Normen
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z5
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190457.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die Revisionswerber sind armenische Staatsangehörige. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind die Eltern des minderjährigen Drittrevisionswerbers. Der Erstrevisionswerber stellte am 28. November 2005 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 21. Juni 2006 wurde der Erstrevisionswerber wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen, als Mitglied einer kriminellen Vereinigung begangenen, schweren Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs. 1 Z 4, 130 erster und zweiter Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt.
3 Mit Bescheid vom 4. Oktober 2006 wies das Bundesasylamt den Antrag des Erstrevisionswerbers ab, erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Armenien für zulässig und wies den Erstrevisionswerber aus dem österreichischen Bundesgebiet aus.
4 Am 15. November 2006 stellte der Erstrevisionswerber einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesasylamt mit Bescheid vom 4. Dezember 2006 wegen entschiedener Sache zurückwies und den Erstrevisionswerber aus dem österreichischen Bundesgebiet auswies. Die gegen den Bescheid erhobene Berufung wies der Unabhängige Bundesasylsenat mit Bescheid vom 15. Februar 2007 als unbegründet ab.
5 Am 4. September 2007 wurde der Erstrevisionswerber nach Armenien abgeschoben.
6 Am 29. bzw. 30. Juni 2012 stellten der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin Anträge auf internationalen Schutz in der Slowakei. Für den am 27. April 2009 in der Russischen Föderation geborenen Drittrevisionswerber wurde am 30. Juni 2012 ebenso ein Antrag auf internationalen Schutz in der Slowakei gestellt.
7 Am 24. Juli 2012 stellte der Erstrevisionswerber seinen zweiten Folgeantrag sowie die Zweitrevisionswerberin ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Für den Drittrevisionswerber wurde am selben Tag ein Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt.
8 Mit Bescheiden vom 15. September 2012 wies das Bundesasylamt die Anträge der Revisionswerber gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurück, stellte für die Prüfung der Anträge die Zuständigkeit der Slowakei fest, traf Anordnungen zur Außerlandesbringung und sprach überdies aus, dass deren Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Slowakei zulässig sei. Mit Erkenntnis vom 2. Oktober 2012 wies der Asylgerichtshof die dagegen erhobenen Beschwerden als unbegründet ab.
9 Am 28. Oktober 2012 wurden die Revisionswerber in die Slowakei überstellt, wobei diese noch am selben Tag in das österreichische Bundesgebiet zurückkehrten.
10 Mit Urteil des Bezirksgerichts Mödling vom 7. März 2014 wurde der Erstrevisionswerber wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Wochen verurteilt.
11 Am 20. August 2014 stellten die Revisionswerber erneute Anträge auf internationalen Schutz. Mit Bescheiden vom 7., 10. bzw. 11. Februar 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurück, stellte für die Prüfung der Anträge die Zuständigkeit der Slowakei fest, traf Anordnungen zur Außerlandesbringung und stellte die Zulässigkeit der Abschiebung in die Slowakei fest. Mit Erkenntnis vom 11. Mai 2015 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobenen Beschwerden als unbegründet ab und stellte die Rechtmäßigkeit der Außerlandesbringung fest.
12 Am 31. Jänner 2017 reisten die Revisionswerber freiwillig aus dem Bundesgebiet aus.
13 Am 25. April 2018 stellten die Revisionswerber die gegenständlichen Folgeanträge auf internationalen Schutz.
14 Mit Bescheiden vom 11. Juni 2018 wies das BFA die Anträge der Revisionswerber ab, erteile ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Armenien zulässig sei, erließ auf die Dauer von vier Jahren befristete Einreiseverbote, trug den Revisionswerbern auf, in einem näher bezeichneten Quartier Unterkunft zu nehmen, und erkannte Beschwerden gegen die Entscheidungen die aufschiebende Wirkung ab.
15 Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das BVwG die dagegen erhobenen Beschwerden der Revisionswerber nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab, legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
16 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
17 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.
18 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
19 Die gemeinsame Revision der Revisionswerber bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, das BVwG habe seine Annahme, die Rückkehrentscheidung stelle einen zumutbaren Eingriff in das Kindswohl dar, auf zum Teil rein spekulative Annahmen ‑ insbesondere in Hinblick auf die Sprachkenntnisse und sozialen Anknüpfungspunkte des Drittrevisionswerbers ‑ gestützt, ohne die erforderlichen Ermittlungen anzustellen und ohne den Drittrevisionswerber einzuvernehmen. Das BVwG habe sich auch nicht näher damit auseinandergesetzt, welche Bezugspersonen der Drittrevisionswerber in Österreich verlieren würde. In diesem Zusammenhang wäre die Einvernahme der Tante des Drittrevisionswerbers durch das BVwG geboten gewesen. Die privaten Interessen des Drittrevisionswerbers an einem Verbleib in Österreich würden die öffentlichen Interessen an der Erlassung einer Rückkehrentscheidung jedenfalls überwiegen, da der in der Russischen Föderation geborene Drittrevisionswerber insbesondere keine Bindungen zu seinem Herkunftsstaat Armenien und nur geringe Kenntnisse der armenischen Sprache aufweise, seit seinem dritten Lebensjahr in Österreich lebe, ein sehr enges Verhältnis zu seiner in Österreich lebenden Tante habe, fließend Deutsch spreche, den Kindergarten und die Schule in Österreich besucht habe, über zahlreiche soziale und kulturelle Anknüpfungspunkte in Österreich verfüge und an sportlichen Wettkämpfen teilgenommen habe. In Armenien bestehe kein gesicherter Wohn‑ und Arbeitsplatz, sowie die Unsicherheit, ob bzw. wo der Drittrevisionswerber in die Schule gehen könne.
20 Soweit die Revision vorbringt, das BVwG habe zu den sozialen Anknüpfungspunkten und den Armenisch-Kenntnissen des Drittrevisionswerbers keine Ermittlungen angestellt, ist dem entgegen zu halten, dass das BVwG im Rahmen der mündlichen Verhandlung dem Erstrevisionswerber Fragen zum Alltag des Drittrevisionswerbers in Österreich stellte, der Erstrevisionswerber sich im Rahmen dieser Befragung zu den Armenisch-Kenntnissen des Drittrevisionswerbers äußerte, und das BVwG auch einen Zeugen zur Integration der Revisionswerber befragte. Die Frage, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht weitere Ermittlungsschritte setzen muss, unterliegt einer einzelfallbezogenen Beurteilung. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge insoweit nur dann vor, wenn die Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre (vgl. VwGH 28.10.2021, Ra 2021/19/0261, mwN). Dies zeigt die Revision mit ihrem Vorbringen im Hinblick auf die vom BVwG im Rahmen der mündlichen Verhandlung durchgeführten Ermittlungen nicht auf.
21 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn kein revisibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel (vgl. VwGH 21.9.2022, Ra 2022/19/0225, mwN).
22 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 19.6.2020, Ra 2019/19/0475, mwN).
23 In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA‑VG vorzunehmenden Interessenabwägung betont (vgl. erneut VwGH Ra 2019/19/0475, mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind bei einer Rückkehrentscheidung, von welcher Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt hinsichtlich der Beurteilung des Kriteriums der Bindungen zum Heimatstaat nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA‑VG dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 19.5.2022, Ra 2022/19/0048, mwN).
24 Im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigte das BVwG, dass der Drittrevisionswerber den überwiegenden Teil seines Lebens in Österreich verbracht habe und ging davon aus, dass seine Bindungen zu Österreich bedeutend stärker seien, als zu Armenien. Der Drittrevisionswerber sei jedoch in einer armenischen Familie sozialisiert worden und spreche Armenisch als Muttersprache, so dass er in Begleitung seiner Eltern in den Herkunftsstaat zurückkehren könne, in dem er über ein familiäres Netzwerk verfüge. Das BVwG hat sich in diesem Zusammenhang auch hinreichend mit dem Kindeswohl und der Frage des Schulbesuches des Drittrevisionswerbers im Herkunftsstaat befasst. Die Revision zeigt nicht auf, dass die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung an einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangelhaftigkeit leidet.
25 Soweit die Revision das Unterbleiben der amtswegigen Einvernahme der Tante des Drittrevisionswerbers rügt, gelingt es ihr vor diesem Hintergrund nicht, die Relevanz des vorgebrachten Verfahrensmangels aufzuzeigen (zum Erfordernis der Relevanzdarstellung vgl. etwa VwGH 22.4.2022, Ra 2021/19/0470, mwN).
26 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
27 Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 21. November 2022
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