Normen
AsylG 2005 §18 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022190225.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein indischer Staatsangehöriger, stellte am 28. Oktober 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Laufe des Verfahrens damit begründete, Mitglied der Khalistan‑Bewegung und wegen seiner Teilnahme an Protesten von der Polizei unbegründet festgenommen worden zu sein. Außerdem habe seine Familie Grundstücksstreitigkeiten.
2 Mit Bescheid vom 2. Dezember 2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem nunmehr in Revision gezogenen Erkenntnis vom 1. April 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig.
4 Mit Beschluss vom 29. Juni 2022, E 1257/2022‑5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen das Erkenntnis des BVwG gerichteten Beschwerde ab und trat diese dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
8 Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision zunächst vor, das BVwG habe es unterlassen, Erhebungen zu den Fluchtgründen des Revisionswerbers im Herkunftsstaat durchzuführen und ein Sachverständigengutachten zur Überprüfung seiner Angaben einzuholen.
9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besteht jedoch ein allgemeines Recht auf eine fallbezogene Überprüfung des Vorbringens durch Recherche im Herkunftsstaat nicht. Die Beurteilung der Erforderlichkeit derartiger Erhebungen im Sinn des § 18 Abs. 1 letzter Satz AsylG 2005 obliegt der ermittelnden Behörde bzw. dem Verwaltungsgericht (vgl. etwa VwGH 29.1.2021, Ra 2020/19/0455, mwN). Die Frage, ob amtswegige Erhebungen erforderlich sind, stellt regelmäßig keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung dar, weil es sich dabei um eine einzelfallbezogene Beurteilung handelt. Solchen Fragen kann (nur) dann grundsätzliche Bedeutung zukommen, wenn tragende Grundsätze des Verfahrensrechtes auf dem Spiel stehen (vgl. nochmals VwGH Ra 2020/19/0455, mwN). Die Revision zeigt mit ihrem nicht näher konkretisierten Vorbringen nicht auf, dass das BVwG sein Verfahren mit einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangelhaftigkeit belastet hätte.
10 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit des Weiteren vor, das BVwG sei auf die glaubwürdig dargelegten Fluchtgründe des Revisionswerbers nicht ausreichend eingegangen. Es hätte prüfen müssen, ob für den Revisionswerber in Indien Lebensgefahr bestehe bzw. ob ausreichend Schutzmechanismen für Personen, wie den Revisionswerber, in Indien existieren würden.
11 Soweit sich die Revision damit gegen die Beweiswürdigung wendet, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach dieser ‑ als Rechtsinstanz ‑ zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen ist. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung in Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht im Einzelfall die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 27.5.2021, Ra 2021/19/0162, mwN).
12 Entgegen den Revisionsausführungen, wonach das BVwG ohne konkrete Sachverhaltsgrundlage bloß von allgemeinen Annahmen ausgegangen sei und nicht tragfähige Spekulationen angestellt habe, setzte sich das BVwG ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ im Rahmen der Beweiswürdigung mit dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers umfassend auseinander und gelangte zum Ergebnis, dass die Fluchtgründe nicht glaubwürdig seien. Dies wurde im Wesentlichen mit den Angaben des Revisionswerbers im Laufe des Verfahrens begründet, die das BVwG unter anderem als widersprüchlich, vage und nicht nachvollziehbar wertete. Das bloß pauschale Revisionsvorbringen zeigt nicht auf, dass die Beweiswürdigung fallbezogen unvertretbar wäre.
13 Schließlich bringt die Revision in ihrer Zulässigkeitsbegründung zur Rückkehrentscheidung vor, es fehle „nach wie vor an einer klaren Rechtsprechung“ des Verwaltungsgerichtshofes, „wann von einer außergewöhnlichen Integration eines Asylwerbers auszugehen“ sei.
14 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn kein revisibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel (vgl. VwGH 4.4.2022, Ra 2021/19/0227, mwN).
15 Dieses Vertretbarkeitskalkül ist vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu sehen, wonach der Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nicht dazu berufen ist, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern ‑ diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten. Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof hat nur dann zu erfolgen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 23.6.2020, Ra 2020/20/0189, mwN).
16 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 10.2.2021, Ra 2021/19/0016, mwN). Bei dieser Beurteilung ist somit stets auf die den konkreten Einzelfall betreffenden Aspekte abzustellen, weshalb schon von daher der in der Revision angesprochene Klärungsbedarf nicht besteht (vgl. erneut VwGH Ra 2020/20/0189, mwN).
17 Im vorliegenden Fall hat das BVwG in der Interessenabwägung die für den Revisionswerber sprechenden Umstände mit den gegen ihn sprechenden Umständen abgewogen und ist zum Schluss gekommen, dass die öffentlichen Interessen an einer Außerlandesbringung die privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Inland überwiegen würden. Dass sich das BVwG bei der Gewichtung dieser Umstände von den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien entfernt oder diese in unvertretbarer Weise zur Anwendung gebracht hätte, ist - auch in Anbetracht der Dauer des weniger als zweijährigen Aufenthaltes und des Fehlens familiärer Bindungen im Bundesgebiet - nicht zu sehen (zur Interessenabwägung bei einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren vgl. VwGH 19.3.2021, Ra 2019/19/0123).
18 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am 21. September 2022
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