VwGH Ra 2020/20/0189

VwGHRa 2020/20/018923.6.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, in den Rechtssachen der Revisionen 1. der M M, 2. des N K, und 3. der T J, alle in S, alle vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts je vom 16. Dezember 2019, 1. L526 2190596‑1/13E, 2. L526 2190592‑1/13E und 3. L526 2190588‑1/15E, jeweils betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020200189.L00

 

Spruch:

Die Revisionen werden zurückgewiesen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige von Georgien. Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der (im Jahr 1997 geborenen) Drittrevisionswerberin. Der Zweitrevisionswerber und die Drittrevisionswerberin sind Lebensgefährten. Sie stellten am 4. April 2017 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diese Anträge mit den Bescheiden je vom 15. Februar 2018 ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte jeweils fest, dass die Abschiebung nach Georgien zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde jeweils mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3 Die dagegen von den revisionswerbenden Parteien sowie deren minderjährigen Kindern, deren Anträge ebenfalls erfolglos blieben und für die keine Revisionen eingebracht wurden, erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht mit den Erkenntnissen je vom 16. Dezember 2019 ‑ mit der Maßgabe, dass die Frist für die freiwillige Ausreise jeweils mit zwei Monaten festgesetzt wurde ‑ als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision an den Verwaltungsgerichtshof jeweils gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Die revisionswerbenden Parteien erhoben Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung derselben mit Beschluss vom 26. Februar 2020, E 225‑230/2020‑7, ablehnte und die Beschwerden dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. In der Folge wurden die gegenständlichen Revisionen eingebracht.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Die revisionswerbenden Parteien machen geltend, es seien zu ihren Fluchtgründen keine Erhebungen im Herkunftsstaat durchgeführt und zur Überprüfung ihrer Angaben auch kein Sachverständigengutachten eingeholt worden. Daher habe das Bundesverwaltungsgericht die Pflicht zu amtswegig vorzunehmenden Ermittlungen verletzt.

9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unterliegt es der einzelfallbezogenen Beurteilung des Verwaltungsgerichtes, ob weitere amtswegige Erhebungen erforderlich sind. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG läge in diesem Zusammenhang nur dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Ergebnis geführt hätte (vgl. VwGH 9.7.2019, Ra 2019/01/0155; 28.1.2020, Ra 2019/20/0580; jeweils mwN). Aufgrund welcher konkreten Umstände das Bundesverwaltungsgericht in den vorliegenden Fällen gehalten gewesen wäre, von der Notwendigkeit weiterer amtswegiger Erhebungen auszugehen, wird von den revisionswerbenden Parteien allerdings nicht dargetan.

10 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass ein allgemeines Recht auf eine fallbezogene Überprüfung des Vorbringens eines Asylwerbers durch Recherche im Herkunftsstaat nicht besteht (vgl. VwGH 10.1.2020, Ra 2019/20/0579, mwN).

11 Weiters entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Angaben eines Asylwerbers zu den Gründen seiner Flucht nicht in das Aufgabengebiet eines Sachverständigen fällt, sondern dem Kernbereich der richterlichen Beweiswürdigung zuzurechnen ist (vgl. VwGH 19.2.2020, Ra 2020/14/0036, mwN). Inwieweit ein Sachverständigengutachten dazu im Rahmen der Beurteilung der gegenständlichen Einzelfälle konkret einen maßgeblichen Beitrag hätte leisten können, ist anhand der Ausführungen in der Revision nicht zu sehen.

12 Entgegen den Ausführungen in den Revisionen, wonach das Bundesverwaltungsgericht ohne konkrete Sachverhaltsgrundlage bloß allgemeine Annahmen getätigt und Spekulationen angestellt habe, setzte sich dieses mit dem Vorbringen der revisionswerbenden Parteien und den aktuellen Berichten zur Lage im Herkunftsstaat der revisionswerbenden Parteien auseinander. Dass das Bundesverwaltungsgericht seine Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hätte (vgl. VwGH 15.4.2020, Ra 2020/20/0114, mwN), vermögen die revisionswerbenden Parteien nicht darzulegen.

13 Darüber hinaus ist festzuhalten, dass mit diesen Behauptungen ‑ ebenso wie mit dem Vorbringen, das Bundesverwaltungsgericht habe veraltete Länderberichte herangezogen ‑ Verfahrensmängel gerügt werden, deren Relevanz, weshalb also bei Vermeidung dieser Verfahrensmängel in der Sache ein anderes, für die revisionswerbenden Parteien günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, bereits in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung dargetan werden muss. Dies setzt (in Bezug auf Feststellungsmängel) voraus, dass ‑ auf das Wesentliche zusammengefasst ‑ jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. etwa VwGH 15.5.2020, Ra 2020/20/0064, mwN). Abgesehen davon, dass das Bundesverwaltungsgericht seinen Entscheidungen ohnedies das im Entscheidungszeitpunkt aktuelle Georgien betreffende Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zugrunde gelegt hat, gelingt es den revisionswerbenden Parteien (auch in den Revisionsgründen) nicht, die Relevanz der behaupteten Ermittlungsmängel darzutun.

14 Soweit sich die revisionswerbenden Parteien in der Zulässigkeitsbegründung unter Hinweis auf diverse Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes gegen das Unterbleiben einer Verhandlung wenden, wird ein konkreter Bezug zu ihren Fällen nicht hergestellt. Weshalb das Bundesverwaltungsgericht von den Leitlinien des Verwaltungsgerichtshofes, nach denen gemäß dem hier maßgeblichen § 21 Abs. 7 BFA‑VG von der Durchführung einer Verhandlung Abstand genommen werden darf, abgewichen wäre (vgl. dazu etwa VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018; 14.8.2019, Ra 2019/20/0103, mwN), wird in den Revisionen nicht dargelegt. Zudem ist nicht ersichtlich, weshalb das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung die revisionswerbenden Parteien daran gehindert hätte, dem Bundesverwaltungsgericht weitere dem Nachweis ihrer Integration dienende Unterlagen vorzulegen.

15 Die revisionswerbenden Parteien bringen weiters zur Zulässigkeit der Revision in Bezug auf die Erlassung der Rückkehrentscheidungen vor, es fehle „nach wie vor an einer klaren Rechtsprechung des VwGH, wann von einer außergewöhnlichen Integration eines Asylwerbers auszugehen“ sei.

16 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG.

17 Dieses Vertretbarkeitskalkül ist vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu sehen, wonach der Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nicht dazu berufen ist, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern ‑ diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten. Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof ist nur dann unausweichlich, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat.

18 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden.

19 Bei dieser Beurteilung ist somit stets auf die den konkreten Einzelfall betreffenden Aspekte abzustellen, weshalb schon von daher der in der Revision angesprochene Klärungsbedarf nicht besteht (vgl. zum Ganzen VwGH 3.6.2020, Ra 2020/20/0161, mwN).

20 Das Bundesverwaltungsgericht hat bei der die revisionswerbenden Parteien betreffenden Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG auf die fallbezogen entscheidungswesentlichen Umstände Bedacht genommen. Dass sich das Bundesverwaltungsgericht bei der Gewichtung dieser Umstände von den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien entfernt oder diese in unvertretbarer Weise zur Anwendung gebracht hätte, ist nicht zu sehen.

21 Von den revisionswerbenden Parteien werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revisionen waren daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren in nicht öffentlicher Sitzung zurückzuweisen.

Wien, am 23. Juni 2020

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