AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §52 Abs9
FPG §54
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
FPG §58 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:W196.2256533.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. SAHLING als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1) XXXX , geb. XXXX und 2) XXXX , geb. XXXX , beide Staatsangehörige der Russische Föderation, vertreten durch die BBU GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.05.2022 ZI. 1) XXXX und vom 06.05.2022 ZI. 2) XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.07.2023 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerden beider Beschwerdeführer werden hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis III. gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 sowie § 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Den Beschwerden beider Beschwerdeführer wird hinsichtlich Spruchpunkt IV. der angefochtenen Bescheide stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.
III. Gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 wird 1) XXXX und 2) XXXX jeweils der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
IV. Die Spruchpunkte V. und VI. der angefochtenen Bescheide werden gemäß § 28 VwGVG behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer (zusammen in der Folge: Beschwerdeführer) sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der Volksgruppe der Tschetschenen.
1. Vorverfahren:
1.1. Die Erstbeschwerdeführerin stellte am 29.06.2009 gemeinsam mit ihrem Ex-Mann und ihren zwei ältesten Kindern Anträge auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. In der Folge stellte sie am 26.06.2014 in Deutschland und am 14.03.2018 in Frankreich Anträge auf internationalen Schutz. Diesen Anträgen war jeweils kein Erfolg beschieden. Am 22.11.2019 stellt die Erstbeschwerdeführerin gemeinsam mit dem zwischenzeitlich geborenen Zweitbeschwerdeführer und ihrem Ex-Mann sowie ihren mittlerweile drei weiteren Kindern erneut Anträge auf internationalen Schutz. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (in der Folge: BVwG) vom 13.01.2020 [fälschlicherweise datiert mit 13.01.2019] würden diese Anträge im Dublin Verfahren abgewiesen.
2. Gegenständliches Verfahren:
2.1. Am 12.07.2021 stellte die Erstbeschwerdeführerin, nach abermaliger Einreise in das österreichische Bundesgebiet für sich und den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Zu diesen Anträgen wurde die Erstbeschwerdeführerin am 13.07.2021 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt, wobei sie zu ihren Fluchtgründen zusammengefasst angab, dass ihr damaliger Ehemann in Tschetschenien politische Probleme mit den Behörden gehabt habe, welche genau, wisse sie jedoch nicht. Er sei aber zwei Mal im Februar 2009 in Tschetschenien festgenommen, gefoltert und geschlagen worden. Aus diesem Grund hätte sie mit ihrem damaligen Ehemann beschlossen, das Land mit den Kindern zu verlassen. Im Falle einer Rückkehr habe sie Angst um das Wohlergehen ihrer Kinder und davor verhaftet zu werden. Es sei auch möglich, dass ihr ihre Kinder von den Verwandten des Ex-Mannes weggenommen würden, weil sie seit dem Jahr 2019 von ihm getrennt sei. Sie seien aber immer noch standesamtlich verheiratet. Ihr Ex-Mann sei aber nunmehr nach muslimischem Recht mit einer anderen Frau verheiratet.
Vorgelegt wurde der russische Inlandsreisepass der Erstbeschwerdeführerin und ein Auszug aus dem Geburtseintrag der Bundesrepublik Deutschland betreffend die Geburt des Zweitbeschwerdeführers.
2.2. Aufgrund des positiven EURODAC-Treffers zu Frankreich und der Angaben der Erstbeschwerdeführerin in der Erstbefragung am 13.07.2021, zuletzt aus Frankreich eingereist zu sein, führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) Konsultationen gemäß Dublin-Übereinkommen bezüglich der Zuständigkeit für das Asylverfahren der Beschwerdeführer mit den Mitgliedstaat Frankreich, die negativ verliefen. Die Beschwerdeführer wurde zum Asylverfahren in Österreich zugelassen.
2.3. Am 07.10.2021 wurde die Erstbeschwerdeführerin erstmals vor dem BFA niederschriftlich einvernommen und zu ihrer Verwandtschaft sowie ihren persönlichen Verhältnissen befragt.
2.4. Am 12.04.2022 wurde die Erstbeschwerdeführerin erneut vor dem BFA niederschriftlich einvernommen, dort führte sie ihre Fluchtgründe weiter aus, indem sie angab, dass sie sich nie in Männer verliebt hätte, sondern ihr Frauen gefallen würden und dass die Ehe mit ihrem Ex-Mann erzwungen worden sei. Er habe sie entführt und minderjährig geheiratet. Wegen seiner politischen Probleme, seien sie aus Tschetschenien ausgereist. Sie hätten im Jahr 2009 erstmals einen Asylantrag in Österreich gestellt. In der Zeit im Flüchtlingslager in Traiskirchen habe sie sich in einen anderen Mann verliebt, da sei sie das erste Mal verliebt gewesen. Ihr nunmehriger Ex-Mann hab Verdacht geschöpft und sie kontrolliert. Im Zuge einer Abschiebung hätten sie einen weiteren Asylantrag gestellt und wären in der Folge durch die XXXX unterstützt worden. Ihr Ex-Mann habe dann entschieden, in die Schweiz zu fahren und sie habe ihn begleitet. In der Folge seien sie auch in Belgien gewesen und dann nach Frankreich weitergereist. Bei einer gynäkologischen Untersuchung im Zuge der Schwangerschaft mit ihrer Tochter, habe sie das Gefühl gehabt, der Mann in den sie sich in Traiskirchen verliebt habe, sei der untersuchende Arzt. Sie sei sogar überzeugt gewesen. Dass er der Arzt dieser Mann aus Traiskirchen gewesen sei. Zwischen 2014 und 2018 hätten sie in Deutschland gelebt. Dort habe sie den Mann aus Traiskirchen auch wiederholt gesehen, er habe sie beobachtet. Ihr Ex-Mann habe sie in dieser Zeit u.a. mit einer Nachbarin betrogen, erniedrigt und Drogen konsumiert. Sie hätte ihren Ex-Mann auch betrügen wollen, aber damals gedacht, dass das keine gute Idee sei. Als sie ihn auf seinen Drogenkonsum angesprochen habe, sei er aggressiv geworden und hätte auf die Wand geschlagen und sich den Arm gebrochen. Einen Tag vor ihrer Ausreise aus Frankreich habe sie dem Mann aus Traiskirchen ihre Nummer gegeben und ihn um Hilfe gebeten. Er habe gemeint, dass er ihr nicht helfen könne. Sie habe sich scheiden lassen wollen, ihr Ex-Mann habe davon erfahren und gedroht sie nach Tschetschenien zurück zu schicken und ihr Säure ins Gesicht zu schütten. Außerdem habe er sie vor den Kindern an den Haaren gezogen. Sie habe bei der französischen Polizei Anzeige erstattet und versucht zu fliehen, das sei aber gescheitert. Ihr Ex-Mann habe der Erstbeschwerdeführerin in der Folge mündlich die Scheidung ausgesprochen und die Kinder hätten wieder bei ihrem Vater wohnen wollen. Verwandte würden versuchen, sie und ihren Ex-Mann wieder zusammen zu bringen. Nachdem sie erneut nach Österreich gekommen sei, sei sie nach Frankreich abgeschoben worden. Ihr Ex-Mann habe sie nach Österreich gefahren. Er habe in Frankreich in der Zwischenzeit eine neue Frau gefunden und die Kinder hätten diese liebgewonnen. Sie habe in Frankreich nach der Scheidung eine Beziehung zu einem Franzosen gehabt. Sie sei mit ihrem Sohn wieder zurück nach Österreich, ihre übrigen Kinder hätten beim Vater bleiben wollen. Die Erstbeschwerdeführerin könne nicht nach Tschetschenien zurück, da ihr Ruf ruiniert sei und ihr vorgeworfen werden, ihren Ex-Mann betrogen zu haben. Auch ihre eigenen Verwandten würden sie bestrafen wollen. Über die politischen Probleme ihres Ex-Mannes wisse sie nichts Genaueres, er habe nur erzählt, dass er zwei Mal abgeführt und gefoltert worden sei.
Die Erstbeschwerdeführerin legte eine Anzeigebestätigung aus Frankreich vom 07.06.2019 sowie eine Anmeldebestätigung zu einem Sprachkurs Deutsch A1 vor.
2.5. Mit Bescheiden des BFA vom 05.05.2022, 1) ZI. XXXX und vom 06.05.2022 2) ZI. XXXX wurden die von den Beschwerdeführern gestellten Anträge auf internationalen Schutz jeweils gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihnen ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für ihre freiwillige Ausreise mit 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde hinsichtlich die Erstbeschwerdeführerin ausgeführt, dass sie selbst nicht von den Problemen ihres Gatten betroffen gewesen und ihr Vorbingen als nicht glaubhaft zu werten sei. Sie hätte auch auf Nachfrage keine konkreten Angaben zu den Problemen ihres Ex-Mannes machen können. Auch, dass der Erstbeschwerdeführerin in Tschetschenien die Tötung oder Zwangsverheiratung drohe, konnte diese nicht glaubhaft machen. Auch wäre es ihr laut eigenen Angaben möglich gewesen, in die Russische Föderation zurückzukehren. Das generelle Verhalten der Erstbeschwerdeführerin in Bezug auf Asylanträge sowie das bewusste Nichtanführen von Gründen für ihren Antrag auf internationalen Schutz in der Vergangenheit würden darauf schließen lassen, dass ihre Geschichte nicht von ihr erlebt worden sei, sondern ein frei erfundenes Geschehen darstelle. Sie sei gesund und arbeitsfähig und könne in ihrem Herkunftsstaat auf familiäre Unterstützung zurückgreifen. Die Erstbeschwerdeführerin sei seit Juli 2021 wieder in Österreich aufhältig und verfüge über keine Deutschkenntnisse oder sonstige Integrationsschritte. Ihre Familie sei – außer dem mit ihr lebenden Sohn – in der Russischen Föderation oder in Frankreich aufhältig.
Hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers wurde ausgeführt, dass in seinem Fall ein Familienverfahren vorliegen würde, da keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht worden seien. Die Gründe seiner Mutter (der Erstbeschwerdeführerin) seien unglaubhaft gewesen, sodass auch ihm keine asylrelevante Verfolgung drohen würde. Der Zweitbeschwerdeführer sei sechs Jahre alt. Ab einem Alter von sieben Jahren, sei man im anpassungsfähigen Alter. Er sei in einem tschetschenischen Familienverband aufgewachsen und es könne davon ausgegangen werden, dass seine Mutter mit ihm Tschetschenisch spreche. Seine Sozialisierung außerhalb des engen Familienkreises habe noch nicht begonnen, zumal der Zweitbeschwerdeführer bereits in mehreren Ländern wohnhaft gewesen sei. Er werde gemeinsam mit seiner Mutter in die Russische Föderation zurückkehren.
2.6. Gegen diese Bescheide brachten die Beschwerdeführer mit Schreiben ihrer Vertretung vom 10.06.2022 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung und der Verletzung von erheblichen Verfahrensvorschriften an das BVwG ein.
Begründet wurde diese im Wesentlichen damit, dass der Erstbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation nach wie vor eine asylrelevante Reflexverfolgung aufgrund der ihrem Ex-Mann zumindest unterstellten politischen Gesinnung drohen würde. Außerdem befürchte die Erstbeschwerdeführerin aufgrund ihres „unmoralischen“ Verhaltens von ihrer Familie bzw. der ihres Ex-Mannes Zwangsverheiratung, Freiheitsentziehung und/oder Missbrauch, bis hin zum Ehrenmord an ihrer Person. In Bezug auf den Zweitbeschwerdeführer befürchte sie, dass dieser ihr sofort abgenommen und an die Familie ihres Ex-Mannes übergeben werde. Die Länderberichte seien unvollständig bzw. vom BFA unvollständig ausgewertet worden. Die Erstbeschwerdeführerin habe den Namen und die Ehre ihrer Familie „beschmutzt“, indem sie sich von ihrem Ex-Mann scheiden habe lassen, danach eine außereheliche Beziehung zu einem Franzosen eingegangen sei und nunmehr ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben als geschiedene und alleinerziehende Frau in Europa führe. Ihr drohe die erhebliche Gefahr einer Zwangsverheiratung, Freiheitsentziehung und/oder Missbrauch, bis hin zum Ehrenmord und der Zweitbeschwerdeführer würde ihr sofort abgenommen und an die Familie ihres Ex-Mannes übergeben werden. Innerstaatliche Fluchtalternative würde keine bestehen. Auch die Beweiswürdigung sei mangelhaft erfolgt. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre den Beschwerdeführern internationaler Schutz gemäß § 3 AsylG 2005 zu gewähren gewesen. Der Erstbeschwerdeführerin würde aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der geschiedenen Frauen sowie der Frauen, die sich der traditionellen Familienordnung und den traditionellen tschetschenischen Normen widersetzen und dem Zweitbeschwerdeführer aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Kinder, die von der Mutter zwangsweise getrennt werden würden, eine asylrelevante Verfolgung drohen. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten würden fallgegenständlich vorliegen. Ihnen würde unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung sowie anhaltende Diskriminierungen durch die Familie drohen. Im Falle einer Weigerung, deren Weisungen Folge zu leisten, drohe der Erstbeschwerdeführerin auch eine Verletzung ihres Rechts auf Leben. Aufgrund der lange Abwesenheit der Beschwerdeführer von ihrem Herkunftsland sowie der Geburt des Zweitbeschwerdeführers in Europa und der wahrscheinlichen Trennung der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr, hätte die Rückkehrentscheidung für unzulässig erklärt und ihnen eine Aufenthaltsberechtigung plus erteilt werden müssen.
Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
2.7. Die Beschwerden wurde zunächst der (von einem männlichen Richter geführten) Gerichtsabteilung W272 zugewiesen, deren Leiter sich jedoch für unzuständig erklärte, weil sich aus dem Akt insbesondere aus der Beschwerdeschrift Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung der Erstbeschwerdeführerin ergeben hatten sowie wegen Annexität des Verfahrens des Zweitbeschwerdeführers. Daraufhin wurde die Beschwerde der Gerichtsabteilung W196 neu zugewiesen.
2.8. Mit Urkundenvorlage vom 19.07.2023 wurde eine Schulnachricht betreffend den Volksschulbesuch des Zweitbeschwerdeführers sowie ein Zeugnis über die bestandene Integrationsprüfung Sprachniveau A2 der Erstbeschwerdeführerin vorgelegt.
2.9. Am 24.07.2023 fand vor dem BVwG eine mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit der Beschwerdeführer und ihrer Vertretung und einer Dolmetscherin für die Sprache Russisch statt. Die Erstbeschwerdeführerin wurde dabei ausführlich zu ihren Rückkehrbefürchtungen, ihren bisherigen Aufenthalten in Europa sowie ihren Lebensverhältnissen in Österreich befragt.
2.10. Mit Urkundenvorlage vom 25.07.2023 wurde ein fachärztlicher Befundbericht der XXXX vom 24.07.2023 vorgelegte, aus dem sich u.a. ergibt, dass die Erstbeschwerdeführerin an einer Wahnhaften Störung leidet sowie dass sie sich in einer akuten Belastungssituation befindet.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Identität und den persönlichen Verhältnissen der Beschwerdeführer:
Die Identität der Beschwerdeführer steht fest. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers. Beide sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der Volksgruppe der Tschetschenen. Sie bekennen sich zum islamischen Glauben. Die Muttersprache der Erstbeschwerdeführerin ist Tschetschenisch, sie spricht darüber hinaus Russisch und etwas Französisch und Deutsch. Der Zweitbeschwerdeführer spricht Russisch sowie etwas Französisch und ist dabei Deutsch zu lernen.
Die Erstbeschwerdeführerin ist in der ehemaligen Sowjetunion geboren. Sie hat dort elf Jahre die Schule und fünf Jahre die Universität besucht. Ihr Studium der Rechtswissenschaften hat sie jedoch nicht abgeschlossen. Mit dem Vater ihrer vier Kinder XXXX , geb. XXXX ist die Erstbeschwerdeführerin nach wie vor standesamtlich verheiratet, konfessionell ist sie jedoch von ihm geschieden. XXXX lebt mit den gemeinsamen Kindern XXXX , geb. XXXX , XXXX , XXXX und XXXX , geb. XXXX sowie seiner nach traditionellem Ritus neue geheirateten Frau in Frankreich. Ihre Eltern, ein Bruder und eine Schwester leben nach wie vor in der Russischen Föderation. Eine weitere Schwester lebte in der Ukraine, musste aufgrund des russischen Angriffskrieges aber nach Deutschland fliehen.
Gemeinsam mit XXXX und ihren zwei ältesten Kindern reiste die Erstbeschwerdeführerin im Jahr 2009 aus der Russischen Föderation aus und hielt sich seither in verschiedenen europäischen Staaten auf, darunter in den Jahren 2009 sowie 2019 bis 2020 in Österreich. Wobei sie am 29.06.2009 und am 22.11.2019 sowie gegenständlich am 12.07.2021 – 2019 und 2021 jeweils gemeinsam mit dem Zweitbeschwerdeführer – im Bundesgebiet Anträge auf internationalen Schutz stellte.
Der Zweitbeschwerdeführer wurde in Deutschland geboren und war noch nie in der Russischen Föderation.
In Österreich haben die Beschwerdeführer keine weiteren Verwandten. Sie lebten durchgehend in einem gemeinsamen Haushalt und beziehen Leistungen aus der Grundversorgung. Zwischenzeitlich lebten die Beschwerdeführer wiederholt in einem Frauenhaus in XXXX , momentan leben sie in einer Unterkunft XXXX die u.a. auch für Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern ausgelegt ist und in der Hilfe bei der Orientierung im Alltag und spezielle Angebote für Kinder angeboten werden. Die Erstbeschwerdeführerin hat in Österreich die Integrationsprüfung Sprachniveau A2 erfolgreich abgelegt.
Die Beschwerdeführer verfügen über familiäre Anknüpfungspunkte in Tschetschenien sowie außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation. Der Vater der Erstbeschwerdeführerin bzw. Großvater des Zweitbeschwerdeführers lebt in Moskau und der Bruder der Erstbeschwerdeführerin bzw. Onkel des Zweitbeschwerdeführers in St. Petersburg.
Die Erstbeschwerdeführerin leidet an einer Wahnhaften Störung und befindet sich in psychiatrischer und medikamentöser Behandlung mit Neuroleptika. Sie ist zumindest nur eingeschränkt arbeitsfähig. Der Zweitbeschwerdeführer ist gesund.
Die psychischen Probleme der Erstbeschwerdeführerin sind nicht derart schwer ausgestaltet, dass sie als akut lebensbedrohlichen angesehen werden könnten. Zudem stehen in der Russischen Föderation grundsätzlich auch Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung.
Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer und zur Situation im Falle einer Rückkehr:
Der Erstbeschwerdeführerin ist es nicht gelungen glaubhaft zu machen, dass ihr im Falle einer Rückkehr eine konkrete, individuelle und aktuelle Verfolgung aufgrund der Probleme ihres Ex-Mannes drohen könnte.
Auch eine sonstige Verfolgungsgefahr durch die Verwandtschaft ihres Ex-Mannes oder ihre eigene Verwandtschaft konnte sie nicht glaubhaft machen.
Nach der tschetschenischen „Traditionen“ werden Kinder als Eigentum des Vaters und dessen Familie betrachtet. Fallgegenständlich kann im Falle einer Rückkehr in ihre Heimatregion, Tschetschenien weder ausgeschlossen werden, dass der Zweitbeschwerdeführer der Erstbeschwerdeführerin abgenommen und der Familie ihres Ex-Mannes zur Obsorge anvertraut würde noch, dass die Erstbeschwerdeführerin zwangsverheiratet werden könnte.
Es aber kann nicht festgestellt werden, dass den Beschwerdeführer in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer konkreten, individuellen und aktuellen Verfolgung maßgeblicher Intensität – oder eine sonstige Verfolgung maßgeblicher Intensität – droht.
Den Beschwerdeführern steht vielmehr eine mögliche und zumutbare innerstaatlichen Fluchtalternative in anderen Teilen Russlands, etwa in Moskau oder St. Petersburg zur Verfügung.
Nicht festgestellt werden kann, dass die Beschwerdeführer im Falle der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation in ihrem Recht auf Leben gefährdet wären, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen würden oder von der Todesstrafe bedroht wären. Die Beschwerdeführer wären im Falle ihrer Rückkehr auch in keine existenzbedrohende Notlage gedrängt.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:
Hierzu wird auf die aktuellen Berichte der Staatendokumentation des BFA zur Lage in der Russischen Föderation respektive in Tschetschenien (Stand: 04.07.2023) verwiesen. Aus diesen ergibt sich auszugsweise Folgendes:
„[…]
COVID-19-Situation
Letzte Änderung: 03.07.2023
In Teilen der Russischen Föderation bestehen aufgrund der Regionalisierung von COVID-19-Schutzmaßnahmen teilweise noch Einschränkungen, welche Maskenpflicht in öffentlich zugänglichen Räumen oder Zugangsbeschränkungen zu Hotels und Restaurants (QR-Code) beinhalten können (AA 26.6.2023). Die Hygienemaßnahmen wurden großteils zurückgenommen. Es müssen keine verpflichtenden Temperaturmessungen oder COVID-Tests am Arbeitsplatz mehr durchgeführt werden. Auch die teilweise Fernarbeitspflicht ist beendet (WKO 25.7.2022).
Zu den Impfstoffen, welche in der Russischen Föderation entwickelt wurden und dort eingesetzt werden, zählen: Gam-COVID-Vac (Sputnik V), EpiVacCorona, Sputnik Light, EpiVacCorona-N, Covivac, Salnavac, Konwasel und Ad5-nCoV (CWRR o.D.b). COVID-Impfungen sind ab einem Alter von 12 Jahren möglich (RFE/RL 9.2.2022; vgl. CWRR o.D.a) und für russische Staatsbürger kostenlos (Iswestija 1.7.2022; vgl. ÖB 30.6.2022).
Die Einreise in die Russische Föderation ist ohne PCR-Test möglich. Bei der Einreise ist das Ausfüllen eines Gesundheitsfragebogens erforderlich, anhand dessen ein PCR-Test angeordnet werden kann (BMEIA 24.6.2023). Der europäische Impfnachweis wird nicht anerkannt (AA 26.6.2023).
Moskau
In der Hauptstadt Moskau sowie im Moskauer Gebiet wurden die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske auf öffentlichen Plätzen sowie die Abstandsregelungen abgeschafft (Russland-Analysen 11.4.2022).
Tschetschenien
In Tschetschenien wurden alle COVID-Beschränkungen aufgehoben (RN 11.3.2022).
Dagestan
Das Tragen einer Maske wird empfohlen. An öffentlichen Orten gilt Maskenpflicht für Personen über 60 Jahren, chronisch Kranke und Ungeimpfte. Es wird empfohlen, die Teilnehmeranzahl bei Veranstaltungen in geschlossenen Räumen auf 500 Personen zu beschränken (KU 13.8.2022). Die Verpflichtung zur Durchführung einer Desinfektion besteht weiterhin (KU 7.6.2022).
Politische Lage
Letzte Änderung: 29.06.2023
Russland ist eine Präsidialrepublik mit föderativem Staatsaufbau (AA 22.2.2023a). Das Regierungssystem Russlands wird als undemokratisch (autokratisch) bzw. autoritär eingestuft (BS 2022; vgl. EIU 2.2.2023, UG 3.2023, FH 24.5.2023, Russland-Analysen 20.6.2022). Die im Verfassungsartikel 10 vorgesehene Gewaltenteilung (Duma 6.10.2022; vgl. AA 22.2.2023b) ist de facto stark eingeschränkt (AA 22.2.2023b). Das politische System ist zentral auf den Präsidenten ausgerichtet (AA 28.9.2022; vgl. FH 2023, Russland-Analysen 20.6.2022), was durch den Begriff der Machtvertikale ausgedrückt wird (SWP 19.4.2022). Gemäß Artikel 83 der Verfassung der Russischen Föderation ernennt der Staatspräsident (nach Bestätigung durch die Staatsduma) den Regierungsvorsitzenden und entlässt ihn. Der Präsident leitet den Sicherheitsrat der Russischen Föderation und schlägt dem Föderationsrat die neuen Mitglieder der Höchstgerichte vor. Laut Verfassungsartikel 129 werden der Generalstaatsanwalt sowie die Staatsanwälte der Subjekte der Russischen Föderation nach Beratungen mit dem Föderationsrat vom russischen Präsidenten ernannt und von diesem entlassen. Darüber hinaus ernennt und entlässt der Präsident die Vertreter im Föderationsrat, bringt Gesetzesentwürfe ein, löst die Staatsduma auf und ruft den Kriegszustand aus (Artikel 83-84, 87). Der Präsident bestimmt die grundlegende Ausrichtung der Innen- und Außenpolitik (Verfassungsartikel 80) (Duma 6.10.2022). Seit dem Jahr 2000 wird das Präsidentenamt (mit einer Unterbrechung von 2008 bis 2012) von Wladimir Putin bekleidet (BS 2022). Der Präsident der Russischen Föderation wird laut Verfassungsartikel 81 für eine Amtszeit von sechs Jahren von den Bürgern direkt gewählt (Duma 6.10.2022). Die letzte Präsidentschaftswahl fand am 18.3.2018 statt. Ein echter Wettbewerb fehlte. Auf kritische Stimmen wurde Druck ausgeübt (OSCE 6.6.2018). Putins einflussreicher Rivale Alexej Nawalnyj durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Nawalnyj war zuvor in einem als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden (FH 2023). Es wurden Transparenzmängel bei der Präsidentenwahl 2018 festgestellt (OSCE 6.6.2018). Die Geldquellen für Putins Wahlkampagne waren undurchsichtig (FH 2023). Auch kam es zu Unregelmäßigkeiten hinsichtlich der Einhaltung des Wahlgeheimnisses. Die Wahlbeteiligung lag laut der Zentralen Wahlkommission bei 67,47 %. Als Sieger der Präsidentenwahl 2018 ging Putin mit 76,69 % der abgegebenen Stimmen hervor (OSCE 6.6.2018). Regierungsvorsitzender ist Michail Mischustin (PM o.D.).
Die Verfassung der Russischen Föderation wurde per Referendum am 12.12.1993 angenommen. Am 1.7.2020 fand eine Volksabstimmung über eine Verfassungsreform statt (RI 4.7.2020). Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65 % der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78 % für und mehr als 21 % gegen die Verfassungsänderungen (KAS 7.2020; vgl. BPB 2.7.2020). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Putin, für zwei weitere Amtsperioden als Präsident zu kandidieren. Diese Regelung gilt nur für Putin und nicht für andere zukünftige Präsidenten (FH 2023). Unter anderem erhält durch die Verfassungsreform (2020) das russische Recht Vorrang vor internationalem Recht. Weitere Verfassungsänderungen betreffen beispielsweise die Betonung traditioneller Familienwerte sowie die Definition Russlands als Sozialstaat. Dies verleiht der Verfassung einen sozial-konservativen Anstrich. Die Verfassungsreform und der Verlauf der Volksabstimmung sorgten für Kritik (KAS 7.2020; vgl. BPB 2.7.2020, RI 4.7.2020).
Das Parlament (Föderalversammlung) besteht gemäß Verfassungsartikel 94 und 95 aus zwei Kammern, dem Föderationsrat und der Staatsduma (Duma 6.10.2022). Dem Parlament fehlt es an Unabhängigkeit von der Exekutive (USDOS 20.3.2023). Gemäß Verfassungsartikel 95 werden die Mitglieder des Föderationsrates für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt (mit Ausnahme der auf Lebenszeit ernannten Mitglieder). Zu den Kompetenzen des Föderationsrats gehören laut Verfassungsartikel 102: Bestätigung des präsidentiellen Erlasses über die Verhängung des Ausnahme- und Kriegszustands; sowie Amtsenthebung des Präsidenten. Gemäß Verfassungsartikel 95 und 96 werden die 450 Duma-Abgeordneten für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt (Duma 6.10.2022). Es gibt eine Fünfprozenthürde (OSCE 25.6.2021; vgl. RN 6.10.2021). Die Hälfte der Duma-Mitglieder wird durch Verhältniswahlsystem (Parteilisten), die andere Hälfte durch Einerwahlkreise (Direktmandat) gewählt (FH 2023; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021, KAS 21.9.2021). Die letzten Dumawahlen fanden im September 2021 statt und waren laut Wahlbeobachtern und unabhängigen Medien von beträchtlichen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet, darunter Stimmenkauf, Fälschung von Wahlprotokollen und Druck auf Wähler (FH 28.2.2022; vgl. SWP 14.10.2021, Russland-Analysen 1.10.2021, KAS 21.9.2021). Im Allgemeinen ist Wahlbetrug weitverbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BS 2022). Die Wahlbeteiligung bei der letzten Dumawahl betrug 52 % (FH 2023; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021, RN 6.10.2021). Mit großem Vorsprung gewann die Regierungspartei Einiges Russland die Wahl, so das offizielle Wahlergebnis (FH 28.2.2022). Die Partei Einiges Russland verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, welche erforderlich ist, um Verfassungsänderungen durchzusetzen. Vier weiteren Parteien gelang der Einzug ins Parlament, welche allesamt als kremltreue 'System-Opposition' bezeichnet werden (SWP 14.10.2021). Viele regimekritische Kandidaten waren von der Wahl ausgeschlossen worden (SWP 14.10.2021; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021). Anti-System-Oppositionsbewegungen wurden verboten bzw. zur Selbstauflösung gezwungen (KAS 21.9.2021). Neue politische Parteien können in der Regel nur dann registriert werden, wenn sie die Unterstützung der Machthaber im Kreml genießen (AA 28.9.2022). Aktuell sieht die Sitzverteilung der Parteien in der Staatsduma folgendermaßen aus (Duma o.D.):
Einiges Russland (Edinaja Rossija): 322 Sitze (Parteivorsitzender Wladimir Wasilew)
Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF): 57 Sitze (Parteivorsitzender Gennadij Sjuganow)
sozialistische Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' (Sprawedliwaja Rossija - Patrioty - Sa Prawdu): 28 Sitze (Parteivorsitzender Sergej Mironow)
Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR): 23 Sitze (Parteivorsitzender Leonid Sluzkij)
Neue Leute (Nowye Ljudi): 15 Sitze (Parteivorsitzender Aleksej Netschaew)
Zwei Duma-Abgeordnete gehören keiner Fraktion an.
Drei Abgeordnetenmandate sind derzeit unbesetzt (Duma o.D.).
Die LDPR ist antiliberal-nationalistisch-rechtspopulistisch ausgerichtet (SWP 14.10.2021; vgl. KAS 21.9.2021). Die Partei Neue Leute wurde im Jahr 2020 gegründet und ist eine liberale Mitte-Rechts-Partei. Die Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' vertritt sozialpatriotische Inhalte (KAS 21.9.2021).
Die föderale Struktur der Russischen Föderation ist in der Verfassung festgeschrieben. Laut Verfassungsartikel 66 kann der Status von Föderationssubjekten in beiderseitigem Einvernehmen zwischen der Russischen Föderation und dem betreffenden Föderationssubjekt im Einklang mit dem föderalen Verfassungsgesetz geändert werden (Duma 6.10.2022). Russland besteht aus 83 Föderationssubjekten. Föderationssubjekte verfügen über eine eigene Legislative und Exekutive, sind aber weitgehend vom föderalen Zentrum abhängig (AA 22.2.2023b). Es besteht ein Trend der zunehmenden Zentralisierung des russischen Staates (ZOIS 3.11.2021; vgl. FH 24.5.2023). Moskau sichert sich die Unterstützung der regionalen Eliten durch gezielte Zugeständnisse (ZOIS 3.11.2021).
Die 2014 von Russland vorgenommene Annexion der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol ist international nicht anerkannt (AA 22.2.2023b). Am 21.2.2022 wurden die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk von Putin als unabhängig anerkannt. Am 24.2.2022 startete Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine (Eur-Rat 16.8.2022). Im September 2022 fanden in den beiden ukrainischen 'Volksrepubliken' Donezk und Luhansk sowie in den ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja 'Referenden' über den Beitritt zur Russischen Föderation statt. Laut den offiziellen Wahlergebnissen stimmten in der 'Volksrepublik' Donezk 99,23 % der Wähler für einen Beitritt, in der 'Volksrepublik' Luhansk 98,42 %, in Cherson 87,05 % und in Saporischschja 93,11 % (Lenta 27.9.2022). Die 'Referenden' in den vier von Russland besetzten ukrainischen Gebieten werden von den Vereinten Nationen als völkerrechtswidrig bezeichnet und international nicht anerkannt (UN 27.9.2022; vgl. Standard 30.9.2022). Die Abstimmung fand nicht nur in Wahllokalen statt, sondern prorussische De-facto-Behörden gingen außerdem mit den Wahlurnen und in Begleitung von Soldaten von Tür zu Tür (UN 27.9.2022). Die 'Stimmabgaben' erfolgten unter Zwang und Zeitdruck (Rat der EU 28.9.2022). Demokratische Mindeststandards wurden nicht eingehalten (Standard 30.9.2022). Die 'Referenden' missachteten die ukrainische Verfassung sowie Gesetze und spiegeln nicht den Willen der Bevölkerung wider (UN 27.9.2022). Nach dem Ende der Scheinreferenden baten die Anführer der prorussischen Separatisten in den ukrainischen Regionen Luhansk und Cherson den russischen Präsidenten Putin um Annexion dieser Regionen (NDR/T 28.9.2022). Am 29.9.2022 wurde die 'staatliche Souveränität' und 'Unabhängigkeit' der Regionen Cherson und Saporischschja von Putin per Erlass anerkannt (RI 30.9.2022a; vgl. RI 30.9.2022b). Im Kreml in Moskau fand am 30.9.2022 die Unterzeichnung der Verträge zum Russland-Beitritt der 'Volksrepubliken' Donezk und Luhansk sowie der Regionen Saporischschja und Cherson statt (Kreml 30.9.2022). Am 3. und 4.10.2022 stimmten die beiden russischen Parlamentskammern der Annexion zu (Tass 4.10.2022). International wird die Annexion dieser vier ukrainischen Gebiete nicht anerkannt (Standard 30.9.2022).
Russland begeht im Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung (UN-OHCHR 16.3.2023; vgl. HRW 21.4.2022). Als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die rechtswidrige Annexion einiger ukrainischer Regionen hat die EU mehrere Sanktionspakete angenommen, nämlich: Wirtschaftssanktionen; individuelle Sanktionen gegen unter anderem Wladimir Putin, den Außenminister Sergej Lawrow und Mitglieder der Staatsduma sowie des Nationalen Sicherheitsrats. Außerdem wurde das Visaerleichterungsabkommen zwischen der EU und Russland vollständig ausgesetzt (Eur-Rat 12.5.2023). Auch die USA, das Vereinigte Königreich, Kanada, Japan, die Schweiz und die restliche westliche Welt haben umfassende Sanktionen gegen Russland eingeführt (WKO 3.2023).
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Tschetschenien
Letzte Änderung: 29.06.2023
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen (FR o.D.). Laut Aussage des Republikoberhaupts Ramsan Kadyrow leben rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland (ÖB 30.6.2021). Kadyrow ist seit dem Jahr 2007 in Tschetschenien an der Macht. Er kämpfte im ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996) aufseiten der Unabhängigkeitsbefürworter. Im zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2009) wechselte Kadyrow die Seite (ORF 30.3.2022). In Tschetschenien gilt Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB 30.6.2022; vgl. RFE/RL 3.2.2022, HRW 9.2.2022). Fraglich bleibt die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt (ÖB 30.6.2022). Kadyrow bekundet jedoch immer wieder seine absolute Treue gegenüber dem Kreml (ÖB 30.6.2022; vgl. SZ 3.3.2022). Beobachter stufen Tschetschenien zunehmend als Staat im Staat ein, in welchem das Moskauer Gewaltmonopol vielfach unwirksam ist (Dekoder 10.2.2022). Kadyrow besetzt hohe Posten in Tschetschenien mit Familienmitgliedern (KU 17.1.2023; vgl. KU 25.4.2023, KR 5.10.2022). Das Republiksoberhaupt ist für die Regierungsbildung zuständig. Die Regierung ist dem Republikoberhaupt gegenüber rechenschaftspflichtig (FR o.D.b). Regierungsvorsitzender Tschetscheniens ist Muslim Chutschiew (RN 13.1.2023). Tschetschenien ist von Moskau finanziell abhängig. Mehr als 80 % des Budgets stammen aus Zuwendungen (ORF 30.3.2022).
Die Gesetzgebung wird vom Parlament Tschetscheniens ausgeübt. Das Parlament besteht aus 41 Abgeordneten, welche mittels Verhältniswahl für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt werden (FR o.D.b). Bei der Dumawahl im September 2021 gewann die Partei Einiges Russland in Tschetschenien 96,13 % der Stimmen (Russland-Analysen 1.10.2021; vgl. RN 6.10.2021). Die Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' errang 0,93 %, die Kommunistische Partei (KPRF) 0,75 %, Neue Leute 0,24 %, und die Liberal-Demokratische Partei (LDPR) gewann 0,11 % der Stimmen. Die Wahlbeteiligung betrug 94,42 % (RN 6.10.2021). Zeitgleich fand in Tschetschenien die Direktwahl des Republikoberhaupts statt (RN 21.9.2021). Dessen reguläre Amtszeit beträgt fünf Jahre (FR o.D.b). Kadyrow, welcher die Partei Einiges Russland repräsentierte, gewann 99,7 % der Stimmen. Der Kandidat der Kommunistischen Partei errang 0,12 % und der Kandidat der Partei Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit 0,15 % (RN 21.9.2021). Vor allem im Nordkaukasus ist Wahlbetrug weitverbreitet (BS 2022).
Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Gewaltformen an, darunter Entführung, Folter und außergerichtliche Tötung (FH 2023; vgl. COE 3.6.2022). Regimekritiker müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten sowie physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen (AA 28.9.2022). Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von Gegnern innerhalb und außerhalb Russlands angeordnet zu haben (FH 2023). Das Republiksoberhaupt Tschetscheniens wurde von der Schweiz, Kanada, der EU und den USA mit Sanktionen belegt (KU 17.1.2023; vgl. OFAC 8.6.2023, EUR-Lex 25.7.2014).
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Sicherheitslage
Letzte Änderung: 04.07.2023
Aufgrund der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine ist die Lage in Russland zunehmend unberechenbar. Am 23. und 24.6.2023 kam es im Südwesten Russlands zu einer bewaffneten Auseinandersetzung (EDA 27.6.2023). Am Morgen des 24.6.2023 übernahmen Angehörige der privaten paramilitärischen Organisation 'Gruppe Wagner' unter der Führung von Ewgenij Prigoschin die Kontrolle über zentrale Einrichtungen der russischen Streitkräfte in der Stadt Rostow am Don (BAMF 26.6.2023). Vorausgegangen waren ein seit Monaten andauernder Machtkampf zwischen dem Chef des Militärunternehmens und Verteidigungsminister Schojgu (BAMF 26.6.2023; vgl. FA 12.5.2023, ISW 12.3.2023). Auch erfolgten unbestätigten Angaben zufolge Angriffe der regulären Streitkräfte auf ein Feldlager der Söldnertruppe. Im Tagesverlauf besetzte die Wagner-Gruppe weitere Militäreinrichtungen in den Regionen Rostow und Woronesch und rückte weitgehend ungehindert mit mehreren Tausend Kämpfern in Richtung Moskau vor - mit dem erklärten Ziel, die Militärführung um Verteidigungsminister Schojgu und Generalstabschef Gerasimow zu stürzen. Als Reaktion wurden in der Hauptstadt Truppen zusammengezogen, Kontrollpunkte eingerichtet und das Anti-Terror-Regime ausgerufen, welches den Sicherheitskräften eine weitreichende Kommunikationsüberwachung, Personenkontrollen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit erlaubt. Auf Vermittlung des belarussischen Präsidenten Lukaschenko erklärte sich Prigoschin am Abend des 24.6.23, mutmaßlich aufgrund des Ausbleibens erwarteter Unterstützung von Militär und Machteliten, zum Rückzug seiner Truppen bereit. Dieser ist weitgehend vollzogen. Im Gegenzug sicherte die Regierung den am Aufstand beteiligten Söldnern Straffreiheit und Prigoschin persönlich darüber hinaus einen freien Abzug nach Belarus zu (BAMF 26.6.2023). Gemäß Berichten schoss die Wagner-Gruppe am 24.6. Militärhubschrauber sowie ein Flugzeug ab (MOD 29.6.2023). Mittlerweile hat sich die Sicherheitslage vordergründig beruhigt, bleibt aber angespannt (EDA 27.6.2023). Das Anti-Terror-Regime wurde in Moskau und Woronesch mittlerweile wieder aufgehoben (NAK 26.6.2023).
Aufgrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine kommt es vermehrt zu Sicherheitsvorfällen in russischen Grenzregionen. Vor allem die Grenzregionen Belgorod, Rostow, Brjansk und Kursk sind mit täglichem Beschuss und Drohnenangriffen konfrontiert. Im Mai 2023 sind zwei bewaffnete Verbände in die Region Belgorod eingedrungen, was zu Kämpfen und der Evakuierung der Bevölkerung führte. Angeblich bestanden die zwei Verbände aus russischen Staatsangehörigen, welche auf der Seite der Ukraine kämpfen (ACLED 8.6.2023). In mehreren russischen Regionen nahe der Ukraine wurde der Notstand ausgerufen (AA 26.6.2023). Das Kriegsrecht wurde in Russland bislang nicht ausgerufen (Interfax 31.5.2023). Stattdessen spricht Russland nur von einer 'militärischen Spezialoperation' in der Ukraine (Kreml 9.6.2023).
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern gezeigt haben, kann es in Russland (auch außerhalb der Kaukasus-Region) zu Anschlägen kommen. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf. Im Gebiet der Russischen Föderation ist es in jüngster Zeit wiederholt zu Drohnenangriffen gekommen, auch in Moskau. Mehrere russische Regionen, darunter Moskau, wurden in einem abgestuften System in erhöhte Alarmbereitschaft gesetzt. Diese Anordnungen geben den dortigen lokalen Behörden und Sicherheitskräften Befugnisse zu eingreifenden Sicherheitsmaßnahmen, Kontrollen, Durchsuchungen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit (AA 26.6.2023). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 27.6.2023).
Nach der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan haben Russland und Tadschikistan ihr Militärbündnis gestärkt und gemeinsame Übungen an der tadschikisch-afghanischen Grenze abgehalten, um die Grenzsicherheit zu erhöhen (USDOS 27.2.2023). Gemäß dem aktuellen Globalen Terrorismus-Index (2023), welcher die Einwirkung von Terrorismus je nach Land misst, belegt Russland den 45. von insgesamt 93 Rängen. Dies bedeutet, Russland befindet sich auf niedrigem Niveau, was den Einfluss von Terrorismus betrifft (IEP 3.2023).
Die folgende Karte stellt sicherheitsrelevante Ereignisse innerhalb Russlands im Zeitraum 1.1.-23.6.2023 dar, wobei hier zwei Kategorien angezeigt werden: Kampfhandlungen (gelb) und Explosionen/'remote violence' (rot). Die dunkelgrauen Punkte beinhalten sowohl Kämpfe als auch Explosionen/'remote violence'. Wie auf der Karte zu sehen ist, konzentrieren sich die sicherheitsrelevanten Ereignisse auf westliche Teile Russlands (ACLED o.D.):
Sicherheitsrelevante Ereignisse innerhalb Russlands im Zeitraum 1.1.-23.6.2023
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Nordkaukasus
Letzte Änderung: 04.07.2023
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert. Die Zahl der Opfer gewalttätiger Zusammenstöße hat in den letzten Jahren abgenommen. Es ist nicht mehr von einer breiten islamistischen Bewegung im Nordkaukasus auszugehen, wenngleich es vereinzelt zu Anschlägen kommt, die von den Behörden auch mit dem 'Islamischen Staat' (IS) in Verbindung gebracht werden. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat bisher keinen Einfluss auf die Sicherheitssituation im Nordkaukasus gehabt (ÖB 30.6.2022). Niederschwellige militante terroristische Aktivitäten sowie vermehrte Anti-Terror-Aktivitäten und Bemühungen um eine politische Konsolidierung sind feststellbar (OSAC 8.2.2021). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus deutlich zurückgegangen ist (ÖB 30.6.2021). Gemäß dem Online-Medienportal 'Kaukasischer Knoten' fielen zwischen Jänner 2022 und Mai 2023 insgesamt 19 Personen dem bewaffneten Konflikt im Nordkaukasus zum Opfer. Jeweils vier dieser Personen wurden in Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien und der Region Stawropol getötet, zwei in Kabardino-Balkarien und eine Person in Nordossetien (KU 5.6.2023; vgl. KU 9.5.2023, KU 5.4.2023, KU 5.1.2023, KU 4.10.2022, KU 6.7.2022, KU 5.4.2022). Terroranschläge ziehen staatlicherseits unter anderem kollektive Bestrafungsformen nach sich. Dies bedeutet, Familienangehörige werden für die Taten ihrer Verwandten zur Verantwortung gezogen (RUSI 30.7.2021) und müssen gemäß gesetzlichen Vorgaben Schadenersatz leisten (USDOS 20.3.2023).
Tschetschenien
Die tschetschenischen Sicherheitskräfte handeln außerhalb der russischen Verfassung und Gesetzgebung (Dekoder 10.2.2022). Tschetschenische Strafverfolgungsorgane werfen vermeintlichen Salafisten und Wahhabiten unbegründet terroristische Machenschaften vor und erzwingen Geständnisse durch Folter (USCIRF 10.2021). Regelmäßig wird aus Tschetschenien über Sabotage- und Terrorakte gegen Militär und Ordnungskräfte, über Feuergefechte mit Mitgliedern bewaffneter Gruppen, Entführungen sowie Druck auf Familienangehörige von Mitgliedern illegaler bewaffneter Formationen berichtet. In verschiedenen Teilen der Republik Tschetschenien werden in regelmäßigen Abständen Antiterroroperationen durchgeführt (KU 29.3.2023b). Tschetschenische Behörden wenden regelmäßig kollektive Bestrafungsformen bei Familienangehörigen vermeintlicher Terroristen an, beispielsweise indem Familienangehörige dazu gezwungen werden, die Republik zu verlassen (USDOS 20.3.2023). In Tschetschenien gibt es eine Anti-Terrorismus-Kommission, deren Vorsitzender das Republikoberhaupt Kadyrow ist (NAK o.D.a). Im September 2018 wurde ein Grenzziehungsabkommen zwischen Tschetschenien und der Nachbarrepublik Inguschetien unterzeichnet, was in Inguschetien zu Massenprotesten der Bevölkerung führte und in der Gegenwart noch für gewisse Spannungen zwischen den beiden Republiken sorgt (KU 15.11.2021).
Dagestan
Von offizieller Seite wurde im Jänner 2019 die praktisch vollständige Liquidierung des bewaffneten Widerstands in Dagestan verkündet, vereinzelt kommt es dennoch zu bewaffneten Zwischenfällen. Im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen mutmaßliche Terroristen bzw. Anhänger extremistischer Überzeugungen (dazu zählen auch in Dagestan die Zeugen Jehovas) (ÖB 30.6.2022). In Dagestan nimmt der Widerstand immer mehr die Form von Sabotageakten und von Partisanen-Aktivitäten an (KU 12.5.2023). Es gibt in Dagestan eine Anti-Terrorismus-Kommission, welche vom Republikoberhaupt Melikow geleitet wird (NAK o.D.b).
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Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 29.06.2023
Gemäß der Verfassung ist die Russische Föderation ein Rechtsstaat, Richter sind unabhängig, und Gerichtsverhandlungen sind mit Ausnahme gesetzlich geregelter Fälle öffentlich (Verfassungsartikel 1, 120 und 123). Die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes und des Obersten Gerichtshofes werden vom Föderationsrat auf Vorschlag des russischen Präsidenten ernannt. Mitglieder der anderen Gerichtshöfe auf föderaler Ebene werden vom russischen Präsidenten ernannt (Art. 128). Der Präsident der Russischen Föderation initiiert die Entlassung der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes und des Obersten Gerichtshofes (Art. 83). Der Generalstaatsanwalt und sein Stellvertreter sowie die Staatsanwälte der Subjekte der Russischen Föderation werden nach Beratungen mit dem Föderationsrat vom russischen Präsidenten ernannt und von diesem entlassen (Art. 129). Föderale Gesetze gelten für das gesamte Territorium der Russischen Föderation. Gesetze und andere rechtliche Bestimmungen der Subjekte der Russischen Föderation dürfen föderalen Gesetzen nicht widersprechen. Im Falle eines Widerspruchs gilt das föderale Gesetz. Republiken haben ihre eigene Rechtsordnung, solange dadurch die Kompetenzen der Russischen Föderation unberührt bleiben (Verfassungsartikel 76) (Duma 6.10.2022). Gemäß dem Verfassungsartikel 79 werden Entscheidungen internationaler Institutionen, welche der Verfassung der Russischen Föderation widersprechen, in der Russischen Föderation nicht vollstreckt (Duma 6.10.2022; vgl. BPB 2.7.2020, KAS 7.2020).
Die Rechtsstaatlichkeit wird von Russlands politischer Führung oft untergraben, um die Stabilität des politischen Systems aufrechtzuerhalten (BS 2022). Gemäß dem Rechtsstaatlichkeitsindex des World Justice Project nimmt Russland aktuell den 107. Rang von insgesamt 140 Ländern ein und befindet sich zwischen den Ländern Libanon und Côte d'Ivoire (WJP o.D.). Das Justizwesen in Russland ist nicht unabhängig (SWP 19.4.2022; vgl. UN-HRC 1.12.2022, FH 2023). In der Praxis wird die Justiz von der Exekutive kontrolliert (BS 2022; vgl. FH 19.4.2022). Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genügend Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB 30.6.2022). Richter des Verfassungsgerichtshofes dürfen ihre abweichenden Meinungen nicht öffentlich machen (UN-HRC 1.12.2022).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet grundsätzlich nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 28.9.2022). Das Justizwesen ist von Korruption befallen (BS 2022). Gemäß Berichten geraten seit Russlands Ukraine-Invasion Rechtsanwälte immer mehr ins Visier. Beispielsweise wird ihnen der Zugang zu Mandanten auf Polizeistationen und die Vertretung ihrer Mandanten bei Gerichtsverhandlungen verwehrt (EUAA 16.12.2022b). Es kommt vor, dass Rechtsanwälte ungerechtfertigten Disziplinarverfahren und strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sind, insbesondere wenn sie Teilnehmer an Anti-Kriegsprotesten verteidigen (UN-HRC 1.12.2022). Es gibt Berichte über Anwälte, welche verhaftet wurden, weil sie Opfer politischer Repressionen unterstützt haben (EUAA 16.12.2022b).
Schutzmaßnahmen gegen willkürliche Verhaftung und andere Garantien zur Durchführung ordnungsgemäßer Verfahren werden regelmäßig verletzt (FH 2023). Gemäß den gesetzlichen Vorgaben dürfen Inhaftierte die Gesetzmäßigkeit ihrer Inhaftierung gerichtlich überprüfen lassen. Wegen der mangelnden Unabhängigkeit des Justizsystems schließen sich Richter für gewöhnlich der Ansicht des Ermittlers an und weisen Beschwerden Angeklagter ab. Angeklagte und ihre Rechtsvertreter müssen bei Gerichtsverhandlungen persönlich oder über Video anwesend sein. Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung sowie das Recht auf ein faires und öffentliches Gerichtsverfahren. Diese Rechte werden nicht immer respektiert (USDOS 20.3.2023). Vertreter der Opposition und der kritischen Zivilgesellschaft können in Ermittlungsverfahren und vor Gericht nicht auf eine faire Behandlung bzw. einen fairen Prozess vertrauen (AA 28.9.2022). Gerichtsverfahren enden sehr selten mit Freisprüchen (USDOS 20.3.2023). Das öffentliche Vertrauen in die Justiz ist gering (UN-HRC 1.12.2022; vgl. LZ 20.9.2022).
Es ist gesetzlich vorgesehen, dass Personen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen klagen können. Jedoch sind diese Mechanismen oft nicht effektiv (USDOS 20.3.2023). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (Europarat 16.3.2022). Zunächst hatte der Europarat wegen des bewaffneten russischen Angriffs auf die Ukraine die Mitgliedschaftsrechte Russlands im Europarat suspendiert (Europarat 25.2.2022). Russland war dem Europarat 1996 beigetreten (Europarat 16.3.2022). Seit 16.9.2022 ist Russland keine Vertragspartei der vom Europarat geschaffenen Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mehr (Europarat 16.9.2022; vgl. Europarat o.D.b). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt die Einhaltung der EMRK sicher. Bürger können sich, nachdem die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind, mit Beschwerden direkt an ihn wenden (Europarat o.D.). Seit 16.9.2022 haben russische Bürger kein Recht mehr, den EGMR anzurufen (SWP 19.4.2022). Der EGMR ist weiterhin für die Bearbeitung von Beschwerden gegen Russland zuständig, welche bis 16.9.2022 eingereicht wurden. Das Ministerkomitee des Europarats überwacht weiterhin die Umsetzung der Urteile (Europarat 16.9.2022). Gemäß einer von der Russischen Föderation verabschiedeten Gesetzesänderung vom Juni 2022 unterliegen Beschlüsse des EGMR, welche nach dem 15.3.2022 in Kraft traten, aber nicht mehr der Vollstreckung in der Russischen Föderation (RF 11.6.2022). Vor dem EGMR waren mit Stand 30.4.2023 15.700 Beschwerden gegen Russland anhängig (ECHR 30.4.2023).
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Tschetschenien und Dagestan
Letzte Änderung: 29.06.2023
Föderale Gesetze gelten für das gesamte Territorium der Russischen Föderation. Republiken haben ihre eigene Rechtsordnung, solange dadurch die Kompetenzen der Russischen Föderation unberührt bleiben (Verfassungsartikel 76) (Duma 6.10.2022). Die Situation in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit in Tschetschenien und Dagestan ist problematisch. Vor allem bleiben schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, begangen von Vertretern der föderalen und regionalen Behörden, straffrei. Es kommt vor, dass Rechtsanwälte, welche ihre Mandanten verteidigen, Angriffen durch Strafverfolgungsbehörden im Nordkaukasus ausgesetzt sind (COE 3.6.2022).
Tschetschenien
Tschetschenien verwaltet sich im Rechtsbereich weitgehend selbst (KAS 12.12.2022). Gemäß Artikel 96 der tschetschenischen Verfassung gibt es in Tschetschenien föderale Gerichte, den Verfassungsgerichtshof und Friedensrichter. Friedensrichter sind als Gericht erster Instanz für die Überprüfung von Zivil-, Verwaltungs- und strafrechtlichen Fällen zuständig (Artikel 101 der tschetschenischen Verfassung) (RT 23.3.2003). Behörden verletzen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren. Das Justizsystem dient als Vergeltungsmaßnahme gegen Personen, welche Fehlverhalten des tschetschenischen Republikoberhaupts Kadyrow aufdecken (USDOS 20.3.2023). Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Es herrscht ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht (Adat; einschließlich der Tradition der Blutrache) und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 28.9.2022). Gemäß Aussage von Einwohnern Tschetscheniens lautet das grundlegende Gesetz in Tschetschenien 'Ramsan sagte'. Dies bedeutet, Kadyrows mündliche Aussagen sind einflussreicher als die Rechtssysteme und widersprechen diesen möglicherweise (CSIS 24.1.2020).
Das Gewohnheitsrecht (Adat) umfasst zwischenmenschliche Beziehungen wie beispielsweise Vermögensverhältnisse, persönliche und verwandtschaftliche Beziehungen. Es variiert regional und von Sippe zu Sippe und beruht auf dem Prinzip der Wiedergutmachung von Unrecht anstatt Bestrafung (Gumppenberg/Steinbach 2018). Im Gegensatz zum islamischen Recht liegt dem Gewohnheitsrecht (Adat) die kollektive Verantwortung für Rechtsverletzungen zugrunde (RAPSI 4.4.2022). Da es im Rahmen des Gewohnheitsrechts keine individuelle Verantwortung gibt, steht nicht der Täter im Mittelpunkt, sondern dessen Familienclan. Dieser trägt die Verantwortung. Um Stammeskriege und die Ausrottung ganzer Gemeinschaften zu vermeiden, sieht das Gewohnheitsrecht bestimmte Verfahren vor, um die Sippe des Opfers zu versöhnen und Verletzung sowie Verlust auszugleichen (Gumppenberg/Steinbach 2018). In Tschetschenien ist die Praxis der kollektiven Verantwortung weitverbreitet (KR 2.3.2023). Zum Adat gehört beispielsweise der alte Brauch der Blutrache (RAPSI 4.4.2022; vgl. Gumppenberg/Steinbach 2018). Die Blutrache entstand zum Schutz der Ehre und des Vermögens im Rahmen der Sippenstruktur und verpflichtet die Angehörigen eines Ermordeten, sich an dem Mörder oder dessen Angehörigen zu rächen. Blutrache hat keine Verjährungsfrist. Es gab Fälle, in welchen die Blutrache nach 50 oder 100 Jahren vollzogen wurde, als der Mörder und dessen nahe Verwandte bereits verstorben waren. Aus Gründen der Selbsterhaltung wurde eine Reihe von Methoden ausgearbeitet, um dem Morden ein Ende zu setzen und stattdessen Geldstrafen einzuführen. 2010 gründete Kadyrow die 'Kommission für nationale Versöhnung', welche darauf abzielte, Blutfehdekonflikte zu lösen. In Tschetschenien existieren Versöhnungskommissionen zur Lösung von Konflikten (KU 1.2.2023). Nach wie vor gibt es Clans, die Blutrache praktizieren (AA 28.9.2022; vgl. KU 1.2.2023). Die Einstellung der tschetschenischen Führung zur Blutrache ist oft situationsabhängig (KR 27.2.2023). Gemäß § 105 des russischen Strafgesetzbuches zieht Mord mit dem Motiv der Blutrache eine Freiheitsstrafe von 8-20 Jahren, eine lebenslange Freiheitsstrafe oder die Todesstrafe nach sich (RF 28.4.2023). Seit 1996, als Russland Mitglied des Europarats wurde, ist die Todesstrafe aufgrund eines Moratoriums ausgesetzt (AI 5.2023; vgl. CCDPW 27.3.2012, OSCE 7.10.2022).
Im islamischen Rechtssystem (Scharia) trägt nur der Einzelne die Schuld für begangene Taten. Traditionelle Hauptanwendungsgebiete für die Scharia sind Familien-, Erbrecht und teilweise Vermögensrecht (Gumppenberg/Steinbach 2018).
Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz. Hierzu gehören Menschenrechtsaktivisten, sexuelle Minderheiten, Oppositionelle, Regimekritiker, Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, sowie Personen, die sich gegen Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. dessen Clan aufgelehnt haben. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen auf Instagram veröffentlicht. Teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie angeblich Feinde des tschetschenischen Volkes sind, oder er ruft offen dazu auf, sie umzubringen (AA 28.9.2022).
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Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 29.06.2023
Das Innenministerium, der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee, die Generalstaatsanwaltschaft und die Nationalgarde sind für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Staatssicherheit, Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung, Korruptionsbekämpfung sowie Bekämpfung des organisierten Verbrechens befasst. Die Nationalpolizei untersteht dem Innenministerium und ist für Verbrechensbekämpfung zuständig. Die Nationalgarde unterstützt den Grenzwachdienst des FSB bei der Grenzsicherung, ist für Waffenkontrolle sowie den Schutz der öffentlichen Ordnung verantwortlich, bekämpft Terrorismus und das organisierte Verbrechen und bewacht wichtige staatliche Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes in Koordination mit dem Verteidigungsministerium teil (USDOS 20.3.2023). Maßnahmen im Bereich Terrorismusbekämpfung werden vom Nationalen Anti-Terrorismus-Komitee koordiniert (USDOS 27.2.2023). Zivilbehörden halten im Allgemeinen eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Gegen Beamte, die missbräuchliche Handlungen setzen und in Korruption verwickelt sind, werden selten strafrechtliche Schritte unternommen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führt (USDOS 20.3.2023). Ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 28.9.2022). Die Polizei wendet häufig übermäßige Gewalt an (FH 2023). Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen 'fremdländischen' Aussehens oft Opfer von Misshandlungen durch Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden (AA 28.9.2022).
Laut gesetzlichen Vorgaben dürfen Verdächtige für eine Dauer von maximal 48 Stunden ohne gerichtliche Genehmigung inhaftiert werden - vorausgesetzt, es gibt Beweise oder Zeugen. Anderenfalls ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete werden von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Inhaftierten muss die Möglichkeit gegeben werden, Angehörige telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt ordnet die Geheimhaltung der Inhaftierung an. Verhaftete müssen von der Polizei innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor haben sie das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu sehen. Spätestens 12 Stunden nach der Festnahme muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Polizei muss Festgenommene nach 48 Stunden gegen Kaution freilassen - es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, die Inhaftierungsdauer auszudehnen. Zuvor (mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haftdauer) muss die Polizei einen diesbezüglichen Antrag eingereicht haben. Im Allgemeinen werden von den Behörden die rechtlichen Beschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (USDOS 20.3.2023).
Tschetschenien
Die tschetschenischen Sicherheitskräfte bestehen aus (ORYX 23.11.2022):
dem 141. motorisierten Spezialregiment 'A. Ch. Kadyrow'
dem 249. motorisierten Spezialbataillon 'Süden'
der Schnellen Sondereingriffseinheit 'Achmat' (SOBR)
der Mobilen Einheit für Sonderaufgaben 'Achmat-Grosnyj' (OMON)
dem Polizeiregiment für Sonderaufgaben 'A. A. Kadyrow' (PPSN) und
uniformierten Polizeitruppen.
Im Juni 2022 verkündete das Republikoberhaupt Kadyrow die Gründung von vier zusätzlichen Bataillonen zur Unterstützung der russischen Kämpfer in der Ukraine (ORYX 23.11.2022). Die Zivilbehörden auf nationaler Ebene üben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien aus. Diese sind nur Kadyrow gegenüber rechenschaftspflichtig (USDOS 20.3.2023; vgl. ÖB 30.6.2022). Mit den sogenannten Kadyrowzy verfügt Kadyrow über eine persönliche Armee (FPRI 15.6.2022). Bei den Kadyrowzy handelt es sich formal um Einheiten der tschetschenischen Nationalgarde, deren zahlenmäßige Stärke geheim ist. Russische Quellen nennen Zahlen zwischen 10.000 und 18.000 Soldaten (TELEPOLIS 9.7.2022). Theoretisch übt die russische Nationalgarde die Kontrolle über die Kadyrowzy aus, welche allerdings faktisch von Kadyrow kontrolliert werden (ORYX 23.11.2022). Die Kadyrowzy werden für zahlreiche Missbrauchshandlungen verantwortlich gemacht, darunter willkürliche Festnahmen, Folter und außergerichtliche Tötungen. Strafrechtliche Konsequenzen haben die Handlungen der Kadyrowzy nicht (EUAA 16.12.2022a). Die Kadyrowzy kommen im Ukraine-Krieg zum Einsatz (KU 7.4.2023).
Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem langen Arm des Regimes von Republikoberhaupt Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von NGOs auch in Moskau präsent. Es wird von Einzelfällen berichtet, in denen entweder die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden (welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme haben) Flüchtende in andere Landesteile verfolgen, sowie von Angehörigen sexueller Minderheiten, die gegen ihren Willen von anderen russischen Regionen nach Tschetschenien zurückgeholt wurden (AA 28.9.2022).
[…]
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 29.06.2023
Folter, Gewalt sowie unmenschliche bzw. grausame oder erniedrigende Behandlung und Strafen sind in Russland auf Basis des Art. 21 der Verfassung verboten (Duma 6.10.2022). Die Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe wurde von Russland 1987 ratifiziert. Das Zusatzprotokoll hat Russland nicht unterzeichnet (UN-OHCHR o.D.). Die Zufügung körperlicher oder seelischer Schmerzen durch systematische Gewaltanwendung wird gemäß § 117 Strafgesetzbuch mit Freiheitsbeschränkung von bis zu drei Jahren, Zwangsarbeit von bis zu drei Jahren oder Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren bestraft. Wird dieselbe Tat beispielsweise von mehreren Personen oder mit besonderer Grausamkeit begangen, ist das Opfer eine minderjährige Person oder wird die Tat zum Beispiel aus politischen, ideologischen oder religiösen Motiven begangen, hat dies Freiheitsentzug von 3 - 7 Jahren zur Folge. Gemäß § 286 Strafgesetzbuch führt die Anwendung von Folter im Rahmen der Überschreitung von Amtsbefugnissen zu Freiheitsentzug von 4 - 12 Jahren (RF 28.4.2023).
Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut (ÖB 30.6.2022). Die Polizei nutzt Folter, um Andersdenkende unter Druck zu setzen. Im März 2022 berichteten mehrere Demonstranten und Demonstrantinnen, die bei Antikriegskundgebungen festgenommen worden waren, auf Polizeiwachen gefoltert oder anderweitig misshandelt worden zu sein (AI 28.3.2023). In den Haftanstalten sind Folter und andere Misshandlungen an der Tagesordnung (AI 28.3.2023) und die dafür Verantwortlichen werden selten strafrechtlich verfolgt (AI 28.3.2023; vgl. ÖB 30.6.2022). Foltervorwürfe werden nicht effektiv untersucht (UN-HRC 1.12.2022). Gemäß Berichten kommt es vor, dass Journalisten und Aktivisten, welche über Folterfälle in Gefängnissen berichten, von Behörden strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023). Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für zum Teil schwere Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein (ÖB 30.6.2022). Gemäß zahlreichen Berichten erzwingen Strafverfolgungsbehörden Geständnisse gewaltsam, durch Folter und Missbrauchshandlungen. Es kommt zu Todesfällen aufgrund von Folter (USDOS 20.3.2023). Das Problem der Folter und Erniedrigungen hat systemischen Charakter (Gulagu.net o.D.). Betroffene, welche vor Gericht Foltervorwürfe erheben, werden zunehmend unter Druck gesetzt, beispielsweise durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist kürzer geworden (früher fünf bis sechs Jahre), Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 28.9.2022). Es existieren keine verlässlichen Statistiken zu Folter und Misshandlungen (UN-HRC 1.12.2022).
Nordkaukasus/Tschetschenien
Im Nordkaukasus kommt es zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter und Misshandlungen (UN-HRC 1.12.2022). Gemäß weitverbreiteten Berichten begehen Sicherheitskräfte in nordkaukasischen Haftanstalten Missbrauchshandlungen und wenden Folter an (USDOS 20.3.2023). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet das tschetschenische Republikoberhaupt Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie beispielsweise Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 2023). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit Folter zur Erlangung von Geständnissen einher (AA 28.9.2022). Es herrscht in Tschetschenien diesbezüglich Straflosigkeit (ÖB 30.6.2022).
[…]
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Letzte Änderung: 21.04.2022
Letzte Änderung: 29.06.2023
Vertreter der kritischen Zivilgesellschaft sehen sich unter massivem Druck durch die Behörden (AA 28.9.2022; vgl. SWP 19.4.2022, BS 2022), einschließlich Strafverfolgung mit drohenden Haftstrafen. In Ermittlungsverfahren und vor Gericht können sie nicht auf eine faire Behandlung bzw. einen fairen Prozess vertrauen (AA 28.9.2022). Nach Russlands Invasion in der Ukraine spitzte sich die Unterdrückung von Menschenrechtsverteidigern, zivilgesellschaftlichen Gruppen sowie von Aktivisten noch weiter zu. Vermehrt kommt es zu Polizeirazzien, Todesdrohungen und Verhaftungen (EUAA 16.12.2022b; vgl. COE 31.8.2022). Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen wurden aufgelöst oder werden in ihren Tätigkeiten beträchtlich behindert (UN-HRC 1.12.2022). Kritische NGOs geraten in Russland seit längerer Zeit unter Druck (ÖB 30.6.2022). Die Regierung fördert die Schaffung sogenannter GONGOs, um so das bürgerliche Engagement zu kontrollieren. Als GONGOs werden NGOs bezeichnet, welche von der Regierung organisiert werden. Außerdem zähmt die Regierung zivilgesellschaftliche Organisationen durch staatliche/präsidentielle Subventionen (FH 19.4.2022). Seit 2017 werden gemeinnützige NGOs staatlich vom 'Fonds für präsidentielle Subventionen' unterstützt (FPG o.D.).
Personen oder Vereinigungen, welche ausländische Unterstützung erhalten oder in irgendeiner anderen Form unter ausländischem Einfluss stehen, werden als 'ausländische Agenten' eingestuft (§ 1 des Gesetzes 'Über die Überwachung der Tätigkeit von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen') (RF 28.12.2022). Die Kriterien sind im Gesetz bewusst vage gehalten, um den Behörden einen weiten Zugriff auf alle Organisationen zu ermöglichen, die in den Bereichen Medien, Bildung, Kultur, Ökologie und Menschenrechte tätig sind (BAMF 27.3.2023). 'Ausländische Agenten' müssen sich laut § 7 des oben genannten Gesetzes in ein Register eintragen lassen. Die Entscheidung der Behörde über die Aufnahme ins Register kann gerichtlich angefochten werden (RF 28.12.2022). Mit der Eintragung als 'ausländischer Agent' gehen umfassende Kennzeichnungs‐ und Berichtspflichten sowie zahlreiche Einschränkungen einher (ÖB 30.6.2022). Gemäß § 330.1 des Strafgesetzbuches drohen bei Verstößen gegen diese Verpflichtungen u. a. Geld- oder Haftstrafen von bis zu fünf Jahren (RF 28.4.2023; vgl. EUAA 16.12.2022b). Die Gesetzgebung über 'unerwünschte Organisationen' erlaubt dem Generalstaatsanwalt, ausländische oder internationale Organisationen als 'unerwünscht' zu verbieten, wenn sie die Verfassungsordnung, Verteidigungsfähigkeit oder Staatssicherheit Russlands bedrohen. Das Strafmaß reicht von Geldstrafen bis hin zu sechsjährigen Haftstrafen. Auch ausländische oder internationale NGOs sowie im Ausland lebende russische Bürger werden als 'unerwünscht' eingestuft, wenn sie mit 'unerwünschten' Organisationen im Zusammenhang stehen (EUAA 16.12.2022b). Die Gesetzgebung zu 'ausländischen Agenten' und 'unerwünschten Organisationen' wird immer extensiver angewendet (AA 28.9.2022).
Im Jänner 2023 wurde die 1976 gegründete Menschenrechtsorganisation 'Moskauer Helsinki-Gruppe' per Gerichtsbeschluss aufgelöst (AI 26.1.2023; vgl. MCG 25.1.2023). 2022 wurde Memorial, eine der ältesten russischen Menschenrechtsorganisationen, auf Grundlage einer Gerichtsentscheidung aufgelöst (ÖB 30.6.2022; vgl. Memorial o.D.). Unter anderem wurden Memorial Verstöße gegen die Gesetzgebung zu 'ausländischen Agenten' vorgeworfen (ÖB 30.6.2022). Betroffen von der Zwangsauflösung waren der internationale Dachverband und das Menschenrechtszentrum. Viele regionale Verbände blieben bisher einigermaßen unbehelligt. Deren finanzielle Mittel sind sehr begrenzt (Russland-Analysen 8.12.2022). Im April 2022 wurde die NGO Sfera, welche sich für Rechte von Angehörigen sexueller Minderheiten eingesetzt hat, gerichtlich aufgelöst (EUAA 16.12.2022b). Im selben Monat verweigerten Behörden die Registrierung mehrerer ausländischer NGOs, darunter Amnesty International und Human Rights Watch (HRW 12.1.2023).
Nordkaukasus
Menschenrechtsverteidiger sind im Nordkaukasus Schikanierungen ausgesetzt (UN-HRC 1.12.2022). Internationale NGOs im Menschenrechtsbereich sind dort kaum präsent. Es existieren ein paar örtliche NGOs, welche Menschenrechtsprobleme ansprechen. Sie erörtern selten politisch sensible Themen, um Vergeltungsmaßnahmen lokaler Behörden zu vermeiden (USDOS 20.3.2023). Viele örtliche NGOs wurden geschlossen oder gezwungen, ihre Tätigkeiten auszusetzen (COE 3.6.2022).
Tschetschenien
Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Menschenrechtsaktivisten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppe auf Instagram veröffentlicht. Teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie angeblich Feinde des tschetschenischen Volkes sind, oder er ruft offen dazu auf, sie umzubringen (AA 28.9.2022). Menschenrechtsaktivisten sind schweren Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane ausgesetzt, darunter Folter, Verschwindenlassen von Personen, rechtswidrige Festnahmen und Fälschung von Straftatbeständen (ÖB 30.6.2022; vgl. EEAS 19.4.2022). Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen Straflosigkeit (ÖB 30.6.2022). Die Arbeit unabhängiger NGOs vor Ort ist praktisch unmöglich (AA 28.9.2022).
[…]
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 29.06.2023
Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert gleiche Rechte und Freiheiten für alle Personen, unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Nationalität, Sprache, Herkunft, sozialem Status, Wohnort, Religionszugehörigkeit usw. Gemäß Verfassungsartikel 55 dürfen die Rechte und Freiheiten der Menschen durch die föderale Gesetzgebung nur insoweit eingeschränkt werden, als dies aus folgenden Gründen notwendig ist: zum Schutz der Verfassung, der Moral, Gesundheit, der Rechte und gesetzlichen Interessen anderer Personen, zur Gewährleistung der Landesverteidigung sowie der nationalen Sicherheit (Duma 6.10.2022). Die Grundrechte werden in Russland zwar in der Verfassung garantiert, es besteht jedoch ein deutlicher Widerspruch zwischen verfassungsrechtlichen Normen und der Rechtswirklichkeit (AA 28.9.2022). Russland hat unter anderem folgende internationale Menschenrechtsverträge ratifiziert (UN-OHCHR o.D.):
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau
Internationales Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung
Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
Kinderrechtskonvention
Behindertenrechtskonvention
Aufgrund von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine stimmte die UN-Generalversammlung im April 2022 für den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat (UN 7.4.2022). Die Menschenrechtssituation in Russland hat sich im Laufe der vergangenen Jahre sukzessive verschlechtert (EEAS 19.4.2022). Russland wird von der NGO Freedom House als unfrei in Bezug auf politische Rechte und bürgerliche Freiheiten eingestuft (FH 2023). Freiheitsrechte wurden durch die russische Regierung immer weiter eingeschränkt (SWP 19.4.2022). Um die politische Macht und Stabilität zu stärken, untergräbt Russlands politische Führung oft Bürger- und Menschenrechte sowie die Rechtsstaatlichkeit (BS 2022). Die Regierung geht unerbittlich gegen Menschenrechtsorganisationen vor (FH 2023). Zahlreiche davon wurden aufgelöst oder werden in ihren Tätigkeiten beträchtlich behindert (UN-HRC 1.12.2022). 2022 wurde Memorial, eine der ältesten russischen Menschenrechtsorganisationen, auf Grundlage einer Gerichtsentscheidung aufgelöst (ÖB 30.6.2022; vgl. Memorial o.D.). Die Behörden nutzen neben der Gesetzgebung über 'ausländische Agenten' und 'unerwünschte Organisationen' verschiedene weitere Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger unter Druck zu setzen. Im November 2022 schloss Präsident Putin mehrere prominente Menschenrechtsverteidiger aus dem Menschenrechtsrat des Präsidenten aus und ersetzte sie durch regierungsfreundliche Personen (AI 28.3.2023). Menschenrechtsanwälte geraten zunehmend unter Druck (ÖB 30.6.2022). Mehreren Menschenrechtsanwälten wurde die Anwaltslizenz entzogen, ohne ihnen ein Beschwerderecht einzuräumen (EUAA 16.12.2022b).
Es ist gesetzlich vorgesehen, dass Personen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen klagen können. Jedoch sind diese Mechanismen oft nicht effektiv (USDOS 20.3.2023). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (Europarat 16.3.2022). Seit 16.9.2022 ist Russland keine Vertragspartei der vom Europarat geschaffenen Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mehr (Europarat 16.9.2022; vgl. Europarat o.D.b). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt die Einhaltung der EMRK sicher. Bürger können sich, nachdem die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind, mit Beschwerden direkt an ihn wenden (Europarat o.D.). Seit 16.9.2022 haben russische Bürger kein Recht mehr, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen (SWP 19.4.2022).
Ombudsperson
Die Ombudsperson für Menschenrechte wird laut Artikel 103 der Verfassung der Russischen Föderation vom Parlament (Duma) ernannt und entlassen (Duma 6.10.2022). Zu den Aufgaben der Ombudsperson für Menschenrechte gehören die Kontrolle der Tätigkeiten staatlicher Organe sowie die Bearbeitung von Beschwerden, welche von Bürgern der Russischen Föderation, Staatenlosen oder anderen Personen eingereicht werden (OPMR o.D.a). Jährlich erstellt die Ombudsperson einen Tätigkeitsbericht (OPMR o.D.b). Die Befugnisse der Ombudsperson für Menschenrechte gelten als begrenzt (USDOS 20.3.2023; vgl. OSCE 22.9.2022). In allen Regionen gibt es außerdem regionale Ombudspersonen, deren Wirksamkeit sehr variiert. Örtliche Behörden untergraben oft die Unabhängigkeit der Ombudspersonen (USDOS 20.3.2023).
Menschenhandel
Gemäß § 127.1 des Strafgesetzbuches zieht Menschenhandel eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren nach sich (RF 28.4.2023). Das Strafgesetzbuch definiert den Begriff Menschenhandelsopfer nicht. Die meisten der an Behörden gemeldeten Menschenhandelsfälle werden von der Regierung nicht als Menschenhandel anerkannt, sondern anderen Gesetzesparagrafen zugeschrieben. Dadurch wird das Ausmaß des Problems verschleiert. Regierungsbeamte und die Polizei lassen sich regelmäßig bestechen, um Menschenhandelsfälle zu vertuschen. Die Regierung zeigt kaum Bemühungen zur Unterstützung von Menschenhandelsopfern. Auch existieren keine nationale Strategie und kein nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung von Menschenhandel. Die Regierung hat Aktivitäten mehrerer zivilgesellschaftlicher Gruppen, die gegen Menschenhandel ankämpfen, unterbunden (USDOS 29.7.2022). Menschenhandelsopfer werden regelmäßig inhaftiert, abgeschoben und gerichtlich verfolgt (FH 2023). Die am weitesten verbreitete Form von Menschenhandel in Russland ist der Handel mit Arbeitskräften. Sexhandel kommt vor (USDOS 29.7.2022). Gesetze, die sich gegen Zwangsarbeit richten, werden von der Regierung nicht wirksam umgesetzt (USDOS 20.3.2023). In der Russischen Föderation gibt es Schutzunterkünfte für Opfer von Menschenhandel. Für gewöhnlich werden diese Unterkünfte von örtlichen NGOs verwaltet (IOM 12.2022).
Flüchtlinge
Gesetzlich ist Asylgewährung vorgesehen. Personen, welche nicht als Flüchtlinge anerkannt werden, wird von der Regierung das Recht auf temporären Schutz eingeräumt. In der Praxis wird dieses Prinzip von Behörden nicht konsequent umgesetzt (USDOS 20.3.2023). Für ausländische Flüchtlinge ist es de facto schwierig, einen endgültigen oder zeitlich begrenzten Flüchtlingsschutz zu erlangen (AA 28.9.2022). Die Anerkennungsrate von Asylwerbern, die nicht aus der Ukraine stammen, ist niedrig (UN-HRC 1.12.2022). Mit Stand Oktober 2022 besaßen ca. 93.700 Personen einen temporären Schutzstatus. Es mangelt an klaren Verfahrensregeln. Der Non-Refoulement-Begriff ist gesetzlich nicht ausdrücklich festgeschrieben (USDOS 20.3.2023). Für Personen mit besonderen Bedürfnissen sind keine besonderen Verfahrensmaßnahmen vorgesehen. Personen, welchen Asyl gewährt wurde, sind mit Integrationsschwierigkeiten konfrontiert (UN-HRC 1.12.2022).
Gemäß Berichten sind viele Flüchtlinge aus der Ukraine in Russland in sogenannten Filtrationslagern interniert oder sonstigen Bewegungseinschränkungen ausgesetzt. Es wird über Fälle von Folter, geschlechtsspezifischer Gewalt und Erniedrigung ukrainischer Staatsangehöriger sowie über Zwangsverschleppung ukrainischer Kinder nach Russland berichtet (AA 28.9.2022). Die russischen Behörden legen ukrainischen Flüchtlingen die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft nahe bzw. setzen sie diesbezüglich teilweise auch unter Druck (AI 28.3.2023). Mit Stand 3.10.2022 waren in der Russischen Föderation 2.852.395 Flüchtlinge aus der Ukraine registriert (UNHCR o.D.).
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Tschetschenien, Kritiker, Tschetschenienkrieg-Kämpfer
Letzte Änderung: 29.06.2023
In Tschetschenien stellt sich die Menschenrechtssituation als äußerst beunruhigend dar (FCDO 12.2022). Die weitverbreiteten Menschenrechtsverletzungen sind staatlichen Akteuren zuzuschreiben (EUAA 16.12.2022b). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet das Republiksoberhaupt Kadyrow unterschiedliche Gewaltformen an, beispielsweise Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 2023; vgl. Europarat 3.6.2022). Es kommt zu Massenrazzien und Massenentführungen (KR 27.3.2023). Einige der Entführten werden von den Behörden unter Druck gesetzt, in der Ukraine zu kämpfen (AI 28.3.2023). Auch kollektive Bestrafungen kommen zur Anwendung (EUAA 16.12.2022b). Die Stabilisierung der Sicherheitslage erfolgt um den Preis gravierender Menschenrechtsverletzungen, darunter menschen- und rechtsstaatswidriges Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige. Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, Verschwindenlassen, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in welchen gefoltert wird, einher (AA 28.9.2022). Kadyrow billigt, beruhend auf seinen religiösen Ansichten, schwerwiegende Menschenrechtsverstöße gegen Frauen, sexuelle Minderheiten usw. (USCIRF 4.2022). Frauen werden Opfer von Ehrenmorden (USDOS 20.3.2023). Es gibt Clans, die Blutrache praktizieren (AA 28.9.2022; vgl. KU 1.2.2023). Mit der Unterstützung Moskaus wird gewaltsam gegen religiöse Minderheiten vorgegangen (USCIRF 10.2021). Zwischen 2019 und 2021 verschwanden in Tschetschenien 4.984 Personen spurlos. Tschetschenien gehört zu denjenigen Regionen, in welchen Verschwundene am seltensten wiedergefunden werden (KR 28.3.2023). Russland ist dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen nicht beigetreten (UN-OHCHR o.D.).
Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, begangen von Vertretern der föderalen und regionalen Behörden, bleiben straffrei (Europarat 3.6.2022). Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz. Hierzu gehören Menschenrechtsaktivisten, sexuelle Minderheiten sowie Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Menschenrechtsaktivisten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppe auf Instagram veröffentlicht. Teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie angeblich Feinde des tschetschenischen Volkes sind, oder er ruft offen dazu auf, sie umzubringen (AA 28.9.2022). Menschenrechtsaktivisten sind schweren Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane ausgesetzt, darunter Folter, Verschwindenlassen, rechtswidrige Festnahmen und Fälschung von Straftatbeständen (ÖB 30.6.2022; vgl. EEAS 19.4.2022). Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht (ÖB 30.6.2022). In Tschetschenien gibt es eine regionale Ombudsperson für Menschenrechte. Dieses Amt bekleidet derzeit Mansur Soltaew (OMRT o.D.).
Kritiker
Tschetschenische Behörden unterdrücken alle Formen abweichender Meinungen (HRW 12.1.2023). Kadyrow droht denjenigen Personen öffentlich, welche ihn und seine Familie kritisieren (UK-VI 17.11.2022). Mit der Unterstützung Moskaus wird gewaltsam gegen Kritiker des Kadyrow-Regimes vorgegangen (USCIRF 10.2021). Regimekritiker müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten sowie physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen (AA 28.9.2022). In mehreren Fällen kam es zu Folterungen (KR 27.3.2023). Auch kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 28.9.2022). Bürger, welche sich über örtliche Angelegenheiten beschweren (beispielsweise Krankenhausschließung), sind Belästigungen oder Demütigungen ausgesetzt (UK-VI 17.11.2022). Kritiker des Kadyrow-Regimes werden systematisch zu Entschuldigungen gezwungen (KU 29.3.2023).
Oppositionelle, Regimekritiker und Personen, die sich gegen Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. dessen Clan aufgelehnt haben, genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 28.9.2022). Wer aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt wird, kann nicht mit einem fairen Gerichtsverfahren rechnen (UK-VI 17.11.2022). Die Opposition hat sich wegen der Unmöglichkeit von Straßenprotesten in Tschetschenien in soziale Netze und Messenger verlagert. Einer der bekanntesten Oppositionskanäle ist der Telegram-Kanal 1ADAT. Die Inhalte von 1ADAT wurden gerichtlich als extremistisch eingestuft (KU 13.2.2022). 1ADAT steht dem tschetschenischen Republiksoberhaupt Kadyrow äußerst kritisch gegenüber (USDOS 20.3.2023) und lässt regelmäßig Stimmen tschetschenischer Dissidenten zu Wort kommen (HRW 12.1.2023). Der Kanal sammelt Informationen über Verbrechen in Tschetschenien und führt eine Entführungsstatistik (KU 13.2.2022). Mitarbeiter von 1ADAT sind Festnahmen und Folter durch die 'Kadyrowzy' ausgesetzt (KU 13.2.2022; vgl. KR 23.8.2022). Die Kadyrowzy stellen die persönliche Armee von Kadyrow dar (FPRI 15.6.2022). Sie werden für zahlreiche Missbrauchshandlungen verantwortlich gemacht, darunter willkürliche Festnahmen, Folter und außergerichtliche Tötungen. Strafrechtliche Konsequenzen haben die Handlungen der Kadyrowzy keine (EUAA 16.12.2022a). [zum Begriff Kadyrowzy Näheres im Kapitel Sicherheitsbehörden]
Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem Regime Kadyrows nicht sicher. Sicherheitskräfte, welche Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von NGOs auch in Moskau präsent. Jedenfalls stehen Tschetschenen in größeren russischen Städten unter Beobachtung ihrer Landsleute, und 'falsches' Verhalten kann ebenfalls das Interesse der tschetschenischen Sicherheitsstrukturen wecken (ÖB 30.6.2022). Gemäß Berichten verfolgen in Einzelfällen die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden (welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme haben) Flüchtende in andere Landesteile. Auch wird von verschiedenen Personengruppen berichtet, die gegen ihren Willen von einem innerstaatlichen Zufluchtsort nach Tschetschenien zurückgeholt und dort Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind. Zu den Betroffenen gehören Oppositionelle und Regimekritiker, darunter ehemalige Kämpfer und Anhänger der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung (AA 28.9.2022; vgl. KU 22.2.2023, Meduza 23.8.2022). In mehreren Fällen wurden Kritiker Kadyrows, welche außerhalb Russlands lebten, Opfer von Attentaten (KR 31.1.2023; vgl. FH 6.2022). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien für diejenigen Personen ergeben, welche bereits vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB 30.6.2022). Im Dezember 2022 wurden einige Familienmitglieder von fünf tschetschenischen Bloggern und Aktivisten, welche im Ausland leben und Kadyrow online kritisiert haben, durch tschetschenische Sicherheitskräfte misshandelt und in Isolationshaft gehalten. Die Familien wurden gezwungen, sich zu entschuldigen und sich öffentlich von ihren Verwandten im Exil loszusagen (HRW 12.1.2023).
Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen (auf der Grundlage in ihrer Heimatregion erlassener Rechtsakte) in anderen Gebieten Russlands in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, können Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig gemacht werden (AA 28.9.2022). Die russischen Behörden setzen Kameras mit Gesichtserkennungssoftware ein, um Personen festzunehmen. Solche Kameras sind beispielsweise in der Moskauer U-Bahn installiert (FH 18.10.2022). Unter dem Vorwand der Pandemie-Bekämpfung wird die Gesichtserkennungssoftware in Großstädten flächendeckend eingesetzt (AA 28.9.2022). Bei polizeilichen Personenkontrollen ist Racial Profiling verbreitet (AA 28.9.2022; vgl. UN-HRC 1.12.2022). Racial Profiling steigerte sich gemäß Berichten während der COVID-Pandemie und wird durch die Nutzung neuer Technologien intensiviert (UN-HRC 1.12.2022). Seit langer Zeit missbraucht Russland die von Interpol betriebenen 'red notices' ('rote Ausschreibungen'), um Regimekritiker ausfindig zu machen (Politico 27.7.2022). 'Red notices' informieren weltweit die Polizei über international gesuchte Personen und fordern Gesetzesvollzugsorgane dazu auf, die betreffenden Personen ausfindig zu machen und vorübergehend (bis zu einer Auslieferung usw.) festzunehmen (Interpol o.D.).
Tschetschenienkrieg-Kämpfer
Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen. Prominentes Beispiel dafür ist der Kadyrow‐Clan selbst, welcher im Zuge der Tschetschenienkriege vom Rebellen‐ zum Vasallentum wechselte (ÖB 30.6.2022).
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Meinungs- und Pressefreiheit, Internet
Letzte Änderung: 29.06.2023
Artikel 29 der Verfassung garantiert Meinungsfreiheit und verbietet Zensur (Duma 6.10.2022). Derzeit herrscht eine Kriegszensur (SWP 19.4.2022). Presse- und Meinungsfreiheit sind eingeschränkt (BS 2022; vgl. UN-HRC 1.12.2022), insbesondere in Bezug auf kriegskritische Aussagen (UN-HRC 1.12.2022). Wer sich offen gegen den Krieg in der Ukraine ausspricht, muss mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen (AI 28.3.2023). Journalisten dürfen gemäß einer Entscheidung der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor ausschließlich Informationen der russischen Regierung verwenden, wenn sie über den Ukraine-Krieg berichten. Ansonsten drohen Geldstrafen und Blockierung von Webseiten (UN-HRC 1.12.2022). Die Verwendung der Begriffe Krieg, Angriff und Invasion im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ist verboten. Stattdessen ist der Begriff der 'militärischen Spezialoperation' zu benutzen (SWP 19.4.2022). Die Diskreditierung der Armee kann gemäß § 280.3 des Strafgesetzbuches zu einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren führen. Bei öffentlicher Verbreitung von Falschinformationen über die Armee droht eine Haftstrafe von bis zu 15 Jahren (§ 207.3 des Strafgesetzbuches) (RF 28.4.2023). Die Maßnahmen haben zur Folge, dass jegliche abweichende Meinung und alternative Informationen über den bewaffneten Konflikt in der Ukraine unterdrückt werden (FNSF 11.2022).
Die Situation unabhängiger Medien und Journalisten hat sich beträchtlich verschlechtert (EEAS 19.4.2022). Immer weniger Medien in Russland sind tatsächlich unabhängig von staatlicher Kontrolle tätig (FNSF 11.2022). Die Regierung subventioniert staatliche Medien mit mehreren Milliarden Rubel jährlich, was den Wettbewerb für unabhängige Medien erschwert (FH 18.10.2022). Laut Berichten betreiben unabhängige Medien in großem Stil Selbstzensur (USDOS 20.3.2023). Es gibt Berichte über Schikanierung von Journalisten, darunter strafrechtliche Verfolgung, Hausdurchsuchungen, Festnahmen, physische Angriffe und Drohungen, auch gegen Familienangehörige von Journalisten (UN-HRC 1.12.2022). Es herrscht diesbezüglich Straflosigkeit (AI 4.2023). Seit Kriegsbeginn wurde gegen Journalisten und Medienmitarbeiter, darunter Blogger, eine beträchtliche Anzahl strafrechtlicher Anklagen erhoben. Beinahe alle führenden unabhängigen Medien haben mittlerweile ihren Sitz ins Ausland verlegt. Nach Entziehung der Drucklizenz entzog der Oberste Gerichtshof im September 2022 der unabhängigen Nowaja Gaseta ['Neue Zeitung'] die Online-Medienlizenz. Die Nowaja Gaseta hatte alle ihre Aktivitäten in Russland bereits im März 2022 ausgesetzt. Mehrere Journalisten der Nowaja Gaseta gründeten einen Online-Vertrieb in Europa, welcher in Russland ebenfalls blockiert ist (EUAA 16.12.2022b). Mit Echo Moskwy wurde der einzig verbliebene landesweite und vom Kreml unabhängige Rundfunksender, mit TV Doschd der letzte unabhängige Fernsehkanal gesperrt (AA 28.9.2022).
Zahlreiche Journalisten und unabhängige Medien wurden als 'ausländische Agenten' und 'unerwünscht' eingestuft, darunter Meduza, Bellingcat und Kaukasischer Knoten (FCDO 12.2022) [zur Gesetzgebung über 'unerwünschte Organisationen' siehe Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten]. Als 'ausländische Agenten' werden laut den gesetzlichen Vorgaben Personen oder Vereinigungen eingestuft, welche ausländische Unterstützung erhalten oder in irgendeiner anderen Form unter ausländischem Einfluss stehen (§ 1 des Gesetzes 'Über die Überwachung der Tätigkeit von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen'). 'Ausländische Agenten' müssen sich laut § 7 des oben genannten Gesetzes in ein Register eintragen lassen. Die Entscheidung der Behörde über die Aufnahme ins Register kann gerichtlich angefochten werden (RF 28.12.2022). Mit der Eintragung als 'ausländischer Agent' gehen umfassende Kennzeichnungs‐ und Berichtspflichten sowie zahlreiche Einschränkungen einher (ÖB 30.6.2022). Gemäß § 330.1 des Strafgesetzbuches drohen bei Verstößen gegen diese Verpflichtungen u. a. Geld- oder Haftstrafen von bis zu fünf Jahren (RF 28.4.2023; vgl. EUAA 16.12.2022b). Die Gesetzgebung zu 'ausländischen Agenten' wird immer extensiver angewendet (AA 28.9.2022) und trägt zur Selbstzensur bei (FH 18.10.2022).
Die gesamte Internet-Kommunikation wird von der Regierung überwacht (USDOS 20.3.2023). Ende Februar 2022 sperrten die Behörden viele Nachrichtenwebseiten, darunter BBC, Deutsche Welle, Bellingcat, Meduza, Mediazona und Radio Free Europe/Radio Liberty (FH 18.10.2022). Soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram und Twitter wurden ebenfalls gesperrt. Der Facebook-Konzern Meta wurde als extremistische Organisation eingestuft (SWP 19.4.2022). Die Anti-Extremismus-Gesetzgebung wird häufig dazu verwendet, die Meinungsfreiheit zu beschränken (UN-HRC 1.12.2022). Über verschiedene Online-Plattformen, welche sich beispielsweise weigerten, bestimmte Inhalte zu entfernen, verhängte die russische Regierung sehr hohe Geldstrafen. Webseiteneigentümer sind berechtigt, Entscheidungen gerichtlich anzufechten. Dafür sind aber oft nur kurze Zeiträume vorgesehen (FH 18.10.2022).
Auf der Rangliste der Pressefreiheit 2023 von Reporter ohne Grenzen rangiert Russland gegenwärtig auf Platz 164 von 180 Staaten/Gebietseinheiten. Russland befindet sich zwischen Bangladesch und der Türkei und verschlechterte sich um neun Plätze gegenüber der Reihung des Vorjahres (RWB o.D.).
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Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition
Letzte Änderung: 29.06.2023
Versammlungsfreiheit
Gemäß Artikel 31 der Verfassung haben Bürger der Russischen Föderation das Recht, friedliche Versammlungen, Demonstrationen und Mahnwachen abzuhalten (Duma 6.10.2022). Öffentliche Kundgebungen müssen genehmigt werden (SWP 19.4.2022). Es existieren zahlreiche Berichte über Einschränkungen der Versammlungsfreiheit (UN-HRC 1.12.2022; vgl. BS 2022, AI 28.3.2023, USDOS 20.3.2023). Die russischen Behörden nehmen COVID als Vorwand, um öffentliche Aktivistenversammlungen pauschal zu verbieten. Regierungsfreundliche Massenveranstaltungen sind von diesem Verbot nicht betroffen (HRW 12.1.2023). Behörden weigern sich, friedliche Proteste zu erlauben, vor allem Anti-Kriegsproteste. Strafverfolgungsbehörden reagieren mit Gewalt auf friedliche Versammlungen (UN-HRC 1.12.2022). Nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine fanden in verschiedenen Teilen Russlands Massenproteste dagegen statt. Die Proteste führten zu Massenverhaftungen und Polizeigewalt. Die massenhafte Einberufung von Reservisten (Mobilisierung) führte im September 2022 zu Protestwellen in verschiedenen russischen Regionen, insbesondere in Gebieten, wo ethnische Minderheiten beheimatet sind, beispielsweise in Dagestan (HRW 12.1.2023). Die Anti-Mobilisierungsproteste wurden regelmäßig mit Polizeigewalt sowie willkürlichen Massenverhaftungen von Aktivisten, Demonstranten und Journalisten beantwortet (EUAA 16.12.2022b). In Dagestan hielten die Massenproteste einige Tage an. Sie wurden von den Behörden gewaltsam niedergeschlagen (HRW 12.1.2023; vgl. KR 17.2.2023), und es kam zu Massenverhaftungen (KU 17.2.2023). Im Zuge der Proteste in Dagestan wurden mehrere Strafverfahren gegen Protestteilnehmer wegen angeblicher Gewalt gegen die Polizei eröffnet (HRW 12.1.2023; vgl. KR 17.2.2023). Seit 24.2.2022 fanden in Russland 19.673 Festnahmen von Kriegsgegnern statt (OWD-Info o.D.). Wegen der repressiven Gesetzgebung sind Demonstrationen in Russland kaum noch möglich (SWP 19.4.2022; vgl. AA 28.9.2022). Behörden setzen Gesichtserkennungstechnologien ein, um Demonstranten zu identifizieren und zu verhaften (FH 2023; vgl. AI 4.2023).
Vereinigungsfreiheit
Artikel 30 der Verfassung garantiert Vereinigungsfreiheit, darunter das Recht auf Gründung von Gewerkschaften (Duma 6.10.2022). Die Vereinigungsfreiheit wird von der Regierung beträchtlich eingeschränkt (USDOS 20.3.2023). Gewerkschaftsrechte sind gesetzlich geschützt, jedoch in der Praxis beschränkt. Streiks und Arbeiterproteste finden beispielsweise in der Autoindustrie statt, aber gewerkschaftliche Diskriminierung und Repressalien sind alltäglich. Arbeitgeber ignorieren oft Tarifverhandlungsrechte. Die größte Arbeitervereinigung arbeitet eng mit dem Kreml zusammen. Unabhängige Vereinigungen sind in mehreren Industriesektoren und Regionen aktiv (FH 2023).
Die Gesetzgebung über 'unerwünschte Organisationen' erlaubt dem Generalstaatsanwalt, ausländische oder internationale Organisationen als 'unerwünscht' zu verbieten, wenn sie die Verfassungsordnung, Verteidigungsfähigkeit oder Staatssicherheit Russlands bedrohen. Das Strafmaß reicht von Geldstrafen bis hin zu sechsjährigen Haftstrafen. Auch ausländische oder internationale NGOs sowie im Ausland lebende russische Bürger werden als 'unerwünscht' eingestuft, wenn sie mit 'unerwünschten' Organisationen im Zusammenhang stehen (EUAA 16.12.2022b). Die Gesetzgebung zu 'unerwünschten Organisationen' wird immer extensiver angewendet (AA 28.9.2022). Gesetze wie 'unerwünschte Organisationen' und 'ausländische Agenten' schränken die Vereinigungsfreiheit beträchtlich ein (UN-HRC 1.12.2022) [zur Gesetzgebung über 'ausländische Agenten' siehe Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten].
Opposition
Die Tätigkeiten von Oppositionsparteien werden eingeschränkt (UN-HRC 1.12.2022). Oppositionsvertreter sehen sich unter massivem Druck durch die Behörden, einschließlich Strafverfolgung mit drohenden Haftstrafen. In Ermittlungsverfahren und vor Gericht können sie nicht auf eine faire Behandlung bzw. einen fairen Prozess vertrauen (AA 28.9.2022). Durch überschießende Anwendung der Anti-Extremismus-Gesetzgebung werden politische Gegner behindert (UN-HRC 1.12.2022). Die letzten Duma- bzw. Parlamentswahlen im September 2021 waren laut Wahlbeobachtern und unabhängigen Medien von beträchtlichen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet, darunter Stimmenkauf, Fälschung von Wahlprotokollen und Druck auf Wähler (FH 24.2.2022; vgl. SWP 14.10.2021, Russland-Analysen 1.10.2021, KAS 21.9.2021). Mit großem Vorsprung gewann die Regierungspartei Einiges Russland die Wahl, so das offizielle Wahlergebnis (FH 24.2.2022). Einiges Russland verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, welche erforderlich ist, um Verfassungsänderungen durchzusetzen. Vier weiteren Parteien gelang der Einzug ins Parlament. Sie werden allesamt als kremltreue 'System-Opposition' bezeichnet (SWP 14.10.2021). Viele regimekritische Kandidaten waren von der Wahl ausgeschlossen worden (SWP 14.10.2021; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021). Neue politische Parteien können in der Regel nur dann registriert werden, wenn sie die Unterstützung der Machthaber im Kreml genießen (AA 28.9.2022; vgl. BS 2022). Anti-System-Oppositionsbewegungen wurden verboten bzw. zur Selbstauflösung gezwungen (KAS 21.9.2021).
Alexej Nawalnyj wäre im August 2020 beinahe einem Mordanschlag zum Opfer gefallen und ist seit Jänner 2021 inhaftiert. Seine politischen Organisationen sind zerschlagen (SWP 19.4.2022). Die Gerichtsverfahren, welche zur Inhaftierung des Oppositionsführers Nawalnyj führten, boten keine Garantien für ein faires Verfahren. Gemäß Berichten ist die strafrechtliche Verfolgung Nawalnyjs politisch motiviert. Die Haftbedingungen fügen Nawalnyjs Gesundheit beträchtlichen Schaden zu (UN-HRC 1.12.2022). Im März 2022 wurde Nawalnyjs Haftstrafe um neun Jahre verlängert, und im Juni 2022 wurde Nawalnyj ins Hochsicherheitsgefängnis IK-6 in der Region Wladimir verlegt. In diesem Gefängnis wird laut verschiedenen Berichten Folter angewandt. Mitarbeiter Nawalnyjs haben Russland verlassen oder wurden verhaftet. Seit Kriegsbeginn wurden auch weitere prominente Oppositionspolitiker verhaftet und gerichtlich verfolgt, darunter Wladimir Kara-Mursa, Ewgenij Rojsman, Ilja Jaschin und Leonid Gosman (EUAA 16.12.2022b).
Das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppe auf Instagram veröffentlicht. Teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie angeblich Feinde des tschetschenischen Volkes sind, oder er ruft offen dazu auf, sie umzubringen. Oppositionelle genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 28.9.2022).
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Haftbedingungen
Letzte Änderung: 29.06.2023
Straftäter werden entweder in sogenannten Ansiedlungskolonien (ähnelt dem freien Vollzug), Erziehungskolonien, Besserungsheileinrichtungen, Strafkolonien mit allgemeinem, strengem oder besonderem Regime (hier sitzt der überwiegende Anteil der Inhaftierten ein), oder in einem Gefängnis untergebracht (AA 28.9.2022). Das Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) des Europarats stattete in der Vergangenheit der Russischen Föderation regelmäßig Besuche ab (Europarat 6.10.2021). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (Europarat 16.3.2022). Die Behörden gestatten Vertretern öffentlicher Aufsichtskommissionen, Gefängnisse regelmäßig zu besuchen, um die Haftbedingungen zu überwachen. Es gibt in fast allen Regionen öffentliche Aufsichtskommissionen. Menschenrechtsaktivisten äußern sich besorgt darüber, dass einige Kommissionsmitglieder behördennahe Personen sowie Personen mit Erfahrung im Gesetzesvollzug sind. Gemäß den gesetzlichen Vorgaben haben Mitglieder von Aufsichtskommissionen das Recht, Insassen in Haftanstalten und Gefängnissen mit ihrer schriftlichen Genehmigung auf Video aufzunehmen und zu fotografieren. Kommissionsmitglieder dürfen außerdem Luftproben sammeln, andere Umweltinspektionen sowie auch Sicherheitsbewertungen durchführen und psychiatrische Einrichtungen in Gefängnissen betreten. Gefangene dürfen Beschwerden bei öffentlichen Aufsichtskommissionen oder beim Büro der Ombudsperson für Menschenrechte einreichen. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen wird diese Möglichkeit aber oft nicht genutzt. Laut Aktivisten riskieren nur Gefangene, die glauben, keine andere Option zu haben, die Folgen einer Beschwerde. Beschwerden, welche bei den Aufsichtskommissionen eingehen, konzentrieren sich häufig auf kleinere persönliche Anliegen (USDOS 20.3.2023).
Die Haftbedingungen entsprechen zum Teil nicht den allgemein anerkannten Mindeststandards. Die Probleme in den Haftanstalten reichen von Misshandlungen, fehlenden Resozialisierungsmaßnahmen bis hin zu mangelnder medizinischer Versorgung (ÖB 30.6.2022) und Nahrungsmittelknappheit (USDOS 20.3.2023). In Haftanstalten kommt es zu Folter (UN-HRC 1.12.2022; vgl. AI 4.2023). Die dafür Verantwortlichen werden selten strafrechtlich verfolgt (AI 28.3.2023). Es kommt vor, dass Journalisten und Aktivisten, die über Folter in Gefängnissen berichten, von Behörden strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023). Die Behörden verbieten Inhaftierten, insbesondere Andersdenkenden, häufig den Kontakt zur Außenwelt oder verlegen sie willkürlich in Strafzellen, um Druck auf sie auszuüben (AI 28.3.2023). Für politische Gefangene gestalten sich die Haftbedingungen gemäß Berichten besonders hart. Sie sind zusätzlichen Strafmaßnahmen ausgesetzt, beispielsweise Verbringung in Einzelhaft oder in die Psychiatrie. Mit Stand Dezember 2022 gab es laut der Menschenrechtsorganisation Memorial 488 politische Gefangene im Land. Gemäß Memorial ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen (USDOS 20.3.2023). Bausubstanz und sanitäre Bedingungen in russischen Haftanstalten entsprechen vielfach nicht westeuropäischen Standards. Die Unterbringung der Inhaftierten erfolgt regelmäßig in Schlafsälen. Die Lage in den Strafkolonien ist sehr unterschiedlich und reicht von Strafkolonien mit annehmbaren Haftbedingungen bis hin zu solchen, die laut NGOs als 'Folterkolonien' berüchtigt sind. Die Haftbedingungen in den Untersuchungshaftanstalten sind besser als in den Strafkolonien. Trotz rechtlich vorgesehener Höchstdauer verlängerten Gerichte die Haft in Einzelfällen über Jahre (AA 28.9.2022).
Für Haftanstalten verantwortlich ist das Justizministerium. Mit Stand 1.1.2023 gab es in Russland insgesamt 433.006 Inhaftierte. 25,5 % der Inhaftierten sind Untersuchungshäftlinge, 8,9 % der Inhaftierten sind weiblich, und 0,2 % der Inhaftierten sind minderjährig. In Summe gibt es 872 Haftanstalten, davon 204 Untersuchungshaftanstalten, 642 Strafkolonien, 8 Gefängnisse und 18 Jugendkolonien. Die offizielle Kapazität des Gefängnissystems beträgt 714.253 Haftinsassen. Die Auslastung betrug mit Stand 31.1.2021 67 %. Während die Gesamtanzahl der Inhaftierten im Jahr 2000 1.060.404 betrug, waren es im Jahr 2020 523.928 Inhaftierte (WPB o.D.). Es gibt Ansätze, vermehrt alternative Sanktionen zu verhängen, um die Anzahl der Gefängnisinsassen zu verringern (AA 28.9.2022). 2022 begannen die Wagner-Gruppe sowie das Verteidigungsministerium Inhaftierte für den Ukraine-Krieg anzuwerben (ISW 11.5.2023; vgl. MT 3.5.2023). Die Wagner-Gruppe ist ein privates Militärunternehmen (ZDF 4.5.2023).
Laut Berichten des 'Komitees Ziviler Beistand' müssen Nordkaukasier in Haftanstalten außerhalb des Nordkaukasus mit Diskriminierung rechnen, was sich zum einen aus einer grundsätzlich negativen Einstellung gegenüber Nordkaukasiern erklärt, zum anderen darin begründet ist, dass russische Veteranen des Tschetschenienkrieges überproportional im Strafvollzug beschäftigt sind. Laut dem 'Komitee zur Verhinderung von Folter' gibt es hingegen keine gezielte staatliche Diskriminierung. Es ist flächendeckend sichergestellt, dass muslimische Strafgefangene Zugang zu Gebetsräumen und Imamen haben. Allerdings werden außer medizinisch indizierten Ernährungsvorgaben keine Speisevorgaben religiöser oder sonstiger Art beachtet. Für muslimische Inhaftierte gestalten sich die Haftbedingungen im Nordkaukasus besser als in den anderen Teilen Russlands, die Möglichkeit zur freien Religionsausübung ist für Muslime im Gegensatz zum (christlichen) Rest der Russischen Föderation gewährleistet. Zudem gelten die materiellen Bedingungen in den offiziellen Haftanstalten in Tschetschenien meist als besser als in vielen sonstigen russischen Haftanstalten. Für tschetschenische Straftäter, an welchen die Sicherheitsbehörden kein besonderes Interesse haben, dürften sich ein Gerichtsstand und eine Haftverbüßung in Tschetschenien in der Regel eher günstig auswirken, da sie zudem auf den Schutz der in Tschetschenien prägenden Clanstrukturen setzen können. Dementsprechend haben tschetschenische Straftäter in der Vergangenheit wiederholt ihre Überstellung nach Tschetschenien betrieben (AA 28.9.2022).
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Todesstrafe
Letzte Änderung: 29.06.2023
Gemäß Artikel 20 der Verfassung hat jeder Mensch das Recht auf Leben, jedoch ist laut der Verfassung für Kapitalverbrechen die Todesstrafe vorgesehen (Duma 6.10.2022). Das Strafgesetzbuch zählt in § 44 folgende Bestrafungsformen auf: Geldstrafe; Berufs- und Tätigkeitsverbote; Entziehung spezieller, militärischer Dienstgrade oder Entziehung von Ehrenrängen bzw. -titeln und staatlicher Auszeichnungen; Pflichtarbeiten; Besserungsarbeiten; Militärdienstbeschränkung; Freiheitsbeschränkung; Zwangsarbeit; Arrest; militärische Disziplinarhaft; zeitlich befristeter Freiheitsentzug; lebenslange Haftstrafe; Todesstrafe. Über Frauen, Minderjährige sowie Männer über 65 darf laut § 59 des Strafgesetzbuches nicht die Todesstrafe verhängt werden (RF 28.4.2023). Seit 1996, als Russland Mitglied des Europarats wurde, ist die Todesstrafe aufgrund eines Moratoriums ausgesetzt (AI 5.2023; vgl. CCDPW 27.3.2012, OSCE 7.10.2022). Der russische Verfassungsgerichtshof hat 1999 entschieden und 2009 bestätigt, dass die Todesstrafe in Russland nicht verhängt werden darf. Man kann somit von einer De-facto-Abschaffung der Todesstrafe sprechen (AA 28.9.2022). Die letzte Vollstreckung eines Todesurteils fand in den 1990er-Jahren statt (Lenta 2.6.2022; vgl. AI 5.2023). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (Europarat 16.3.2022). Das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe wurde von Russland weder unterzeichnet noch ratifiziert (UN-OHCHR o.D.)
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Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Letzte Änderung 03.07.2023
Gemäß Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation haben Männer und Frauen gleiche Rechte und Freiheiten. Der Verfassungsartikel 114 schreibt die Bewahrung traditioneller Familienwerte fest (Duma 6.10.2022). Russland hat die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ratifiziert (UN-OHCHR o.D.). Es existiert eine Nationale Handlungsstrategie für Frauen für den Zeitraum 2023-2030 (Regierung 29.12.2022).
Gemäß § 131 des Strafgesetzbuches kann Vergewaltigung eine bis zu lebenslange Freiheitsstrafe nach sich ziehen (RF 28.4.2023). Vergewaltigung innerhalb der Ehe gilt nicht als Straftat (UN-HRC 1.12.2022). Manchmal weigern sich Polizeibeamte, auf Vergewaltigung oder häusliche Gewalt zu reagieren, wenn die Tat nicht unmittelbar lebensbedrohlich für das Opfer ist. Behörden stufen im Regelfall Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung nicht als lebensbedrohlich ein (USDOS 20.3.2023). Häusliche Gewalt ist weitverbreitet (AA 28.9.2022). Eine gesetzliche Definition für den Begriff häusliche Gewalt fehlt (USDOS 20.3.2023). Strafverfolgungsbehörden sind wenig gewillt, Fälle häuslicher Gewalt gerichtlich zu verfolgen (UN-HRC 1.12.2022). Die Polizei ist nicht befugt, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten, wenn das Opfer keine Anzeige erstattet (USDOS 20.3.2023). Die Anzahl der an die Behörden gemeldeten Fälle ist niedrig, weil Polizei und Justiz nicht angemessen auf die Thematik reagieren (HRW 12.1.2023). Oft drängt die Polizei Opfer häuslicher Gewalt zur Aussöhnung mit den Tätern. Die meisten Fälle häuslicher Gewalt, welche an Behörden herangetragen werden, werden entweder nicht bearbeitet oder an Schlichtungsstellen weitergeleitet. Schlichtungsstellen werden von Friedensrichtern geleitet und verfolgen eher das Ziel des Familienerhalts anstatt Bestrafung der Täter (USDOS 20.3.2023). Ein Opferschutzsystem fehlt (UN-CEDAW 30.11.2021). Opfer häuslicher Gewalt, welche Täter in Notwehr töten, werden im Regelfall inhaftiert (FH 2023).
Laut NGOs stellen von der Regierung betriebene Einrichtungen für Opfer häuslicher Gewalt Sozialwohnungen, medizinische stationäre Betreuungsmöglichkeiten sowie Notunterkünfte zur Verfügung. Der Zugang zu diesen Dienstleistungen ist oft kompliziert und erfordert die Vorlage bestimmter Dokumente, nämlich eine örtliche Wohnsitzbescheinigung und den Nachweis eines niedrigen Einkommens. In vielen Fällen werden diese Dokumente von den Tätern verwaltet und sind für Opfer nicht zugänglich (USDOS 20.3.2023). Für Opfer häuslicher Gewalt sind nicht genügend Notunterkünfte vorhanden (UN-HRC 1.12.2022). NGOs, die sich mit der Betreuung, Beratung und dem Schutz von Opfern häuslicher Gewalt beschäftigen, werden vermehrt als 'ausländische Agenten' eingestuft (AA 28.9.2022) [zum Begriff ‚ausländischer Agent‘ siehe Näheres im Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten].
Diskriminierung von Frauen und Mädchen ist weit verbreitet und beruht auf der Rhetorik traditioneller Familienwerte (EEAS 19.4.2022). Patriarchalische Einstellungen und diskriminierende Stereotypen bzw. Rollenbilder halten sich hartnäckig (UN-CEDAW 30.11.2021). In der Politik, im öffentlichen Leben und als Unternehmerinnen sind Frauen unterrepräsentiert (BS 2022; vgl. UN-CEDAW 30.11.2021). Die Politik thematisiert selten wichtige Angelegenheiten, welche Frauen betreffen (FH 2023). Frauen haben gleichen Zugang zu Bildung wie Männer (BS 2022). Bei der Kreditvergabe und auf dem Arbeitsmarkt erfahren Frauen Diskriminierung (USDOS 20.3.2023). Gesetzlich ist Frauen die Ausübung von 100 Berufen wegen deren hoher körperlicher Anforderungen verwehrt. Davon betroffen sind beispielsweise die Berufsbereiche Bergbau und Brandschutz (USDOS 20.3.2023; vgl. AM 13.5.2021, RF 11.4.2023). Frauen sind im Durchschnitt schlechter bezahlt als Männer (ÖB 30.6.2022; vgl. Regierung 29.12.2022). Das Armutsrisiko für Frauen ist hoch, so im Falle Alleinerziehender (Regierung 29.12.2022).
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Frauen im Nordkaukasus, Tschetschenien
Letzte Änderung: 04.07.2023
Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich von der in anderen Regionen Russlands (ÖB 30.6.2022). Nordkaukasische Frauen befinden sich in einer sehr schwierigen sozio-ökonomischen Situation (Europarat 3.6.2022). Die Lage von Frauen im Nordkaukasus wird durch die Koexistenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia – zusätzlich erschwert (ÖB 30.6.2022). Die Menschen im Nordkaukasus leben in einer geschlossenen, patriarchalischen Gesellschaft. Die lokalen und föderalen Behörden tolerieren Unterdrückung zur Aufrechterhaltung traditioneller Werte. Frauen im Nordkaukasus, welche sich traditionellen Werten nicht unterwerfen wollen, riskieren Verfolgung, Folter und Ermordung. Es herrscht Straflosigkeit (Europarat 3.6.2022). Die in Tschetschenien vorherrschende Islam-Interpretation dient als Rechtfertigung für die strikt patriarchalische Machtstruktur (USCIRF 10.2021). Das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow billigt, beruhend auf seinen religiösen Ansichten, schwerwiegende Menschenrechtsverstöße gegen Frauen (USCIRF 4.2022). Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, genießen in Tschetschenien keinen effektiven Rechtsschutz (AA 28.9.2022). Immer häufiger werden in Tschetschenien Vorwürfe wegen angeblicher Hexerei vorgebracht. Opfer sind für gewöhnlich ältere Frauen. Diese werden regelmäßig zu Geständnissen im Rahmen staatlicher Fernsehübertragungen gezwungen (USCIRF 10.2021).
Häusliche Gewalt ist im Nordkaukasus weitverbreitet (ÖB 30.6.2022). Opfer häuslicher Gewalt haben Schwierigkeiten, Schutz durch Behörden zu erlangen (USDOS 20.3.2023). Im Nordkaukasus sind Ehrenmorde verbreitet (KU 12.2.2020) und werden selten gemeldet (USDOS 20.3.2023). Opfer von Ehrenmorden sind Frauen, deren Verhalten von ihren Familienangehörigen als Schande für die Sippe empfunden wird. Ehrenmorde begehen Familienangehörige, meistens der Vater oder der Bruder (KU 12.2.2020). Kadyrow rechtfertigt Ehrenmorde an geschiedenen oder unverheirateten Frauen mit dem tschetschenischen Gewohnheitsrecht (USCIRF 10.2021). Es existieren traditionelle Gesetze im Nordkaukasus, welche Frauen das Alleinleben ohne einen Mann nicht gestatten (USDOS 20.3.2023). Im Nordkaukasus kommen Zwangsverheiratungen häufig vor (Europarat 3.6.2022). Unter den Zwangsverheirateten befinden sich Kinder. In Teilen des Nordkaukasus werden Frauen Brautentführungen, Polygamie, Jungfrauentests vor der Ehe sowie der verpflichtenden Befolgung islamischer Kleidungsvorschriften ausgesetzt (USDOS 20.3.2023). Frauen in Tschetschenien haben Kopftücher zu tragen und sich sittsam zu kleiden (USCIRF 10.2021). Es gibt Berichte zu weiblicher Genitalverstümmelung im Nordkaukasus, vor allem aus Dagestan, aber auch aus Tschetschenien (ÖB 30.6.2022; vgl. UN-HRC 1.12.2022). Gesetzlich ist weibliche Genitalverstümmelung nicht ausdrücklich verboten (USDOS 20.3.2023).
In Tschetschenien wurden im Jahr 2017 'Kommissionen zur Harmonisierung von Ehe- und Familienbeziehungen' geschaffen. Diese sind in allen Regionen tätig (KU 14.2.2023). Die Kommissionen bestehen unter anderem aus Religionsvertretern, Repräsentanten gesellschaftlicher Organisationen sowie örtlicher Strukturen und Vertretern des Innenministeriums. 2.395 Ehepaare wurden wiedervereint (KU 23.4.2023), nachdem Kadyrow 2017 die Anweisung gegeben hatte, traditionelle Familienwerte zu stärken (KU 14.2.2023). Die Wiedervereinigung von Familien in Tschetschenien geschieht unter Druck (KU 10.2.2023). Kadyrow unterstützt die erzwungene Versöhnung bzw. Wiederverheiratung geschiedener Paare und spricht sich für Polygamie aus (FH 2023). Polygamie ist offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich (AA 28.9.2022). Frauen, die in polygamen Beziehungen leben, sind rechtlich und wirtschaftlich unzureichend geschützt. In Erbschaftsangelegenheiten gelten diskriminierende religiöse und gewohnheitsrechtliche Vorschriften (UN-CEDAW 30.11.2021).
Die Flucht in andere Regionen kann zu einer gewaltsamen Rückführung oder in manchen Fällen zu Ehrenmorden führen. Auch eine Flucht ins Ausland ist beinahe unmöglich, da Frauen unter 30 Jahren in Tschetschenien Reisedokumente nur mit Zustimmung eines männlichen Familienangehörigen, welcher für ihre Rückkehr bürgt, beantragen können (Europarat 3.6.2022).
Das dagestanische Webportal daptar.ru setzt sich für Frauenrechte im Kaukasus ein (Europarat 3.6.2022). Einige zivilgesellschaftliche Initiativen bieten psychologische, rechtliche und medizinische Hilfe an: zum Beispiel 'Sintem' in Tschetschenien und 'Mat i ditja' ('Mutter und Kind') in Dagestan (ÖB 30.6.2022).
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Kinder
Letzte Änderung: 04.07.2023
Russland hat die UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1990 ratifiziert. Zwei Zusatzprotokolle wurden von Russland ebenfalls ratifiziert, welche die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten sowie Kinderhandel, Kinderprostitution und -pornografie betreffen (UN-OHCHR o.D.). Landesweit existiert kein Gesetz zu Kindesmissbrauch, aber Mord, Vergewaltigung sowie Körperverletzung sind gesetzlich verboten. Ebenso verboten sind kommerzielle sexuelle Ausbeutung sowie die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie. Der Besitz von Kinderpornografie ist nur dann gesetzlich verboten, wenn eine Absicht der Verbreitung besteht. Die gesetzlichen Vorgaben werden von Behörden im Allgemeinen umgesetzt (USDOS 20.3.2023). Im Jahr 2014 verabschiedete die Regierung die Grundlagen der staatlichen Jugendpolitik der Russischen Föderation für den Zeitraum bis 2025. Die Föderale Agentur für Jugendangelegenheiten (Rosmolodesch) ist seit 2018 direkt der Regierung unterstellt und besitzt einen Jahresetat von ca. RUB 8 Milliarden [ca. EUR 93 Mio.] (FES 2020). Im Jahr 2009 wurde das Amt eines Kinderrechtsbeauftragten geschaffen (UPPR o.D.). Gemäß § 3 des Gesetzes 'Über Kinderrechtsbeauftragte in der Russischen Föderation' werden Kinderrechtsbeauftragte vom Staatspräsidenten für eine Amtsperiode von fünf Jahren ernannt. Der Staatspräsident ist berechtigt, Kinderrechtsbeauftragte vorzeitig ihres Amts zu entheben. Zu den Aufgaben von Kinderrechtsbeauftragten, welche dem Staatspräsidenten gegenüber rechenschaftspflichtig sind, zählt beispielsweise die Bearbeitung von Beschwerden (Paragrafen 7 und 8 des oben genannten Gesetzes). Gemäß § 8 hat die Kinderrechtsbeauftragte jährlich einen Tätigkeitsbericht und Bericht über die Lage der Kinder in Russland vorzulegen (RF 30.4.2021).
Gemäß Berichten kommt es vor, dass Kinder (darunter Obdachlose) Opfer von Sexhandel in Russland und in anderen Ländern werden. Auch kommt es vor, dass Kinder in staatlichen Waisenheimen von Menschenhändlern in folgende Bereiche gelockt werden: Zwangsbettelei, Zwangskriminalität, Kinderpornografie, Sexhandel sowie Verwendung von Kindern durch bewaffnete Gruppierungen im Nahen Osten. Gemäß Aussage der Regierung vom Juli 2021 wurden seit Beginn des Repatriierungsprogramms im Jahr 2017 341 Kinder aus Syrien und Irak repatriiert (USDOS 7.2022). Kinder werden häufig Opfer von Gewalt (USDOS 20.3.2023). Gegen häusliche Gewalt wird unzureichend gesetzlicher Schutz geboten (AA 28.9.2022). Körperliche Züchtigung von Kindern zu Hause ist gesetzlich zugelassen. Körperliche Züchtigung von Kindern in Schulen und als Disziplinarmaßnahme in Strafanstalten ist nicht ausdrücklich verboten. Ungesetzlich ist körperliche Züchtigung als Strafmaßnahme im Zusammenhang mit Straftaten (EVAC/ECP 10.2022). Es gibt in Russland Organisationen und Privatinitiativen zur Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt (ÖB 30.6.2022). Es existiert kein System zur Gewalt-Prävention und es gibt nur wenige Einrichtungen, in welchen Frauen mit Kindern vorübergehend Zuflucht suchen können. Die Notwendigkeit der Eindämmung von Kinderprostitution, Kinderhandel, Kinderpornografie und Gewalt gegen Kinder wird in der Öffentlichkeit zunehmend thematisiert (AA 28.9.2022).
Das gesetzliche Mindestalter für Eheschließungen beträgt für Männer und Frauen 18 Jahre. Unter bestimmten Umständen dürfen lokale Behörden Eheschließungen ab einem Alter von 16 Jahren bewilligen. Mehrere Regionen erlauben Eheschließungen ab einem Alter von 14 Jahren, wenn beispielsweise eine Schwangerschaft vorliegt oder ein Kind geboren wurde. Das gesetzliche Mindestalter für einvernehmliche sexuelle Handlungen beträgt 16 Jahre (USDOS 20.3.2023).
Bildung ist kostenlos. Es herrscht Schulpflicht bis zur 11. Schulstufe. Dennoch verweigern Regionalbehörden häufig den Schulbesuch für Kinder von Personen, welche keine örtliche Wohnsitzregistrierung aufweisen (darunter Roma). Roma-Kinder werden in Schulen, deren Qualitätsstandards niedrig sind, abgesondert. HIV-infizierte Kinder sind Diskriminierung im Bildungsbereich ausgesetzt (USDOS 20.3.2023). Der Zugang zu (inklusiver) Bildung gestaltet sich - trotz bestehender gesetzlicher Regelungen - für viele beeinträchtigte Kinder schwierig. Diesbezüglich fehlt beispielsweise ausgebildetes Personal an den Schulen (USDOS 20.3.2023; vgl. Humanium o.D.). Seit 2019 läuft das sogenannte Nationale Projekt Bildung, welchem RUB 784,5 Milliarden [ca. EUR 9 Milliarden] zur Verfügung stehen, um Schulen zu sanieren und zu modernisieren, Lehrpläne zu aktualisieren, Fachpersonal zu schulen und die Schulverwaltung umzustrukturieren und fortzubilden (Russland-Analysen 21.2.2020). Im Rahmen dieses Projekts wird auf eine patriotische Erziehung Wert gelegt (NPR o.D.).
Gesetzlich ist Kindern unter 16 Jahren eine Arbeitsaufnahme in den meisten Fällen verwehrt. Die Arbeitsbedingungen für Kinder unter 18 Jahren sind gesetzlich geregelt. Vierzehnjährige dürfen unter bestimmten Bedingungen und mit Erlaubnis der Eltern oder des Vormunds einer Arbeit nachgehen. Eine solche Arbeit darf der Gesundheit bzw. dem Wohlergehen des Kindes nicht schaden. Minderjährigen ist eine berufliche Beschäftigung in bestimmten Bereichen gesetzlich verboten, z. B. Arbeiten unter Tag und in Sektoren, welche die moralische und gesundheitliche Entwicklung von Kindern gefährden. Gesetzliche Vorgaben werden von der Regierung effektiv umgesetzt, obwohl das Strafmaß zu milde ist. Es gibt Berichte über Kinder, welche im informellen Sektor und im Verkauf tätig sind. Einige Kinder sind kommerzieller sexueller Ausbeutung ausgesetzt und werden zum Betteln gezwungen (USDOS 12.4.2022).
Die medizinische Versorgungssituation für Kinder ist sehr angespannt. Es fehlen Physiotherapeuten und Psychologen (AA 28.9.2022). Gemäß dem Welthunger-Index 2022 sind 4,4 % der Kinder unter fünf Jahren ausgezehrt, und 13,4 % weisen Wachstumsverzögerungen auf. Die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren liegt bei 0,5 % (WHI o.D.). Im Jahr 2021 erhielten 12.100 Kinder im Alter zwischen 0 und 14 Jahren antiretrovirale HIV/Aids-Medikamente (UNICEF o.D.). Es existieren Berichte über Vernachlässigung, körperlichen und psychologischen Missbrauch von Kindern, welche in staatlichen Institutionen untergebracht sind. Besonders vulnerabel sind Kinder mit Beeinträchtigungen (USDOS 20.3.2023). Diese erfahren keine Gleichberechtigung, und es gibt zu wenige Unterbringungsmöglichkeiten, Infrastruktur sowie Personal (Humanium o.D.).
Gemäß dem von der NGO Humanium erstellten Index bestehen in Russland wahrnehmbare Probleme bei der Realisierung von Kinderrechten (orange Stufe bzw. 7,84 von 10 maximal erreichbaren Punkten) (Humanium o.D.).
Laut ukrainischen und russischen Behördenvertretern wurden seit 24.2.2022 Hunderttausende Kinder aus der Ukraine in die Russische Föderation gebracht. Zahlenangaben variieren beträchtlich. Von den Deportationen sind unter anderem Kinder in Einrichtungen sowie Kinder, welche aufgrund der Kampfhandlungen kurzfristig den Kontakt mit ihren Eltern verloren haben, betroffen. In Russland wird deportierten ukrainischen Kindern die russische Staatsbürgerschaft verliehen, sie werden in Pflegefamilien untergebracht usw. Für Familienangehörige gestaltet sich die Kontaktaufnahme sowie Rückführung ihrer Kinder in die Ukraine sehr schwierig (UN-HRC 15.3.2023).
Nordkaukasus
Gemäß dem russischen Ministerpräsidenten ist die Kindersterblichkeit im Nordkaukasus um ca. ein Drittel höher als im russischen Durchschnitt (ÖB 30.6.2022; vgl. PR 15.6.2021). Im Zeitraum Jänner-März 2023 starben in Dagestan fünf von 1.000 Neugeborenen. In Tschetschenien verstarben im selben Zeitraum sechs von 1.000 Neugeborenen (Rosstat o.D.). Es gibt im Nordkaukasus nicht genügend Schulen (PR 15.6.2021). In Teilen des Nordkaukasus sind Mädchen Zwangs- bzw. Kinderehen ausgesetzt (USDOS 20.3.2023). Gemäß § 13 des Gesetzes 'Über Kinderrechtsbeauftragte in der Russischen Föderation' haben Regionen in Russland eigene Kinderrechtsbeauftragte (RF 30.4.2021). Seit 2014 wird dieses Amt in Tschetschenien von Chirachmatow Chamsat Asurin-Basiriewitsch bekleidet (UPRTR o.D.). Die derzeitige Kinderrechtsbeauftragte für Dagestan ist Eschowa Marina Jurewna (UGPR o.D.).
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Scheidung und Obsorge
Letzte Änderung: 04.07.2023
Gemäß Artikel 38 der Verfassung der Russischen Föderation haben die Elternteile hinsichtlich der Kindererziehung gleiche Rechte und Pflichten (Duma 6.10.2022). Laut § 61 des Familiengesetzbuches der Russischen Föderation sind Eltern in Bezug auf ihre Kinder gleichberechtigt und haben auch gleiche Pflichten. Die Rechte der Eltern erlöschen mit Volljährigkeit des Kindes (18 Jahre) sowie mit Eheschließung des minderjährigen Kindes (RF 28.4.2023c).
Gemäß § 17 des Familiengesetzbuches darf ein Ehemann während der Schwangerschaft der Ehefrau und im Zeitraum bis zum ersten Geburtstag des Kindes die Auflösung der Ehe nur mit Zustimmung der Ehefrau initiieren. Außer in den Fällen der Paragrafen 21-23 wird die Auflösung einer Ehe von Standesämtern durchgeführt (§ 18 des Familiengesetzbuches). Gemäß den Paragrafen 21-23 des Familiengesetzbuches sind Gerichte für die Auflösung einer Ehe zuständig, wenn gemeinsame minderjährige Kinder existieren oder sich die Eheleute über die Auflösung der Ehe nicht einig sind. Bei einer gerichtlichen Auflösung der Ehe können die Eheleute dem Gericht zur Überprüfung eine Vereinbarung darüber vorlegen, bei wem von ihnen die minderjährigen Kinder leben werden und wie die Unterhaltszahlungen geregelt sein werden. Sind sich die Eheleute darüber uneinig oder verletzt die getroffene Vereinbarung die Interessen der Kinder oder eines der Ehegatten, muss das Gericht eine Regelung treffen (§ 24). Gemäß § 66 des Familiengesetzbuches hat derjenige Elternteil, welcher nicht mit dem Kind zusammenlebt, Recht auf Kontakt mit dem Kind, Teilhabe an der Kindererziehung sowie Recht auf gemeinsame Entscheidung hinsichtlich Ausbildungsfragen, welche das Kind betreffen. Kommt ein Elternteil der Gerichtsentscheidung nicht nach, zieht dies eine Verwaltungsstrafe nach sich. Bei böswilliger Nichterfüllung der Gerichtsentscheidung kann das Gericht auf Verlangen des nicht beim Kind lebenden Elternteils verfügen, diesem das Kind zuzusprechen, wenn dies im Interesse des Kindes liegt und dessen Meinung entspricht. Laut § 57 des Familiengesetzbuches ist ein Kind berechtigt, seine Meinung zu allen Familienfragen zu äußern, welche die Interessen des Kindes berühren. Auch hat ein Kind das Recht, im Rahmen von Gerichts- oder Verwaltungsverfahren angehört zu werden. Die Meinung des Kindes ist verpflichtend zu berücksichtigen, wenn das Kind mindestens 10 Jahre alt ist - außer dies widerspricht den Interessen des Kindes (RF 28.4.2023c). In der Praxis bleiben in der Russischen Föderation minderjährige Kinder nach einer Scheidung zu 99 % bei der Mutter (ÖB 21.2.2023).
Nordkaukasus/Tschetschenien
In Tschetschenien herrscht ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht (AA 28.9.2022). Landesweit verzeichneten Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien im Jahr 2022 den höchsten Scheidungszuwachs (KR 14.2.2023). Im Jahr 2022 wurden in Tschetschenien 9.070 Scheidungen eingereicht. Im Vergleich dazu hatte 2021 die Anzahl der eingereichten Scheidungen 3.783 betragen (KU 15.2.2023). Für Tschetschenen ist in erster Linie die Eheschließung nach der Scharia von Bedeutung. Um eine nach der Scharia geschlossene Ehe aufzulösen, muss der Ehemann die Worte 'Scheidung, Scheidung, Scheidung' aussprechen. Eine Scheidung gemäß dem tschetschenischen Gewohnheitsrecht (Adat) hat folgendermaßen abzulaufen: Der Ehemann muss vor Zeugen 'Ich verlasse dich' sagen. Adat und Scharia verlangen vom Ehemann nicht die förmliche Nennung eines Scheidungsgrundes. Das Muftiat Tschetscheniens schreibt vor, dass Männer bei der Scheidung einen Geldbetrag von RUB 300.000 [ca. EUR 3.470] an ihre früheren Ehefrauen entrichten müssen. In Tschetschenien ist es für Frauen äußerst schwierig, eine Scheidung vom Ehegatten zu erreichen. Es muss bewiesen werden, dass der Ehegatte körperlich krank bzw. geschäftsunfähig ist. Für gewöhnlich wird eine geschiedene Tschetschenin von ihrer Familie aufgenommen. Einer geschiedenen Tschetschenin ist es erlaubt, ein zweites Mal zu heiraten (Dsen 17.7.2022).
In Tschetschenien und anderen Teilen des Nordkaukasus vollziehen örtliche Behörden lokale Bräuche, welche Kinder als Eigentum des Vaters und von dessen Familie betrachten (HRW 12.1.2023). Für geschiedene Frauen im Nordkaukasus ist es schwierig, das Sorgerecht für ihre Kinder zu erlangen (KU 14.2.2023; vgl. UN-CEDAW 30.11.2021), wenn der frühere Ehemann oder dessen Verwandte die Kinder bei sich behalten wollen (KU 14.2.2023). Gerichte in Tschetschenien sprechen Kinder in vielen Fällen dem Vater zu (KR 30.3.2023). Heutzutage kämpfen nicht wenige geschiedene Frauen in Tschetschenien für das Recht, die Kinder bei sich behalten zu dürfen (Dsen 17.7.2022). In der Praxis spielen in Tschetschenien außergerichtliche Lösungswege zur Klärung von Familienrechts- und Obsorgefragen eine bedeutendere Rolle als gerichtliche Lösungswege. Selbst wenn Frauen vor Gericht recht bekommen, ist eine Umsetzung des Urteils oft nicht möglich. Gemäß dem Islam werden die Kinder nach der Scheidung der Eltern bis zu einem bestimmten Alter von der Mutter erzogen, falls sie nicht nochmals geheiratet hat: Buben bis zu einem Alter von sieben Jahren, Mädchen bis zur Erreichung der Volljährigkeit. Danach werden die Kinder dem Vater übergeben. Damit die Mutter das Recht hat, die Kinder zu erziehen, muss sie a) islamischen Glaubens, b) vernünftig (im Sinne von nicht psychisch erkrankt), c) vertrauenerweckend (nicht sündhaft im Sinne des Islam) und darf d) nicht verheiratet sein. Falls die Mutter stirbt oder psychisch krank wird, geht das Recht der Erziehung auf die Großmutter mütterlicherseits über, danach auf die Großmutter väterlicherseits, danach auf die Schwester, schließlich auf nahe männliche Verwandte (ÖB 21.2.2023).
In Tschetschenien wurden im Jahr 2017 'Kommissionen zur Harmonisierung von Ehe- und Familienbeziehungen' geschaffen. Diese sind in allen Regionen tätig (KU 14.2.2023). Die Kommissionen bestehen unter anderem aus Religionsvertretern, Repräsentanten gesellschaftlicher Organisationen sowie örtlicher Strukturen und Vertretern des Innenministeriums. 2.395 Ehepaare wurden wiedervereint (KU 23.4.2023), nachdem Kadyrow 2017 die Anweisung gegeben hatte, traditionelle Familienwerte zu stärken (KU 14.2.2023). Die Wiedervereinigung von Familien in Tschetschenien geschieht unter Druck (KU 10.2.2023). Kadyrow unterstützt die erzwungene Versöhnung bzw. Wiederverheiratung geschiedener Paare (FH 2023). Der Apparat der Ombudsperson für Menschenrechte in Tschetschenien versucht, Hilfestellung in Bezug auf Familienfragen zu geben, wenn geschiedenen Frauen der Kontakt mit ihren Kindern verwehrt wird (ÖB 21.2.2023).
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Sexuelle Minderheiten
Letzte Änderung: 04.07.2023
Homosexualität ist in Russland nicht strafbar (AA 28.9.2022). Im Verfassungsartikel 72 wird die Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau definiert (Duma 6.10.2022), wodurch die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Ehen ausgeschlossen wird (FH 2023). Gemäß dem Kodex über Verwaltungsübertretungen (§ 6.21) ist seit 5.12.2022 die 'Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen und für Geschlechtsumwandlungen' nicht nur mehr in Gegenwart von Kindern, sondern nun auch in Gegenwart von Erwachsenen unter Strafe gestellt. Das Strafmaß umfasst Geldstrafen von RUB 50.000-5.000.000 [ca. EUR 575-57.485] und richtet sich danach, von wem die 'Propaganda' betrieben wird (Amtsträger, einfache Bürger, juristische Personen), ob Opfer der 'Propaganda' Minderjährige sind und welche Kommunikationsmittel verwendet werden (Massenmedien, Internet usw.). Bei juristischen Personen kann es zu Geschäftssperren von bis zu 90 Tagen kommen (RF 17.5.2023). Gesetzlich ist außerdem die Sperrung von Internetseiten mit entsprechenden Inhalten ohne vorausgehenden Gerichtsbeschluss durch die Medienaufsichtsbehörde vorgesehen. Einige kleinere Organisationen, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzen, haben Medienberichten zufolge als Reaktion auf die drohenden Sanktionen ihre Arbeit eingestellt (BAMF 6.12.2022). Seit Verabschiedung des neuen 'Propaganda'-Gesetzes und Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine haben viele Angehörige sexueller Minderheiten Russland verlassen (ILGA 20.2.2023).
Die Situation für Personen mit homosexueller Orientierung ist regional unterschiedlich, die Toleranz variiert oftmals nach Größe der Stadt und empfundener Nähe zu Europa. In St. Petersburg findet jährlich ein 'Queer-Fest' statt (AA 28.9.2022). Sexuelle Minderheiten sind in Russland Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt (UN-HRC 1.12.2022; vgl. AI 28.3.2023, AA 28.9.2022). Wegen Vorurteilen und Intoleranz haben sexuelle Minderheiten eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung (USDOS 20.3.2023). Hassrede von Politikern und religiösen Führern richtet sich gegen sexuelle Minderheiten (UN-HRC 1.12.2022). Sexuelle Minderheiten sind Opfer von Hassverbrechen, darunter Mord, körperliche Gewalt und Erpressung. Die Behörden stufen diese Straftaten nicht als Hassverbrechen ein (ILGA 20.2.2023). Der staatliche Schutz vor Übergriffen Dritter ist unzureichend. Laut Aussagen von NGOs bringen Opfer homophober Straftaten diese häufig nicht zur Anzeige. Wird Anzeige erstattet, weigert sich die Polizei häufig, sie aufzunehmen, wenn das Opfer den homophoben Hintergrund der Tat benennt. Eine Ahndung der Tat durch die Justiz ist dann nur möglich, wenn das Tatopfer Beschwerde bei der vorgesetzten Polizeidienststelle, der Staatsanwaltschaft oder bei Gericht einlegt (AA 28.9.2022).
Am stärksten gefährdet sind Transgender-Personen, die von der Öffentlichkeit als männlich wahrgenommen werden, sich aber entsprechend ihrer sexuellen Identität feminin kleiden und beispielsweise schminken, sowie Personen, welche sich öffentlich für Rechte sexueller Minderheiten einsetzen (AA 28.9.2022). Seit Kriegsausbruch sind transsexuelle Personen mit Hormon-Engpässen und beträchtlichen Preissteigerungen konfrontiert (ILGA 20.2.2023). Die rechtliche Anerkennung ihres Geschlechts gestaltet sich für transsexuelle Personen schwierig (ILGA 20.2.2023; vgl. USDOS 20.3.2023). LGBT-Organisationen und ihre Mitglieder sind anhaltender Schikane unterworfen (UN-HRC 1.12.2022; vgl. BS 2022). Zum Beispiel wird ihr Recht auf friedliche Versammlungen übermäßig eingeschränkt, und ihre Tätigkeiten werden unterbunden (UN-HRC 1.12.2022). Organisatoren und Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen, welche sich Rechten sexueller Minderheiten widmen, sind mit Schikane und Gewalt konfrontiert (ILGA 20.2.2023). In Russland sind sogenannte Konversionstherapien erlaubt. Diese verfolgen das Ziel, die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität zu ändern (ILGA 20.2.2023; vgl. ILGA 14.2.2022).
Im April 2022 wurde die NGO Sfera, welche sich für Rechte sexueller Minderheiten eingesetzt hat, gerichtlich aufgelöst (EUAA 16.12.2022b). Im November und Dezember 2021 stufte das Justizministerium folgende vier Gruppen Angehöriger sexueller Minderheiten als 'ausländische Agenten' ein: das 'russische LGBT-Netzwerk', Majak (Leuchtturm), Coming Out und Revers (ILGA 14.2.2022) [zum Begriff ‚ausländischer Agent‘ siehe Näheres im Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten].
Gemäß einer Umfrage des russischen Lewada-Zentrums aus dem Jahr 2021 begegnen 38 % der befragten Russen Homosexuellen mit großer Abneigung oder Angst. 32 % der Befragten stehen Personen mit homosexueller Orientierung neutral gegenüber und 3 % wohlwollend. Interesse an homosexuellen Personen bekundet 1 % der Befragten (LZ 15.10.2021).
Tschetschenien
2017 und 2019 waren Angehörige sexueller Minderheiten Verfolgung durch lokale Behörden ausgesetzt. Gemäß Medienberichten wurden in Tschetschenien Anfang 2019 über 40 Angehörige sexueller Minderheiten festgenommen und zwei zu Tode gefoltert (AA 28.9.2022). Tschetschenien bleibt weiterhin besonders gefährlich für sexuelle Minderheiten (FH 2023; vgl. AA 28.9.2022). Es kommt zu schwerwiegenden Verletzungen der Rechte sexueller Minderheiten (UN-OHCHR 20.10.2022). Nach Aussagen sind Angehörige sexueller Minderheiten in Tschetschenien verbaler und körperlicher Gewalt ausgesetzt, außerdem Massenentführungen, willkürlichen Verhaftungen, Folter durch Behörden (EUAA 16.12.2022b; vgl. UN-OHCHR 20.10.2022), Verschwindenlassen, außergerichtlichen Tötungen sowie systematischer Schikane (FCDO 12.2022). Es existieren Berichte über Angehörige sexueller Minderheiten, welche gegen ihren Willen aus anderen Teilen der Russischen Föderation nach Tschetschenien zurückgebracht wurden und dort zu Opfern von Menschenrechtsverletzungen geworden sind (AA 28.9.2022). Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit (UN-OHCHR 20.10.2022; vgl. AA 28.9.2022). Die tschetschenischen Behörden verweigern die Untersuchung von Vorwürfen betreffend Entführung und Misshandlung wegen sexueller Orientierung (Europarat 3.6.2022).
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Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Letzte Änderung: 04.07.2023
Gemäß Artikel 27 der Verfassung der Russischen Föderation haben alle Personen, welche sich rechtmäßig auf dem Territorium der Russischen Föderation aufhalten, das Recht auf Bewegungsfreiheit sowie Wahl des Aufenthalts- und Wohnorts. Alle Personen sind laut der Verfassung berechtigt, aus der Russischen Föderation auszureisen. Bürger der Russischen Föderation haben das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren. Gemäß Artikel 61 der Verfassung dürfen Bürger der Russischen Föderation nicht aus der Russischen Föderation ausgewiesen werden (Duma 6.10.2022). Gemäß § 1 des Gesetzes 'Über das Recht der Bürger auf Bewegungsfreiheit' sind Einschränkungen des Rechts auf Bewegungsfreiheit, Wahl des Wohn- und Aufenthaltsorts nur auf gesetzlicher Grundlage möglich. Gemäß § 8 kann dieses Recht unter anderem dann eingeschränkt werden, wenn in den betreffenden Regionen der Ausnahmezustand oder das Kriegsrecht herrscht. Entscheidungen in Bezug auf Bewegungsfreiheit, Wahl des Wohn- und Aufenthaltsortes können von den Bürgern gerichtlich angefochten werden (§ 9) (RF 27.1.2023).
Gemäß § 15 des Gesetzes ’Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation' darf das Recht der Staatsbürger auf Ausreise aus der Russischen Föderation vorübergehend beschränkt werden. Von solchen Beschränkungen sind Personen betroffen, die zum Wehrdienst einberufen oder zum Wehrersatzdienst entsandt wurden (bis zur Beendigung des Wehrdiensts oder Wehrersatzdiensts); Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder unter Anklage stehen; Personen, die wegen Begehung einer Straftat verurteilt wurden (bis die Strafe verbüßt oder eine Strafbefreiung eingetreten ist); Personen, die gegen gerichtlich auferlegte Verpflichtungen verstoßen; Mitarbeiter des Föderalen Sicherheitsdiensts (FSB); sowie Personen, die zahlungsunfähig bzw. insolvent sind (RF 14.4.2023). Bürger, welche im Militärregister aufscheinen, dürfen ab Verkündung einer Mobilmachung ihren Wohnort nur mit behördlicher Erlaubnis verlassen (§ 21 des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung') (RF 4.11.2022). Die Regierung beschränkt Auslandsreisen ihrer Mitarbeiter, darunter Generalstaatsanwaltschaft, Innen- und Verteidigungsministerium usw. (USDOS 20.3.2023; vgl. Bell 7.4.2023). Die Grenz- und Zollkontrollen eigener Staatsangehöriger durch russische Behörden entsprechen in der Regel internationalem Standard (AA 28.9.2022). Im Zuge von Grenzkontrollen kommt es zu Befragungen Ausreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen (AA 28.9.2022).
Auf Grundlage eines EU-Ratsbeschlusses ist seit 12.9.2022 das Visaerleichterungsabkommen zwischen der EU und Russland vollständig ausgesetzt. Dies bedeutet nun unter anderem höhere Gebühren für einen Visumsantrag, Vorlage zusätzlicher Dokumente und längere Bearbeitungszeiten für Visa (Rat 12.5.2023). Auch die USA verhängten Visabeschränkungen, diese gelten für ca. 900 russische Amtsträger, darunter Mitglieder des Föderationsrats und des russischen Militärs (USDOS 2.8.2022). Weitere Länder (die baltischen Staaten, Tschechien, Niederlande) haben die Visavergabe an russische Staatsbürger eingeschränkt (DW 22.8.2022).
Meldewesen
Die Bürger der Russischen Föderation sind verpflichtet, ihren Aufenthalts- und Wohnort innerhalb des Landes registrieren zu lassen. Die Registrierung ist kostenlos (§ 3) (RF 27.1.2023). Die örtlichen Stellen des Innenministeriums sind gemäß § 4 die Meldebehörden (RF 27.1.2023; vgl. AA 28.9.2022). Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Mieter benötigen eine Bescheinigung des Vermieters und werden damit vorläufig ohne Eintragung im Inlandspass registriert (AA 28.9.2022). Das staatliche Melderegister der Russischen Föderation ist nicht öffentlich zugänglich. Informationen werden natürlichen und nicht staatlichen juristischen Personen auf deren Anfrage nur bei Vorhandensein der Zustimmung derjenigen Person, deren Daten angefragt werden, erteilt; staatlichen Organen, soweit dies zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben erforderlich ist (ÖB 1.2.2023).
Die Registrierung des Aufenthaltsortes hat binnen 90 Tagen nach Wohnungsnahme zu erfolgen. Von der Registrierung des Aufenthaltsortes bleibt die Wohnsitzregistrierung unberührt. Aufenthalte bis zu einer Dauer von 90 Tagen bedürfen keiner Registrierung (§ 5 des Gesetzes 'Über das Recht der Bürger auf Bewegungsfreiheit'). Beispiele für Aufenthaltsorte sind Hotels, Sanatorien, Campingplätze, medizinische Einrichtungen, Haftanstalten usw. (§ 2) (RF 27.1.2023). Die Aufenthaltsregistrierung (temporäre Registrierung) wird durch eine Bescheinigung in elektronischer oder in Papierform bestätigt (Gosuslugi o.D.). Temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notfallversorgung (ÖB 30.6.2022).
Bürger, welche ihren Wohnort wechseln, haben binnen sieben Tagen nach Wohnungsnahme die Registrierung zu veranlassen. Dabei ist ein Pass oder ein anderes Identitätsdokument vorzulegen. Anträge können auch elektronisch eingebracht werden, beispielsweise über das Portal Gosuslugi. Die Meldebehörde hat spätestens drei Tage nach Antragstellung die Registrierung vorzunehmen (§ 6) (RF 27.1.2023). Die Wohnsitzregistrierung (Propiska) wird im Pass vermerkt. Kinder bis zu einem Alter von 14 Jahren erhalten eine Registrierungsbescheinigung (Gosuslugi o.D.). Eine permanente Registrierung ist Voraussetzung für stationäre medizinische Versorgung, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld und Pensionszahlungen (ÖB 30.6.2022).
Kaukasus
Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich in andere Teile Russlands reisen (AA 28.9.2022). Einige regionale Behörden schränken die Wohnsitzregistrierung bei ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 2023).
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Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation und Westeuropas
Letzte Änderung: 04.07.2023
Die Bevölkerungszahl Tschetscheniens beträgt mit Stand 2023 in etwa 1,5 Millionen (FR o.D.). Laut Aussage des Republiksoberhaupts Kadyrow leben rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region, die eine Hälfte davon in Russland, die andere Hälfte im Ausland (ÖB 30.6.2021). Zwischen Jänner und November 2022 reisten aus Tschetschenien um ca. 4.000 Personen mehr aus, als sich in Tschetschenien niedergelassen haben, ungefähr doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die Binnenmigration in der Republik Tschetschenien ist angestiegen. Die Anzahl derjenigen Tschetschenen, welche in andere Regionen Russlands reisen, ist merklich höher als die Anzahl der Rückkehrer (KR 15.2.2023). Die tschetschenische Diaspora ist in allen russischen Großstädten stark angewachsen (200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben). Sie treffen auf antikaukasische Stimmungen (AA 28.9.2022). Die Migration ins Ausland hat ebenfalls stark zugenommen (KR 15.2.2023). Im Jahr 2022 verließen 1.300 Bewohner Tschetscheniens die Russische Föderation, ein Anstieg um das Vierfache im Vergleich zum Jahr zuvor. Hauptziel der Ausreisen waren Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) (KR 1.3.2023). Die tschetschenische Diaspora in Europa zählt nach verschiedenen Einschätzungen zwischen 150.000 und 300.000 Personen. Eine der größten tschetschenischen Gemeinschaften Europas befindet sich in Frankreich, wo um die 60.000 Tschetschenen leben. In Deutschland, Österreich und Belgien leben nach offiziellen Angaben jeweils zwischen 30.000 und 45.000 Tschetschenen (KU 16.5.2023).
Die 'Ständige Vertretung Tschetscheniens beim russischen Präsidenten' vertritt laut Eigendarstellung die Interessen Tschetscheniens in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Kultur und humanitäre Zusammenarbeit. Außerdem pflegt die Ständige Vertretung Kontakte mit Organisationen der tschetschenischen Diaspora (SVTR o.D.a). Um Belange der tschetschenischen Diaspora kümmern sich beispielsweise folgende Organisationen: der Wiener Rat der Tschetschenen und Inguschen (ZO 29.4.2022), der Weltkongress des tschetschenischen Volks (PTR o.D.), die Vereinigung der Tschetschenen Europas (VTE o.D.) und die Versammlung der Tschetschenen Europas (ACE o.D.). Generalsekretär des Weltkongresses des tschetschenischen Volks ist das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow (PTR o.D.).[…]
Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 04.07.2023
Wirtschaft
Als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die EU mehrere Sanktionspakete angenommen, um die wirtschaftliche Basis Russlands zu schwächen. Der Zugang Russlands zu den Kapital- und Finanzmärkten der EU wurde beschränkt. Für alle russischen Flugzeuge ist der Luftraum der EU geschlossen. Ebenso sind EU-Häfen für alle russischen Schiffe geschlossen. Transaktionen mit der russischen Zentralbank sind verboten. Mehrere russische Banken wurden aus dem SWIFT-System ausgeschlossen. Neue Investitionen in den russischen Energiesektor wurden verboten. Es gilt ein Einfuhrverbot für Eisen und Stahl aus Russland in die EU sowie ein Einfuhrverbot für Kohle, Holz, Zement, Gold, Rohöl, raffinierte Erdölerzeugnisse usw. (Rat 12.5.2023). Sanktionen gegen Russland verhängten außerdem die USA, Kanada, das Vereinigte Königreich, Japan, die Schweiz und die restliche westliche Welt (WKO 3.2023). Der Krieg und die Sanktionen wirken sich auf Wirtschaftssektoren in Russland unterschiedlich aus. In Mitleidenschaft gezogen wurden der Industriesektor sowie der Binnenhandel. Hingegen zählt die Militärproduktion zu den Profiteuren der Sanktionen. Die Energiesanktionen ließen die Staatseinnahmen beträchtlich schrumpfen (WIIW o.D.). Die Wirtschaftssanktionen des Westens haben zu einem Braindrain und einer Kapitalflucht geführt (HF o.D.). Die Isolation Russlands zwingt verstärkt zu einer Eigenproduktion kritischer Waren, darunter Medikamente, Anlagen und Computertechnik (WKO 3.2023). Eine Einschätzung der wirtschaftlichen Situation in Russland ist derzeit schwierig (NDR/Tagesschau 2.8.2022; vgl. Watson 3.2.2023).
Gemäß vorläufigen Daten des Föderalen Amts für Staatliche Statistik (Rosstat) ist das Bruttoinlandsprodukt im 1. Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahr um 1,9 % gesunken (Interfax 17.5.2023). Die Inflation betrug im April 2023 nach Angaben von Rosstat 0,38 % (Interfax 12.5.2023). Um den starken Verfall des Rubels aufzuhalten, führte die Regierung strenge Devisenbeschränkungen sowie weitere einschränkende Maßnahmen zur Stabilisierung der russischen Währung und der Wirtschaft ein (WKO 3.2023). Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2022 14,9 % des Bruttoinlandsprodukts (WIIW o.D.).
Korruption ist weitverbreitet (BS 2022; vgl. HF o.D.). Eine Herausforderung für den Staat stellt die Schattenwirtschaft dar (BS 2022). Innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte ist Russland vom Importeur zum größten Weizenexporteur der Welt aufgestiegen (ZOIS 9.3.2023). Die Wirtschaft ist wenig diversifiziert (BS 2022) und stark von Öl- und Gasexporten abhängig (HF o.D.). Russland gehört historisch zu den größten Erdölproduzenten weltweit. Exporte von Öl und Gas haben traditionell mehr als zwei Drittel der russischen Ausfuhren ausgemacht. Es gelten Exportbeschränkungen für Holzwaren (WKO 3.2023). Um die sinkenden Exporte in die Europäische Union auszugleichen, handelt Russland verstärkt mit China, Indien und der Türkei (FT 19.8.2022).
Grundversorgung
Nach Angaben von Rosstat betrug im Jahr 2022 der Anteil der russischen Bevölkerung mit Einkommen unter der Armutsgrenze 10,5 %, das heißt 15,3 Millionen Personen (Rosstat 10.3.2023). Seit 2021 wird die Armutsgrenze neu berechnet. Die neue Berechnungsmethode wird als willkürliche Verschleierung der wahren Zustände kritisiert (AA 28.9.2022). Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern (vor allem Großfamilien), Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren Moskau und St. Petersburg ist die Armutsquote halb so hoch wie im Landesdurchschnitt. Prinzipiell ist die Armutsgefährdung auf dem Land höher als in den Städten (Russland-Analysen 21.2.2020a). Die Wirkung von Regierungsprogrammen, die sich dem Kampf gegen Armut im ländlichen Raum widmen, ist begrenzt. In den größeren Städten Russlands ist eine beträchtliche Anzahl von Menschen obdachlos (BS 2022).
Gemäß der Weltbank hatten im Jahr 2020 (aktuellste verfügbare Daten) 76 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu sicher verwalteten Trinkwasserdiensten (WB o.D.a). Im Jahr 2021 wurden mehr als 450 Trinkwasserversorgungseinrichtungen und Wasseraufbereitungsanlagen errichtet und modernisiert. Dadurch erhöhte sich der Anteil derjenigen Bürger, welche mit hochwertigem Trinkwasser versorgt werden, auf 86 % (NPR o.D.a). Im Welthunger-Index 2022 belegt die Russische Föderation Platz 28 von 121 Ländern. Mit einem Wert von 6,4 fällt die Russische Föderation somit in die Schweregradkategorie niedrig. Weniger als 2,5 % der Bevölkerung sind gemäß dem Welthunger-Index unterernährt (WHI o.D.). Laut der Weltbank hatten im Jahr 2020 (aktuellste verfügbare Daten) 89 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu einer (zumindest) Basisversorgung im Bereich Hygiene (WB o.D.b). Ein Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Bezahlbare Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für Teile der Bevölkerung unerschwinglich (AA 28.9.2022). Mietkosten variieren je nach Region (IOM 12.2022).
Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 12.2022). Der Mindestlohn darf das Existenzminimum nicht unterschreiten (RN 16.1.2023). Das Existenzminimum wird per Verordnung bestimmt (AA 28.9.2022). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung RUB 15.669 [ca. EUR 184], für Kinder RUB 13.944 [ca. EUR 164] und für Pensionisten RUB 12.363 [ca. EUR 145] (Rosstat 10.1.2023). Die Höhe des monatlichen Mindestlohns beträgt für das Jahr 2023 RUB 16.242 [ca. EUR 191] (Duma 1.1.2023) und kann in jeder Region durch regionale Abkommen individuell festgelegt werden. Jedoch darf die Höhe des regionalen Mindestlohns nicht niedriger als der national festgelegte Mindestlohn sein. In der Stadt Moskau beträgt der Mindestlohn RUB 23.508 [ca. EUR 276] (RN 16.1.2023). Die primäre Versorgungsquelle der russischen Bevölkerung bleibt ihr Einkommen (AA 28.9.2022). Nach staatlichen Angaben betrug die Arbeitslosenrate im März 2023 3,5 % (Rosstat o.D.a). Die Arbeitslosenrate ist von Region zu Region verschieden (IOM 12.2022). Die versteckte Arbeitslosigkeit ist schwer einzuschätzen. Schwer am Arbeitsmarkt haben es ältere Arbeitnehmer. Besonders schwierig bis prekär ist die Lage für viele Migranten, welche überwiegend gering qualifiziert sind. Sie verdienen oft (wenn überhaupt) nur den Mindestlohn (AA 28.9.2022). […]
Nordkaukasus
Letzte Änderung: 04.07.2023
Die sozialwirtschaftlichen Unterschiede zwischen russischen Regionen sind beträchtlich. Die ländliche Peripherie, darunter der Nordkaukasus, ist von Entwicklungsproblemen betroffen (BS 2022). Der Nordkaukasus weist eine hohe Armutsrate (KR 19.5.2023) und eine hohe Arbeitslosigkeit auf (KR 19.5.2023; vgl. ÖB 30.6.2022). In Regionen des Nordkaukasus muss jeder Fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen (Russland-Analysen 21.2.2020a). In vielen nordkaukasischen Regionen liegen Lohnniveaus und Lebensstandard weit unter dem Landesdurchschnitt (BS 2022). Der Nordkaukasus ist von einem hohen Niveau an informeller Beschäftigung von Arbeitnehmern gekennzeichnet (KU 29.3.2023a). Tschetschenien, Dagestan und andere nordkaukasische Gebiete gehören zu denjenigen Regionen Russlands, wo der Mittelschichtanteil unter der Bevölkerung am geringsten ist (Statista 7.2022). Im Jahr 2021 zählten Dagestan, Tschetschenien sowie andere nordkaukasische Regionen zu denjenigen russischen Regionen mit dem niedrigsten Bruttoregionalprodukt (Statista 3.2023).
Tschetschenien ist von großer Armut und Arbeitslosigkeit betroffen (BP 3.9.2021; vgl. AA 28.9.2022). Im Jahr 2021 lebten 19,9 % der Bevölkerung in Tschetschenien unter der Armutsgrenze (Rosstat 27.4.2022). Dank Zuschüssen aus dem russischen föderalen Budget haben sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges deutlich verbessert (AA 28.9.2022). Tschetschenien ist von Moskau finanziell abhängig. Mehr als 80 % des Budgets stammen aus Zuwendungen (ORF 30.3.2022). Die Reallöhne der tschetschenischen Bevölkerung sind im Jahr 2021 um beinahe 5 % gesunken. Am besten bezahlt werden Beamte und Mitarbeiter im Finanzbereich (KR 29.8.2022). In Tschetschenien klafft die Einkommensschere weit auseinander (KU 10.5.2023). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung in Tschetschenien RUB 15.042 [ca. EUR 176], für Kinder RUB 13.386 [ca. EUR 157] und für Pensionisten RUB 11.868 [ca. EUR 139] (Rosstat 10.1.2023).
Dagestan zählt zu den von Armut betroffenen Regionen in Russland (Der Standard 21.5.2022). Im Jahr 2021 lebten 14,7 % der Bevölkerung in Dagestan unter der Armutsgrenze (Rosstat 27.4.2022). Es herrscht Unsicherheit bei der Lebensmittelversorgung (FPRI 15.6.2022). Die Preise für Lebensmittel steigen (KR 29.8.2022). In Dagestan ist die Trinkwasserqualität niedrig (KR 15.4.2023). Die Einkommensschere klafft weit auseinander (KU 10.5.2023). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung in Dagestan RUB 14.258 [ca. EUR 167], für Kinder RUB 13.066 [ca. EUR 153] und für Pensionisten RUB 11.250 [ca. EUR 132] (Rosstat 10.1.2023). Dagestan wird in beträchtlichem Ausmaß subventioniert (FPRI 15.6.2022; vgl. MT 13.7.2022).
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Sozialbeihilfen
Letzte Änderung: 04.07.2023
Artikel 7 der russischen Verfassung definiert die Russische Föderation als Sozialstaat. Gemäß dem Verfassungsartikel 75 wird Bürgern soziale Unterstützung garantiert. Die Verfassung sieht eine obligatorische Sozialversicherung vor (Duma 6.10.2022). Es ist ein System der sozialen Sicherheit und sozialen Fürsorge in Russland vorhanden, welches Pensionen auszahlt und die vulnerabelsten Bürger unterstützt. Zum Kreis vulnerabler Gruppen zählen Familien mit mindestens drei Kindern, Menschen mit Behinderungen sowie ältere Menschen (IOM 12.2022). Der Staat bietet verschiedene Sozialleistungen an, wovon unter anderem folgende Personengruppen profitieren: Veteranen, Waisenkinder, ältere Personen, Alleinerziehende, Erwerbslose, Dorfbewohner (WSP o.D.), Menschen mit Behinderungen, Familien, Pensionisten (SFR o.D.a), Bewohner des hohen Nordens sowie Familienangehörige Militärbediensteter und von infolge der Ausübung ihrer Dienstpflichten verstorbenen Bediensteten des Innenressorts (Regierung o.D.). Das föderale Gesetz 'Über die staatliche Pensionsversorgung in der Russischen Föderation' zählt im § 5 folgende staatliche Pensionsleistungen auf: Pensionen für langjährige Dienste; Alters-; Invaliditäts-; Hinterbliebenen- und Sozialpensionen (RF 28.4.2023a).
Mit 1.1.2023 wurden der Pensions- und der Sozialversicherungsfonds zum neu geschaffenen 'Fonds für Sozial- und Pensionsversicherung der Russischen Föderation' (kurz 'Sozialfonds') verschmolzen (SFR 17.1.2023). Zu den Aufgaben des neu geschaffenen Sozialfonds gehört die Auszahlung von Pensionen und staatlicher finanzieller Hilfen. In den einzelnen Subjekten der Russischen Föderation gibt es territoriale Abteilungen des Sozialfonds (SFR 30.3.2023).
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Mutterschaft: Mutterschaftskapital, Kinderbetreuungsgeld usw.
Letzte Änderung: 04.07.2023
Es gibt ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien (AA 28.9.2022). Die Dauer des Mutterschaftsurlaubs beträgt 140 Tage: 70 Tage vor und 70 Tage nach der Geburt. Bei Mehrlingsgeburten erhöht sich die Dauer des Mutterschaftsurlaubs auf 194 Tage. Die Mutterschaftshilfe beträgt im Jahr 2023 mindestens RUB 74.757,2 [ca. EUR 880] und maximal RUB 383.178,6 [ca. EUR 4.510]. Ist die Versicherungsdauer im Rahmen von Beschäftigungsverhältnissen kürzer als sechs Monate, wird eine finanzielle Unterstützung maximal in der Höhe des Mindestlohns zuerkannt (Duma 6.3.2023). Eine Einmalzahlung wird russischen Staatsbürgerinnen gewährt, wenn sie ihre Schwangerschaft spätestens in der 12. Schwangerschaftswoche bei einer medizinischen Einrichtung registrieren und das Pro-Kopf-Einkommen der Familie das regionale Existenzminimum nicht übersteigt (SFR 27.1.2023). Außerdem gibt es eine Einmalzahlung bei der Geburt eines Kindes (SFR o.D.d).
Das Mutterschaftskapital, welches im Gesetz auch als Familienkapital bezeichnet wird (RF 28.12.2022b), wird vorrangig der Mutter gewährt. Wenn beispielsweise die Mutter verstorben ist, bezieht der Vater das Mutterschaftskapital. Für den Erhalt des Mutterschaftskapitals ist kein Antrag erforderlich (Duma 1.2.2023). Das Mutterschaftskapital ist eine bargeldlose, zweckgebundene Leistung (AA 28.9.2022) und darf für die Ausbildung der Kinder, zur Verbesserung der Wohnverhältnisse, für die Altersvorsorge der Mutter und für die gesellschaftliche Integration beeinträchtigter Kinder verwendet werden. Seit 1.2.2023 beträgt die Höhe des Mutterschaftskapitals RUB 587.000 [ca. EUR 6.908] für das erste Kind und RUB 775.600 [ca. EUR 9.109] für das zweite Kind. Familien mit niedrigem Einkommen können das Mutterschaftskapital in Form monatlicher Auszahlungen für die Kinder erhalten (Duma 1.2.2023). Die monatlichen Auszahlungen enden mit dem dritten Geburtstag des Kindes (SFR 29.3.2023; vgl. Duma 1.2.2023).
Kinderbetreuungsgeld wird zuerkannt, bis das Kind 1,5 Jahre alt ist. Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des Kinderbetreuungsgeldes mindestens RUB 8.591,5 [ca. EUR 101] und maximal RUB 33.281,8 [ca. EUR 391] (Duma 6.3.2023). Im Rahmen des Nationalen Projekts 'Demografie' ist der Ausbau von Kindergärten geplant, um bis Ende 2023 allen Kindern zwischen 1,5 und 3 Jahren einen Kindergarten- bzw. Krabbelstubenplatz zur Verfügung zu stellen (NPR o.D.b). Die Kosten für den staatlichen Kindergarten, welche von den Eltern zu tragen sind, werden von den örtlichen Behörden festgelegt. Die Preise sind unter anderem vom Alter des Kindes abhängig. Die örtlichen Behörden entscheiden, wer in den Genuss einer Kostenrückerstattung kommt. In der Regel werden mindestens 20 % der Kosten für 1 Kind rückerstattet, 50 % für das zweite Kind und 70 % für jedes weitere Kind. In einigen Regionen ist die Rückerstattung der Kosten für Privatkindergärten möglich, beispielsweise in Moskau (MF 7.3.2023). Für bedürftige russische Familien, welche sich dauerhaft auf dem Gebiet der Russischen Föderation aufhalten, gibt es seit 1.4.2022 eine monatliche finanzielle Unterstützung für Kinder im Alter von 8-17 Jahren (PRF 31.3.2022).
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Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung: 04.07.2023
Personen können sich bei den örtlichen Arbeitsämtern des Föderalen Amts für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Sollte es dem Arbeitsamt nicht gelingen, der arbeitssuchenden Person binnen 10 Tagen einen Arbeitsplatz zu beschaffen, wird der betreffenden Person der Arbeitslosenstatus und somit eine monatliche Arbeitslosenunterstützung zuerkannt (IOM 12.2022). Während der ersten drei Monate erhält die arbeitslose Person 75 % des Durchschnittseinkommens des letzten Beschäftigungsverhältnisses, jedoch höchstens RUB 12.792 [ca. EUR 150]. Während der folgenden drei Monate beträgt die Höhe der Arbeitslosenunterstützung 60 % des Einkommens bzw. höchstens RUB 5.000 [ca. EUR 59]. Die Mindesthöhe der Arbeitslosenunterstützung beträgt RUB 1.500 [ca. EUR 18] (RG 23.11.2022). Um den Anspruch auf monatliche Arbeitslosenunterstützung geltend machen zu können, haben sich die Arbeitslosengeldbezieher alle zwei Wochen im Arbeitsamt einzufinden. Außerdem dürfen sie beispielsweise nicht in eine andere Region umziehen und keine Pensionsbezieher sein. Arbeitsämter gibt es überall im Land. Sie stellen verschiedene Dienstleistungen zur Verfügung. Arbeitssuchende, die beim Rostrud registriert sind, dürfen an kostenlosen Fortbildungskursen teilnehmen, um so ihre Qualifikationen zu verbessern (IOM 12.2022).
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Wohnmöglichkeiten, Sozialwohnungen
Letzte Änderung: 04.07.2023
Artikel 40 der russischen Verfassung garantiert das Recht auf Wohnraum. Laut der Verfassung wird bedürftigen Personen Wohnraum kostenlos oder zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung gestellt (Duma 6.10.2022). Bürger ohne Unterkunft oder mit einer Substandard-Unterkunft und sehr geringem Einkommen dürfen kostenfreie Wohnungen beantragen (IOM 12.2022; vgl. RF 28.4.2023b). Jedoch kann die Wartezeit bei einigen Jahren oder Jahrzehnten liegen. Ein Anrecht auf eine kostenlose Unterkunft haben Waisenkinder und Personen mit schwerwiegenden chronischen Erkrankungen (Tuberkulose etc.). Es gibt Schutzunterkünfte für Opfer von Menschenhandel und häuslicher Gewalt, für alleinerziehende Mütter und andere vulnerable Gruppen. Für gewöhnlich werden diese Unterkünfte von örtlichen NGOs verwaltet. Es gibt keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an (mindestens 12 %) (IOM 12.2022). Die Versorgung mit angemessenem Wohnraum stellt ein Problem dar. Bezahlbare Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für Teile der Bevölkerung unerschwinglich (AA 28.9.2022). Wohnungskosten sind regional unterschiedlich (MK 17.3.2023; vgl. Rosrealt o.D.). Es mangelt an ausreichendem Wohnraum für Familien (AA 28.9.2022).
[…]
Alterspension
Letzte Änderung: 04.07.2023
Seit 2018 wird das Pensionsalter für Männer und Frauen allmählich angehoben. Im Jahr 2018 betrug das Pensionseintrittsalter 55 Jahre für Frauen und 60 Jahre für Männer. 2028 soll das Pensionsalter auf 60 Jahre für Frauen und 65 Jahre für Männer angehoben sein. Für bestimmte Personengruppen ist keine Erhöhung des Pensionsalters vorgesehen, beispielsweise für Schwerarbeiter und Personen in gefährlichen Berufsbereichen. Ebenfalls nicht betroffen von der Erhöhung des Pensionsalters sind Sozialpensionen, Invaliditätspensionen und Hinterbliebenenpensionen. Im Jahr 2022 waren für den Anspruch auf eine Alterspension Beschäftigungsverhältnisse von mindestens 13 Jahren erforderlich (SFR 15.1.2021).
Für das Jahr 2023 beträgt die Höhe des Existenzminimums für Pensionisten in Russland RUB 12.363 [ca. EUR 144]. Die Höhe des Existenzminimums für Pensionisten in einzelnen Landesteilen stellt sich wie folgt dar (SFR o.D.b):
Moskau: RUB 16.257 [ca. EUR 189]
Moskauer Gebiet: RUB 14.858 [ca. EUR 173]
St. Petersburg: RUB 12.981 [ca. EUR 151]
Tschetschenien: RUB 11.868 [ca. EUR 138]
Dagestan: RUB 11.250 [ca. EUR 131]
Pensionisten, welche keiner Arbeit nachgehen und deren finanzielle Mittel unter dem Existenzminimum für Pensionisten liegen, erhalten einen Sozialzuschlag zur Pension. Dadurch erfolgt eine Anhebung bis zur Höhe des Existenzminimums (SFR o.D.b).
[…]
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 04.07.2023
Artikel 41 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert russischen Staatsbürgern das Recht auf kostenlose medizinische Versorgung in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen (Duma 6.10.2022). Eine gesetzliche Grundlage stellt das föderale Gesetz 'Über die Grundlagen des Gesundheitsschutzes der Bürger in der Russischen Föderation' dar (RF 28.4.2023d). Es existiert eine durch präsidentiellen Erlass festgelegte Strategie der Entwicklung des Gesundheitswesens in der Russischen Föderation für den Zeitraum bis 2025 (Präsident 27.3.2023).
Das Basisprogramm der obligatorischen Krankenversicherung gewährleistet die kostenlose medizinische Versorgung für Bürger in allen Regionen Russlands. Das entsprechende Territorialprogramm umfasst Programme auf der Ebene der Subjekte der Russischen Föderation (§ 3 des föderalen Gesetzes 'Über die obligatorische Krankenversicherung') (RF 19.12.2022). Der föderale Fonds der obligatorischen Krankenversicherung ist für die Umsetzung der staatlichen Politik zuständig (Regierung o.D.). Es besteht die Möglichkeit einer freiwilligen Krankenversicherung, welche eine medizinische Versorgung auf höherem Niveau erlaubt (Sber Bank o.D.). Im Rahmen einer freiwilligen Krankenversicherung oder gegen direkte Bezahlung können entgeltliche medizinische Dienstleistungen in staatlichen und privaten Krankenhäusern in Anspruch genommen werden. Die Webseiten der einzelnen medizinischen Einrichtungen enthalten für gewöhnlich Preislisten, so zum Beispiel die Webseite der Poliklinik in Grosnyj/Tschetschenien: http://gr-polik6.ru/uslugi (IOM 12.2022). Für Leistungen privater Krankenhäuser müssen die Kosten selbst getragen werden.
Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos (ÖB 30.6.2022). Bestimmte Patientengruppen erhalten kostenlose oder preisreduzierte Medikamente. Befreit von Medikamentengebühren sind Kinder bis zu einem Alter von drei Jahren; Menschen mit Behinderungen; Veteranen; Patienten mit spezifischen Erkrankungen wie HIV/Aids, onkologischen Erkrankungen, Diabetes, psychiatrischen Erkrankungen usw. (EUAA 9.2022). Regionale Behörden dürfen kostenlose Medikamente für zusätzliche Patientengruppen zur Verfügung stellen (IOM 12.2022). Die Verfügbarkeit von Medikamenten schwankt. Die Beschaffung und Verteilung medizinischer Vorräte ist unzuverlässig, was zu Medikamentenknappheit und starken Preisschwankungen führt. Ursachen dafür sind unter anderem politische Sanktionen, welche Importe begrenzen, und der damit verbundene Umstieg auf einheimische Arzneimittel (EUAA 9.2022). Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können mehrere Monate betragen. Die Notfallversorgung ist nicht mehr überall gewährleistet. Durch Sparmaßnahmen sind in vielen russischen Verwaltungseinheiten die Notfall-Krankenwagen nur mit einer Person besetzt, welche die notwendigen Behandlungen nicht alleine leisten kann. Besonders angespannt ist die medizinische Versorgung für Kinder, es fehlen Physiotherapeuten und Psychologen (AA 28.9.2022). Mitunter gibt es Probleme bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB 30.6.2022).
In der Praxis müssen viele Leistungen von Patienten selbst bezahlt werden, obwohl die medizinische Versorgung für russische Staatsangehörige kostenfrei sein sollte (AA 28.9.2022). Patienten dürfen Beschwerden einreichen, wenn öffentliche medizinische Einrichtungen Gebühren für eigentlich kostenfreie Dienstleistungen einzuheben versuchen. Patientengebühren tragen zu steigender Ungleichheit bei. Zuzahlungen werden entweder von unversicherten Personen geleistet oder dienen dazu, die Leistungsdeckung der obligatorischen oder freiwilligen/privaten Krankenversicherung zu erhöhen. Beispiele für Zuzahlungen sind offizielle Zahlungen im öffentlichen oder Privatsektor oder informelle Zahlungen im öffentlichen Sektor, um beispielsweise eine spezielle Behandlung zu erhalten. Personen mit höherem Einkommen sowie Bewohner wohlhabenderer Städte wie Moskau und St. Petersburg leisten höhere Zuzahlungen, vor allem betreffend stationäre Behandlungen. Allerdings steigt die Höhe der Zuzahlungen gemäß einer Quelle aus dem Jahr 2018 für ambulante Leistungen für ärmere Bevölkerungsschichten rascher an (EUAA 9.2022). 27,76 % der Ausgaben im Gesundheitssektor entfielen im Jahr 2020 auf Zuzahlungen (WB o.D.c.).
Das Gesundheitssystem ist zentralisiert. Öffentliche Gesundheitsdienstleistungen gliedern sich in drei Ebenen: Die Primärversorgung umfasst allgemeine medizinische Leistungen, Notfallversorgung sowie einige spezielle Dienstleistungen. Die Sekundärversorgung beinhaltet eine größere Bandbreite spezieller medizinischer Leistungen, und die Tertiärversorgung bietet medizinische Leistungen auf Hightechniveau an. Wegen Personalmangels sind Mitarbeiter auf der Primärversorgungsebene oft überlastet. Es fehlt an Koordination zwischen den Ebenen Primär- und Sekundärversorgung. Dem öffentlichen Gesundheitssystem mangelt es an finanziellen Mitteln, Patientenorientierung sowie an Personal, vor allem in ländlichen Gebieten. Das medizinische Personal weist Ausbildungsdefizite auf. Viele Bedienstete im medizinischen Bereich sind wenig motiviert, was teilweise auf niedrige Gehälter zurückzuführen ist. Hinsichtlich verfügbarer Ressourcen und Dienstleistungen herrschen beträchtliche regionale Unterschiede (EUAA 9.2022). Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben (ÖB 30.6.2022). Die medizinische Versorgung ist außerhalb der Großstädte in vielen Regionen auf einfachem Niveau und in ländlichen Gebieten nicht überall ausreichend. Ein Drittel der Ortschaften in ländlichen Gebieten verfügt über keinen direkten Zugang zu medizinischer Versorgung. Der Weg zum nächsten Arzt kann in manchen Fällen bis zu 400 Kilometer betragen (AA 28.9.2022). Einrichtungen, die hochmoderne Diagnostik sowie Behandlungen anbieten, sind vorwiegend in den Großstädten Moskau und St. Petersburg zu finden (EUAA 9.2022).
Zurückgekehrte Staatsbürger haben ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann dementsprechend gegen Vorlage eines gültigen russischen Reisepasses oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren) eine Krankenversicherungskarte erhalten. Diese wird von der nächstgelegenen Krankenversicherungszweigstelle am Wohnsitzort ausgestellt (IOM 12.2022). Personen ohne Dokumente haben das Recht auf eine kostenlose medizinische Notfallversorgung (EUAA 9.2022).
Die folgende Webseite enthält eine Auflistung medizinischer Einrichtungen in der Russischen Föderation mitsamt Kontaktdetails: https://gogov.ru/clinics (IOM 12.2022).
[…]
Psychische Erkrankungen
Letzte Änderung: 04.07.2023
In Russland existieren stationäre und ambulante Einrichtungen zur Behandlung psychischer Erkrankungen (EUAA 9.2022). In Moskau gibt es mehrere öffentliche psychiatrische Krankenhäuser: die Krankenhäuser Nr. 1, 15 und 22 (EUAA 9.2022; vgl. PK1 o.D., PK 22 o.D.). In St. Petersburg befindet sich das öffentliche psychiatrische Krankenhaus Nr. 1 (EUAA 9.2022; vgl. SPK1 o.D.). In manchen Regionen haben Patienten nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu psychischen Gesundheitseinrichtungen, da die meisten dieser Einrichtungen in Städten und weniger in entlegenen Gebieten zu finden sind. In einigen Regionen gibt es praktisch keine psychiatrischen Einrichtungen. Die Zahl ambulanter Einrichtungen sinkt. Teilweise wird die psychische Gesundheitsversorgung von der regionalen Ebene finanziert. Problematisch sind mangelnde finanzielle Ressourcen sowie dürftig ausgestattete Einrichtungen und fehlende Unterstützung durch NGOs und zivilgesellschaftliche Organisationen. Die Qualität der psychischen Gesundheitsversorgung ist niedrig. Die Zahl, der im psychischen Gesundheitsversorgungsbereich Beschäftigten sinkt (EUAA 9.2022).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen ist im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung kostenlos. Anspruch auf Behandlung psychischer Erkrankungen haben unter anderem Staatsbürger, legal Beschäftigte sowie Personen mit Langzeitaufenthaltsberechtigungen, welche eine obligatorische Krankenversicherung und einen registrierten Wohnsitz in Russland aufweisen. Zugang zu psychiatrischer Notfallversorgung ist für alle Patienten kostenlos. In der Praxis sind Medikamente für stationäre Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos, im Gegensatz zu Medikamenten für ambulante Behandlungen. In diesen Fällen müssen Patienten die Kosten selbst tragen. Kostenrückerstattungen für verschriebene Medikamente gehen sehr mühsam vonstatten, sodass viele Patienten selbst das Geld für die Medikamente aufbringen müssen. Im Allgemeinen sind psychiatrische Medikamente in der gesamten Russischen Föderation verfügbar, vor allem in größeren Städten (EUAA 9.2022).
[…]
Rückkehr
Letzte Änderung: 04.07.2023
Gemäß Art. 27 der Verfassung und im Einklang mit gesetzlichen Vorgaben haben russische Staatsbürger das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren (Duma 6.10.2022; vgl. RF 14.4.2023). Jedoch kommt es de facto beispielsweise im Zuge von Grenzkontrollen zu Befragungen Einreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen. Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments nach Russland einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen beim Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 28.9.2022). Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme (ÖB 30.6.2022; vgl. EUR-Lex 17.5.2007). Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach welchem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, kann diese Person in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB 30.6.2022).
Rückkehrende haben - wie alle anderen russischen Staatsbürger - Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen (IOM 7.2022). Sozialleistungen hängen vom spezifischen Fall des Rückkehrers ab. Zurückkehrende Staatsbürger haben ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann dementsprechend gegen Vorlage eines gültigen russischen Reisepasses oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren) eine Krankenversicherungskarte erhalten. Diese wird von der nächstgelegenen Krankenversicherungszweigstelle am Wohnsitzort ausgestellt (IOM 12.2022). Von Rückkehrern aus Europa wird manchmal die Zahlung von Bestechungsgeldern für grundsätzlich kostenlose Dienstleistungen (medizinische Untersuchungen, Schulanmeldungen) erwartet. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können nicht als spezifische Probleme von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB 30.6.2022).
Es sind keine Fälle bekannt, in welchen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten (AA 28.9.2022). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien für diejenigen Personen ergeben, welche bereits vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB 30.6.2022). Der Kontrolldruck der Sicherheitsbehörden gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. NGOs berichten von willkürlichem Vorgehen der Polizei bei Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen. Letztere finden vor allem in Tschetschenien auch ohne Durchsuchungsbefehle statt (AA 28.9.2022).
Sollte ein Einberufungsbefehl ergangen sein, ist diesem bei Rückkehr Folge zu leisten (ÖB 12.12.2022). Bei Vorliegen eines Einberufungsbefehls werden russische Staatsangehörige aus Tschetschenien - wie auch andere Bürger - nach Rückkehr in die Russische Föderation eingezogen und nach einer Ausbildung im Ukraine-Krieg eingesetzt (ÖB 25.1.2023). Differenziert wird hier zwischen Wehrdienstleistenden oder Reservisten bzw. zur Mobilisierung einberufenen Personen, denn Grundwehrdienstleistende dürfen nicht im Ukraine-Krieg eingesetzt werden (VB 26.4.2023).
[…]
Dokumente
Letzte Änderung: 04.07.2023
Die von den staatlichen Behörden ausgestellten Dokumente sind in der Regel echt und inhaltlich richtig. Dokumente russischer Staatsangehöriger aus den russischen Kaukasusrepubliken (insbesondere Reisedokumente) enthalten hingegen nicht selten unrichtige Angaben. Gründe hierfür liegen häufig in mittelbarer Falschbeurkundung und unterschiedlichen Schreibweisen von beispielsweise Namen oder Orten. In Russland ist es möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie beispielsweise Staatsangehörigkeitsausweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehle und Gerichtsurteile. Es gibt Fälschungen, die auf Originalvordrucken professionell hergestellt werden und nur mit speziellen Untersuchungen erkennbar sind. Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amts hat die Anzahl der im Asylverfahren vorgelegten Vorladungen, Urteile und Beschlüsse, die sich als Fälschungen herausgestellt haben, in der letzten Zeit erheblich zugenommen (AA 28.9.2022). Das niederländische Außenministerium berichtet über manche gefälschte europäische Visa in echten russischen Reisepässen. In der Vergangenheit traten einerseits Fälle gefälschter Einreisestempel in echten russischen Reisepässen auf und andererseits echte russische Reisepässe, welche im Besitz anderer Personen waren (NL-MFA 4.2021).
Weder die Staatendokumentation, noch der Verbindungsbeamte oder die Österreichische Botschaft können die Bedeutung von Reisepassnummern, welche sich auf die ausstellenden Behörden beziehen, nachvollziehen (VB 4.3.2021).
Tschetschenien
Die Verwaltungsstrukturen in Tschetschenien sind größtenteils wiederaufgebaut, sodass die Echtheit von Dokumenten aus Tschetschenien grundsätzlich überprüft werden kann. Probleme ergeben sich allerdings dadurch, dass bei den kriegerischen Auseinandersetzungen viele Archive zerstört wurden (AA 28.9.2022).
[…]“
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Identität und den persönlichen Verhältnissen der Beschwerdeführer:
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit der Beschwerdeführer ergeben sich aus den Angaben der Erstbeschwerdeführerin während ihrer Einvernahmen. Die Identität der Beschwerdeführer konnte aufgrund des im Akt befindlichen russischen Inlandsreisepasses der Erstbeschwerdeführerin sowie des im Akt befindlichen Auszuges aus dem Geburtseintrag der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich den Zweitbeschwerdeführer festgestellt werden. Auch das Geburtsland der Beschwerdeführer lässt sich diesen Urkunden entnehmen.
Die Feststellungen bezüglich die Sprachkenntnisse der Beschwerdeführer ergeben sich aus den glaubhaften Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Verfahren.
Die Feststellungen hinsichtlich den Ex-Mann der Erstbeschwerdeführerin und ihre weiteren Kinder, sind aufgrund der glaubhaften und schlüssigen Ausführungen der Erstbeschwerdeführerin zu treffen.
Auch die Feststellungen betreffend die Ausreise aus Russland, den Aufenthalt in Europa und in Österreich sowie jene hinsichtlich die Antragstellungen auf internationalen Schutz ergeben sich aus den schlüssigen Angaben der Erstbeschwerdeführerin und decken sich mit den Ergebnissen einer EURODAC Abfrage sowie einer Einsicht in das Zentrale Melderegister. Auch die Wohnorte in Österreich sind aus einer Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister ersichtlich. Der Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung ergibt sich aus einem Auszug aus dem Zentralen Fremdenregister. Informationen hinsichtlich des Angebotes in der nunmehrigen Unterkunft der Beschwerdeführer wurden der Homepage des XXXX entnommen. Die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung Sprachniveau A2 durch die Erstbeschwerdeführerin ist durch das in Kopie im Akt befindliche Zeugnis belegt.
Die Feststellungen zur Ausbildung der Erstbeschwerdeführerin fußen auf deren schlüssigen und gleichbleibenden Angaben im bisherigen Verfahren. Der Volksschulbesuch des Zweitbeschwerdeführers wurde durch Vorlage einer Schulnachricht des Schuljahres 2022/23 belegt.
Dass die Beschwerdeführer über familiäre Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation – darunter auch in Moskau und St. Petersburg – verfügen, konnte ebenfalls aus den diesbezüglichen Angaben der Erstbeschwerdeführerin geschossen werden.
Die Feststellungen hinsichtlich den Gesundheitszustand stützen sich – neben den Angaben der Erstbeschwerdeführerin – insbesondere auf den fachärztlichen Befundbericht der XXXX vom 24.07.2023. Hinsichtlich das Angebot an Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen in der Russischen Föderation ist auf die Länderfeststellungen (Punkt 1.3. sowie 2.3.) sowie die Ausführungen unter Punkt 2.2. zu verweisen.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit der Erstbeschwerdeführerin ergibt sich aus einer Einsichtnahme in das Strafregister, jene des Zweitbeschwerdeführers schon aus seinem Alter.
2.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer und zur Situation im Falle einer Rückkehr:
2.2.1. Dass der Erstbeschwerdeführerin keine Reflexverfolgung aufgrund der Probleme ihres Ex-Mannes in der Vergangenheit drohen, konnte – wie schon vom BFA zutreffender Weise ausgeführt – schon daraus geschossen werden, dass es der Erstbeschwerdeführerin nicht einmal möglich war, grundlegende Angaben dazu zu tätigen. Dazu gab sie in der Erstbefragung am 13.07.2021 an:
„Mein Ehemann hat in Tschetschenien politische Probleme gehabt. Welche Probleme mein Mann damals mit den Behörden genau hatte, dass weiß ich nicht. Er wurde zweimal in Tschetschenien festgenommen, geschlagen und gefoltert. Das war im Februar 2009. […]“.
In der Einvernahme vor dem BFA am 12.04.2022 gab sie an:
„LA: Sie gaben an, dass Ihr Mann politische Probleme hat, bitte machen Sie dazu konkrete Angaben?
VP: Ich weiß es nicht. Er hat mir nicht[s] erzählt. Er wurde zwei Mal abgeführt und gefoltert.
LA: Wiederholung der Frage? Wann war dieser Vorfall, was hat Ihnen Ihr Mann erzählt?
VP: Ich weiß es nicht.“
In der Einvernahme vor dem BFA am 07.10.2021 führte sie aus, dass sie vermutlich auch Probleme bekommen hätte, wenn ihr Ex-Mann Tschetschenien alleine verlassen hätte, sie aber persönlich keine Probleme mit der Polizei oder den Behörden gehabt habe. Man hätte nach ihrem Ex-Mann gesucht und ein Polizist hätte dabei den Frust an der Erstbeschwerdeführerin und ihrer Mutter ausgelassen, indem er sie angeschrien hätte.
Eine konkret und individuell gegen die Erstbeschwerdeführerin gerichtete Verfolgungsgefahr kann schon zum damaligen Zeitpunkt nicht erkannt werden, zumal die Erstbeschwerdeführerin laut ihren Angaben überhaupt nicht wusste, warum ihr damaliger Ehemann überhaupt gesucht worden sei.
Zusätzlich ist darauf zu verweisen, dass die angeführten Probleme des Ex-Mannes nun mehr als 14 Jahre in der Vergangenheit liegen und somit zusätzlich nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese – selbst unter Annahme eines wahren Kernes – noch Aktualität aufweisen könnten.
2.2.2. Aus den festgestellten Länderinformationen ergibt sich, dass für Tschetschenen in erster Linie die Eheschließung nach der Scharia von Bedeutung ist. Nach der Scharia ist die Ehe zwischen der Erstbeschwerdeführerin und XXXX aufgelöst. Sie führte in der Einvernahme am 12.04.2022 aus, dass ihr Ex-Mann ihr mündlich die Scheidung ausgesprochen habe. Dies deckt sich mit den Ausführungen in den Länderinformationen nach denen eine Scheidung gemäß dem tschetschenischen Gewohnheitsrecht derart abläuft, dass der Ehemann vor Zeugen „Ich verlasse dich!“ sagen muss.
Weiter ergibt sich, dass die örtlichen Behörden in Tschetschenien lokale Bräuche vollziehen, nach denen Kinder als Eigentum des Vaters und dessen Familie betrachtet werden. Gemäß dem Islam werden die Kinder nach der Scheidung der Eltern bis zu einem bestimmten Alter von der Mutter erzogen, falls sie nicht nochmals geheiratet hat – Buben bis zu einem Alter von sieben Jahren, Mädchen bis zur Erreichung der Volljährigkeit. Danach werden die Kinder dem Vater übergeben.
Den Länderinformationen kann auch nicht entnommen werden, dass die Russische Föderation gewillt ist, Schritte gegen die Vollziehung dieser „Tradition“ durch lokale Behörden zu setzen. In Tschetschenien herrscht vielmehr ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht und Scharia-Recht.
Daher findet die Sorge der Erstbeschwerdeführerin ihr könnte im Falle einer Rückkehr in ihre Heimatregion ihr Kind abgenommen und der Familie ihres Ex-Mannes zur Obsorge anvertraut werden, Rückhalt in den Länderinformationen, wenngleich nicht übersehen wird, dass der Ex-Mann der Erstbeschwerdeführerin ihr den Zweitbeschwerdeführer freiwillig zur Obsorge bzw. auch zur Mitnahme nach Österreich überlassen hat, während die übrigen Kinder sich freiwillig entschieden haben, bei ihrem Vater in Frankreich zu bleiben sowie dass sie nicht angeben konnte, wer von der Familie ihres Ex-Mannes konkret Interesse hätte, ihr im Falle ihrer Rückkehr nach Tschetschenien ihr Kind, den Zweitbeschwerdeführer, abzunehmen, sondern lediglich im Zuge der mündlichen Verhandlung sechs Onkel erwähnte die streng seien, ohne genauere Angaben zu machen.
Dass zudem nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Erstbeschwerdeführerin in Tschetschenen (erneut) zwangsverheiratet werden könnte, ergibt sich schon daraus, dass sie schlüssig darlegen konnte, bereits mit ihrem Ex-Mann zwangsweise verheiratet worden zu sein. Ihre Schilderung von der damaligen Entführung durch ihren nunmehrigen Ex-Mann spiegelt sich in den Länderinformationen wieder, nach denen Zwangsverheiratungen im Nordkaukasus häufig vorkommen, wobei sich unter den Zwangsverheirateten Kinder befinden und in Teilen des Nordkaukasus Frauen nach wie vor Brautentführungen ausgesetzt sind. Zudem ergibt sich aus den Länderfeststellungen, dass traditionelle Gesetze existieren, welche Frauen das Alleinleben ohne einen Mann nicht gestatten.
Es besteht die Möglichkeit als tschetschenische Frau solchen Verfolgungsgefahren durch die Niederlassung in anderen Teilen der Russischen Föderation, wie etwas in Moskau oder St. Petersburg zu entgehen. Dort sind laut den Länderinformationen Frauen weitaus bessergestellt als in Tschetschenen, es wird das russische Familien-, Ehe- und Obsorgerecht judiziert und es herrscht anders als in Tschetschenen kein Rechtspluralismus mit traditionellem Gewohnheitsrecht und Scharia-Recht. Es ist im Bedarfsfall auch möglich, sich an die dortigen Sicherheitsbehörden zu wenden.
Dass es auch für Tschetschenen möglich ist, sich dort niederzulassen, ergibt sich bereits daraus, dass die wirtschaftlich stärkeren Metropolen und Regionen in der Russischen Föderation, trotz der wirtschaftlich schwierigen Situation im Lichte der westlichen Wirtschaftssanktionen, bei vorhandener Arbeitswilligkeit auch entsprechende Chancen für russische Staatsangehörige aus der eher strukturschwachen Region des Nordkaukasus bieten. So sollen den oben zitierten Länderfeststellungen zufolge allein in Moskau ca. 200.000 Tschetschenen leben.
Fallgegenständlich ist den Beschwerdeführern eine Inanspruchnahme einer solchen innerstaatlichen Fluchtalternative insbesondere nach Moskau oder St. Petersburg auch zumutbar.
Insoweit die Erstbeschwerdeführerin in der Beschwerdeschrift – im Wesentlichen ohne das genauer zu begründen – die Gefahr der Freiheitsentziehung, Misshandlung bis hin zum Ehrenmord durch die Familie ihres Ex-Mannes anführte, ist zu beachten, dass die Beschwerdeführer auch einer solchen Bedrohung durch eine Niederlassung in anderen Teilen der Russischen Föderation entgehen könnten, weshalb keine genauere Auseinandersetzung erforderlich ist.
Es wird dabei nicht verkannt, dass die Erstbeschwerdeführerin an einer Wahnhaften Störung leidet und nur eingeschränkt arbeitsfähig ist. Dieses Bild ergibt sich vorrangig aus dem fachärztlichen Befundbericht der XXXX vom 24.07.2023, wurde aber zusätzlich auch durch die Angaben der Erstbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 24.07.2023 sowie einer Einsicht in ihre protokollierten Aussagen im Verfahren vor dem BFA bestärkt. Die Erstbeschwerdeführerin berichtet darin u.a. von einem Mann, in den sie sich in Österreich verliebt hätte und der ihr durch halb Europa nachgereist sei, möglichweise gleichzeitig auch ein sie in einem anderen Land behandelnder Gynäkologe gewesen sei, dem Misstrauen, dass ihr Ex-Mann sie wiederholt, u.a. mit einer Nachbarin betrogen habe, von Sozialarbeitern die zu ihr gekommen seien, um sie zu „begutachten“, der Verfolgung durch Tschetschenen in Österreich und Einbrüchen in ihre Wohnung mit einem angefertigten Zweitschlüssel, um ihre Sachen in Unordnung zu bringen, Dokumente zu entwenden und auf ihre Bettwäsche zu urinieren.
Im Falle einer Rückkehr wäre es für die Erstbeschwerdeführerin – auf sich allein gestellt – äußerst schwer die Existenz für sich und den Zweitbeschwerdeführer in ausreichendem Maße zu sichern. Sie musste bereits in Österreich mehrfach Unterkunft in einem Frauenhaus nehmen und befindet sich in psychiatrischer und medikamentöser Behandlung. Auch die derzeitige Unterkunft der Beschwerdeführer weist entsprechende Betreuungselemente auf. Ihr wurde im fachärztlichen Befundbericht zudem ein Suizidrisiko im Falle der Konfrontation mit einer Abschiebung in die Russische Föderation sowie die Gefahr der Entwicklung weiterer psychiatrischer Erkrankungen ärztlich attestiert.
Laut den Länderinformationen stehen auch in der Russischen Föderation psychiatrische Behandlungen – insbesondere medikamentöser Art – wenn auch nicht im selben Umfang wie in Österreich – zur Verfügung und das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger der Russischen Föderation ist in der Verfassung verankert. Zudem stehen in der Russischen Föderation auch Sozialhilfen, darunter solche für Alleinerziehende zur Verfügung. Weiters ergibt sich, dass es auch Schutzunterkünfte für alleinerziehende Mütter gibt.
Außerdem verfügt die Beschwerdeführer grundsätzlich auch über Verwandtschaft außerhalb Tschetscheniens, fallgegenständlich in Form des Vaters der Erstbeschwerdeführerin in Moskau und ihres Bruders in St. Petersburg. Aus den Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Verfahren ergibt sich, dass sie in Kontakt zu diesen steht, wenn auch nicht in sehr engem. Eine von ihr behauptete Verfolgungsgefahr, die gerade von ihrer eigenen Familie ausgeht, konnte sie nicht schlüssig darlegen. Ihr Vorbringen ist diesbezüglich weitgehend unglaubhaft.
So führte in der Einvernahme vor dem BFA am 07.10.2021 auf die Frag ob sie noch Kontakt zur Heimat habe aus:
„Ja mit meinen Eltern und Geschwistern[,] aber der Kontakt ist in letzter Zeit seltener. Ich versuche mich jetzt neu einzuordnen und deswegen stehe ich nicht eng mit ihnen in Kontakt, ich kontaktiere sie nur[,] damit sie sich keine Sorgen machen.“
Es wird nicht übersehen, dass sie weiter durchaus auch anführte:
„[…] außerdem werde ich von meinen Verwandten moralisch unter Druck gesetzt.“
In der Einvernahme vor dem BFA am 12.04.2022 gab sie zunächst noch an:
„LA: Wie oft haben Sie zu Ihren Eltern Kontakt?
VP: Ich habe 1x in der Woche Kontakt.
LA: Wie geht es Ihren Eltern, worüber sprechen Sie?
VP: Es geht Ihnen normal. Sie machen sich Sorgen um mich.
LA: Wie ist ihr Verhältnis zur Ihrer Familie und Verwandten?
VP: Grundsätzlich haben wir ein gutes Verhältnis, nur jetzt haben wir weniger Kontakt.“
In der Folge führte die Erstbeschwerdeführerin in völliger Abkehr zu ihren vorherigen Angaben aus, dass sie mit Problemen von Seiten beider Familien (wohl ihrer und der ihres Ex-Mannes) rechnen würde und sprach auf Nachfrage davon, dass man sie töten oder zwangsverheiratet würde. In der Beschwerdeschrift steigerte sie ihr Vorbingen abermals dahingehend, dass ihr Zwangsverheiratung, Freiheitsentziehung und/oder Misshandlungen bis hin zum Ehrenmord durch u.a. ihre eigene Familie drohen würden. In der Verhandlung fand dementsprechendes wiederum keine Erwähnung, sondern die Erstbeschwerdeführerin brachte lediglich vor, dass ihre Verwandten ihr nicht erlauben würden, in Russland (gemeint wohl außerhalb Tschetscheniens) zu leben. Außerdem schilderte sie erstmals die vorgebliche Situation ihrer Schwester, die ihre Kinder bei deren Vater habe zurücklassen müssen, was auch von ihrem Vater nicht verhindert worden sei. Dies unterscheidet sich selbst unter Wahrannahme jedoch vom gegenständlichen Fall schon dadurch, dass der Vater des Zweitbeschwerdeführers nach wie vor in Frankreich aufhält ist und diesen der Erstbeschwerdeführerin – wie bereits dargelegt – freiwillig überlassen hat. Auch zu einer mehrfach erwähnten Beziehung zu einem Franzosen nach der Trennung von ihrem Ex-Mann und einer vorgeblichen diesbezüglichen Bestrafungsgefahr durch ihre Verwandten machte sie keinerlei konkrete Angaben, sondern brachte diese lediglich überschriftartig vor.
In einer Gesamtschau entsteht für das erkennende Gericht der Eindruck, dass die Erstbeschwerdeführerin aus verfahrenstaktischen Gründen ein Bild der Beziehung zu ihren Eltern und Geschwistern zu zeichnen versuchte, dass nicht den Tatsachen entspricht. Dieser Eindruck wird durch die massive Steigerung im Laufe des Verfahrens gestärkt. Letztlich wird den oben zitierten Angaben der Erstbeschwerdeführerin in der Einvernahme vor dem BFA am 07.10.2021 sowie den anfänglich in der Einvernahme am 12.04.2022 gemachten Angaben Glauben geschenkt. Aus diesen lässt sich ein einigermaßen intaktes wenn auch durch die Trennung von ihrem Ex-Mann durchaus belastetes Verhältnis schließen. So brachte die Erstbeschwerdeführerin glaubhaft vor, dass ihre Verwandten versucht hätten, sie dazu zu bewegen, wieder zu ihrem Ex-Mann zurückzukehren. Gleichzeitig hält es das erkennende Gericht für maßgeblich Wahrscheinlich, dass die Beschwerdeführer sowohl von Seiten des Vaters der Erstbeschwerdeführerin in Moskau als auch ihres Bruders in St. Petersburg zumindest in Hinblick auf die Deckung der grundlegendsten Lebensbedürfnisse Unterstützung erwarten könnten und sie nicht gegen ihren Willen gezwungen werden würden, nach Tschetschenien zurückzukehren.
Im Übrigen besteht im Falle einer freiwilligen Rückkehr auch die Möglichkeit der finanziellen Unterstützung im Rahmen der Rückkehrhilfe und es haben die Beschwerdeführer laut den Länderinformationen im Herkunftsland wie alle anderen russischen Staatsbürger auch Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen.
Wenngleich sich die Beschwerdeführer in Moskau oder St. Petersburg in einer ungleich schwierigeren Lebensrealität wiederfinden würden, würden sie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht in eine derart aussichtslose Lage geraten, dass ihre Existenz bedroht wäre. Der Flughafen in Moskau ist für die Beschwerdeführer von XXXX aus ebenso wie jener in St. Peterburg auch (etwa über die Türkei) sicher und legal zu erreichen.
Mit Bezug auf die aktuellen Länderberichte zur Lage im Herkunftsstaat ist letztlich festzuhalten, dass die allgemeine Sicherheitslage in der Russischen Föderation als stabil zu bezeichnen ist und dass auch keine Umstände bekannt sind, wonach dort eine solche extreme Gefährdungslage besteht, dass gleichsam jeder, der in die Russische Föderation zurückkehrt, einer Gefährdung im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre – dies auch unter Berücksichtigung der aktuellen Lage zur Covid-19-Pandemie und des Ukraine-Krieges.
2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die getroffenen Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das BVwG kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem BVwG von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht (wesentlich) geändert haben und insbesondere für das BFA notorisch sind.
3. Rechtliche Beurteilung
Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das BVwG durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da im vorliegenden Verfahren keine Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, liegt gegenständlich Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 idF BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Zu A)
3.1. Zum Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide – Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten:
3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt der dem § 3 Abs. 1 AsylG 2005 zu Grunde liegenden, in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334). Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sei, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. z.B. VwGH vom 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; vom 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; vom 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (vgl. VwGH 21.09.2000, Zl. 2000/20/0241; VwGH 14.11.1999, Zl. 99/01/0280). Die Verfolgungs-gefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH vom 09.09.1993, Zl. 93/01/0284; vom 15.03.2001, Zl. 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt daher nur dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einen in Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft. Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn die Asylentscheidung erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH vom 09.03.1999, Zl. 98/01/0318 und vom 19.10.2000, Zl. 98/20/0233).
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. – des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108, mwN).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (in der Folge: VwGH) kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 10.04.2020, Ra 2019/19/0415, mwN).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, 94/18/0263; VwGH 01.02.1995, 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).
Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (vgl. z.B. VwGH 24.03.1999, 98/01/0352 mwN; VwGH 15.03.2001, 99/20/0036; VwGH 15.03.2001, 99/20/0134). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer „inländischen Flucht- oder Schutzalternative“ (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, VwGH 29.03.2001, 2000/20/0539). Wesentlich für die Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative sind die individuellen Umstände des Asylwerbers (VwGH 16.07.2021, Ra 2020/01/0299).
3.1.2. Das Gericht bestreitet nicht, dass geschiedenen, alleinerziehenden Frauen die nach Tschetschenien zurückkehren, die Kinder abgenommen und deren Vater bzw. dessen Familie zur Obsorge übergeben werden können. Außerdem kommt es auch zu Zwangsverheiratungen. Beides findet auch Deckung in den festgestellten Länderinformationen und kann auch im Falle der Beschwerdeführer – wie bereits in der Beweiswürdigung klargestellt – nicht mit ausreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
Den Beschwerdeführern ist es aber, nach zu erwartenden anfänglichen Schwierigkeiten und mit entsprechender Unterstützung durch den russischen Staat einerseits und ihre Familie andererseits, möglich und zumutbar, außerhalb Tschetscheniens in Russland etwa in Moskau oder St. Petersburg Fuß zu fassen und dort ein Leben zu führen, ohne Gefahr zu laufen, in eine völlig ausweglose Situation zu geraten, in der ihnen jede Existenzgrundlage entzogen wäre.
Der Zweitbeschwerdeführer machte keine eigenen Fluchtgründe geltend.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der gegenständlichen Bescheide ist somit als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zu Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide – Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten:
3.2.1.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Nach § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 leg. cit. mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 leg. cit. zu verbinden.
Nach der Rechtsprechung des VwGH setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Falle der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0053, mwN).
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (vgl. VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137, mwN insbesondere zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes).
Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095).
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Falle der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht für sich betrachtet jedenfalls nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309).
Es obliegt grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde. Es reicht für den Asylwerber nicht aus, sich bloß auf eine allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage zu berufen (VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016; VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307; VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134).
3.2.1.2. Im Vorliegenden Fall ist nicht zu befürchten, dass die Beschwerdeführer im Falle ihrer Rückkehr nach Russland ein „real risk“ einer Verletzung ihrer durch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu befürchten hätten:
Das Vorliegen einer die Beschwerdeführer betreffenden individuellen Verfolgungsgefahr wurde verneint und auch sonst liegen keine Indizien dafür vor, dass sie im Herkunftsland (aktuell) etwaigen Repressalien, in Form unmenschlicher Behandlung oder der Todesstrafe ausgesetzt wären. Im Übrigen wird auch an dieser Stelle erneut auf die Möglichkeit der zumutbaren Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative hingewiesen.
Im Hinblick auf die aktuellen Länderberichte und dem notorischen Amtswissen konnte ferner – trotz des Ukraine-Kriegs und der damit einhergehenden westlichen Wirtschaftssanktionen – keine allgemein lebensbedrohliche Situation in der Russischen Föderation festgestellt werden und die Grundversorgung der Bevölkerung ist ebenfalls gewährleistet.
Wie bereits beweiswürdigend dargelegt, wären die Beschwerdeführer, in der Russischen Föderation in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (z.B. Nahrung, Unterkunft) keiner lebensbedrohlichen Situation ausgesetzt. Den Beschwerdeführern wäre es mit entsprechender Hilfe mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit möglich, ein Leben zu führen, ohne in eine völlig ausweglose Situation zu geraten.
3.2.2.1. Es hat auch kein Fremder das Recht in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden. Dies selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielland gibt, ist es unerheblich, ob die Behandlung dort nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK.
Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Herkunftsstaat oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. etwa VwGH vom 21.02.2017, Ra 2017/18/0008 bis 0009, unter Verweis auf das Urteil des EGMR vom 13.12.2016, Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien).
3.2.2.2. Gegenständlich konnte nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer an sehr schwerwiegenden oder gar lebensbedrohlichen Krankheiten leiden. Die Behandlung der physischen Probleme der Erstbeschwerdeführerin (insbesondere die Wahnhafte Störung) ist auch in der Russischen Föderation grundsätzlich möglich, entsprechende Medikamente stehen auch dort zur Verfügung. Eine Rückführung der Beschwerdeführer in die Russische Föderation stellt folglich auch unter diesem Aspekt keine Verletzung nach Art. 3 EMRK dar.
Überdies ist festzuhalten, dass die österreichische Fremdenpolizeibehörde bei der Durchführung einer Abschiebung im Falle von bekannten Erkrankungen des Fremden durch geeignete Maßnahmen dem jeweiligen Gesundheitszustand Rechnung zu tragen hat. Insbesondere erhalten kranke Personen eine entsprechende Menge der benötigten verordneten Medikamente. Anlässlich einer Abschiebung werden von der Fremdenpolizeibehörde auch der aktuelle Gesundheitszustand und insbesondere die Transportfähigkeit beurteilt sowie gegebenenfalls bei gesundheitlichen Problemen entsprechende Maßnahmen gesetzt. Bei Vorliegen schwerer psychischer Erkrankungen und insbesondere bei Selbstmorddrohungen werden geeignete Vorkehrungen zur Verhinderung einer Gesundheitsschädigung getroffen (vgl. in diesem Sinne zuletzt VwGH 18.05.2018, Ra 2018/01/0189-7, mit Hinweis auf EuGH 16.02.2017, C.K. u.a./Slowenien, C-578/16 PPU). Dahingehend stellt auch das diagnostizierte Suizidrisiko im Falle der Konfrontation mit einer Abschiebung kein hinreichendes Abschiebungshindernis dar.
3.2.3. In einer Gesamtbetrachtung ist folglich nicht zu erkennen, dass die Beschwerdeführer im Falle ihrer Abschiebung in die Russische Föderation in eine völlig ausweglose Lebenssituation geraten und real Gefahr laufen würde, eine Verletzung ihrer durch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden.
Im Ergebnis ist daher auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide abzuweisen.
3.3. Zu Spruchpunkt III. und IV. der angefochtenen Bescheide – Zur Nichterteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“, zur Rückkehrentscheidung und zur Ausstellung von Aufenthaltstiteln:
3.3.1. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.
Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen, wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht (Z 1), zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel (Z 2) oder wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist (Z 3).
Nach der Rechtsprechung des VwGH entspricht § 57 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 in Wortlaut und Inhalt im Wesentlichen den Vorgängerbestimmungen des § 69a Abs. 1 Z 2 NAG 2005 idF BGBI. I Nr. 29/2009 bzw. § 72 Abs. 2 NAG 2005 in der Stammfassung. Zu der Ietztgenannten Vorschrift hielten die Gesetzesmaterialien u.a. fest, „sicherheitspolitisches Ziel (der Norm sei es), Fremde, die in besonderem Maße Repressalien ausgesetzt sind, staatlich zu schützen“ (ErläutRV 952 BlgNR 12. GP 147). Diese Voraussetzung sah der Gesetzgeber in den ausdrücklich genannten Fällen des Menschenhandels und der grenzüberschreitenden Prostitution im Allgemeinen als gegeben an. Durch die Anführung dieser Delikte wurde aber auch zum Ausdruck gebracht, dass andere gerichtlich strafbare Handlungen (arg. "insbesondere") nur dann eine Aufenthaltsberechtigung nach § 57 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 rechtfertigen können, wenn bei ihnen – unter Bedachtnahme auf die Umstände des Einzelfalles – eine mit den explizit genannten Straftaten vergleichbare Gefahrenlage vorliegt (VwGH 18.11.2021, Ra 2020/22/0273).
Nach dem VwGH ist eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nach § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 nur dann zu erteilen, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass dies zum Schutz vor weiterer Vorheriger Gewalt erforderlich ist. In diesem Zusammenhang hat der VwGH bereits klargestellt, dass die Situation im Herkunftsland in den Blick zu nehmen ist (VwGH 06.11.2018, Ra 2017/01/0292, mwN).
Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet ist nicht geduldet (Z 1). Die Beschwerdeführer sind nicht Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel geworden und auch nicht von solchen Straftaten, bei denen eine vergleichbare Gefahrenlage vorliegt (Z 2). Die Beschwerdeführer konnten zudem nicht glaubhaft machen, dass ein Aufenthaltstitel zum Schutz vor weiterer Gewalt in der Familie erforderlich wäre. Vielmehr könnten sich die Beschwerdeführer wie bereits dargelegt in einem anderen Teil der Russischen Föderation ansiedeln, etwa in Moskau oder St. Petersburg, und es wäre ihnen im Bedarfsfall auch möglich und zumutbar, sich an die dortigen Sicherheitsbehörden zu wenden (Z 3). Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher im Fall der Beschwerdeführer nicht vor.
3.3.2. Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und keine begünstigten Drittstaatsangehörigen. Es kommt ihnen auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu, da mit der erfolgten Abweisung ihrer Anträge auf internationalen Schutz das Aufenthaltsrecht nach § 13 AsylG 2005 mit der Erlassung dieser Entscheidung endet. Daher war gegenständlich gemäß § 52 Abs. 2 FPG grundsätzlich eine Rückkehrentscheidung vorgesehen.
3.3.3.1. Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist (§ 9 Abs. 1 BFA-VG).
Gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
Gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Nach Art 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob die aufenthaltsbeendende Maßnahme einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungsgerichtshofes (in der Folge: VfGH) und des VwGH jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundene Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (vgl. EGMR Kroon sowie VfGH vom 28.06.2003, G 78/00). Der Begriff des Familienlebens ist nicht auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (vgl. EGMR Marckx, EGMR vom 23.04.1997, X u.a.).
Unter „Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. EuGRZ 2006, 554, Sisojeva ua. gegen Lettland). Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessensabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt.
Bei dieser Interessensabwägung sind – wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht, Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 18.224/2007 sowie VwGH vom 03.04.2009, Zl. 2008/22/0592; vom 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216; vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479 und vom 26.01.2006, Zl. 2002/20/0423).
Private Interessen am Verbleib im Bundesgebiet können facettenreich sein. Tendenziell ist eine (regelmäßige) Erwerbstätigkeit und vor allem die damit verbundene Selbsterhaltungsfähigkeit ein wichtiger Aspekt. Im Erkenntnis des VwGH vom 20.04.2006, 2005/18/0560, dürfte mitentscheidend gewesen sein, dass der Beschwerdeführer seit fast fünf Jahren ununterbrochen, noch dazu beim selben Dienstgeber, legal beschäftigt war. Für die wirtschaftliche Integration ist nicht maßgeblich, ob es sich um eine qualifizierte Tätigkeit handelt. Hingegen erachtet der VwGH die Integration als stark gemindert, wenn Unterstützungszahlungen karitativer Einrichtungen oder bloße Gelegenheitsarbeiten den Unterhalt gewährleisten oder erst gegen Ende des mehrjährigen Aufenthalts die Tätigkeit als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter ins Treffen geführt werden kann und bis dahin Sozialhilfe bezogen wurde (vgl. VwGH 11.10.2005, 2002/21/0124; VwGH 22.06.2006, 2006/21/0109; VwGH 05.07.2005, 2004/21/0124 u.a.).
Als eine berufliche und soziale Verfestigung, die eine "gelungene Integration" erkennen lässt, wertete der VwGH den Fall eines als Fliesenleger tätigen (ehemaligen) Asylwerbers, der über gute Deutsch-Kenntnisse, einen großen Freundes- und Kollegenkreis verfügte und mit einer Österreicherin im gemeinsamen Haushalt wohnte, wobei auch seine Schwester, eine österreichische Staatsbürgerin, mit ihrer Familie im Bundesgebiet lebte. Aspekte zugunsten des/der Fremden können daher neben Verwandten und Freunden im Inland auch Sprachkenntnisse, ausreichender Wohnraum und die Teilnahme am sozialen Leben sein. In Anbetracht der meistens nicht sehr langen Aufenthaltsdauer und des "abgeschwächten" Aufenthaltsrechts werden strafgerichtliche Verurteilungen die Interessenabwägung erheblich zuungunsten der privaten Interessen verschieben. Weitgehende Unbescholtenheit gilt hingegen als wichtiges Element für die Annahme sozialer Integration (vgl. VwGH 05.07.2005, 2004/21/0124 u.a.; sowie Marx, Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG wegen Verwurzelung, ZAR, 2006, 261 ff).
Zugunsten minderjähriger Asylwerber/Asylwerberinnen beziehungsweise minderjähriger Familienangehöriger ist der Schulbesuch und ein besonderer Schulerfolg oder eine Berufsausbildung zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die Aufenthaltsdauer wird bei Kindern häufig schon eine kürzere Zeit als bei Erwachsenen ausreichen, um eine Verwurzelung im Gastland festzustellen. Auch kommt bei Kindern dem Bezug von Sozialhilfeleistungen (durch ihre Eltern) keine entscheidende Bedeutung zu, auch wenn zur Beurteilung einer Verfestigung in Österreich und der Frage einer Reintegration im Heimatstaat alle Umstände – und damit auch die familiären Verhältnisse – zu berücksichtigen sind (vgl. VfSlg 16.657/2002; VwGH 19.10.1999, 99/18/0342 u.a.).
Der Aspekt der Bindungen zum Heimatstaat steht in direkter Beziehung zur Integration im Bundesgebiet: Je länger der Aufenthalt im Gastland, desto stärker wird der Verlust an Bindungen zum Heimatland sein. Mit der Abnahme von Bindungen zum Herkunftsstaat wird in der Regel auch der Integrationsgrad im Bundesgebiet zunehmen. Das Fehlen jeglicher Verwandter und sonstiger Bezugspersonen im Heimatland wird ebenso wie der zwischenzeitlich eingetretene Verlust der Sprache des Heimatlandes für die Frage der Zumutbarkeit einer Reintegration maßgebliche Bedeutung erlangen (Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 858 f.).
3.3.3.2. Vor dem Hintergrund der in § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG normierten Integrationstatbestände, die zur Beurteilung eines schützenswerten Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK zu berücksichtigen sind, ist in der gegenständlichen Rechtssache der Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer nicht durch die in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten öffentlichen Interessen gerechtfertigt. Dies ergibt sich aus nachfolgenden Gründen:
Wie festgestellt hielt sich die Erstbeschwerdeführerin bereits im Jahr 2009 ohne den Zweitbeschwerdeführer sowie in den Jahren 2019 bis 2020 gemeinsam mit dem Zweitbeschwerdeführer jeweils aber nur für wenige Monate im Bundesgebiet auf. Nunmehr sind die Beschwerdeführer seit Juli 2021, sohin seit mehr als zwei Jahren, durchgehend gemeinsam als Asylwerber in Österreich aufhältig. Sie sind unbescholten und leben im gemeinsamen Haushalt.
Der Erstbeschwerdeführerin ist es gelungen die Integrationsprüfung Sprachniveau A2 erfolgreich abzulegen. Daraus, dass sich die Erstbeschwerdeführerin sohin unter Berücksichtigung ihrer Erziehungspflichten sowie insbesondere ihrer psychischen Probleme in relativ kurzer Zeit die Grundlagen der deutschen Sprache angeeignet hat, kann durchaus geschossen werden, dass sie sich um ihre Integration bemüht.
Auch wenn dieser Umstand jedenfalls zu Gunsten der Erstbeschwerdeführerin zu wertet ist, so kann insbesondere unter Berücksichtigung der kurzen Aufenthaltsdauer von etwas mehr als zwei Jahren in einer Gesamtbetrachtung nicht von einer tiefgreifenden Integration von außergewöhnlichem Ausmaß gesprochen werden.
Auch wenn die Erstbeschwerdeführerin seit dem Jahr 2009 sohin seit rund 14 Jahren nicht mehr in der Russischen Föderation war, so hat sie doch den überwiegenden Teil ihres Lebens dort verbracht, ist ebendort aufgewachsen und hat die Schule sowie im Anschluss die Universität besucht, weshalb sie mit den kulturellen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten ihres Herkunftsstaates gut vertraut ist. Die Erstbeschwerdeführerin spricht Tschetschenisch als Muttersprache und unter anderem auch Russisch. Zudem verfügt sie – wie bereits mehrfach angeführt – über familiäre Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation. Raum für die Annahme einer völligen Entwurzelung im Hinblick auf ihren Herkunftsstaat besteht sohin nicht.
Hinsichtlich des bald achtjährigen Zweitbeschwerdeführers ist ein besonderes Augenmerk auf das Kindeswohl zu richten. In diesem Zusammenhang hat auch der VwGH wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung betont (vgl. VwGH Ra 2019/19/0475, mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH sind bei einer Rückkehrentscheidung, von welcher Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt hinsichtlich der Beurteilung des Kriteriums der Bindungen zum Heimatstaat nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 21.11.2022, Ra 2021/19/0457, mwN).
Zunächst wird nicht verkannt, dass sich der Zweitbeschwerdeführer mit seinen sieben Jahren nach der Rechtsprechung des VwGH in einem anpassungsfähigen Alter befindet (vgl. VwGH 03.05.2018, Ra 2018/18/0195; mwN) und zudem Russisch spricht. An dieser Stelle sei jedoch darauf zu verweisen, dass die Annahme eines anpassungsfähigen Alters ohne die Berücksichtigung individueller das Kind betreffender Kriterien zunehmender Kritik ausgesetzt ist (vgl. etwa den Bericht der Kindeswohlkommission vom 13.07.2021 –https://www.bmj.gv.at/themen/Fokusthemen/Kindeswohlkommission.html ).
Es ist fallgegenständlich jedoch insbesondere darauf Bedacht zu nehmen, dass sich der Zweitbeschwerdeführer noch nie in der Russischen Föderation aufgehalten hat. Vielmehr hat er sich Zeit seines Lebens ausschließlich in westeuropäischen Ländern (Deutschland, Frankreich und Österreich) aufgehalten und ist bisher sohin dort aufgewachsen und sozialisiert worden, weshalb zweifelsfrei von einer engeren kulturellen Bindung zu diesen Ländern ausgegangen werden kann. Zumindest seitdem die Beschwerdeführer in Österreich leben, kann auch kein tschetschenisch geprägtes Umfeld mehr erkannt werden. Die Erstbeschwerdeführerin hat im Gegenteil ihr Misstrauen gegenüber der tschetschenischen Community in der mündlichen Verhandlung ausreichend deutlich zum Ausdruck gebracht.
Auch besuchte der Zweitbeschwerdeführer in Österreich bereits einen Kindergarten und besucht nunmehr eine öffentliche Volksschule in XXXX und ist dabei die Deutsche Sprache zu erlernen.
Der VfGH hat wiederholt die besonders sorgfältige Prüfung der Rückkehrsituation für Minderjährige als besonders vulnerable Antragstellende hervorgehoben und darauf verwiesen, dass dieses Verständnis im Einklang mit Art. 24 Abs. 2 GRC bzw. Art. I zweiter Satz des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern, BGBl. I Nr. 4/2011, steht, wonach bei allen Maßnahmen öffentlicher Stellen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (vgl. VfGH 10.3.2021, E 345/2021 u.a., mit Hinweis insbesondere auf EuGH 6.6.2013, Rs. C-648/11, MA u.a.). Auf diese Rechtsprechung verweist auch der VwGH (vgl. VwGH 12.10.2022, Ra 2022/18/0124).
Wenngleich wie oben dargelegt (vgl. Punkt 3.2.) eine Abschiebung der Beschwerdeführer in die Russische Föderation nicht zu einer Verletzung der Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK führen würde, weil es ihnen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zumindest mit Unterstützung gelingen würde, nicht in eine ihre Existenz bedrohende Notlage zu geraten, so würde sich die Lage des Zweitbeschwerdeführers doch dramatisch verschlechtern und das wäre mit einem hohen Maß an Schwierigkeiten verbunden. Ein dem Wohl des Zweitbeschwerdeführers entsprechendes Zusammenleben gemeinsam mit seiner Mutter, der Erstbeschwerdeführerin scheint vor allem ob des in Österreich bestehenden engmaschigen Unterstützungsangebotes möglich zu sein. Die Erstbeschwerdeführerin leidet an einer Wahnhaften Störung und musst im Zusammenhang damit auch schon mehrfach Unterkunft in einem Frauenhaus in XXXX , nehmen. Auch die jetzige Unterkunft XXXX ist u.a. für Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern ausgelegt und dort wird Hilfe bei der Orientierung im Alltag und spezielle Angebote für Kinder angeboten. Das Bestehen eines vergleichbareren Unterstützungsangebotes in der Russischen Föderation kann den Länderinformationen nicht entnommen werden. Ein solches scheint aber fallgegenständlich ob der individuellen Situation der Beschwerdeführer im Sinne des Kindeswohls geboten. Nach Art. 1 des BVG über die Rechte von Kindern hat jedes Kind Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für sein Wohlergehen notwendig sind, auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung sowie auf die Wahrung seiner Interessen. Auch bei BVwG Entscheidungen hat das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung zu sein. Eine Rückkehrentscheidung würde diesem Recht fallgegenständlich entgegenstehen.
Letztlich ist auch Rücksicht darauf zu nehmen, dass der Zweitbeschwerdeführer bereits zwei Mal in seinem bisherigen (jungen) Leben aus einem kulturellen und sprachlichen Umfeld gerissen wurde und sich in einer völlig neuen Umgebung (wenn auch durchwegs in westeuropäischen Ländern) zurechtfinden musste. Auch wenn sich der Zweitbeschwerdeführer nunmehr zumindest im Lichte der höchstgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. 03.05.2018, Ra 2018/18/0195; mwN) in einem anpassungsfähigen Alter befindet, kann ihm das nicht erneut zugemutet werden. Das Verhalten seiner Eltern kann dem Zweitbeschwerdeführer dabei nur in gemindertem Ausmaß angelastet werden (vgl. etwa VfGH 07.10.2014, U 2459/2012).
In Zusammenschau dieser Erwägung überwiegt unter der Berücksichtigung des Kindeswohls des Zweitbeschwerdeführers das persönliche Interesse der Beschwerdeführer am Verbleib im Bundesgebiet gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts der Beschwerdeführer im Bundesgebiet (bzw. dem Nichtausstellen von Aufenthaltstiteln). Nicht verkannt wird, dass das Kindeswohl nicht unbedingt die Oberste Erwägung zu sein hat (VwGH 25.04.2019, Ra 2018/22/0251). Fallgegenständlich sind jedoch keine Umstände – wie etwa eine Straffälligkeit – zu entdecken, die zu einer Verstärkung der öffentlichen Interessen führen würden. Die Erstbeschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten und auch offenbar eine mit den in Österreich geschützten rechtlichen Werten verbundene Frau.
Damit erweisen sich die in den angefochtenen Bescheiden erlassen Rückkehrentscheidungen aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation insbesondere unter Berücksichtigung des Kindeswohls des Zweitbeschwerdeführers als unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Hinsichtlich die Erstbeschwerdeführerin, da die Rückkehr allein der Mutter des Zweitbeschwerdeführers selbstredend ebenso dem Kindeswohl widerspräche.
Wie dargestellt, beruhen die drohenden Verletzungen des Privat- und Familienlebens auf Umständen, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind.
Daher sind in Erledigung der Beschwerden die angefochtenen Rückkehrentscheidungen in Bezug auf den Herkunftsstaat der Russischen Föderation für auf Dauer unzulässig zu erklären.
3.3.4. Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.
Gemäß § 54 Abs. 1 AsylG 2005 werden Drittstaatsangehörigen folgende Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt:
1. „Aufenthaltsberechtigung plus“, die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG), BGBl. Nr. 218/1975 berechtigt;
2. „Aufenthaltsberechtigung“, die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt;
3. „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“, die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt.
Gemäß Abs. 2 leg. cit. sind diese Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen.
Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn
1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017 erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.
Nach § 55 Abs. 2 AsylG 2005 ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen, wenn nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vorliegt.
§ 9 IntG lautet unter der Überschrift „Modul 1 der Integrationsvereinbarung“ auszugsweise:
„§ 9. […]
(4) Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige
1. einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 11 vorlegt,
[…]
Die Erfüllung des Moduls 2 (§ 10) beinhaltet das Modul 1.
(5) Ausgenommen von der Erfüllungspflicht gemäß Abs. 1 sind Drittstaatsangehörige,
1. die zum Ende des Zeitraums der Erfüllungspflicht (Abs. 2) unmündig sein werden;
[…]“
§10 Abs. 2 IntG lautet auszugsweise:
„Das Modul 2 der Integrationsvereinbarung ist erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige
1. einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 12 vorlegt,
3. minderjährig ist und im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht eine Primarschule (§ 3 Abs. 3 Schulorganisationsgesetz (SchOG), BGBl. Nr. 242/1962) besucht oder im vorangegangenen Semester besucht hat,
[…]“
Für die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ müssen die Voraussetzungen nach Z 1 und Z 2 des § 55 Abs. 1 AsylG 2005 kumulativ vorliegen. Daher ist nicht nur zu prüfen, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels für die Beschwerdeführer zur Aufrechterhaltung deren Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist, sondern auch, ob die Beschwerdeführer das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz erfüllen oder mit einem die Geringfügigkeitsgrenze erreichenden Einkommen arbeiten.
Mit Erkenntnis vom 04.08.2016, Ra 2016/21/0203, betonte der VwGH, dass hinsichtlich der Beurteilung der Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG eine formalistische Sichtweise anzuwenden sei und die Vorlage eines der in § 9 der Integrationsvereinbarungs-Verordnung aufgezählten Zertifikate nicht im Rahmen der freien Beweiswürdigung ersetzt werden könne.
Wie aus dem Verfahrensgang und den getroffenen Feststellungen ersichtlich, hat die Erstbeschwerdeführerin die Integrationsprüfung Sprachniveau A2 bestanden. Damit erfüllt sie gemäß § 9 Abs. 4 Z 1 IntG das Modul 1 der Integrationsvereinbarung, weshalb die Voraussetzungen für eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 für die Erstbeschwerdeführerin vorliegen.
Der Zweitbeschwerdeführer ist noch minderjährig und besucht eine Volksschule, welche gemäß § 3 Abs. 3 SchOG eine Primarschule darstellt. Unter Bedachtnahme auf § 9 Abs. 4 letzter Satz iVm § 10 Abs. 2 Z 3 IntG erfüllt er dadurch das Modul 2 (dieses beinhaltet das Modul 1) der Integrationsvereinbarung, weshalb die Voraussetzungen für eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 vorliegen.
Da die Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltstiteln nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 im Falle der Beschwerdeführer in Folge des Ausspruches der dauerhaften Unzulässigkeit einer diese betreffenden Rückkehrentscheidung gegeben sind, ist spruchgemäß zu entscheiden und den Beschwerdeführern jeweils der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen.
Die Aufenthaltstitel gelten gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum. Die Formulierung im Spruch (Erteilung der befristeten Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von zwölf Monaten) folgt den Ausführungen des VwGH im Erkenntnis vom 17.12.2019, Ra 2019/18/0281.
Die faktische Ausstellung der entsprechenden Karten fällt unter die Kompetenz des BFA.
3.4. Zur Behebung der Spruchpunkte V. und VI. der angefochtenen Bescheide:
Da das BVwG zur Auffassung gelangt (siehe Ausführungen zu 3.3.3.), dass in casu der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. der angefochtenen Bescheide stattzugeben ist (Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung) und die Spruchpunkte V. (Zulässigkeit der Abschiebung) und VI. (Frist für die freiwillige Ausreise) der angefochtenen Bescheide rechtlich auf deren Spruchpunkt IV. aufbauen, ist diesen die rechtliche Grundlage entzogen, weshalb sie ersatzlos zu beheben sind.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des VwGH ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des VwGH auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des BVwG auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
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