Tunis, Sousse und Sfax) durchgeführten Umfrage zu sozioökonomischen Faktoren wurden, mittels Computer Assisted Telephone Interviewing (CATI)-Methode und Quotenstichproben auf der Grundlage der neuesten verfügbaren offiziellen Bevölkerungsdaten zwischen 5. und 8.1.2022 in jeder der genannten Zielstädte, Einwohner, bzw. eine Stichprobe von 300 Personen zwischen 16 und 35 Jahren, von One to One for Research and Polling befragt. Demnach ist die Verfügbarkeit von Fachärzten insbesondere in Sfax nicht mehr so einfach wie früher. Etwa 34,7 % der befragten Einwohner gaben an, dass sie immer Zugang zu Fachärzten haben, wogegen in Groß-Tunis und Sousse etwa 44 % der befragten Einwohner angaben, immer Zugang zu Fachärzten zu haben. Grundsätzlich ist für Frauen die Verfügbarkeit zu Fachärzten höher als jene für Männer. 44,7 % der befragten Frauen gaben an, immer Zugang zu haben, wogegen 22 % angaben, nur eingeschränkten Zugang zu haben (BFA 5.2.2022).
Eine stark angestiegene Anzahl an gut ausgestatteten Privatkliniken bedient meist Ausländer, u. a. zahlungskräftige Libyer und Algerier (ÖB 10.2022; vgl. AA 13.7.2023). Außerhalb der Hauptstadt ist mit einigen Einschränkungen zu rechnen (AA 13.7.2023).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen ist möglich. Die medizinische Behandlung von HIV-Infizierten bzw. AIDS-Kranken ist sichergestellt; es handelt sich jedoch um ein gesellschaftlich tabuisiertes Thema (AA 22.6.2023).
2005 wurden die beiden Krankenkassen (CNSS: Caisse nationale de sécurité sociale und CNRPS: Caisse nationale de retraite et de prévoyance sociale) zur Caisse Nationale d’Assurance Maladie (CNAM) zusammengelegt. Allerdings ist diese Kasse mit ca. 1 Milliarden Dinar hoch verschuldet – fehlende Beitragszahlungen und verteuerte Medikamente sind nur einige der Gründe (ÖB 10.2022).
In Einzelfällen kann es - insbesondere bei der Behandlung mit speziellen Medikamenten - Versorgungsprobleme geben (BMEIA 5.6.2023; vgl. EDA 9.5.2023). Krankenhäuser verlangen in der Regel vor der Behandlung eine finanzielle Garantie (schriftlich garantierte Kostenübernahme oder Vorschusszahlung)(EDA 9.5.2023). Ein Import dieser Medikamente ist grundsätzlich möglich, wenn auch nur auf eigene Kosten der Patienten. In Einzelfällen ist also eine konkrete Nachfrage bezüglich der Verfügbarkeit der benötigten Medikamente erforderlich, in den allermeisten Fällen sind sie vor Ort problemlos erhältlich (AA 22.6.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.7.2023): Tunesien: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tunesiensicherheit/219024 , Zugriff 21.7.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
BFA Staatendokumentation (Herausgeber) [Österreich], ONE TO ONE for Research and Polling (Autor) (5.4.2022): Dossier Tunisia; Socio-Economic Survey 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2071025/TUNISIA_Socio-Economic+Survey+2022.pdf , Zugriff 25.7.2023
BMEIA - Bundesministerium Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (5.6.2023): Reiseinformationen Tunesien, http://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/ , Zugriff 7.6.2023
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (9.5.2023): Reisehinweise für Tunesien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tunesien/reisehinweise-fuertunesien.html#eda931a7d , Zugriff 7.6.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 29.12.2022
H. Rückkehr
Letzte Änderung 2023-08-03 07:38
Es gibt keine speziellen Hilfsangebote für Rückkehrer. Soweit bekannt, werden zurückgeführte tunesische Staatsangehörige nach Übernahme durch die tunesische Grenzpolizei einzeln befragt und es erfolgt ein Abgleich mit den örtlichen erkennungsdienstlichen Registern. Sofern keine innerstaatlichen strafrechtlich relevanten Erkenntnisse vorliegen, erfolgt anschließend eine reguläre Einreise. Hinweise darauf, dass, wie früher üblich, den Rückgeführten nach Einreise der Pass entzogen und erst nach langer Wartezeit wieder ausgehändigt wird, liegen nicht vor. An der zugrunde liegenden Gesetzeslage für die strafrechtliche Behandlung von Rückkehrern hat sich indes nichts geändert. Sollte ein zurückgeführter tunesischer Staatsangehöriger sein Land illegal verlassen haben, ist mit einer Anwendung der Strafbestimmung in § 35 des Gesetzes Nr. 40 vom 14.5.1975 zu rechnen: „Jeder Tunesier, der beabsichtigt, ohne offizielles Reisedokument das tunesische Territorium zu verlassen oder zu betreten, wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen 15 Tagen und sechs Monaten sowie einer Geldstrafe zwischen 30 und 120 DT (ca. 15 bis 60 Euro) oder zu einer der beiden Strafarten verurteilt. Bei Wiederholung der Tat (Rückfälligkeit) kann sich das im vorhergehenden Absatz aufgeführte Strafmaß für den Täter verdoppeln.“ Soweit bekannt, wurden im vergangenen Jahr ausschließlich Geldstrafen verhängt. Die im Gesetz aufgeführten Strafen kommen dann nicht zur Anwendung, wenn Personen das tunesische Territorium aufgrund höherer Gewalt oder besonderer Umstände ohne Reisedokument betreten (AA 22.6.2023).
Eine „Bescheinigung des Genusses der Generalamnestie“ wird auf Antrag vom Justizministerium ausgestellt und gilt als Nachweis, dass die in dieser Bescheinigung ausdrücklich aufgeführten Verurteilungen - kraft Gesetz - erloschen sind. Eventuelle andere, nicht aufgeführte zivil- oder strafrechtliche Verurteilungen bleiben unberührt. Um zweifelsfrei festzustellen, ob gegen eine Person weitere Strafverfahren oder Verurteilungen vorliegen, kann ein Führungszeugnis (das sog. „Bulletin Numéro 3“) beantragt werden (AA 22.6.2023).
Seit der Revolution 2011 sind tausende Tunesier illegal emigriert. Vor allem junge Tunesier haben nach der Revolution das Land verlassen, kehren nun teilweise zurück und finden so gut wie keine staatliche Unterstützung zur Reintegration. Eine kontinuierliche Quelle der Spannung ist die Diskrepanz zwischen starkem Migrationsdruck und eingeschränkten legalen Migrationskanälen. Die Reintegration tunesischer Migranten wird durch eine Reihe von Projekten von IOM unterstützt. Finanzielle Hilfe dafür kommt hauptsächlich von der EU, sowie aus humanitären Programmen u. a. der Schweiz und Norwegens (Programm AVRR). Rückkehrprojekte umfassen z. B. Unterstützung beim Aufbau von Mikrobetrieben oder im Bereich der Landwirtschaft, haben jedoch gem. Beobachtungen bislang kaum Erfolg gezeigt (ÖB 10.2022).
Als zweite Institution ist das ICMPD seit 10. Juni 2015 offizieller Partner in Tunesien im Rahmen des sog. „Dialog Süd“ – Programms (EUROMED Migrationsprogramm). Neben Ländern wie Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko und Syrien wird Tunesien dabei als „Plattform“ (interaktiv zu verfolgen unter: www.eurotun-migr.net ) für folgende Arbeitsbereiche gesehen:
• IBM: Integrated Border Management (IBM): technische und operative Unterstützung der nationalen Institutionen im Bereich grüne und blaue Grenzsicherung
• MIEUX: Migration EU Expertise : eine gemeinsame EU-ICMPD Initiative zur Stärkung der Nationalen Migrationsstrategie, insbesondere des Nationalen Migrationsobservatoriums (ONM)
Im Dezember 2020 hat die UGTT, der tunesischen Gewerkschaft, ein Büro für ausländische Arbeiter zum Schutz gegen Ausbeute, Rassismus und Verletzung ihrer sozialen - wie wirtschaftlichen Rechte eröffnet (ÖB 10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zum Sachverhalt:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 03.01.2024 und vor der belangten Behörde am 16.12.2024, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz vom 14.01.2025.
Ergänzend wurden Auszüge des Zentralen Melderegisters (ZMR), des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister (IZR), des Betreuungsinformationssystems über die Grundversorgung (GVS), des AJ-WEB und des Strafregisters eingeholt. Zudem wurde Einsicht in das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Tunesien genommen.
Der unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA.
2.2. Zur Person des BF:
Die Feststellungen zur Volljährigkeit, Staatsangehörigkeit, zum Familienstand, zur Volksgruppenzugehörigkeit, zu den Sprachkenntnissen, zu seiner Schulbildung und Berufserfahrung sowie zu den Familienangehörigen des BF im Herkunftsstaat ergeben sich aus seinen diesbezüglich glaubhaften Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes und jenen vor der belangten Behörde (AS 7-11; AS 29-33).
Dass der BF ab Jänner 2021 bis zu seiner Ausreise im September 2021 bei seiner Großmutter in einem Bauernhaus wohnte und von ihr unterstützt wurde, ergibt sich aus seiner glaubhaften und unbestrittenen Angabe vor der belangten Behörde (AS 32).
Seine Identität steht mangels Vorlage eines identitätsbezeugenden Dokuments wie eines Reisepasses oder eines Personalausweises nicht fest.
Die Feststellungen zu seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat sowie seinem Aufenthalt in Serbien ergeben sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben des BF im Verfahren (AS 17-19; AS 33). Das Datum seiner Einreise in das Bundesgebiet ist im Fremdenregisterauszug des BF vermerkt. Das Datum seiner Asylantragstellung ist im Fremdenregisterauszug des BF vermerkt und im Erstbefragungsprotokoll angeführt.
Die Feststellung zu seinem Gesundheitszustand beruht auf seiner unbestrittenen Angabe in der Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes und in der niederschriftlichen Einvernahme (AS 17; AS 30). Aufgrund seines Gesundheitszustandes und seines Alters lässt sich auf die Arbeitsfähigkeit des BF schließen.
Aufgrund seines Gesundheitszustandes, seiner bisherigen Schulbildung und Berufserfahrung im Herkunftsstaat sowie seines Alters ist davon auszugehen, dass der BF auch hinkünftig die Chance hat, am tunesischen Arbeitsmarkt unterzukommen.
Dass der BF in Österreich über keine maßgeblichen privaten und familiären Beziehungen verfügt, ergibt sich aus seiner glaubhaften Angabe vor der belangten Behörde, wonach er in Österreich keine Verwandten habe und auch weitere familiäre Interessen im Bundesgebiet verneint (AS 35).
Aus dem aktuellen Auszug aus dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) konnte abgeleitet werden, dass der BF seit seinem Aufenthalt im Bundesgebiet Grundversorgungsleistungen bezog. Da im aktuellen Auszug aus dem AJ-WEB keine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ersichtlich ist, konnte festgestellt werden, dass der BF seit seinem Aufenthalt im Bundesgebiet keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nachging. Dementsprechend verneinte der BF vor der belangten Behörde auch eine derzeitige Berufstätigkeit (AS 35). Da der BF in seiner niederschriftlichen Einvernahme den Besuch eines Deutschkurses verneinte, konnte die entsprechende Feststellung getroffen werden (AS 35). Weitere Anhaltspunkte für maßgebliche Integrationsmerkmale in beruflicher, sprachlicher und kultureller Hinsicht in Österreich sind nicht hervorgekommen. Insbesondere verneinte der BF eine Vereinsmitgliedschaft (AS 35).
Die strafrechtliche Unbescholtenheit des BF lässt sich dem amtswegig eingeholten Strafregisterauszug der Republik Österreich entnehmen.
2.3. Zu den Fluchtgründen des BF:
2.3.1. Zum Fluchtgrund der Privatverfolgung aufgrund des außerehelichen Geschlechtsverkehrs:
Sofern im Beschwerdeschriftsatz zum Ausdruck gebracht wird, dass die Behörde um ihrer Pflicht zur Erforschung des maßgeblichen Sachverhaltes und der Wahrung des Parteiengehörs zu genügen, Ermittlungen durchführen und Feststellungen hätte treffen müssen, ist dahingehend entgegenzutreten, dass es grundsätzlich dem Asylwerber zukommt, dass dieser die Gründe seiner Furcht vor Verfolgung konkret und substantiiert vorbringt (VwGH 21.11.1996, Zahl 95/20/0334). Dem BF wurde im vorliegenden Fall im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme ausreichend Gelegenheit eingeräumt, alle für die Entscheidung wesentlichen Umstände anzuführen.
Auch der Verwaltungsgerichtshof vertritt die Ansicht, dass es dem Asylwerber obliegt, alles Zweckdienliche für die Erlangung der von ihm angestrebten Rechtsstellung vorzubringen (VwGH 20.1.1993, 92/01/0752; 19.5.1994, 94/19/0465 mwN.) und dass die erstinstanzliche Behörde nicht verpflichtet ist, den Antragsteller derart anzuleiten, dass sein Antrag von Erfolg gekrönt sein muss. Das Vorbringen in der Beschwerde ist im Ergebnis nicht dergestalt, um damit der behördlichen Beweiswürdigung konkret und substantiiert entgegen zu treten.
Hinsichtlich seiner Fluchtgründe brachte der BF im Wesentlichen vor, von der Familie seiner Freundin bedroht worden zu sein, weil er mit dieser außerehelichen Geschlechtsverkehr gehabt habe (AS 21; AS 34f). Erst in der Beschwerde gab er an, dass die Familie seiner Freundin die Beziehung deshalb nicht akzeptiert habe, weil er selbst nicht gläubig sei und schon lange nicht mehr an den religiösen Bräuchen teilnehme. Der außereheliche Geschlechtsverkehr habe die nunmehr drohende Rache durch die Familie seiner Freundin ausgelöst. Seine Angehörigen hätten ihn aufgrund seines mangelnden Glaubens verstoßen und würden ihn daher nicht unterstützen (AS 176f).
Bei einer Verfolgung durch Privatpersonen handelt es sich weder um eine von einer staatlichen Behörde ausgehende noch um eine dem Staat zurechenbare Verfolgung, die von den staatlichen Einrichtungen geduldet würde. Auch sonst sind im gesamten Verfahren keinerlei Anhaltspunkte hervorgekommen, die auf eine mögliche Asylrelevanz der behaupteten Furcht vor Verfolgung im Herkunftsstaat hindeuten würden.
Konkrete Anhaltspunkte dahingehend, dass die staatlichen Institutionen in Tunesien im Hinblick auf eine mögliche Verfolgung durch Privatpersonen tatsächlich weder schutzfähig noch schutzwillig wären, sind weder aus dem Vorbringen vor der belangten Behörde und in der Beschwerde noch aus den der Entscheidung zugrunde gelegten Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ersichtlich. Allein aus dem Vorhandensein von Korruption im Herkunftsstaat – wie sie in der Beschwerde behauptet wurde (AS 177) - kann noch nicht auf die fehlende Schutzwilligkeit der staatlichen Institutionen im Hinblick auf eine mögliche Verfolgung durch Privatpersonen geschlossen werden. Der BF brachte in der niederschriftlichen Einvernahme auch vor, keine Anzeige an die Polizei erstattet zu haben (AS 35). Daraus kann jedoch ebenso noch nicht die fehlende Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit der tunesischen Behörden abgeleitet werden. Dabei ist auch darauf hinzuweisen, dass ein lückenloser Schutz vor privater Verfolgung naturgemäß nicht gewährleistet werden kann, weshalb dem Fehlen eines solchen keine Asylrelevanz zukommt (VwGH 04.05.2000, Zl. 99/20/0177; 13.11.2008, Zl. 2006/01/0191).
Tunesien gilt jedoch gemäß § 1 Z 11 HStV als sicherer Herkunftsstaat, was für die Annahme einer grundsätzlich bestehenden staatlichen Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der dortigen Behörden spricht (vgl. VwGH 30.05.2022, Ra 2021/14/0396, mwN). Zwar bleibt es einem Fremden diesfalls unbenommen, fallbezogen spezifische Umstände aufzuzeigen, die ungeachtet dessen dazu führen können, dass geschützte Rechte im Fall seiner Rückführung in nach dem AsylG maßgeblicher Weise verletzt würden (vgl. VwGH 25.06.2020, Ra 2019/18/0441, mwN), jedoch wurden derartige Umstände seitens des BF im Verfahren nicht dargelegt.
Wie dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu entnehmen ist, verfügt Tunesien grundsätzlich über einen funktionierenden Sicherheits- und Justizapparat und liegen ungeachtet etwaiger Korruptionsproblematiken innerhalb der tunesischen Justiz- und Sicherheitsbehörden keinerlei Hinweise vor, dass vergleichbare Bedrohungen durch Privatpersonen, wie sie seitens des BF im gegenständlichen Verfahren in den Raum gestellt wurden, von staatlicher Seite nicht ordnungsgemäß verfolgt würden.
Darüber hinaus ist auch nicht ersichtlich, weshalb dem BF vor dem Hintergrund seines Fluchtvorbringens der Privatverfolgung nicht die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative möglich und zumutbar sein sollte, sodass es im konkreten Fall auch unter diesem Gesichtspunkt an der für die Gewährung von Asyl erforderlichen Verfolgungsgefahr fehlt (vgl. VwGH 08.09.1999, 98/01/0620, mwN). Er ist jung, gesund und erwerbsfähig. Es stünde ihm somit ohne weiteres offen, sich an einem anderen Ort Tunesiens niederzulassen und sich der behaupteten Gefahr einer Verfolgung durch Privatpersonen zu entziehen, zumal die Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes in Tunesien gewährleistet ist, wie die einschlägigen Länderberichte zeigen. Dabei ist auch darauf hinzuweisen, dass der BF selbst in der niederschriftlichen Einvernahme angab, seit Jänner 2021 bis zu seiner Ausreise im September 2021 bei seiner Großmutter gewohnt und von ihr unterstützt worden zu sein (AS 32). Anhaltspunkte dafür, dass der BF in dieser Zeit von den Verwandten seiner Freundin gefunden worden und neuerlich bedroht worden sei, sind im gesamten Verfahren nicht hervorgekommen. Daraus ist auf das grundsätzliche Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu schließen.
Somit machte der BF mit diesem Vorbringen keine Furcht vor Verfolgung aus einem Konventionsgrund geltend. Es ist für das Bundesverwaltungsgericht schlüssig nachvollziehbar, dass die belangte Behörde dieses Fluchtvorbringen als nicht asylrelevant einstuft. Eine Gefährdung im Sinne des Art 2 und 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13. zur EMRK (ZPEMRK) ist vor dem Hintergrund des funktionierenden Justiz- und Sicherheitsapparates in Tunesien ebenfalls nicht zu erblicken. Dem BF bleibt auch weiterhin die Möglichkeit, bei einer weiteren Bedrohung durch die Verwandten seiner Freundin die Polizei in Tunesien zu rufen.
Daher schließt sich das Bundesverwaltungsgericht dieser Beweiswürdigung vollinhaltlich an. Damit ist die Beurteilung der Fluchtgründe und die diesbezügliche Beweiswürdigung durch die belangte Behörde nicht zu beanstanden.
Der BF hat Tunesien aus wirtschaftlichen Gründen verlassen und strebt eine Arbeit in Österreich an wie er beim BFA auch zu Protokoll gegeben hat: „Zudem möchte ich in Österreich arbeiten und mein zukünftiges Leben hier gestalten. Ich habe als Koch gearbeitet und kann in der Tourismusbranche arbeiten. Ich habe mir auch Kenntnisse in Englisch und Französisch, Italienisch und Ungarisch angeeignet […]“ (AS 30).
2.3.2. Zum Fluchtvorbringen des Abfalls vom Islam erstmals in der Beschwerde:
Das erstmals in der Beschwerde erstattete Vorbringen, die Familie seiner Freundin habe die Beziehung deshalb nicht akzeptiert, weil er selbst nicht gläubig sei und schon lange nicht mehr an den religiösen Bräuchen teilnehme, wobei der außereheliche Geschlechtsverkehr die nunmehr drohende Rache durch die Familie seiner Freundin ausgelöst habe, sowie seine Angehörigen hätten ihn aufgrund seines mangelnden Glaubens verstoßen, ist als unzulässige Steigerung seines Fluchtvorbringens im Sinne des Neuerungsverbotes gem. § 20 Abs. 1 BFA-VG einzustufen, weil kein vernünftiger Grund erkennbar ist, warum er nicht in der Lage gewesen sein soll, dieses Vorbringen bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu erstatten, weshalb hier von einer Missbrauchsabsicht auszugehen ist. (siehe dazu VwGH 13.03.2023, Ra 2021/18/0012)
Gemäß § 20 Abs. 1 BFA-VG dürfen neue Tatsachen und Beweismittel in einer Beschwerde gegen eine Entscheidung des Bundesamtes nur vorgebracht werden, wenn sich der Sachverhalt, der der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, nach der Entscheidung des Bundesamtes maßgeblich geändert hat (Z 1); wenn das Verfahren vor dem Bundesamt mangelhaft war (Z 2); wenn diese dem Fremden bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes nicht zugänglich waren (Z 3) oder wenn der Fremde nicht in der Lage war, diese vorzubringen (Z 4).
Die amtswegigen Ermittlungspflichten im Asylverfahren sind im § 18 Abs. 1 AsylG 2005 geregelt, der inhaltlich nahezu wortgleich der Vorgängerbestimmung des § 28 AsylG 1997 entspricht.
Der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 AsylG 1997 folgend stellt diese Gesetzesstelle eine Konkretisierung der aus § 37 AVG in Verbindung mit § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörden dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen, begründet aber keine über den Rahmen der angeführten Vorschriften hinausgehende Ermittlungspflicht (vgl. VwGH 08.04.2003, Zl. 2002/01/0522).
Grundsätzlich obliegt es dem Asylwerber, alles Zweckdienliche, insbesondere seine wahre Bedrohungssituation in dem seiner Auffassung nach auf ihn zutreffenden Herkunftsstaat, für die Erlangung der von ihm angestrebten Rechtsstellung vorzubringen (vgl. VwGH 31.05.2001, Zl. 2001/20/0041; VwGH 23.07.1999, Zl. 98/20/0464).
Nur im Fall hinreichend deutlicher Hinweise im Vorbringen eines Asylwerbers auf einen Sachverhalt, der für die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention in Frage kommt, hat die Behörde gemäß § 28 AsylG 1997 in geeigneter Weise auf eine Konkretisierung der Angaben des Asylwerbers zu dringen. Aus dieser Gesetzesstelle kann aber keine Verpflichtung der Behörde abgeleitet werden, Asylgründe, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat, zu ermitteln (vgl. VwGH 14.12.2000, Zl. 2000/20/0494; VwGH 06.10.1999, Zl. 98/01/0311; VwGH 14.10.1998, Zl. 98/01/0222).
Die Ermittlungspflicht der Behörde geht auch nicht soweit, den Asylwerber zu erfolgversprechenden Argumenten und Vorbringen anzuleiten (vgl. VwGH vom 21.09.2000, Zl. 98/20/0361; VwGH 04.05.2000, Zl. 99/20/0599).
Im konkreten Beschwerdefall liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das gegenständliche Verfahren vor dem Bundesamt mangelhaft war (§ 20 Abs. 1 Z 2 BFA-VG). So hatte der BF insbesondere die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren alles umfassend vorzubringen. Auf die Frage der belangten Behörde, ob er sämtliche Gründe, die ihn veranlasst hätten, sein Heimatland zu verlassen, vollständig geschildert habe, antwortete er mit „Ja“ (AS 35). Zudem wurde er in seiner niederschriftlichen Einvernahme von der belangten Behörde gefragt, ob ihm ausreichend Zeit eingeräumt worden sei, seine Probleme vollständig und so ausführlich, wie er gewollt habe, zu schildern.
Weiters gab er bereits in der Erstbefragung nach der Schilderung seiner Fluchtgründe an: „Das sind alles meine Fluchtgründe“ (AS 21). Die Frage nach Ergänzungen bzw. Korrekturen in derselben Einvernahme verneinte er (AS 23).
Es kann nicht in der Pflicht des Bundesamtes liegen, sich amtswegig ohne jegliche Anhaltspunkte mit jedem erdenklichen Fluchtgrund auseinanderzusetzen bzw. den BF dahingehend hinzuleiten, ein asylrelevantes Fluchtvorbringen vorzutragen. In diesem Zusammenhang ist auszuführen, dass der BF selbst in der niederschriftlichen Einvernahme vorbrachte, keine Probleme aufgrund seines Religionsbekenntnisses im Herkunftsstaat gehabt zu haben (AS 34).
Dem Vorbringen des Asylwerbers kommt zentrale Bedeutung zu. Das geht auch aus § 18 Abs. 1 AsylG 2005 deutlich hervor, wonach das BFA und das BVwG in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken haben, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Diese Pflicht bedeutet aber nicht, ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (vgl. VwGH 16.06.2020, Ra 2020/19/0064 GRS wie Ra 2018/14/0143 B 15.10.2018 RS 2; VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314, mwN).
Der Einschränkungstatbestand des Neuerungsverbotes, dass sich der Sachverhalt, der der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, nach der Entscheidung des BFA maßgeblich geändert hat (§ 20 Abs. 1 Z 1 BFA-VG), kommt im gegenständlichen Fall von vornherein nicht in Betracht.
Es ist auch nicht erkennbar, dass dem BF bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des BFA neue Tatsachen und Beweismittel nicht zugänglich waren (§ 20 Abs. 1 Z 3 BFA-VG) oder der BF im vorliegenden Fall nicht in der Lage gewesen wäre, das erstmalig in der Beschwerde relevierte Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren zu erstatten (§ 20 Abs. 1 Z 4 BFA-VG), wobei auch keine plausible bzw. substantielle diesbezügliche Behauptung vorgebracht wurde.
Das erstmalig im Beschwerdeschriftsatz erstattete Vorbringen war, wie bereits ausgeführt, im Hinblick auf das Neuerungsverbot gemäß § 20 BFA-VG nicht zu berücksichtigen, wobei insbesondere weder das Verfahren vor dem BFA mangelhaft war noch der BF nicht in der Lage gewesen wäre, dieses Vorbringen bereits im erstinstanzlichen Verfahren zu erstatten.
Vielmehr ist davon auszugehen, dass der BF angesichts der Nichtgewährung von Asyl auf der Grundlage seines im erstinstanzlichen Verfahren erstatteten Vorbringens nach Rechtsberatung durch die BBU GmbH bestrebt war, nunmehr in der Beschwerde sein bisheriges Vorbringen durch Neuerungen auszubauen, um doch noch die Gewährung von Asyl zu erlangen, weshalb sich in diesem Sinne die vorliegende Vorgangsweise als klar absichtlich missbräuchlich darstellt.
2.4. Zum Herkunftsstaat des BF:
Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem aktuellen Länderinformationsbericht der Staatendokumentation für Tunesien samt den dort publizierten Quellen und Nachweisen. Dieser Länderinformationsbericht stützt sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von internationalen Organisationen, wie bspw. dem UNHCR, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen.
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Der BF trat diesen Quellen und deren Kernaussagen zur Situation im Herkunftsland nicht substantiiert entgegen. Die im Beschwerdeschriftsatz zitierten USDOS- sowie Amnesty International-Berichte vermochten die getroffenen Länderfeststellungen nicht in Zweifel zu ziehen.
Aufgrund der Kürze der verstrichenen Zeit zwischen der Bescheiderlassung und der vorliegenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ergeben sich keine Änderungen zu den im bekämpften Bescheid getroffenen Länderfeststellungen und wird Tunesien wie schon zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung weiterhin als sicherer Herkunftsstaat gemäß § 1 Z 11 HStV geführt. Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich daher diesen Feststellungen vollinhaltlich an.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
3.1. Zur Nichtgewährung von Asyl (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):
3.1.1. Rechtslage:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art 1 Absch A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Im Sinne des Art 1 Absch A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt der in Art 1 Absch A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 06.10.1999, 99/01/0279).
Selbst in einem Staat herrschende allgemein schlechte Verhältnisse oder bürgerkriegsähnliche Zustände begründen für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Um eine Verfolgung im Sinne des AsylG 2005 erfolgreich geltend zu machen, bedarf es einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Herkunftsstaates treffenden Unbilligkeiten hinaus geht (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
3.1.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall:
Wie in der Beweiswürdigung dargestellt, kommt den vorgebrachten Fluchtgründen keine Asylrelevanz zu.
Tunesien ist ein Staat, der hinsichtlich seiner Bürger schutzfähig und schutzwillig ist. Darüber hinaus steht dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternative – wie bereits ausgeführt - offen.
Die erstmals im Beschwerdeschriftsatz behauptete Nichtreligiosität des BF als Grund für die behauptete Privatverfolgung unterliegt dem Neuerungsverbot und war somit nicht zu berücksichtigen.
Die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl sind daher nicht gegeben. Aus diesem Grund war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zur Nichtgewährung von subsidiärem Schutz (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):
3.2.1. Rechtslage:
Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK (ZPERMRK) bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Im Rahmen der Prüfung des Einzelfalls ist die Frage zu beantworten, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein – über eine bloße Möglichkeit hinausgehendes – "real risk" einer gegen Art 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht (vgl VwGH 28.06.2011, 2008/01/0102). Die dabei aufgrund konkreter vom Fremden aufgezeigter oder von Amts wegen bekannter Anhaltspunkte anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 15.12.2010, 2006/19/1354; 31.05.2005, 2005/20/0095, 31.03.2005, 2002/20/0582).
Die Abschiebung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann eine Verletzung von Art 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also bezogen auf den Einzelfall die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art 3 EMRK ist nicht ausreichend (VwGH 06.11.2009, 2008/19/0174). Zu berücksichtigen ist auch, dass nur bei Vorliegen exzeptioneller Umstände, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet, die Gefahr einer Verletzung von Art 3 EMRK angenommen werden kann (VwGH 06.11.2009, 2008/19/0174; 19.11.2015, Ra 2015/20/0174 ua). Das Vorliegen solcher exzeptioneller Umstände erfordert detaillierte und konkrete Darlegungen (vgl VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 07.09.2016, Ra 2015/19/0303 ua).
3.2.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall:
Dem BF droht in Tunesien - wie oben bereits dargelegt wurde - keine asylrelevante Verfolgung.
Auch dafür, dass dem BF im Falle einer Rückkehr nach Tunesien die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art 3 EMRK überschritten wäre, gibt es im vorliegenden Beschwerdefall keinen Anhaltspunkt. Der BF ist volljährig, gesund und somit arbeitsfähig. Er hat die Grundschule besucht und vielfältigste Arbeitserfahrung, ua als Koch und Fahrer, gesammelt. Der BF ist in der Lage, durch Annahme einer Tätigkeit sich zumindest eine bescheidene Existenz zu sichern. Der BF ist alleinstehend und hat keine Sorgepflichten. Außerdem bestehen familiäre Anknüpfungspunkte und scheint zumindest für die erste Zeit der Rückkehr eine Unterkunft bei seiner Familie gesichert. Schließlich wohnte der BF seit Jänner 2021 bis zu seiner Ausreise im September 2021 bei seiner Großmutter, was vom erkennenden Gericht nicht bestritten wird. Insofern erscheint es für das erkennende Gericht plausibel, dass der BF zumindest in der ersten Zeit nach der Rückkehr möglicherweise wieder bei seiner Großmutter wohnen werde können. Die erstmals im Beschwerdeschriftsatz behauptete Nichtunterstützung durch seine Familie aufgrund seines mangelnden Glaubens unterliegt dem Neuerungsverbot und ist daher nicht zu berücksichtigen.
Damit ist der BF durch die Abschiebung nach Tunesien nicht in seinem Recht gemäß Art 3 EMRK verletzt, weil die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz im konkreten Fall gedeckt werden können.
Ganz allgemein besteht in Tunesien derzeit keine solche Gefährdungslage, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, einer Gefährdung im Sinne des Art 2 und 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK (ZPEMRK) ausgesetzt wäre. Im Verfahren sind auch keine Umstände bekannt geworden und ergeben sich auch nicht aus dem amtliches Wissen darstellenden Länderinformationsblatt für Tunesien, die nahelegen würden, dass bezogen auf den BF ein reales Risiko einer gegen Art 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung bzw. der Todesstrafe besteht.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, sodass sie auch hinsichtlich des Spruchpunktes II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 abzuweisen war.
3.3. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 58 Abs. 1 AsylG 2005 hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltstitel besonderer Schutz) von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird (Z 2) oder wenn ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt (Z 5).
Indizien dafür, dass der BF einen Sachverhalt verwirklicht, bei dem ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltstitel besonderer Schutz) zu erteilen wäre, sind weder vorgebracht worden noch hervorgekommen: Weder war der Aufenthalt des BF seit mindestens einem Jahr im Sinne des § 46 Abs. 1 Z 1 oder Z 1a FPG geduldet noch ist dieser zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig noch ist der BF Opfer von Gewalt im Sinne des § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie hinsichtlich des Spruchpunktes III. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 57 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen war.
3.4. Zur Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides):
3.4.1. Rechtslage:
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz (dem AsylG 2005) mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.
Gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt.
Gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, wenn dadurch in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind insbesondere die in § 9 Abs. 2 Z 1 bis 9 BFA-VG aufgezählten Gesichtspunkte zu berücksichtigen (die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist).
3.4.2. Anwendung der Rechtslage auf den Beschwerdefall:
Zu prüfen ist, ob die von der belangten Behörde getroffene Rückkehrentscheidung mit Art 8 EMRK vereinbar ist, weil sie nur dann zulässig wäre und nur im verneinenden Fall ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 überhaupt in Betracht käme. Die Vereinbarkeit mit Art 8 EMRK ist aus folgenden Gründen gegeben:
Das vorliegende Asylverfahren erreichte, gerechnet von der Antragstellung am 02.01.2024 bis zum Datum der angefochtenen Entscheidung am 18.12.2024 weniger als ein Jahr.
Der seit der Antragstellung andauernde Aufenthalt des BF beruhte auf einer vorläufigen, nicht endgültig gesicherten rechtlichen Grundlage, weshalb dieser nicht darauf vertrauen durfte, dass er sich in Österreich auf rechtlich gesicherte Weise bleibend verfestigen kann.
Das Gewicht seiner privaten Interessen wäre daher dadurch gemindert, dass sie in einem Zeitpunkt entstanden wären, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war (vgl VwGH 19.02.2009, 2008/18/0721; 30.04.2009, 2009/21/0086; VfSlg. 18.382/2008 mHa EGMR 24.11.1998, 40.447/98, Mitchell; EGMR 11.04.2006, 61.292/00, Useinov). Der BF hat in Österreich weder Verwandte noch sonstige private Kontakte. Gleichzeitig hat der BF in seinem Herkunftsstaat, in dem er aufgewachsen ist und den Großteil seines bisherigen Lebens verbracht hat, sprachliche und kulturelle Verbindungen und auch familiäre Anknüpfungspunkte.
Dem allenfalls bestehenden Interesse des BF an einem Verbleib in Österreich (bzw. Europa) stehen öffentliche Interessen daran gegenüber, dass das geltende Migrationsrecht auch vollzogen wird, indem Personen, die ohne Aufenthaltstitel aufhältig sind – gegebenenfalls nach Abschluss eines allfälligen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz – auch zur tatsächlichen Ausreise verhalten werden. Bei einer Gesamtbetrachtung wiegt unter diesen Umständen das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Durchsetzung der geltenden Bedingungen des Einwanderungsrechts und an der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, denen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung – und damit eines von Art 8 Abs. 2 EMRK erfassten Interesses – ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. zB VwGH 30.04.2009, 2009/21/0086), schwerer als die nicht bis maximal sehr schwach bestehenden privaten Interessen des BF am Verbleib in Österreich.
Ebenso wenig vermag die strafgerichtliche Unbescholtenheit seine persönlichen Interessen entscheidend zu stärken (VwGH 25.02.2010, 2010/18/0029).
Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung kann daher nicht im Sinne von § 9 Abs. 2 BFA-VG als unzulässig angesehen werden, weshalb auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 nicht in Betracht kommt.
Die sonstigen Voraussetzungen einer Rückkehrentscheidung nach § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 und § 52 Abs. 2 Z 2 FPG sind erfüllt. Sie ist auch sonst nicht (zB vorübergehend nach Art 8 EMRK, vgl § 9 Abs. 3 BFA-VG und VwGH 28.04.2015, Ra 2014/18/0146) unzulässig. Der BF verfügt auch über kein sonstiges Aufenthaltsrecht.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie hinsichtlich des Spruchpunktes IV. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG und § 52 Abs. 2 Z 2 FPG abzuweisen war.
3.5. Zum Ausspruch, dass die Abschiebung nach Tunesien zulässig ist (Spruchpunkt V.):
3.5.1. Rechtslage:
Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist. Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig, wenn dadurch Art 2 oder 3 EMRK oder deren 6. bzw 13. ZPEMRK verletzt würden oder für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre. Gemäß § 50 Abs. 2 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative. Nach § 50 Abs. 3 FPG ist die Abschiebung unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
3.5.2. Anwendung der Rechtslage auf den vorliegenden Fall:
Im vorliegenden Fall liegen keine Gründe vor, wonach die Abschiebung in den Herkunftsstaat gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig wäre.
Ein inhaltliches Auseinanderfallen der Entscheidungen nach § 8 Abs. 1 AsylG (zur Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz) und nach § 52 Abs. 9 FPG (zur Frage der Zulässigkeit der Abschiebung) ist ausgeschlossen. Damit ist es unmöglich, die Frage der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Rahmen der von Amts wegen zu treffenden Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG neu aufzurollen und entgegen der getroffenen Entscheidung über die Versagung von Asyl und subsidiärem Schutz anders zu beurteilen (vgl dazu etwa VwGH, 16.12.2015, Ra 2015/21/0119 und auch die Beschlüsse VwGH 19.02.2015, Ra 2015/21/0005 und 30.06.2015, Ra 2015/21/0059 – 0062).
Die Abschiebung ist auch nicht unzulässig im Sinne des § 50 Abs. 2 FPG, da dem BF keine Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Weiters steht keine Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der Abschiebung entgegen.
Die im angefochtenen Bescheid getroffene Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Tunesien erfolgte daher zu Recht.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie hinsichtlich des Spruchpunktes V. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 52 Abs. 9 FPG abzuweisen war.
3.6. Zum Ausspruch, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht (Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 55 Abs. 1a FPG besteht unter anderem eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht, wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird. Hierunter fallen neben Verfahren, in denen einer Beschwerde ex lege keine aufschiebende Wirkung zukam, auch die Verfahren, in denen das BFA die aufschiebende Wirkung aberkannt hat und in denen jeweils keine Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung durch das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG erfolgt ist.
Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde der Beschwerde gegen den bekämpften Bescheid vom 18.12.2024 die aufschiebende Wirkung zu Recht aberkannt.
Nach § 18 Abs. 5 BFA-VG hat das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde, der die aufschiebende Wirkung vom BFA aberkannt wurde, binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wenn anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK, Art 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Wie bereits oben erörtert, besteht bei der Rückkehr des BF nach Tunesien keine Gefahr, dass diesem die Todesstrafe, die Folter, eine unmenschliche Behandlung oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes drohen. Ein von Art 8 EMRK geschützter Eingriff in sein Privat- und Familienleben ist ebenfalls mangels Bestehens eines schützenswerten Privat- und Familienleben in Österreich nicht zu befürchten. Die nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes durchzuführende Interessensabwägung zwischen den Interessen des BF und jenen Österreichs ergibt, wie bereits oben ausgeführt, einen Überhang der Interessen Österreichs an der unverzüglichen Vollstreckung des bekämpften Bescheides. Damit waren keine Gründe für die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG gegeben.
Zu Recht hat daher die belangte Behörde § 55 Abs. 1a FPG zur Anwendung gebracht. Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie auch hinsichtlich des Spruchpunktes VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen war.
3.7. Zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung (Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG kann vom BFA einer Beschwerde gegen eine abweisende Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung aberkannt werden, wenn der Asylwerber aus einem sicheren Herkunftsstaat (§ 19 BFA-VG) stammt. Sichere Herkunftsstaaten sind unter anderem die Herkunftsstaaten, die mit Verordnung der Bundesregierung als sichere Herkunftsstaaten festgestellt wurden (§ 19 Abs. 5 Z 2 BFA-VG).
Nach § 1 Z 11 Herkunftsstaaten-Verordnung gilt Tunesien, wie umseits ausgeführt, als sicherer Herkunftsstaat.
Die nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes durchzuführende Interessensabwägung zwischen den Interessen des BF und jenen Österreichs ergibt ein Überwiegen der Interessen Österreichs an der unverzüglichen Vollstreckung des bekämpften Bescheides, weshalb die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde gegen den gegenständlichen bekämpften Bescheid zulässig war.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie auch hinsichtlich des Spruchpunktes VII. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 18 Abs. 1 BFA-VG abzuweisen war.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen relevanten Rechtsfragen auf die oben zitierte Rechtsprechung stützen.
4. Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.
Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungsrelevante Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Ferner muss die Verwaltungsbehörde die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht diese tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung in seiner Entscheidung teilen. Auch darf im Rahmen der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten ebenso außer Betracht zu bleiben hat wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (VwGH 28.05.2014, 2014/20/0017). Eine mündliche Verhandlung ist bei konkretem sachverhaltsbezogenem Vorbringen des Revisionswerbers vor dem VwG durchzuführen (VwGH 30.06.2015, Ra 2015/06/0050, mwN). Eine mündliche Verhandlung ist ebenfalls durchzuführen zur mündlichen Erörterung von nach der Aktenlage strittigen Rechtsfragen zwischen den Parteien und dem Gericht (VwGH 30.09.2015, Ra 2015/06/0007, mwN) sowie auch vor einer ergänzenden Beweiswürdigung durch das VwG (VwGH 16.02.2017, Ra 2016/05/0038). § 21 Abs. 7 BFA-VG 2014 erlaubt andererseits das Unterbleiben einer Verhandlung, wenn – wie im vorliegenden Fall – deren Durchführung in der Beschwerde ausdrücklich beantragt wurde, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint (VwGH 23.11.2016, Ra 2016/04/0085; 22.01.2015, Ra 2014/21/0052 ua). Diese Regelung steht im Einklang mit Art 47 Abs. 2 GRC (VwGH 25.02.2016, Ra 2016/21/0022).
Die vorgenannten Kriterien treffen in diesem Fall zu. Der Sachverhalt ist durch die belangte Behörde vollständig erhoben und weist – aufgrund des Umstandes, dass zwischen der Entscheidung durch die belangte Behörde und jener durch das Bundesverwaltungsgericht ein Monat liegt – die gebotene Aktualität auf. Der Beweiswürdigung durch die belangte Behörde hat sich das Bundesverwaltungsgericht zur Gänze angeschlossen. Im Übrigen unterliegt das in der Beschwerdeschrift behauptete ergänzende Vorbringen dem Neuerungsverbot. Es lagen keine strittigen Sachverhalts- oder Rechtsfragen vor und waren auch keine Beweise aufzunehmen. Daher konnte aufgrund der Aktenlage entschieden werden.
Zudem liegt ein Verfahren nach § 18 BFA-VG vor, welches das Bundesverwaltungsgericht verpflichtet, innerhalb von 7 Tagen zu entscheiden, es sei denn, es lägen Gründe vor, die aufschiebende Wirkung nach § 18 Abs. 5 VFA-VG zuzuerkennen. Dies war im gegenständlichen Fall – wie oben dargelegt – aber nicht gegeben.
Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte sohin gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 VwGVG unterbleiben.
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