AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art.133 Abs4
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art.133 Abs4
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2017:W163.1412851.2.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Daniel LEITNER als Einzelrichter über die Beschwerde des Herrn XXXX (auch: XXXX ), geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl im Verfahren Zahl XXXX , nach Durchführung mündlicher Verhandlungen am 10.11.2015 und am 20.12.2016, zu Recht erkannt:
A)
I. Der Antrag auf internationalen Schutz von XXXX (auch: XXXX ), wird bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.
II. Gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG wird eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt und XXXX (auch: XXXX ) ein Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt
I.1. Verfahrensgang 1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) hat nach unrechtmäßiger und schlepperunterstützter Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 27.12.2009 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, gestellt.
Am selben Tag fand vor einem Organ der Bundespolizei die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt.
2. In weiterer Folge wurde der BF am 15.03.2010 vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Innsbruck im Asylverfahren niederschriftlich einvernommen.
3. Das Bundesasylamt hat mit Bescheid vom 13.04.2010, Zl. XXXX , den Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I. und II), und den BF gemäß § 10 Abs 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen (Spruchpunkt III).
4. Gegen den og. Bescheides des Bundesasylamtes richtet sich die am 20.04.2010 beim Bundesasylamt fristgerecht und mit 20.04.2010 datierte Beschwerde des BF an den Asylgerichtshof. Darin wurde beantragt, der Asylgerichtshof möge dem BF die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen.
5. Mit Eingaben vom 21.01.2011 und 10.02.2012 übermittelte der BF Beschwerdeergänzungen.
6. Das mit 01.01.2014 zuständige Bundesverwaltungsgericht behob mit Beschluss vom 02.06.2014, GZ W148 1412851-1/18E, in Erledigung der Beschwerde gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz den bekämpften Bescheid und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) zurück.
6. Mit Schreiben vom 01.06.2015, eingelangt beim Bundesverwaltungsgericht am 12.06.2015 ("Säumnisbeschwerde – Vorlage"), übermittelte das BFA den Verwaltungsakt einschließlich der Säumnisbeschwerde des rechtsfreundlichen Vertreters des BF vom 22.05.2015 und teilte mit, dass der Akt aufgrund des hohen Arbeitsaufkommens und der anhaltenden angespannten personellen Situation nicht fristgerecht erledigt werden könne.
7. Mit Eingabe vom 12.10.2015 wurden Unterlagen zu den Integrationsbemühungen des BF vorgelegt.
8. Das Bundesverwaltungsgericht führte in der gegenständlichen Rechtssache am 10.11.2015 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein seines rechtsfreundlichen Vertreters teilnahm. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlung wurde auf unbestimmte Zeit vertagt.
9. Mit Eingabe vom 18.11.2015 bestätigte der rechtsfreundliche Vertreter die Richtigkeit und Echtheit des im Verfahren vorgelegten Haftbefehls und erklärte sich damit einverstanden, XXXX als nichtamtlichen Sachverständigen für das Verfahren zu bestellen und Erhebungen im Herkunftsstaat des BF durchzuführen.
10. Mit Beschluss vom 02.12.2015 wurde XXXX zum Sachverständigen bestellt und mit Erhebungen im Herkunftsstaat des BF beauftragt
11. Mit Eingabe vom 24.03.2016 wurden Unterlagen zu den Integrationsbemühungen des BF vorgelegt.
12. Am 26.04.2016 wurden die in Auftrag gegebenen Erhebungsergebnisse des bestellten Sachverständigen vorgelegt.
13. Mit Eingaben vom 23.06.2016 und vom 28.06.2016 wurden Bestätigungen zum Gesundheitszustand des BF vorgelegt.
14. Für den 06.09.2016 wurde die Fortsetzung der auf unbestimmte Zeit vertagten Verhandlung anberaumt. Da der BF in der Verhandlung die Befürchtung äußerte, der nicht muttersprachlich Pashtu sprechende Dolmetscher könnte ihn missverstehen, wurde die mündliche Verhandlung neuerlich auf unbestimmte Zeit vertagt.
15. Die für 05.10.2016 anberaumte Fortsetzung der Verhandlung wurde kurzfristig abberaumt, da die bestellte Dolmetscherin akut erkrankte.
16. Am 20.12.2016 wurde die öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht fortgesetzt. Der BF nahm im Beisein seines bevollmächtigten Vertreters an der Verhandlung teil.
17. Mit Eingabe vom 22.12.2016 wurden Befundberichte den BF betreffend vorgelegt.
I.2. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens (Sachverhalt)
Das Bundesverwaltungsgericht geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgebenden Sachverhalt aus:
a) Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei
1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX im Dorf XXXX , Stadtteil XXXX , Provinz XXXX (Afghanistan). Der BF ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Der BF ist Angehöriger der Volksgruppe der Pashtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Pashtu.
2. Der BF ist nicht verheiratet, nicht verlobt und hat keine Kinder. Der BF hat einen Alphabetisierungskurs in Afgahnistan besucht und die Schule bis zur siebten Klasse nachgeholt. Danach hat der BF auf den familieneigenen Grundstücken gearbeitet und später ein Lebensmittelgeschäft in der Stadt XXXX geführt. Die Familie des BF lebt in der Stadt XXXX .
3. Der BF hat Afghanistan im Herbst des Jahres 2009 verlassen und ist über den Iran, die Türkei und weitere ihm unbekannte Länder bis nach Österreich gereist, wo er nach schlepperunterstützter und unrechtmäßiger Einreise am 27.12.2009 den gegenständlichen Antrag gestellt hat.
4. Der BF befindet sich in kontinuierlicher psychotherapeutischer Behandlung mit der Eingangsdiagnose "Mittelgradige depressive Symptomatik mit somatischem Syndrom (ICD 10 F 32.11)".
5. Der BF befindet sich seit 27.12.2009 durchgehend im Bundesgebiet. Der BF spricht ausreichend Deutsch und hat ein ÖSD-Zertifikat A2 erworben. Derzeit besucht der BF einen Deutschkurs auf Niveau B1. Der BF hat seinen jahrelangen Aufenthalts im Bundesgebiet dazu genützt, freundschaftliche und soziale Kontakte aufzubauen und hat ehrenamtlich gearbeitet. Der BF ist auf die Unterstützung im Rahmen der Grundversorgung angewiesen.
6. Der Beschwerdeführer war in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt und wurden von ihm asylrelevante Gründe für das Verlassen seines Heimatstaates nicht glaubhaft dargetan. Es ist nicht glaubhaft, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung Verfolgung droht.
Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).
Dem Beschwerdeführer steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in der Stadt Kabul zur Verfügung.
b) Zur Lage im Herkunftsstaat
1. Die im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zur Lage in Afghanistan decken sich mit dem Amtswissen des BVwG und werden gemeinsam mit den aktuellen nachfolgend. angeführten Feststellungen, die in der mündlichen Verhandlung am 20.12.2016 den Parteien zur Kenntnis gebracht wurden, diesem Erkenntnis zugrunde gelegt.
2. Das BVwG trifft folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 21.01.2016, in der Fassung vom 29.07.2016):
Verfassung:
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung erarbeitet, die schließlich im Januar 2004 ratifiziert wurde (IDEA o.D.) und auf der Verfassung aus dem Jahr 1964 basiert. Bei Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und dass alle Bürger Afghanistans, Mann und Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Max Planck Institute 27.01.2004).
Afghanistans Präsident und CEO:
Am 29.09.2014 wurde Ashraf Ghani als Präsident Afghanistans vereidigt (CRS 12.01.2015). Nach monatelangem Streit hatten sich Ghani und Abdullah auf eine gemeinsame Einheitsregierung geeinigt. Das Abkommen sieht vor, dass für den Zweitplatzierten bei der Wahl der Posten eines bislang nicht vorgesehenen Ministerpräsidenten geschaffen wird (FAZ 15.06.2014). Abdullah, der Verlierer der Präsidentschaftswahl, bekam den Posten des Geschäftsführers der Regierung bzw. "Chief Executive Officer" (CEO) der Regierung (CRS 12.01.2015). Diese per Präsidialdekret eingeführte Position weist Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers auf (AA 8 .2015). Der CEO fungiert quasi als Premierminister, auch wenn eine Verfassungsänderung zur formalen Schaffung des Postens des Premierministers noch ausständig ist (CRS 12.01.2015).
Regierungsbildung:
Obwohl Ghani ursprünglich versprochen hatte, 45 Tage nach seiner Vereidigung eine Regierung zu präsentieren, zeichnete sich bald ab, dass dieses Versprechen nicht eingehalten werden kann, da für die Regierungsbildung in Afghanistan für die Kabinettsposten die Koalitionspartner aus Ghanis und Abdullahs Lager gleichermaßen berücksichtigt werden müssen. Eine Regierung muss die starken regionalen und ethnischen sowie Stammesbindungen und -befindlichkeiten berücksichtigen, soll sie im ganzen Land akzeptiert sein. Ferner beabsichtigte Ghani, die Ministerien nur Personen mit Fachkenntnissen anzuvertrauen und keine bisherigen Minister oder Parlamentarier ins Kabinett aufzunehmen, um so die Voraussetzungen für einen kompetenten Neuanfang zu schaffen. Doch wird die Übung unter solchen Prämissen zusätzlich erschwert. Ghanis Kabinettsliste war in Afghanistan mit Erleichterung aufgenommen worden, weil das Land endlich eine handlungsfähige Regierung braucht. Zwar fragten sich Beobachter wie das Afghanistan Analysts Network einerseits, inwieweit eine junge und recht unerfahrene Regierung den Herausforderungen gewachsen sei. Anderseits wurde Ghanis Festhalten am Versprechen, keine politischen Schwergewichte der Vergangenheit in die Regierung aufzunehmen, durchaus anerkennend kommentiert (NZZ 22.01.2015).
Parlament und Parlamentswahlen:
Die afghanische Nationalversammlung, Shuraye Melli, basiert auf einem Zweikammersystem, das sich in ein Unterhaus, Wolesi Jirga, und ein Oberhaus, Meshrano Jirga, auch Ältestenrat oder Senat genannt, gliedert. Das Unterhaus setzt sich aus 249 Sitzen zusammen, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze und für die Minderheit der Kuchi 10 Sitze im Unterhaus reserviert (USDOS 25.06.2015; vgl. CRS 15.10.2015 und CRS 12.01.2015).
Das Oberhaus setzt sich aus 102 Sitzen zusammen. Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Ein Drittel der Sitze, wovon wiederum 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst, (CRS 12.01.2015; vgl. CRS 15.10.2015). Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für Behinderte bestimmt. Die verfassungsmäßig vorgegebenen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von 25% im Parlament und über 30% in den Provinzräten. Ein Sitz im Oberhaus ist für die Ernennung eines Sikh- oder Hindu-Repräsentanten reserviert (USDOS 25.06.2015).
Eine der wesentlichen Neuerungen, welche die Parlamentswahlen 2005 und 2010 betrafen, war die "single non-transferable vote (SNTV)"-Regelung. Jedem Wahlkreis ist, proportional zur Bevölkerungszahl, mehr als ein Sitz im Parlament zugeteilt. Die Wähler des Wahlkreises können jeweils eine Stimme abgeben. Die Sitze des Wahlkreises gehen an die Kandidaten des Kreises in der Reihenfolge der Anzahl der von ihnen gewonnenen Stimmen. Dieses System ist weltweit sehr selten (UNAMA o.D.; vgl. NDI 2011; vgl. CRS 15.10.2015). Durch das System treten die Kandidaten individuell gegeneinander an und erlangen die Sitze nicht über Parteilisten (CRS 15.10.2015).
Die Rolle des Zweikammern-Parlaments (Unterhaus "Wolesi Jirga", Oberhaus "Meshrano Jirga") bleibt trotz wachsenden Selbstbewusstseins der Parlamentarier begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit der kritischen Anhörung und auch Abänderung von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Generell leidet die Legislative aber nicht nur unter ihrer schwachen Rolle im Präsidialsystem, sondern auch unter dem unterentwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 06.11.2015).
Parteien:
Die afghanische Parteienlandschaft ist wenig entwickelt und mit über 50 registrierten Parteien stark zersplittert. Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen in der Regel mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des Parteiensystems ist auch auf das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes zurückzuführen sowie auf das Wahlsystem (Direktwahl mit einfacher, nicht übertragbarer Stimme). Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen der verschiedenen politischen Lager immer wieder gestört (AA 06.11.2015).
Oppositionsbewegungen und Parteien – ganz gleich ob Kommunisten oder rechtsreligiös – wurden gezwungen, entweder unterzutauchen oder ins Exil zu gehen. Unter einer neuen und formellen Verfassung haben sich seit 2001 früher islamistisch-militärische Fraktionen, kommunistische Organisationen, ethno-nationalistische Gruppen und zivilgesellschaftliche Gruppen zu politischen Parteien gewandelt. Sie repräsentieren einen vielgestaltigen Querschnitt der politischen Landschaft und haben sich in den letzten Jahren zu Institutionen entwickelt. Keine von ihnen ist eine Organisation politischen Glaubens oder Mobilmacher von Wähler/innen, wie es Parteien in reiferen Demokratien sind. Der Terminus Partei umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen, aber nicht immer durch Wahlerfolge (USIP 3.2015).
Die Machtstrukturen in Afghanistan sind vielschichtig und verwoben. Eignung, Befähigung und Leistung spielen oftmals eine untergeordnete Rolle bei der Verteilung politischer bzw. administrativer Ämter. Die Entscheidungen über viele Personalien, auch in entlegenen Provinzen, werden von der Zentralregierung in Kabul, häufig sogar vom Präsidenten getroffen. Im Vielvölkerstaat Afghanistan spielen informelle Beziehungsnetzwerke und der Proporz der Ethnien eine wesentliche Rolle. Die Machtverteilung wird national und auch lokal so austariert, dass die Loyalität einzelner Persönlichkeiten und Gruppierungen gesichert erscheint. Handeln lokale Machthaber entgegen der Regierungspolitik, bleiben Sanktionen allerdings häufig aus. Politische Allianzen werden in der Regel nach pragmatischen Gesichtspunkten geschmiedet. Dadurch kommt es, für Außenstehende immer wieder überraschend, zu Koalitionswechseln und dem Herauslösen von Einzelpersonen aus bestehenden politischen Verbindungen, unabhängig von Parteistrukturen (AA 06.11.2015).
Im Jahr 2009 wurde ein neues Parteiengesetz eingeführt, welches eine Neuregistrierung aller Parteien verlangte und ferner zum Ziel hatte, ihre Zahl zu reduzieren. Anstatt wie bisher die Unterschrift von 700 Mitgliedern vorzuweisen, mussten sie nun 10.000 Unterschriften aus allen Provinzen einbringen. Diese Bedingung reduzierte tatsächlich die Zahl der offiziell registrierten Parteien von mehr als 100 auf 63, trug aber scheinbar nur wenig zur Konsolidierung von Parteiunterstützungsbasen oder institutionalisieren Parteipraktiken bei (USIP 3.2015).
Friedens- und Versöhnungsprozess:
Der afghanische Friedens- und Versöhnungsprozess ist nach einem ersten direkten und öffentlichen Treffen zwischen Regierung und Taliban in diesem Jahr wieder ins Stocken geraten. Die von der RNE sofort nach Amtsantritt konsequent auf den Weg gebrachte Annäherung an Pakistan stagniert, seit die afghanische Regierung Pakistan der Mitwirkung an mehreren schweren Sicherheitsvorfällen in Afghanistan beschuldigte. Im Juli 2015 kam es erstmals zu direkten Vorgesprächen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban über einen Friedensprozess, die aber nach der Enthüllung des jahrelang verschleierten Todes des Taliban-Führers Mullah Omar bereits nach der ersten Runde wieder eingestellt wurden. Beide Seiten haben sich aber grundsätzlich weiter zu Verhandlungen bereit erklärt. Die Reintegration versöhnungswilliger Insurgenten bleibt weiter hinter den Erwartungen zurück, auch wenn bis heute angeblich ca. 10.000 ehemalige Taliban über das "Afghanistan Peace and Reintegration Program" in die Gesellschaft reintegriert wurden (AA 06.11.2015).
Sicherheitslage:
Im Zeitraum 01.08.-31.10.2015 verzeichnete die UNO landesweit 6.601 sicherheitsrelevante Vorfälle. Diese Vorfälle beziehen sich auf Arbeit, Mobilität und Sicherheit von zivilen Akteuren in Afghanistan. Dies bedeutet eine Steigerung von 19% zum Vergleichszeitraum des Jahres 2014. 62% dieser Vorfälle fanden in den südlichen, südöstlichen und östlichen Regionen statt. Im Berichtszeitraum gelang es den Taliban, neben Kunduz City weitere 16 Distriktzentren einzunehmen. Deren Großteil befindet sich im Norden (Badakhshan, Baghlan, Faryab, Kunduz, Sar-e Pul und Takhar), im Westen (Faryab) und im Süden (Helmand und Kandahar) des Landes. Den afghanischen Sicherheitskräften war es jedoch möglich, bis Ende Oktober 13 Distriktzentren wieder zurückzuerobern (UN GASC 10.12.2015).
Im Zeitraum 01.06.-31.07.2015 registrierte die UNO landesweit 6.096 sicherheitsrelevante Vorfälle, ein Rückgang von 4,6% zum Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die geographische Reichweite des Konfliktes fokussierte sich hauptsächlich auf die nord-östlichen Regionen rund um Kunduz, Badakhshan und Badghis, im Nordwesten auf die Provinz Faryab und im Südosten auf Nangarhar und im Süden auf Helmand. Der Großteil der Vorfälle wurde in den südlichen und östlichen Teilen des Landes registriert. In Kandahar, Nangarhar, Ghazni, Helmand und Kunar wurden 44.5% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle des Berichtszeitraumes registriert (UN GASC 01.09.2015).
Einige Experten haben auf Leistungsverbesserungen der afghanischen Sicherheitskräfte hingewiesen (SCR 9.2015). Ein erhöhtes Operationstempo hat zu einer signifikant höheren Opferzahl unter den afghanischen Sicherheitskräften geführt (+27% im Zeitraum von 01.01.-15.11.2015 im Vergleich zu 2014) (USDOD 12.2015). Ähnliche Zahlen nennt WP, mit 7.000 getöteten und 12.000 verletzten Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte (+26% zum Jahr 2014). Im gesamten Jahr 2014 wurde hingegen von 5.000 getöteten afghanischen Polizisten und Soldaten berichtet (SCR 9.2015). Zudem haben die Taliban ihre Angriffe auf Sicherheitskräfte seit Beginn ihrer jährlichen Frühjahrsoffensive im April 2015 erhöht (BBC 29.06.2015).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Transitrouten, Provinzhauptstädte und fast alle Distriktzentren. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind im Allgemeinen fähig, die größeren Bevölkerungszentren effektiv zu beschützen, bzw. verwehren es den Taliban, für einen längeren Zeitraum Einfluss in einem Gebiet zu halten. Gleichzeitig haben die Taliban bewiesen, dass sie ländliche Gegenden einnehmen, Schlüsselgebiete bedrohen (z.B. in Helmand) und gleichzeitig high-profile Angriffe in Kabul durchführen können (USDOD 12.2015). Laut Angaben der afghanischen Regierung kontrollieren die Taliban nur vier der mehr als 400 Bezirke landesweit, aber es ist bekannt, dass diese Zahl stark untertrieben ist. Die afghanische Regierung hat außerdem oftmals nur Kontrolle über die Distriktzentren, aber nicht über die ländlichen Gebiete (The Long War Journal 22.09.2015).
Es gab Vorschläge zur Gründung regierungsfreundlicher Milizen – sogenannter lokaler Verteidigungskräfte –, um die afghanischen Sicherheitskräfte zu unterstützen. Diese existieren angeblich bereits in einer Anzahl von Provinzen (UNGASC 10.12.2015).
Es gibt drei Gründe für das Wiederaufleben der Taliban: Erstens das Ende der US-amerikanischen und NATO-Mission Ende 2014 sowie der Abzug der ausländischen Kräfte aus Afghanistan haben den militärischen Druck auf die Taliban verringert. Krisen in anderen Teilen der Welt (Syrien, Irak und Ukraine) nährten bei den Taliban die Hoffnungen auf ein Desinteresse der internationalen Gemeinschaft. Wenn Taliban militärische Stützpunkte, Distriktzentren und Check-Points Afghanistans überrennen, erbeuten sie jedes Mal Waffen für den Kampf gegen die afghanische Regierung. Zweitens vertrieb die pakistanische Militäroperation Zarb-e Azb in den Stammesgebieten Nordwaziristans im Juni 2014 tausende Aufständische – hauptsächlich Usbeken, Araber und Pakistanis –, die nach Afghanistan strömten und in den Rängen der Taliban aufstiegen. Die Taliban lenkten ohnehin eine große Anzahl ihrer eigenen Kämpfer von Pakistan aus. Drittens mangelt es den afghanischen Sicherheitskräften an Ausbildung und Ausstattung, vor allem in den Bereichen Luftstreitkräfte und Aufklärung. Außerdem nützen die Taliban interne Machtkämpfe der Kabuler Zentralregierung und deren scheinbare Schwäche in verschiedenen Bereichen in Kabul aus (BBC 05.01.2016).
Rebellengruppen:
Durch die Talibanoffensiven in den Provinzen Helmand und Kunduz entsteht der Eindruck, dass die afghanischen Sicherheitskräfte die Hauptbevölkerungszentren nicht kontrollieren können. Dies untergräbt das öffentliche Vertrauen, selbst dann, wenn es afghanischen Sicherheitskräften möglich ist, die Zentren zurückerobern, und überschattet die zahlreichen Erfolge der afghanischen Sicherheitskräfte (USDOD 12.2015).
Militärische Operationen im pakistanischen Nordwaziristan haben hunderte gut ausgebildete ausländische Kämpfer nach Afghanistan abgedrängt, wo sie nun die Taliban und den islamischen Staat unterstützen (WP 27.12.2015; vgl. Pakistan Today 22.12.2015; UN GASC 10.12.2015; Tolonews 21.12.2015).
Doch die Taliban haben auch mit Rückschlägen zu kämpfen. Nach der Nachricht vom Tod Mullah Omars hat sich die Bewegung zersplittert, und Auseinandersetzungen zwischen Talibanführern begünstigen Fortschritte des IS, vor allem im östlichen Afghanistan (DS 06.01.2016).
Taliban und Frühlingsoffensive:
Während der warmen Jahreszeit (ca. Mai – Oktober) spricht man von der "Fighting Season", in der die meist koordinierten Angriffe von Aufständischen, in Gruppenstärke oder stärker, auf Einrichtungen der ANSF (Afghan Security Forces) oder GIROA (Government of Islamic Republic of Afghanistan) stattfinden. Manchmal sind auch Einrichtungen der IC (International Coalition) betroffen. Diese werden aber meist gemieden, da es sich hierbei um sogenannte "harte Ziele" handelt. Gegen die IC werden nach wie vor nicht-konventionelle Mittel eingesetzt (Sprengfallen, Magnetbomben). Außerhalb der "Fighting Season" verlegen kampfwillige Aufständische ihre Aktivtäten in die Städte, da hier die ungünstige Witterung kein Faktor ist (Liaison Officer to Ministry of Interior of GIROA 14.11.2014).
Die Taliban haben signifikante Verluste zu verzeichnen – abgesehen von der temporären Einnahme der Stadt Kunduz war es ihnen nicht möglich, ihre Hauptstrategie und ihre Operationsziele für die Fighting Season 2015 zu erreichen. Auch in Kunduz war es ihnen nicht möglich, das Territorium für einen längeren Zeitraum zu halten. Während der gesamten Fighting Season bewiesen die Taliban Erfahrung in der Durchführung von Angriffen und Bedrohungen von ländlichen Distrikten und zwangen so die afghanischen Sicherheitskräfte in eine reaktive Position (USDOD 12.2015).
Al-Qaida:
Die amerikanischen Behörden gehen von einer Zahl von weniger als 100 Kämpfern der al-Qaida in Afghanistan aus. Die meisten von ihnen sind in den nordöstlichen Provinzen Afghanistans, wie Kunar, aktiv. Manche dieser Kämpfer gehören zu Gruppen, die an al-Qaida angegliedert und in Kunduz aktiv sind (CRS 22.12.2015).
Haqqani-Netzwerk:
Die Gruppe wurde in den späten 1970er Jahren durch Jalaluddin Haqqani gegründet. Sie ist mit al-Qaida und afghanischen Taliban verbündet, sowie mit anderen terroristischen Organisationen in der Region (Khaama Press 16.10.2014). Die Stärke des Haqqani-Netzwerks wird auf 3.000 Kämpfer geschätzt (NYT 17.10.2014).
Obwohl angenommen wird, dass das Netzwerk der al-Qaida näher steht als den Taliban (CRS 09.10.2014), wurde nach der Meldung vom Tod Mullah Omars Siraj Haqqani zum stellvertretenden Talibanführer befördert. Dies signalisiert, dass das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin eine wichtige Komponente des Taliban-geführten Aufstandes ist (USDOD 12.2015).
Der Aufstand des Haqqani-Netzwerks ist vermehrt in den östlichen Provinzen Khost, Paktia, Paktika und Kunar vorzufinden (DW 17.10.2014).
Hezb-e Islami Gulbuddin (HIG):
Die radikal-islamistische Rebellengruppe Hezb-e Islami Gulbuddin (HIG) [Anmerkung: auch Hizb-i-Islami Gulbuddin] wird von Mujahed Gulbuddin Hikmatyar geführt (CRS 22.12.2015). Er war ein ehemaliger Verbündeter der USA im Kampf gegen die Besatzungstruppen der Sowjetunion in den 1980er Jahren. Die HIG wird als kleiner Akteur in den Kampfzonen Afghanistans gesehen (CRS 09.10.2014). Sie ist über die Jahre für ihre Grausamkeit bekannt geworden, sodass sogar die Taliban sich von ihr abwendeten (BBC 02.09.2014). Die Gruppe selbst ist ideologisch wie auch politisch mit al-Qaida und den Taliban verbündet. In der Vergangenheit kam es mit den Taliban jedoch zu Kämpfen um bestimmte Gebiete (CRS 09.10.2014).
IS/ISIS/ISIL/Daesh – Islamischer Staat:
Der Islamische Staat hat seinen Einfluss in Afghanistan seit Mitte des Jahres 2014 erhöht. Es wird berichtet, dass der Führer des Islamischen Staates Abu Bakr al-Baghdadi, Berichten zufolge, unter dem Talibanregime in Kabul gelebt und mit al-Qaida kooperiert hat. Die Präsenz der Gruppe in Afghanistan hat sich Anfang des Jahres 2013 aus mehreren kleinen afghanischen Taliban- und anderen Aufständischenfraktionen herausentwickelt (CRS 22.12.2015). Die Präsenz des islamischen Staates hat sich ausgeweitet, als immer mehr Talibanfraktionen dem IS Treue schworen. So kam es zur Einnahme kleiner Gebiete, hauptsächlich im östlichen Afghanistan, durch den IS (CRS 22.12.2015; vgl. Tolonews 12.07.2015). Ende 2015 gab es Berichte über finanzielle Hilfe des IS für seinen afghanischen Zweig (CRS 22.12.2015). Ehemalige Kämpfer von al-Qaida, Taliban und Haqqani-Netzwerk steigen in den Rängen des IS auf (Pajhwok 26.05.2015).
Der afghanische Geheimdienst NDS hat eine Spezialeinheit damit beauftragt, Razzien gegen den IS durchzuführen (Pajhwok 01.07.2015). Das afghanische Innenministerium konzentriert sich auf bessere Ausbildung und Ausrüstung der nationalen und lokalen Polizei, damit nicht die Notwendigkeit zur Selbstjustiz für Anrainer/innen entsteht (Pajhwok 26.05.2015).
Drogenanbau:
Es ist im Jahr 2015 zu einer Reduzierung der Opiumproduktion um
3.300 Tonnen (48%) gekommen (UN News Centre 14.10.2015).
Zivile Opfer:
Zwischen 01.01. und 30.06.2015 registrierte UNAMA 4.921 zivile Opfer (1.592 Tote und 3.329 Verletzte) – dies deutet einen Rückgang von 6% bei getöteten bzw. von 4% bei verletzten Zivilisten (UNAMA 8.2015).
Konfliktbedingte Gewalt hatte in der ersten Hälfte 2015 Auswirkungen auf Frauen und Kinder. UNAMA verzeichnete 1.270 minderjährige Opfer (320 Kinder starben und 950 wurden verletzt). Das ist ein Anstieg von 23% im Vergleich zu den ersten sechs Monaten 2014. Es gab 559 weibliche Zivilopfer, davon wurden 164 Frauen getötet und 395 verletzt. Das bedeutet einen Anstieg von 13% gegenüber 2014 (UNAMA 8.2015).
Laut UNAMA waren 70% aller zivilen Opfer regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreiben, 16% regierungsfreundlichen Kräften (15% den ANSF und regierungsfreundlichen bewaffneten Gruppen, sowie 1% den internationalen militärischen Kräften). UNAMA rechnete 4% der zivilen Opfer Unfällen mit Blindgängern zu (UNAMA 8.2015).
3.436 zivile Opfer (1.213 Tote und 2.223 Verletzte) gehen auf Operationen regierungsfeindlicher Elemente zurück. Das bedeutet einen Rückgang von 3% gegenüber 2014. UNAMA verzeichnete einen Anstieg von 78% bei zivilen Opfern aufgrund von komplexen Angriffen und Selbstmordattentaten, sowie einen Anstieg von individuellen Tötungen. UNAMA registrierte ebenso 46% Rückgang an zivilen Opfern in Bodenkämpfen und 21% Rückgang ziviler Opfer aufgrund von IEDs (improvised explosive devices) (UNAMA 8.2015).
Regierungsfreundliche Kräfte – speziell ANSF – waren auch weiterhin Grund für einen Anstieg bei zivilen Opfern im Jahr 2015. UNAMA registrierte hierzu 796 zivile Opfer (234 wurden getötet und 562 verletzt). Dies deutet einen Anstieg von 60% im Vergleich zum Jahr 2014. Der Großteil dieser zivilen Opfer geht auf Bodenkämpfe regierungsfreundlicher Gruppen, bei denen hauptsächlich Explosivwaffen, wie Mörser, Raketen oder Granaten verwendet wurden. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2015 waren regierungsfreundliche Gruppen für mehr zivile Opfer verantwortlich als regierungsfeindliche Elemente. Im Jahr 2015 haben die ANSF ihre Anzahl von Operationen, die am Boden durchgeführt wurden, signifikant erhöht, um den Regierungsbildungsprozess zu unterstützen und Angriffen regierungsfeindlicher Elemente entgegenzuwirken (UNAMA 8.2015).
Die UNAMA verzeichnete 37% Anstieg bei Entführungen von Zivilisten durch regierungsfeindliche Elemente und mehr Morde und Körperverletzungen an den Entführungsopfern. Von 76 entführten Zivilisten wurden im Berichtszeitraum (01.01.-30.06.2015) 62 getötet und 14 verletzt. UNAMA dokumentierte die Entführung von Zivilist/innen durch regierungsfeindliche Elemente für finanzielle Zwecke, zur Einschüchterung der Bevölkerung und um Zugeständnisse von anderen Parteien im Konflikt zu erhalten, z.B. Geiselaustausch (UNAMA 8.2015).
Mitarbeiter/innen internationaler Organisationen und der US-Streitkräfte:
In einem Bericht der norwegischen COI-Einheit Landinfo wurde im September 2015 berichtet, dass zuverlässige Dokumentation von konfliktbezogener Gewalt gegen Afghanen im aktiven Dienst für internationale Organisationen existiert. Andererseits konnte nur eingeschränkte Dokumentation zu konfliktbezogener Gewalt gegen ehemalige Übersetzer, Informanten oder andere Gruppen lokale Angestellte ziviler oder militärischer Organisationen festgestellt werden (Landinfo 09.09.2015). Ferner werden reine Übersetzerdienste, die auch geheime Dokumente umfassen, meist von US-Staatsbürgern mit lokalen Wurzeln durchgeführt, da diese eine Sicherheitszertifizierung benötigen (Liaison Officer to Ministry of Interior of GIROA 14.11.2014).
Grundsätzlich sind Anfeindungen afghanischer Angestellter der US-Streitkräfte üblich, da diese im Vergleich zu ihren Mitbürgern verhältnismäßig viel verdienen. Im Allgemeinen hält sich das aber in Grenzen, da der wirtschaftliche Nutzen für die gesamte Region zu wichtig ist. Tätliche Übergriffe kommen vor, sind aber nicht nur auf ein Arbeitsverhältnis zu ISAF zurückzuführen (Liaison Officer to Ministry of Interior of GIROA 10.11.2014). Des Weiteren bekommen afghanische Angestellte bei den internationalen Streitkräften Uniformen oder Dienstbekleidung, Verpflegung und Zugang zu medizinischer Versorgung nach westlichem Standard. Es handelt sich somit meist um Missgunst. Das Argument der Gefahr im Job für lokale Dolmetscher wurde von den US-Streitkräften im Bereich der SOF (Special Operation Forces), die sehr sensible Aufgaben durchführen, dadurch behoben, dass diesen Mitarbeitern nach einer gewissen Zeit die Mitnahme in die USA angeboten wurde. Dieses Vorgehen wurde von einer militärischen Quelle aus Deutschland bestätigt (Liaison Officer to Ministry of Interior of GIROA 14.11.2014).
Grundversorgung/Wirtschaft
Für das Jahr 2013 belegte Afghanistan im 'Human Development Index' (HDI) den 169. Platz von mehr als 187 (Anm.: darunter befanden sich auch einige ex aequo Platzierungen) (UNDP 2014).
Die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans wird trotz Wachstumsraten in der letzten Dekade weiterhin nicht durch ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum, sondern durch die Zuflüsse aus der internationalen Gebergemeinschaft stimuliert (AA 8 .2015). Die Übergangsphase in Politik und Sicherheit hat die afghanische Wirtschaft stärker beeinträchtigt als erwartet. Das Wirtschaftswachstum ist im Jahr 2014 auf 1,3% gesunken, wobei es im Jahr davor noch 3,7% betrug (WB 10.2015; vgl. IMF 09.06.2015).
Das Wirtschaftswachstum war zum größten Teil getrieben von Expansion in Industrie (2,4%) und Dienstleistung (2,2%). Private Investitionsaktivitäten zeigten im Jahr 2014 Anzeichen eines Rückgangs, gekennzeichnet durch einen 50%igen Rückgang an neuen Firmenregistrierungen seit dem Jahr 2012. Die Anzahl der neuen Firmenregistrierungen im ersten Halbjahr 2015, die ein Indikator für Investorenvertrauen ist, blieb auf demselben Niveau wie im ersten Halbjahr des Jahres 2014. Eine sanfte Erholung wird für das Jahr 2016 erwartet (WB 2015).
Den größten Anteil am BIP (2014: 21,7 Mrd. USD) hat der Dienstleistungssektor mit 53,5%, gefolgt von der Landwirtschaft mit 27,7% des BIP. Industrieproduktion ist kaum vorhanden. Trotz einer großen Bedeutung des Außenhandels – Afghanistan ist in hohem Maße von Importen abhängig – sind afghanische Produkte bisher auf internationalen sowie regionalen Märkten kaum wettbewerbsfähig (AA 8 .2015).
Es wird geschätzt, dass das reale Wachstum des Bruttoinlandprodukts um 3,1% im Jahr 2016 und 3,9% im Jahr 2017 wachsen wird, bedingt durch Verbesserungen im Bereich der Sicherheitslage und eine starke Reformdynamik (WB 10.2015). Wichtige Erfolge wurden im Bereich des Ausbaus der Infrastruktur erzielt. Durch den Bau von Straßen und Flughäfen konnte die infrastrukturelle Anbindung des Landes verbessert werden (AA 8 .2015).
Trotz des seit drei Jahren hohen landwirtschaftlichen Produktionsniveaus konnten die starken Landwirtschaftserträge des Jahres 2013 nicht mehr erreicht werden, und so war die Landwirtschaft nicht Teil des Wirtschaftswachstums (WB 10.2015). Die neue Regierung hat die landwirtschaftliche Entwicklung zur Priorität erhoben. Dadurch sollen auch gering qualifizierte Afghaninnen und Afghanen bessere Chancen auf einen Arbeitsplatz bekommen. Insbesondere sollen die landwirtschaftlichen Erzeugnisse Afghanistans wieder eine stärkere Rolle auf den Weltmärkten spielen. Gerade im ländlichen Raum bleiben die Herausforderungen für eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung angesichts mangelnder Infrastruktur, fehlender Erwerbsmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft und geringen Ausbildungsstands der Bevölkerung (Analphabetenquote auf dem Land von rund 90%) aber groß. Sicher ist, dass die jährlich rund 400.000 neu auf den Arbeitsmarkt drängenden jungen Menschen nicht vollständig vom landwirtschaftlichen Sektor absorbiert werden können (AA 8 .2015).
Große wirtschaftliche Erwartungen werden an die zunehmende Erschließung der afghanischen Rohstoffressourcen geknüpft. In Afghanistan lagern die weltweit größten Kupfervorkommen sowie Erdöl, Erdgas, Kohle, Lithium, Gold, Edelsteine und Seltene Erden. Das seit langem erwartete Rohstoffgesetz wurde im August 2014 verabschiedet. Damit wurden die rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen für privatwirtschaftliche Investitionen in diesem Bereich verbessert. Entscheidend für Wachstum, Arbeitsplätze und Einnahmen aus dem Rohstoffabbau ist die Umsetzung des Gesetzes. Darüber hinaus müssen Mechanismen zum Einnahmenmanagement etabliert werden. Der Abbau der Rohstoffe erfordert große und langfristige Investitionen in die Exploration und Infrastruktur durch internationale Unternehmen. Bisher sind diese noch kaum im Abbau von Rohstoffen im Land aktiv (AA 8 .2015).
Afghanistan bleibt weiterhin der weltweit größte Produzent für Opium, Heroin und Cannabis (AA 8 .2015; vgl. UN GASC 06.09.2015). Rund 2,2 Mio. Afghanen leben mittelbar oder unmittelbar vom Drogenanbau, -handel und -verkauf (AA 8 .2015). Trotz einer breit angelegten Strategie verhindern die angespannte Sicherheitslage in den Hauptanbaugebieten im Süden des Landes sowie die weit verbreitete Korruption eine effiziente Bekämpfung des Drogenanbaus (AA 8 .2015; vgl. UN GASC 06.09.2015). Die hohen Gewinnmargen erschweren zudem die Einführung von alternativen landwirtschaftlichen Produkten (AA 8 .2015).
Die Internationale Gemeinschaft und Hauptgeber haben ihr Engagement und ihre Partnerschaft für Afghanistan im Rahmen der London Konferenz im Dezember 2014 bestätigt. Sie begrüßen das Engagement der neuen afghanischen Regierung für makroökonomische Stabilität und Reformen, welche Nachhaltigkeit und integratives Wachstum beinhaltet (IMF 5.2015).
Medizinische Versorgung:
Die Datenlage zur medizinischen Versorgung in Afghanistan bleibt äußerst lückenhaft. In vielen Bereichen liegen Daten nur unzuverlässig oder nur ältere statistische Erhebungen der afghanischen Regierung oder der Weltgesundheitsorganisation vor. Besonders betroffen von unzureichender Datenlage sind hierbei die südlichen und südwestlichen Provinzen (AA 16.11.2015). Ferner können sich die im Zuge der Recherche gefundenen Informationen auch widersprechen.
Grundsätzlich hat sich die medizinische Versorgung, insbesondere im Bereich der Grundversorgung, in den letzten zehn Jahren erheblich verbessert, fällt jedoch im regionalen Vergleich weiterhin drastisch zurück (AA 16.11.2015). Auch hat sich seit dem Jahr 2001 der Zugang zur Grundleistung für die afghanische Bevölkerung in fast allen Bereichen erheblich verbessert: der Deckungsgrad medizinischer Gesundheitsversorgung hat sich von 9% im Jahr 2001 auf 80% im Jahr 2011 erweitert (WB 4.2015). Jedoch fällt diese Grundversorgung im regionalen Vergleich weiterhin drastisch zurück (AA 02.03.2015).
Die Sterberate von Kindern unter fünf Jahren ist von 257 auf 165 pro 1.000 Lebendgeburten gesunken, die Säuglingssterblichkeitsrate von 97 auf 77 bei 1.000 Lebendgeburten, und die Müttersterblichkeitsrate ist auf 327 bei 100.000 Lebendgeburten gesunken. Im Vergleich dazu betrug die Müttersterblichkeitsrate im Jahr 2002 noch 1.600. Ferner erhöhte sich die Zahl funktionierender Gesundheitsanstalten von 496 im Jahr 2002 auf 2.000 im Jahr 2012. Proportional dazu erhöhte sich die Zahl der Anstalten mit weiblichem Personal (WB 2015).
In der letzten Dekade hat das afghanische Gesundheitssystem ansehnliche Fortschritte gemacht. Dies aufgrund starker Regierungsführung, einer soliden öffentlichen Gesundheitspolitik, innovativer Servicebereitstellung, sorgfältiger Überwachung und Evaluierung sowie Entwicklungshilfe. Trotz signifikanter Verbesserungen im Bereich des Deckungsgrades und der Qualität der Gesundheitsservices, wie auch einer Reduzierung der Sterberate von Müttern, Säuglingen und Unter-fünf-jährigen, sind die afghanischen Gesundheitsindikatoren weiterhin schlechter als die der Niedrigeinkommensländer, was ferner andeutet, dass die Notwendigkeit besteht, Zugangshindernisse zu Leistungen für Frauen zu beseitigen. Des Weiteren hat Afghanistan eine der höchsten Unterernährungsraten der Welt. Etwa 41% der Kinder unter fünf Jahren leiden unter chronischer Unterernährung. Sowohl Frauen als auch Kinder leiden an Vitamin- und Mineralspiegeldefiziten (WB 4.2015).
Die medizinische Versorgung leidet trotz der erkennbaren und erheblichen Verbesserungen landesweit weiterhin an unzureichender Verfügbarkeit von Medikamenten und Ausstattung der Kliniken, insbesondere aber an fehlenden Ärztinnen und Ärzten, sowie gut qualifiziertem Assistenzpersonal (v.a. Hebammen). Im Jahr 2013 stand 10.000 Einwohnern Afghanistans ca. eine medizinisch qualifiziert ausgebildete Person gegenüber. Auch hier gibt es bedeutende regionale Unterschiede innerhalb des Landes, wobei die Situation in den Nord- und Zentralprovinzen um ein Vielfaches besser ist als in den Süd- und Ostprovinzen (AA 16.11.2015; vgl. AA 02.03.2015).
Obwohl freie Gesundheitsdienstleistungen in öffentlichen Einrichtungen zur Verfügung gestellt wurden, können sich viele Haushalte gewisse Kosten für Medikamente oder den Transport zu Gesundheitsvorsorgeeinrichtungen nicht leisten bzw. war es vielen Frauen nicht erlaubt, alleine zu einer Gesundheitseinrichtung zu fahren (USDOS 25.06.2015).
Gemäß der afghanischen Verfassung ist die primäre Gesundheitsversorgung in öffentlichen Einrichtungen, inklusive Medikamente, kostenfrei [Anm.: siehe dazu afghanische Verfassung Art. 52 (Max Planck Institute 27.01.2004)]. Jedoch sind die Bestände oft erschöpft, und die Patient/innen sind gezwungen, die Medikamente in privaten Apotheken oder am Bazar zu kaufen (IRIN 02.07.2014). Obwohl Qualitätskontrollmaßnahmen für Medikamente im öffentlichen Gesundheitsvorsorgesystem existieren, ist die Umsetzung laut einem US-amerikanischen Bericht schwach. Der Großteil der verschriebenen Medikamente wird verschrieben und privat verkauft. Auch, so der Bericht weiter, gibt es keine Daten zu Pharmazisten, die im privaten Sektor arbeiten. Bis zu 300 in Pakistan ansäßige Unternehmen produzieren Medikamente, die speziell für den Export nach Afghanistan vorgesehen sind, aber den von für Pakistan vorgeschriebenen Standards nicht entsprechen (IJACMEC 10.2014; vgl. The Guardian 07.01.2015).
Die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata – findet, abgesehen von einzelnen Pilotprojekten, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Gleichzeitig leiden viele Afghaninnen und Afghanen unter psychischen Symptomen der Depression, Angststörungen oder posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). In Kabul gibt es zwei psychiatrische Einrichtungen: das Mental Health Hospital mit 100 Betten und die Universitätsklinik Aliabad mit 48 Betten. In Jalalabad und Herat gibt es jeweils 15 Betten für psychiatrische Fälle. In Mazar-e Scharif gibt es eine private Einrichtung, die psychiatrische Fälle stationär aufnimmt. Folgebehandlungen sind oft schwierig zu leisten, insbesondere wenn der Patient oder die Patientin kein unterstützendes Familienumfeld hat. Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie werden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen "behandelt", oder es wird ihnen in einer "Therapie" mit Brot, Wasser und Pfeffer der "böse Geist ausgetrieben". Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung sowohl über das Internet als auch in Form von Comics (für Analphabeten) zu betreiben. Die Bundesregierung finanziert Projekte zur Verbesserung der Möglichkeiten psychiatrischer Behandlung und psychologischer Begleitung in Afghanistan (AA 16.11.2015).
Behandlung nach Rückkehr:
In den letzten zehn Jahren sind im Rahmen der freiwilligen Rückkehr durch UNHCR 3.5 Mio. afghanische Flüchtlinge zurückgekehrt. Insgesamt sind 5,8 Mio. Afghaninnen und Afghanen aus verschiedenen Teilen der Welt nach Afghanistan zurückgekehrt (DW 19.10.2015). USDOS berichtet, dass in den Jahren von 2002 bis 2014 Finanzierungen verwendet wurden, um Transportkosten und anfängliche Notwendigkeit bei Rückkehr für mehr als 4.7 Mio. zur Verfügung zu stellen (SIGAR 8.2015; vgl. AA 02.03.2015). Somit hat eine große Zahl der afghanischen Bevölkerung einen Flüchtlingshintergrund (AA 02.03.2015). Im Jahr 2015 sind 50.000 afghanische Flüchtlinge aus Pakistan im Rahmen des Programms der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan zurückgekehrt (DW 19.10.2015).
Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Rückkehrer aus Iran und Pakistan stark gestiegen. 2014 lag die Zahl der Rückkehrer bei knapp 17.000, davon über 12.000 aus Pakistan. Bis Ende Oktober 2015 sind im laufenden Jahr fast 56.000 zurückgekehrt, davon über 53.000 aus Pakistan. Zwei Drittel der Rückkehrer siedeln sich in fünf Provinzen an: Kabul, Nangarhar, Kunduz, Logar und Baghlan (AA 16.11.2015). Laut UNHCR-Afghanistan kehrten im Jahr 2014 insgesamt 17.000 Menschen freiwillig nach Afghanistan zurück (UNHCR 29.10.2015). Die Kapazität der Regierung, Rückkehrer/innen aufzunehmen, war auch weiterhin niedrig. Die Zahl der Rückkehrer/innen während des Jahres 2014 verringerte sich aufgrund von Unsicherheiten in Bezug auf die Sicherheitslage im Rahmen des Post-Transitionszeitraumes und aufgrund des Auslaufens der proof of Residence Card (PoR Card) für afghanische Flüchtlinge in Pakistan (USDOS 25.06.2015). In Pakistan werden etwa 1,5 Mio. afghanische Flüchtlinge, die im Besitz einer PoR Card sind, von UNHCR unterstützt (BFA Staatendokumentation 9.2015).
Die afghanische Regierung kooperierte auch weiterhin mit UNHCR, der Internationalen Organisation für Migration (IOM), sowie anderen humanitären Organisationen, um intern vertriebenen Personen, Flüchtlingen, Rückkehrer/innen und anderen Menschen Schutz und Unterstützung zur Verfügung zu stellen. Regierungsunterstützung für vulnerable Personen, inklusive Rückkehrer/innen aus Pakistan und Iran, war gering, mit einer anhaltenden Abhängigkeit von der internationalen Gemeinschaft. Die Reintegration von Rückkehrer/innen war schwierig. Rückkehrerinnen und Rückkehrer hatten angeblich gleichwertigen Zugang zu Gesundheits-, Bildungs- und anderen Leistungen, obwohl manche Gemeinden, die für Rückkehrer/innen vorgesehen waren, angaben, dass eingeschränkter Zugang zu Transport und Straßen zu größeren, besser etablierten Dörfern und städtischen Zentren fehlte. Dies erschwerte den Zugang zu Dienstleistungen und wirtschaftlichen Möglichkeiten (USDOS 25.06.2015).
In Iran und Pakistan halten sich derzeit noch ca. 3 Mio. afghanische Flüchtlinge auf. Dazu kommen nicht registrierte Afghanen, die von der iranischen Regierung jedoch nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Insbesondere von iranischer Seite, in Teilen auch von Pakistan, werden sie gelegentlich als politisches Druckmittel gegenüber Afghanistan ins Feld geführt. Gleichzeitig gelten die Flüchtlinge auch als günstige Arbeitskräfte. In Afghanistan wird zwischen Rückkehrern aus den Nachbarstaaten Iran und Pakistan (die größte Gruppe afghanischer Flüchtlinge) und freiwilliger Rückkehr oder Abschiebung aus v.a. westlichen Staaten unterschieden. Für Rückkehrer aus den genannten Nachbarländern leistet UNHCR in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung bestehen Probleme in der Koordinierung zwischen humanitären Akteuren und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, sodass Hilfe nicht immer dort ankommt, wo Rückkehrer sich niedergelassen haben (AA 02.03.2015; vgl. AA 16.11.2015).
Die Schweiz, Australien, Iran, Norwegen, Pakistan, Dänemark, Frankreich, die Niederlande und Schweden haben mit Afghanistan und dem UNHCR sog. Drei-Parteien-Abkommen zur Regelung der freiwilligen Rückkehr von afghanischen Flüchtlingen in ihr Heimatland geschlossen. Die Abkommen sehen u.a. die Übernahme von Reisekosten, Wiedereingliederungshilfe und Unterstützungsmaßnahmen für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge vor. Von Großbritannien, Frankreich, Italien, Dänemark, Norwegen, Schweden und Australien ist bekannt, dass diese Länder abgelehnte Asylbewerber afghanischer Herkunft nach Afghanistan abschieben. Von Norwegen ist bekannt, dass auch Familien mit minderjährigen Kindern abgeschoben werden. Einige Länder arbeiten eng mit IOM in Afghanistan zusammen, insbesondere auch, um die Reintegration zu erleichtern. IOM bietet psychologische Betreuung, Unterstützung bei Reiseformalitäten, Ankunft in Kabul und Begleitung der Reintegration einschließlich Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche an (AA 02.03.2015; vgl. AA 16.11.2015).
Eine Diskriminierung oder Strafverfolgung aufgrund exilpolitischer Aktivitäten nach Rückkehr aus dem Ausland ist nicht anzunehmen. Auch einige Führungsfiguren der RNE sind aus dem Exil zurückgekehrt, um Ämter bis hin zum Ministerrang zu übernehmen. Präsident Ashraf Ghani selbst verbrachte die Zeit der Bürgerkriege und der Taliban-Herrschaft in den 1990er Jahren weitgehend im pakistanischen und US-amerikanischen Exil (AA 16.11.2015).
Provinz Baghlan
Gewalt gegen Einzelne | 31 |
Bewaffnete Konfrontationen und Luftangriffe | 174 |
Selbstmordattentate, IED-Explosionen und andere Explosionen | 65 |
Durchsetzung/Gewährleistung von Sicherheit | 71 |
Vorfälle ohne Bezug auf den Konflikt | 12 |
Andere Vorfälle | 1 |
Insgesamt | 354 |
Im Zeitraum 1.1. –
31.8.2015 wurden in der Provinz Baghlan, 354 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 21.1.2016).
Baghlan liegt im Nordosten Afghanistans und wird als eine der industriellen Provinzen Afghanistans gesehen. Sie ist von strategischer Bedeutung, da sie an sieben weitere Provinzen, inklusive Kabul, grenzt. Baghlan hat 14 administrative Bezirke, inklusive der Provinzhauptstadt Puli Khumri: Kinjan, Dushi, Banu, Dih Salah, Puli Hisar, Jilgah, Khost, Talawa Barfak, Farang, Guzargah-a-Noor, Nahrin, Burkah und Dahana-i-Ghori. Im Nordosten grenzt sie an die Provinzen Panjsher, Takhar und Kundoz, im Westen an Samangan und Bamyan, im Süden grenzt sie an die Provinz Parwan (Pajhwok o.D.h). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 910.784 geschätzt (UN OCHA 26.8.2015).
Am 7. September 2015 wurde ein Waffenstillstandsabkommen betreffend den Bezirk Pul-e Kumri (Dorf XXXX ), vom Minister für Stammes- und Grenzangelegenheiten, dem Gouverneur der Provinz Baghlan und Stammesältesten unterzeichnet. Es wurde berichtet, dass dies das erste Waffenstillstandsabkommen mit Unterstützung der afghanischen Regierung sei, welches vorschrieb, dass weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch die Taliban, militärische Operationen in dieser Gegend durchführen dürfen. Eine unmittelbare Reduzierung gewalttätiger Zusammenstöße wurde registriert (UN GASC 10.12.2015).
Mehr als 1.200 Aufständische, die sich in Baghlan dem Friedensprozess angeschlossen haben, wurden mit Arbeitsmöglichkeiten versorgt. Der Großteil der Rebellen, die der Gewalt abgeschworen haben, waren Mitglieder der Taliban und der Hezb-e Islami (Pajhwok 2.3.2015). Etwa 1.000 illegale Bewaffnete sind in drei Teilen der Provinz aktiv. Die Regierung warnte davor Handlungen zu setzen, ansonsten würden diese Männer sich Rebellengruppen anschließen (Tolonews 27.7.2015).
Seit Herbst 2014 wird beobachtet, dass IMU (Islamic Movement of Uzbekistan) hinter erbitterten Kämpfen und steigender Gewalt in verschiedenen Provinzen, wie Zabul, Baghlan, Kunduz, Badakhshan, Takhar, Faryab, Jowzjan und Badghis steht. Sechs dieser Provinzen grenzen an Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan. Besonders die langjährige Loyalität zu den Taliban, hat IMU dabei geholfen Schutzgebiete im Norden Afghanistans zu bilden (Gandhara 12.5.2015). Im April 2015 aber, hat ein Zweig von IMU dem IS bedingungslose Loyalität geschworen (CTC 29.6.2015; vgl. Tolonews 7.4.2015).
In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt um manche Gegenden von Terroristen zu befreien (Pajhwok 20.5.2015; Tolonews 13.5.2015; Tolonews 7.5.2015).
3.000 Familien benötigen Hilfe (UN GASC 10.12.2015).
3. Zur Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul (Auszüge aus einer gutachterlichen Stellungnahme von XXXX vom 23.10.2015 in einem Verfahren des BVWG betreffend einen anderen Asylwerber zur Zahl W119 2006001, Schreibfehler teilweise korrigiert):
Gutachten zur aktuellen Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul
Forschungsmethodik:
Persönliche Forschung zur Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul im August und September 2015: Interviews mit Beschäftigten aus verschiedenen Branchen und mit Rückkehrern bzw. abgeschobenen Jugendlichen aus dem Ausland. Besuch der Anschlagsorte der Taliban und die Konsequenzen der Zerstörungen. Sammeln von Daten betreffend die Löhne und Preise und Gespräch über Lebensbedingungen der durchschnittlichen Bevölkerung Kabuls.
Die Versorgungslage in der Stadt Kabul:
Betreffend die Versorgungs- und Sicherheitslage in Kabul habe ich in Kabul vom 24.08. bis zum 03.09.2015 Forschungen angestellt. Außerdem habe ich bis Mitte Oktober durch meine Mitarbeiter in Kabul Informationen zu diesem Thema erhalten. Meine persönlichen Beobachtungen in Kabul umfassten folgende Schritte:
1. Ich habe in Kabul zivile Angestellten und Beamten des Staates, Angehörige der Sicherheitsministerien und Vertragsbedienstete zu diesem Zweck befragt und Zahlen betreffend das Gehaltsschema der Ministerien und Firmen gesammelt.
2. Ich habe auch Privatfirmen, wie Laden- und Firmenbesitzer und Geschäftsmänner, Pendler aus den umliegenden Regionen von Kabul und aus anderen Provinzen, die nach Kabul kommen und arbeiten bzw. Arbeit suchen, befragt.
3. Ich habe Studenten, Politiker, Hoteliers, Straßenkinder, Rückkehrer aus dem Ausland, die auf der Straße leben, Straßenbettler, Geschäftsleute und Familien vom 06. – 09.01.2015 in Kabul angetroffen und sie befragt.
4. Meine Mitarbeiter haben ihre diesbezüglichen Beobachtungen in meinem Auftrag bis Mitte Oktober fortgesetzt und ihre Informationen mir telefonisch übermittelt. Nach diesen Informationen und nach meinen Beobachtungen in Kabul möchte ich das folgende Gutachten zur derzeitigen Versorgungs- und Sicherheitslage in Kabul erstatten:
Versorgungslage in Kabul:
In Kabul ist die Versorgungslage verschieden zu beurteilen: In Kabul gibt es alle Konsumgüter, die man in Europa vorfindet, d.h. man kann in Kabul jede Konsumware finden, die man in Österreich kaufen kann.
Allerdings sind die Preise der meisten Luxuswaren unerschwinglich, und ein Afghane mit dem Gehalt eines Lehrers oder eines Soldaten oder eines Hilfsarbeiters kann sich nicht diese Waren leisten.
Versorgungslage für Unterschicht und Rückkehrer ohne Familienrückhalt:
Die Waren, die für Grundversorgung benötigt werden, sind auch für die breite Schicht der Kabuler Bevölkerung, die zunehmend aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit verarmen, sehr teuer geworden, z.B. Lebensmittel, Kleidung, Medikamente und Miete. Für einen Afghanen, der als Lehrer oder Hilfsarbeiter oder Soldat in Kabul lebt, sind die Preise dieser Waren derzeit sehr hoch. Sie können sich und ihre Familie in Kabul mit notwendigsten Grundnahrungsmitteln ernähren, aber nicht ausreichend, sodass die Mehrheit der Unterschicht in Kabul im Winter vor Hunger, Kälte, und Krankheiten nicht geschützt ist. Die Unterschicht ist froh, wenn sie täglich zwei Mal am Tag Brot und Tee und Gemüse, welche sie sich leisten können, als Hauptspeise vor sich finden. Mindestens 20% der Kabul Bevölkerung sind sehr verarmt; sie sind teilweise die internen Flüchtlinge, können manchmal nur einmal am Tag für ihre Familie Brot und Tee besorgen. Diese Familien können sich Monate lang kein Fleisch leisten, und sie wären froh, wenn sie bei einer Totenzeremonie oder einer anderen Almosen-Gabe etwas Fleisch oder Reis oder etwas anderes zubereitetes Essen vielleicht in der Woche einmal zu sich nehmen könnten. Wenn es die internationale Hilfe, die sehr spärlich ist, und Almosengabe in der Gesellschaft nicht gäbe und wenn die Flüchtlinge im Ausland ihre Familien nicht unterstützen könnten, würde unter diesen 20% der Bevölkerung in Kabul im Winter eine Hungersnot ausbrechen.
Behausung:
Die Hilfsarbeiter leben meistens am Rande der Stadt Kabul in Slums, oder mehrere Personen mieten ein Zimmer, wo sie unter sehr schwierigen und menschenunwürdigen Bedingungen leben. Sie haben großteils keine Wasch-und Kochgelegenheit, keinen Strom und Heizung und keinen geschützten Mietvertrag und sind jederzeit von Verlust der Behausung bedroht. Diese Situation ist auch dadurch bedingt, dass hunderttausende Menschen aus den unruhigen Provinzen sich, seit dem Beginn der Kriege im Norden, nach Kabul begeben haben, mit der Hoffnung, in Kabul in Sicherheit zu leben und Arbeit zu finden. Ein Großteil von Rückkehrern, die aus dem Iran oder Pakistan abgeschoben werden, gehört zu dieser Kategorie der Menschen in Kabul.
Versorgungslage für Rückkehrer mit Familienrückhalt aus der Mittel- und Oberschicht:
Personen, die in Kabul eine eigene Wohnung oder ein Haus besitzen und mindestens einen kleinen Laden betreiben oder Familien haben, zu denen sie hinziehen könnten, haben keine Versorgungsschwierigkeiten. Besonders die Jugendlichen werden von ihren Eltern und leiblichen Brüdern langfristig aufgenommen und auch versorgt.
Unter engen Verwandten gibt es eine traditionelle verpflichtende Solidarität, dass kein enges Familienmitglied vom Hause der Familie verstoßen wird. Solange einer der Elternteile am Leben ist, ist der Rückkehrer am Erbe beteiligt. Ausgenommen die Jugendlichen, die in die Drogenszene geraten und mit ihren Familien nicht auskommen. Diese behausen unter den Brücken und in Abbruchhäusern in Kabul.
Fachkräfte wie gute Köche, gut ausgebildete Mechaniker, Krankenschwester, gute Buchhalter, soweit sie eine Arbeit finden und benötigt werden, können mit ihrem Gehalt in Kabul ohne besondere Probleme leben. Berufsgruppen mit hoher Verdienstmöglichkeiten, wie Ärzte, junge qualifizierte Ingenieure, qualifizierte Universitäts-Lehrkräfte, Dolmetscher und Übersetzer, Anwälte, Investoren usw. haben auch ohne Aussicht auf Anstellung die Möglichkeit, sich in Kabul und in Umgebung niederzulassen und von ihrem Einkommen sich und ihre Familien zu unterhalten. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass durch den Abzug der ausländischen Truppen und Schließung ihrer Armeebasen, sowie mit dem Abzug der ausländischen NGO auch tausende Fachkräfte, wie Dolmetscher, Ingenieure und Investoren arbeitslos geworden sind. Denn Millionen Arbeitsstellen wurden von ISAF-Truppen und von ausländischen NGO in Afghanistan nach dem Sturz des Taliban-Regimes geschaffen. Diese Arbeitsplätze gehen großteils verloren, und auch Fachkräfte kommen dadurch wirtschaftlich in Bedrängnis.
Gerade diese Berufsgruppe versucht, mit ihren Ersparnissen und durch den Verkauf ihrer Häuser und Autos ins Ausland zu gelangen, weil die derzeitige schlechte Wirtschafts- und Sicherheitslage diesen Menschen Zukunftsangst erzeugen.
Betreffend die Jugendlichen ohne Fachausbildung und jugendlichen Rückkehrer aus den Nachbarländern habe ich verschiedene Parkanlagen, abgelegene Straßenränder und Abbruchhäuser in Kabul besucht und solche Personen angetroffen. Ich habe beobachten können, dass tausende junge Menschen in den öffentlichen Parkanlagen und in Abbruchhäusern sich zusammentun und dort großteils Drogen einnehmen und ein elendes Leben führen. Nach meiner Information sind diese Jugendlichen meisten Personen, die aus den Nachbarländern wie dem Iran abgeschoben worden sind, oder sie sind Kriegskinder, die Waisen waren oder ihre Familienbindung verloren haben. Ein Großteil dieser jungen Menschen stammt aus den Provinzen, die mit der Hoffnung nach Kabul gekommen waren, Arbeit zu finden.
Die Zahl der Arbeitslosigkeit ist unter den Jugendlichen in Afghanistan im Allgemeinen und in Kabul im Besonderen derzeit im Wachsen. Nach meiner Schätzung beträgt die Arbeitslosigkeitsrate unter den Jugendlichen derzeit mehr als 60 Prozent. Gäbe es keine Familiensolidarität, so würden sofort noch weitere tausende Jugendliche in Kabul verelenden.
Afghanische Firmen:
Bedingt durch die Streitigkeiten zwischen den Präsidentschaftskandidaten, die noch andauern, und den Beginn des Abzuges der ISAF Truppen haben viele Firmen geschlossen, weil einerseits ein Teil von diesen unsicher sind und ins Ausland abwandern, und andererseits sie keine Förderung bzw. Projekte mehr von den Ausländern bekommen, ihre Firmen weiter in Betrieb zu halten. Dieser Zustand hat auch dazu geführt, dass tausende Menschen ihre Arbeitsplätze verloren und keine Aussicht auf Arbeit in naher Zukunft haben.
Für diese Menschen hat der afghanische Staat und die internationale Gemeinschaft, allen voran der UNHCR, keine geeignete Programme, um einerseits die Unternehmer zu stärken und den Abbau der wenigen Arbeitsplätze zu verhindern, andererseits die Verelendung der jungen Menschen zu verhindern. Sie haben keine Programme zum Schutz der Jugendlichen und keine Programme, die den Jugendlichen Zukunftsperspektive zur Verbesserung ihrer Lage bieten könnten.
Ich habe diesbezüglich auch die Politiker in Kabul befragt. Sie waren teils gleichgültig gegenüber diesem Problem und teils ratlos. Sie haben zugegeben, dass sie keine Möglichkeit haben, solche Missstände zu beseitigen, weil ihnen die finanzielle Unterstützung fehlen würde. Sie hätten keine geeigneten Infrastrukturen, z.B. Wohnheime, genügende geeignete Krankenhäuser, Rehabilitationszentren und geeignete Fachkräfte. Fachkräftemangel ist auch dadurch entstanden, dass ein Teil der Fachkräfte das Land allmählich verlässt.
Durch die Befragung über die Versorgungslage habe ich folgende Informationen über Lebensunterhaltskosten und Löhne und Gehälter in Kabul gesammelt, die einen Überblick darüber geben kann, wie hoch die Lebensunterhaltskosten sind und wie weit die jugendlichen Rückkehrer sich ohne Schwierigkeiten in Kabul niederlassen können oder auch nicht.
Lebenskosten in Kabul:
Ausgehend von diesen Informationen braucht z.B. ein junger Rückkehrer in Kabul, um ein menschenwürdigen Leben führen zu können, im Monat für sich alleine folgendes am Mittel:
Eine Einzelperson braucht in Kabul ca. USD 350.- für seine Lebensunterhaltskosten. Diese Kosten beinhalten: Zimmermiete, Kleidung, Transport und Essen.
Eine Familie benötigt ca. USD 600.- im Monat in Kabul für ihre Lebensunterhaltskosten. Diese Kosten beinhalten Wohnungsmiete, Kleidung, Fahrtkosten und Lebensmittelkosten.
Wenn eine Person oder eine Familie schon im Vorhinein ein eigenes Privat-Haus oder Privatwohnung in Kabul hat, können diese Kosten sich auf $250.- bzw. auf $400 minimieren.
[ ]
Kosten für Lebensunterhalt einer Person pro Monat $ 200 -300.-
Kosten für Lebensunterhalt einer Familie pro Monat: $ 500.-
Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeitsrate kann die Mehrheit der Menschen in Kabul diese Summe nicht immer aufbringen, und sie leben ständig mit Schwierigkeiten im Hinblick auf Versorgung. Zudem hat sich die Anzahl der Personen in einem Haushalt, die vom Gehalt von einer Personen leben, erhöht. Bis zum Abzug der ausländischen Truppen und NGO haben oft von einer Familie zwei Personen Gehälter bezogen, und sie könnten locker ihre Familie ohne Sorgen ernähren.
Wenn die Rückkehrer nach Kabul keine familiäre Bindung und kein Geldmittel bei sich haben, werden sie mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein. Wenn sie Fachausbildung haben, könnten sie sich im Lauf der Zeit etwas verdienen bzw. eine Stelle bekommen oder ein Geschäft gründen. Aber wenn junge Leute keine Bildung- und keine Fachausbildung haben, werden sie mit Sicherheit in ernster Versorgungssituation geraten. Die jungen Leute in den Dörfern laufen zu den Taliban über, damit sie etwas verdienen können. Auf diesem Weg sind viele Fronten in Dörfern entstanden, die mit den Taliban Ideologisch nichts am Hut haben, aber sie arbeiten für sie als Söldner.
Die schlechte Versorgungslage in Kabul hat auch dazu geführt, dass Gewaltbereitschaft und Raubüberfälle in den Außenbezirken Kabuls vermehr zugenommen haben.
Ad Sicherheitslage in Afghanistan:
Eine Einnahme der Stadt Kabul durch die Taliban in naher Zukunft ist nicht möglich, weil die internationale Gemeinschaft die Fortsetzung der Präsenz ihrer Truppen in Afghanistan angekündigt hat. Diese Ankündigung schreckt die Taliban ab, eine Großoffensive gegen die Stadt Kabul vorzunehmen. Aber monatlich werden durch Attentate der Taliban in der Stadt Kabul durchschnittlich, nach meiner Schätzung, 50-80 Personen verletzt und getötet. Solche Vorfälle sind unvorhersehbar, und kann nicht vorausgesagt werden, welche Zivilisten-Gruppe und welche Orte in Kabul diese Attentate treffen.
Kabul ist seit Juli diese Jahres von den afghanischen Sicherheitskräften und den Sicherheitskräften der ISAF soweit geschützt, dass die Taliban bis jetzt keine Chance hatten, diese Stadt, wie z.B. Kunduz, Faryab oder Helmand, umfassend anzugreifen und kurzfristig auch unter ihrer Kontrolle zu bringen. Der Grund für die strengen Maßnahmen liegt darin, dass alle Ministerien, ausländischen Botschaften und internationalen Organisationen sich in Kabul befinden. Die Taliban versuchen immer wieder, durch schwere Selbstmordattentate, Raketenabwurf auf Kabul und Angriffe auf bestimmte staatliche Einrichtungen und auf Häuser der Politiker auf sich aufmerksam zu machen. Dadurch werden im Durchschnitt im Monat in der 5-Millionen Stadt mehr als fünfzig Zivilisten getötet und verletzt.
Die Attentate finden nicht jeden Tag in Kabul statt, obwohl die Taliban gerne jeden Tag einen Anschlag verüben würden. Aufgrund der starken Präsenz der Sicherheitskräfte in sensiblen Ecken und Plätzen, sowie vor den Amtsgebäuden, können sie ihre Pläne nicht jeden Tag durchführen. Aber jeden Tag sind Taliban-Selbstmörder in verschiedenen Ecken unterwegs und versuchen, die ausländischen Konvois und die Konvois der Sicherheitskräften anzugreifen. Es wird auch jeden zweiten Tag gemeldet, dass die afghanischen Sicherheitskräfte Selbstmordattentäter vor der Ausführung ihrer Terrorakte erwischt hätten.
Derzeit verlassen tausende Menschen die Stadt Kabul; insgesamt reisen hunderttausend Menschen monatlich aus ganz Afghanistan aus. Dies ist unter anderem auf die Angst der Menschen zurückzuführen, weil sie nicht wissen, wie die Sicherheitslage in den nächsten Monaten und Jahren sich in Afghanistan entwickeln würde. Heuer sind die Taliban in hunderten Distrikten in Afghanistan aktiv, und ich gehe davon aus, dass mehr als 70% der außerstädtischen Gebiete des Landes unter direkter oder indirekter Kontrolle der Taliban stehen.
Die Bezirke außerhalb der Stadt Kabul sind nicht so sicher wie die Stadt Kabul. Die Bevölkerung dieser Bezirke beschwert sich darüber, dass die Sicherheitskräfte in diesen Regionen sich nicht kümmern würden. Diese Bezirke sind zwar nicht unter der Kontrolle der Taliban, aber sie sind nicht so sicher wie die Stadt Kabul. [ ]
4. Auszüge aus dem Dossier der Staatendokumentation (des BFA) zu Afghanistan aus dem Jahr 2016 zum Thema "Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur":
aus dem Kapitel "Ethnische Gruppen und Strukturen" ( XXXX , Humboldt-Universität zu Berlin):
" [ ]
Die Paschtunen sind die einzige ethnische Gruppe in Afghanistan, die über eine so stark ausgeprägte Stammesstruktur mit einer allumfassenden genealogischen Tradition verfügt, in der theoretisch jedes heute lebende Mitglied seine Herkunft von einem legendären Ahnen aller Paschtunen herleiten und die entsprechenden Verbindungsglieder benennen kann. Vergleichbare Stammesstrukturen sind auch bei anderen ethnischen Gruppen vorhanden, aber sie weisen nicht die genealogische Tiefe der paschtunischen Stammesstruktur auf.
[ ]
Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschto zu sprechen, sondern dass man auch ‚Paschto machen‘, also die Regeln dieses Ehren-und Verhaltenskodexes befolgen muss.
Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. Wenn zwei Paschtunen sich zum ersten Mal begegnen, kann es sein, dass sie zuerst Minuten lang über ihre Stammeszugehörigkeit sprechen. Wenn sie auf irgendeiner Ebene gemeinsame Vorfahren entdecken, kann es sein, dass aus einer Zufallsbekanntschaft schnell eine Beziehung mit weitreichenden Verpflichtungen und Hilfsangeboten wird.
[ ]"
c) Ermittlungsergebnis des mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts bestellten Sachverständige XXXX vom 09.04.2016:
Forschungsmethodik:
Forschung in XXXX und XXXX in XXXX und in Kabul.
Literaturrecherche zur Sicherheitslage in XXXX und in Kabul.
Das Vorbringen des BF im Wesentlichen:
Der BF heiße XXXX , stamme aus XXXX in XXXX / XXXX , sein Vater heiße XXXX und sein Bruder habe XXXX geheißen, der bei einer Bombenexplosion im Jahre 2008 getötet worden sei. Er habe 7 Klassen Schulbildung und danach habe er ein Lebensmittelgeschäft geführt. Seine Eltern würden weiterhin in XXXX wohnen.
Fluchtvorbringen:
In XXXX sei es am 15.07.1387 = 05.11.2008 (siehe Bescheid des BFA, Seite 6 von 81) zu einer schweren Explosion anlässlich des Besuches von Parlamentsabgeordneten gekommen, wobei viele Schüler, darunter sein Bruder, ums Leben gekommen seien. Ein Feind seiner Familie, der bei der Regierung Einfluss gehabt hätte, hätte ihn beschuldigt, mit dem Anschlag zu tun zu haben. Aus diesem Grunde sei er von der Regierung verfolgt worden und er müsste deshalb Afghanistan verlassen. Der Feind der Familie heiße General XXXX und stamme ursprünglich aus Panjshir. Er würde von General XXXX unterstützt, der wegen Paschtunen eingestellt wäre. Diese Feindschaft sei wegen Grundstücksstreitigkeiten gewesen. General XXXX habe seine Grundstücke neben den Grundstücken der Familie des BF und habe die Grundstücke der Familie des BF okkupieren wollen. Das Gericht habe zu Gunsten der Familie des BF entschieden. Die Familie des BF habe 15 Jirib Grundstücke. Die Leute von General XXXX hätten seinen Vater zusammengeschlagen. Nachdem General XXXX den Prozess verloren habe, habe er aus Rache dem BF die Explosion angelastet und habe bei der Behörde gegen den BF eine Anzeige erstattet. Daraufhin ist die Polizei mehrmals zu ihnen nach Hause gekommen und wollte ihn festnehmen, aber er habe sich in verschiedenen Orten, auch in Mazar-e Sharif, in XXXX .versteckt. Er habe General XXXX auf der Straße unweigerlich manchmal gesehen, weil General XXXX 2 Straßen weiter vom Hause des BF wohnte. Er werde in Afghanistan von der Polizei gesucht. Er habe auch in XXXX Verwandte, Cousins seines Vaters.
Zum Vorbringen des BF:
Betreffend die Angaben des BF, XXXX , wurde mehrmals in XXXX und XXXX nachgeforscht. Aus Sicherheitsgründen haben sich die Nachforschungen für meine Mitarbeiter schwer gestaltet und waren mit großer Anstrengung als sonst verbunden. Außerdem habe ich während meines Aufenthaltes in Afghanistan vom 21. März bis 02.04.2016 in Kabul mit meinen Mitarbeitern nochmals den Fall des BF besprochen. Nun möchte ich ausgehend von den Ergebnissen dieser Forschungen das nachfolgende Gutachten erstatten:
Meine Mitarbeiter waren in XXXX , in XXXX und im Geburtsort der Familie des BF in XXXX ca. 5 km entfernt von der Stadt XXXX in XXXX . Es wurde festgestellt, dass die Angaben des BF zu seinen Identitäten mit den Tatsachen in XXXX übereinstimmen. Der BF ist in XXXX tatsächlich als XXXX bekannt. Aber sein Vater heißt XXXX und er ist nicht unter dem Namen XXXX in seinem Wohnort bekannt. Auch seine Angaben zu seinem Ursprungsheimatort waren zutreffend. Seine Familie stammt 5 km entfernt von XXXX , aus dem Dorf XXXX , welches auch nach dem Stamm des BF, XXXX , bekannt ist (siehe Beilage 1). Aber seine Familie: sein Vater, seine Mutter und seine Brüder wohnen in einem Viertel innerhalb der Stadt XXXX mit der Bezeichnung XXXX -Familie. Der BF hat 6 Brüder mit den Namen: XXXX und XXXX . Nach den Informationen, die wir aus XXXX einholten, wohnten diese bis Anfang Februar 2016 noch in XXXX und drei von diesen Brüdern arbeiten als Chauffeur bzw. Taxifahrer.
In XXXX , im Wohnviertel der Familie des BF in XXXX , haben meine Mitarbeiter einen bekannten Weißbärtigen aus dem Stamm des BF in XXXX -Familie-Siedlung zum Konflikt General XXXX mit dem Vater des BF befragt: Nach seiner Information hat General XXXX mit der Familie des BF keinen Konflikt und er verfolgt den BF nicht.
Betreffend die Tötung des Bruders des BF hat er ebenfalls angegeben, dass XXXX , der Bruder des BF, bei der Explosion am "15.07.1387 = 05.11.2008" nicht getötet worden ist. Diese Explosion, wo die Abgeordneten und dutzende Schüler und Passanten in XXXX getötet worden waren, war nach Berichten zur Folge am 6. November 2007 (siehe Beilagen 2,3 und 4). Als meine Mitarbeiter den Vater des BF kontaktiert haben, hat dieser behauptet, dass sein Sohn, XXXX , auch an jenem Datum getötet worden wäre und hat die Asylgründe seines Sohnes, welche der BF in Österreich angegeben hat, wortwörtlich wiederholt. Diese Version des Vaters des BF und das Fluchtvorbringen des BF selbst wurden von den Dorfältesten und anderen Personen in XXXX , die die Familie des BF kannten, nicht bestätigt. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass bei den unzähligen Toten durch die Explosion in XXXX an jenem Datum auch ein Schüler oder ein Passant namens XXXX auch getötet worden sein könnte. Bei Tötung einer unschuldigen Person bei einem Attentat der Taliban wird die Familie des Opfers eher entschädigt und von der Behörde und auch von Dorfbewohnern bemitleidet. In so einer Situation lassen die Feinde einer solchen Familie, falls sie welche haben, in Ruhe und sie besuchen diese Familie und sprechen ihre Kondolenz aus, statt sich an diese Familie wegen ihrer "Feindschaft" zu verfolgen.
Betreffend die "Verfolgung" des BF durch die Behörde wurden auch der Dorfälteste und der Familie des BF nahestehende Personen in XXXX befragt und diese haben von einer Verfolgung des BF durch die Behörde nicht gewusst. Meine Mitarbeiter haben, ohne den Namen des BF der Behörde in XXXX , XXXX , bekannt zu geben, dieser folgende Frage gestellt: Ob wegen seinerzeitigen Explosionen, die für aus Kabul angereisten Parlamentsdelegation in XXXX gegolten hatte, noch Personen verfolgt und diese auf der Fahndungsliste der Sicherheitsorgane stehen würden?
Die Behörde hat auf diese Frage geantwortet, dass dieser Fall ausgeschlossen sei und niemand auf der Fahndungsliste der Polizei oder des Sicherheitsdienstes wegen der Explosion bei der Abgeordneten und Schüler damals ums Leben gekommen sind, stehen würde.
Nach meiner Sachkenntnis sind die Angaben des BF, dass er von der Behörde und vom General XXXX verfolgt werden würde, nicht der Wirklichkeit Afghanistans übereinstimmend. Wenn tatsächlich der BF beschuldigt wird, durch eine Explosion, Abgeordnete und viele andere Menschen getötet zu haben, dann kann die Familie einer solchen Person nicht ohne Schwierigkeiten in Bahlan leben. Wenn jemand tatsächlich beschuldigt wird, den Tod von Abgeordneten in Kauf genommen zu haben, werden solche Personen nicht nur durch die Behörde verfolgt, sondern sie werden auch besonders durch die Angehörigen der Abgeordneten, die mächtige und bewaffnete Familien sind, verfolgt. Diese Familien lassen auf keinen Fall die Familien von solchen Tätern am Leben. Die Familie des BF, vor allem der Vater des BF, lebt ohne Schwierigkeiten durch Behörde und ohne Probleme mit den Familienangehörigen der damaligen Opfer, in Ruhe mit seiner Familie in XXXX .
Betreffend den Konflikt zwischen General XXXX und dem Vater des BF wurden die Dorfältesten und entfernte Verwandte der Familie des BF in XXXX ebenfalls befragt: Nach diesen Informationen war General XXXX ein Offizier der kommunistischen Armee und lebt derzeit, wie die Familie des BF, in XXXX in XXXX .
General XXXX und der Vater des BF hatten bei der Gründung des Viertels XXXX -Familie über einen Baugrund, wie viele andere Menschen, die über die Verteilung der Baugründe dieses Viertels miteinander gestritten haben, Anfang der 90 Jahre gestritten. Dieser Konflikt ist damals bald beigelegt worden und General XXXX und der Vater des BF sind nicht mehr miteinander verfeindet. General XXXX ist ein harmloser General und ist nicht als Warlord oder als ein mächtiger General bekannt. Er hat auch kein staatliches Amt inne.
Ad Sicherheitslage in Baghlan:
Die Provinz Baghlan wird von Paschtunen, Tajiken und Usbeken bewohnt. Die Großstädte in Baghlan, wie XXXX und XXXX und die umliegenden Distrikte wie XXXX werden hauptsächlich von Paschtunen bewohnt. Die Provinzhauptstadt XXXX und einige von den Hauptstraßen entfernten Distrikte werden von den Tajiken und Usbeken bewohnt. Allerdings haben die Taliban auf Grund der Anwesenheit der paschtunischen Bevölkerung, die den Taliban Rückendeckung gibt, in Baghlan besonderen Einfluss und sie kontrollieren mehrere Distrikte in Baghlan und sie kontrollieren teilweise auch immer wieder bestimmte Abschnitte der Hauptstraße zwischen Kunduz und Kabul, die über Baghlan führt. Die von Paschtunen bewohnten Distrikte und Dörfer sind vollständig unter der Kontrolle der Taliban. Obwohl die Stadt XXXX in Baghlan als eine sichere Stadt gilt, wird sie vom Norden von den Taliban bedroht. Die Stadt ist klein und die Gefahrenzone vom Norden beträgt ca. 400 Meter.
Im Nachbardistrikt der Provinzhauptstadt XXXX , in XXXX , wird seit Monaten gekämpft. Die Regierung war sogar gezwungen Anfang dieses Jahres mit den Taliben in XXXX Frieden zu schließen und dabei wurde dieser Distrikt vertraglich den Taliban überlassen (siehe Beilage 5). Daher ist die Heimatprovinz Baghlan, von wo der BF stammt, als eine unsichere Provinz zu kategorisieren.
Die Reisenden nach Baghlan, Kunduz und Mazar-e Sharif fahren mit Taxis, Linienbussen und Privatautos von Kabul über die Hauptstraße über Salang Pass nach Baghlan. Zuerst kommt man in XXXX , in der Provinzhauptstadt an und dann fährt man nach XXXX .
Auch bis XXXX kommen die Reisenden ohne Probleme an. Aber nach XXXX Richtung Kunduz werden die Wege unsicher und die Reisenden versuchen möglichst tagsüber die Strecke von XXXX nach Kunduz zu passieren. Ab 14 Uhr besteht die Gefahr, dass die Taliban diese Strecke gelegentlich kontrollieren. Aus diesem Grunde versuchen die Reisenden möglichst bis zum frühen Nachmittag die Gegend Baghlan nach Kunduz und Mazar-e Sharif passieren.
d) Ergänzungen zum vorgelegten Ermittlungsergebnis im Rahmen der Erörterung des schriftlich vorgelegten Gutachtens im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 20.12.2016 (RI: Richter, SV: Sachverständiger, BFV: bevollmächtigter Vertreter, BF: Beschwerdeführer).
"RI stellt fest, dass das Gutachten des SV vom 09.04.2016 dem BF im Vorfeld der Verhandlung zeitgerecht übermittelt wurde. Nach Zusammenfassung des Inhalts des Gutachtens durch den RI wird dem BF und seiner bevollmächtigten Vertreterin die Möglichkeit gegeben zu diesem Gutachten eine Stellungnahme abzugeben.
BF: Erstens haben ich keine Brüder, ich wünschte, ich hätte Brüder. Ich hatte nur einen Bruder, der in BAGHLAN in XXXX zur Schule gegangen ist. Er ist verstorben. Die Kinder sind immer wieder zur Zuckerfabrik gekommen (Fabrika QANDE BAGHLAN). Sie sind dort gestanden, um Parlamentarier willkommen zu heißen. Sie haben mir gesagt, dass es in den 90er Jahren einen Grundstücksstreit gegeben hätte, darüber weiß ich aber nichts. Mein Vater hat mir auch von keinen Grundstücksstreitigkeiten berichtet. Es gab nur diesen Konflikt mit dem General XXXX . Wen hat der SV gefragt? Ich habe keine Brüder, die Taxi oder sonstige Fahrzeuge lenken würden.
RI: Zum weiteren Inhalt, dass Sie nicht als Terrorist in Afghanistan gesucht werden und dazu, dass kein Konflikt mit dem General XXXX besteht, wollen Sie nichts sagen?
BF: Diesbezüglich bleibe ich bei meinen Angaben.
SV: Der BF deutet an, dass sein Vater von meinen Mitarbeitern angesprochen wurde. In weiterer Folge verstehe ich den BF so, dass er sich fragt, warum ich die Äußerungen seines Vaters nicht als Grundlage für meine Beurteilungen herangezogen habe. Dazu möchte ich ausführen, dass meine Forschungsarbeit auf Basis der wissenschaftlichen Kriterien stattfindet. Ich befrage verschiedene Akteure in der Region und auch die Dorfvorsteher und Teile der Nachbarschaft des jeweiligen BF. Zudem basieren meine Gutachten auf Literaturrecherchen, in denen zu dem Fall oder den Fall betreffende Phänomene vorkommen. Wie sich aus meinem Gutachten ergibt, habe ich auch angegeben, dass meine Leute den Vater des BF angetroffen haben. Der Vater hat jene Angaben wortwörtlich bestätigt, die der BF in Österreich gemacht hat. Aber seine Aussage war nur ein Teil meiner gesammelten Informationen.
BF: Wen hat der SV dort befragt? Hat er vielleicht Stammesleute gefragt, die mit mir in Feindschaft leben und die uns unsere Grundstücke wegnehmen wollen?
RI: Wer will Ihnen Grundstücke wegnehmen?
BF: General XXXX wollte die Grundstücke haben, deshalb wollte er mir, dem Sohn meines Vaters, den Vorwurf machen, ich hätte eine Straftat begangen.
SV: Ich gebe die Namen meiner Vertrauensleute aber auch derjenigen, die wir an Ort und Stelle befragt haben aus Sicherheitsgründen nicht dem BF und auch nicht den Vertretern bekannt. Diese Tatsache ist den Richterinnen und Richter seit Zeiten des UBAS bekannt. Ich bin aber bereit, den Richtern das vertraulich zu erörtern.
RI an den SV: Ist es möglich, dass der BF in Afghanistan wegen dieses Anschlages seitens der Regierungsbehörden als Terrorist gesucht wird, ohne dass Sie das in Erfahrung hätten bringen können?
SV: Ich habe mich an die zuständige Behörde in der Hauptstadt der Provinz BAGHLAN gewandt, das erwähne ich auch in meinem Gutachten. Es gibt keine Fahndungsliste zu diesem Anschlag, das nach weiteren Verdächtige gesucht werden. Dass die Behörde jemanden festnimmt und wieder frei läßt kann vorkommen. Es ist auf alle Fälle ausgeschlossen, dass der BF jemals auf einer Fahndungsliste im Zusammenhang mit diesem Anschlag stand und gesucht wurde.
RI: Sie haben im Verfahren eine Bestätigung des Innenministeriums der islamischen Republik Afghanistan vorgelegt, bei der auffällt, dass im Briefkopf Schreibfehler im englischen Teil aufscheinen.
SV: In einem anderen Brief, den Sie vorlegen, wird von dem Dorfvorsteher bzw. Wortführer Ihrer Gegend Ihre Unschuld beteuert. Das bedeutet, dass Sie an keinem Terroranschlag beteiligt waren. In Afghanistan ist es üblich, wenn die Wortführer einer Gegend für oder gegen jemanden sprechen, werden ihre Worte bei der Behörde gehört, und sie könnten auf Bitte Ihres Vaters bei der Behörde vorstellig werden und der Behörde Ihre Unschuld beteuern. Das hätte wesentlich zu Klärung der Sache bei der Behörde beigetragen. Dieser Einsatz der Wortführer trägt zur Klärung der Sache bei der Behörde bei.
RI an den SV: Können Sie zu den Schreibfehlern im Briefkopf der Bestätigung des Innenministeriums etwas sagen?
SV: Seitens des Innenministeriums kommt kein Fehler vor, soweit es um den Briefkopf des Amtes geht. Aber es kommt vor, dass bestimmte Behörden außerhalb der Großstädte aus Gefälligkeitsgründen Bestätigungen ausstellen und selber den Briefkopf gestalten. In so einem Brief können auch Fehler in der englischen Übersetzung vorkommen.
BF: Bezüglich der Dokumente kann ich nichts sagen, das ist die Sache der Behörde. Was mein Vorbringen anbelangt: wer tut sich das an, dass er solche Geschichten oder Schwierigkeiten vorbringt? Mein Vater wurde wegen mir eingesperrt. Man wollte vom ihm, dass er mich ihnen überlässt. Er hat gesagt, dass er damit nichts zu tun hätte. Das ist eine Geschichte zwischen ihnen und mir. Mein Vater ist sehr alt. Ich habe ihn dann mit Hilfe der Dorfältesten wieder frei bekommen. Wenn diese Leute mich bekommen hätten, dann hätten sie mich unter Druck gesetzt, um diese Grundstück zu bekommen. Was diese Fehler in den Dokumenten anbelangt, möchte ich sagen, dass viele Leute in BAGHLAN Analphabeten sind.
BFV: Die Erkenntnisse dieses Gutachtens sind für mich nicht nachvollziehbar, folglich ist dieses Gutachten keiner schlüssigen Beweiswürdigung zu unterziehen. Meiner Meinung nach fallen Aussagen, wie "nach meiner Sachkenntnis" nicht unter wissenschaftliche Kriterien eines SV. In diesem Gutachten ist sehr oft die Rede von allgemeinen Aussagen, wie etwa "ein bekannter Weißbärtiger" oder "nach meiner Sachkenntnis". Ich bin aber der Meinung, dass die eigenen Ansichten eines SV nicht zwingend einer schlüssigen Beweiswürdigung unterzogen werden können. Diese können durchaus der Wirklichkeit des allgemeinen Lebens widersprechen. Das Vorgehen des SV, Namen an Richter weiterzugeben, jedoch nicht an den BF, der Partei dieses Verfahrens ist, ist rechtswidrig. In diesem Gutachten ist sehr oft die Rede von Nachforschungen in XXXX . Der BF hat aber mehrmals erwähnt, dass er dort nie gelebt hat, sondern sich im letzten Jahr in Afghanistan dort versteckt hat. Die Explosion war in der Stadt BAGHLAN. Deshalb auch meine Frage an den SV: Warum wurde immer in XXXX nachgeforscht?
SV: XXXX ist seit dem kommunistischen Regime die Hauptstadt der Provinz BAGHLAN und der Sitz der Behörde. Zudem ist es üblich, dass meine Leute in den Städten zuerst nach Wortführern von bestimmten Gegenden suchen, bevor sie sich dorthin begeben. Sie vermeiden dadurch, dass sie aus Sicherheitsgründen in Gefahr geraten, wenn sie uniformiert dort hin fahren. BAGHLAN besteht aus drei größeren
Städten: XXXX XXXX . Diese Zentren sind nicht mehr als 15 Minunten von einander entfernt. Daher ist unvermeidlich, dass man verschiedene Orte während meiner Forschung aufsucht und Indizien für weitere Informationen dort findet. XXXX ist die Hauptstadt von XXXX und dort ist der Sitz der Behörde und zwangsläufig müssen meine Leute dort nachfragen.
BF: Mein Dorf ist XXXX weit weg. Und wenn Sie dort bei den Behörden gefragt haben, sie sind ja meine Feinde, sie werden sicher nicht die richtigen Informationen weitergeben.
SV: Ich möchte Sie (den BF) darauf aufmerksam machen, dass Sie einen Brief der Dorfältesten hier den Behörden vorgelegt haben, welcher in Afghanistan als ein öffentlicher Brief gilt. Das heißt, die Wortführer Ihrer Gegend kennen Ihren Fall und dadurch automatisch erfährt auch die Behörde, wer Sie sind und wo Sie wohnen.
BF: Das sind die Dorfältesten und die Behörden erfahren davon nichts. Dorfälteste sterben und es kommen immer neue dazu. Abgesehen davon, dass in 300 Häusern von 400 Häusern Rückkehrer aus Pakistan leben, die über diese Vorfälle nichts wissen.
RI: Wenn es so ist, dass von diesem Schreiben niemand etwas erfährt, warum lässt man es dann anfertigen?
BF: Das hat schon eine Bedeutung. Es ist die Bestätigung des Dorfältesten.
RI: Wozu braucht man diese Bestätigung?
BF: Ich war unschuldig. Mächtige haben mich beschuldigt.
RI: Was haben Sie mit dieser Bestätigung gemacht?
BF: Es beweist meine Unschuld.
RI: Wem haben Sie Ihre Unschuld damit bewiesen?
BF: Das die Behörden hier von meiner Unschuld informiert werden.
SV: Ich möchte darauf hinweisen, dass, wenn wir in Afghanistan von Dorfältesten sprechen, von Wortführern sprechen, wenn es darum geht, dass diese Personen über bestimmte Sachen entscheiden oder etwas bestätigen. Das hat mit ihrem Alter nichts zu tun. Zu den Dorfältesten zählen auch die MALEK¿s, die in Verbindung mit der Regierung stehen, um die Angelegenheiten zwischen der Bevölkerung und der Regierung zu bewältigen.
BF: Ich bin nur zu jenen gegangen, die mit uns gut waren. Dorfälteste, mit denen wir Konflikte hatten, zu denen sind wir nicht gegangen.
RI: Wovon lebt Ihre Familie in Afghanistan?
BF: Sie bewirtschaften Grundstücke.
RI: Könnte Ihre Familie Sie im Falle einer Rückkehr in MAZAR-e SHARIF oder KABUL finanziell unterstützen?
BF: Ich kann nicht zurückkehren, sie würden mich festnehmen. Ich bin seit sieben Jahren hier, weil ich Probleme habe. Der SV behauptet, dass die Volksgruppen miteinander dort gut klar kommen würden. Das stimmt aber nicht. Es gibt eine Person, die der SV vielleicht nicht kennt, namens XXXX (Anmerkung D: "Paschtunentöter"). Er ist Tadschike und er hat sich diesen Namen selbst gegeben.
RI: Was hat das mit Ihnen zu tun?
BF: Weil der SV das im Gutachten behauptet hat.
RI: Im Gutachten wird dies nicht behauptet.
RI: Hatten Sie die Möglichkeit alles vorzubringen, das Sie wollten oder gibt es noch etwas zu ergänzen oder zu berichtigen?
BF: Ich habe nichts mehr zu sagen, aber ich betone noch einmal, dass ich keine Brüder habe und die Leute, die zu meinen Problemen gefragt wurden gewiss Feinde sind, die mich schnappen wollen.
RI an BFV: Wollen Sie noch etwas fragen oder vorbringen?
BFV: Ich habe keine Fragen, möchte aber etwas zur Sicherheitslage sagen.
.............
BFV: Ich weise auf einen Medienbericht vom 15. August 2016 der Weltnachrichten hin und lege diesen auch vor. Zudem verweise ich auf das LIB der Staatendokumentation vom 29. Juli 2016, aktualisiert im September 2016 und auf den neuen EASO-Bericht zu Afghanistan vom November 2016, die beide bestätigen, dass die Lage in BAGHLAN äußerst gefährlich ist. Ich verweise auch auf eine aktuelle Entscheidung des VfGH, Zl. E707/2015 vom 19.11.2015. Dieses sagt, dass sich das BVwG damit auseinander zu setzen hat, wie der BF auf sicheren Weg in die Herkunftsprovinz gelangen kann. In jedem Fall wäre dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu gewähren, da dieser bereits seit sieben Jahren in Österreich lebt und bestens integriert ist.
SV: Zu meinen Ausführungen zur Sicherheitslage in BAGHLAN möchte ich daraufhinweisen, dass ich während meiner Forschungsreise im Oktober dieses Jahres in Afghanistan in Erfahrung bringen konnte, dass die Sicherheitslage in BAGHLAN äußerst prikär ist, sodass aus den städtischen Bereichen in BAGHLAN tausende Leute in die Stadt KABUL oder nach MAZAR-e SHARIF geflüchtet sind, weil die Taliban auch in die Städte der Provinz BAGHLAN Zugang gefunden haben. Sie greifen die Städte immer wieder mit Raketen, Bomben oder Selbstmordattentätern an.
BFV: Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht dem BF nicht zu, da dieser seit bereits sieben Jahren aus Afghanistan weg ist, keine vernünftige Berufsausbildung hat und es ihm deshalb nicht möglich wäre sich in KABUL oder MAZAR-e SHARIF eine wirtschaftliche Existens aufzubauen.
BF: Ich möchte noch ergänzen, dass, falls Sie mich nach Afghanistan zurückschicken, die Taliban behaupten würden, dass ich konvertiert oder ein Spion sei. Sie würden mich festnehmen oder töten.
RI an SV: Wird Rückkehrern nach Afghanistan Ihres Wissens nach vorgeworfen, dass sie konvertiert seien oder dass sie Spione seien?
SV: Es kommen tausende Afghanen auch aus den europäischen Ländern, zu denen ich auch die ehemaligen Ostblockstaaten zähle, nach Afghanistan zurück. Sie werden von niemanden verdächtigt, dass sie Christ geworden oder Spione wären. Ausgenommen sind jene Personen, die selber Zeichen in diese Richtung gegeben haben. Zum Beispiel wenn sie gleich nach ihrer Rückkehr bei einer ausländischen Organisation als Dolmetscher angefangen haben. Wenn sie im Herrschaftsbereich der Taliban von den Taliban angehalten werden, wird solchen Leute von den Taliban auch vorgeworfen, dass sie den Ausländern dienen, weil sie im Ausland gewesen sind."
II. Beweiswürdigung
Der Beweiswürdigung liegen folgende maßgebende Erwägungen zugrunde:
II.1. Zum Verfahrensgang
Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des Bundesasylamtes und des vorliegenden Gerichtsakts des Bundesverwaltungsgerichts.
II.2. Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei
1. Die Feststellungen zum Namen, Geburtsdatum, Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit des BF stützen sich auf die Angaben des BF im Verfahren vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Der BF hat im Verfahren keine unbedenklichen Urkunden zu seiner Identität vorgelegt, weshalb die Feststellungen ausschließlich für die Identifizierung der Person des BF im Asylverfahren gelten.
2. Die Feststellungen zu seinen persönlichen Verhältnissen in Afghanistan stützen sich auf die Angaben des BF vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie auf das Erhebungsergebnis des bestellten Sachverständigen.
3. Die Feststellungen zu den Integrationsbemühungen des BF sowie zu seinen Sprachkenntnissen stützen sich auf die im Verfahren vorgelegten Unterlagen und Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (ÖSD Zertifikat A2" vom 29.09.2015, Empfehlungsschreiben mehrerer Privatpersonen einschließlich Fotodokumentation über die gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten des BF).
4. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand stützen sich auf den vorgelegten "psychotherapeutischer Befund/Bestätigung" des XXXX vom 12.12.2016, sowie auf einen Patientenbrief der XXXX vom 07.04.2015, derzufolge dem BF am 23.03.2015 ein Nierenstein entfernt wurde und der BF beschwerdefrei ist.
5. Die Feststellungen zur unrechtmäßigen Einreise in Österreich stützen sich auf die Tatsache, dass der BF in Umgehung der die Einreise regelnden Vorschriften ohne die erforderlichen Dokumente in Österreich einreiste.
6. Die Feststellungen, dass Gründe, die eine Verfolgung des BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat aus asylrelevanten Gründen maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, sind nicht hervorgekommen sind, stützen sich auf die vom BF vor der belangten Behörde, in seiner Beschwerde, den Beschwerdeergänzungen und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht getroffenen Aussagen sowie eingebrachten Länderfeststellungen und dem Ergebnis der Ehebungen im Herkunftsstaat durch den bestellten Sachverständigen.
6.1. Der BF hat als Grund für das Verlassen seines Herkunftsstaates angegeben, es drohe ihm eine Verfolgung in Afghanistan, weil er beschuldigt werde, an einem Terroranschlag auf die Zuckerfabrik in Baghlan im Jahre 2007 beteiligt gewesen zu sein. Bei diesem Anschlag seien zahlreiche Menschen, unter anderem hochrangige Politiker und der Bruder des BF ums Leben gekommen. Der BF gab weiters an, er würde der Mittäterschaft beschuldigt, werden, weil ein mächtiger Mann namens General XXXX , der über gute Kontakte zur Regierung verfüge, dies veranlasst habe. General XXXX versuche, dem BF die Sache "anzuhängen", weil eine Feindschaft zwischen General XXXX und der Familie des BF wegen eines Grundstückstreits bestehe.
Zum Beweis dafür, dass er als Terrorverdächtiger in Afghanistan seitens der Sicherheitsbehörden gesucht werde, legte der BF einen Haftbefehl des "M inisrty of intererior of Isamic reputic of Aghaistan" (Schreibfehler im Original) vor. Zum Beweis dafür, dass er zu Unrecht beschuldigt wird, legte der BF eine Bestätigung der Dorfältesten vor.
Wie sich aus offenen Quellen ergibt, fand der Anschlag auf die Zuckerfabrik in Baghlan anlässlich des Besuchs einer Parlamentsdelegation, bei dem sechs Angehörige des Parlaments und mindestens 75 Menschen ums Leben kamen, am 06.11.2007 statt.
6.2. In Hinblick auf die Behauptung des BF, als Terrorverdächtiger im Zusammenhang mit einem der schwersten Terroranschläge in Afghanistan seitens der Sicherheitsbehörden gesucht zu werden, war in Hinblick auf das mögliche Vorliegen eines Asylausschlussgrundes gemäß § 6 AsylG 2005 die Veranlassung von Erhebungen durch einen Sachverständigen im Herkunftsstaat unumgänglich und hat der BF diesen ausdrücklich zugestimmt. Einwände gegen den bestellten Sachverständigen wurden nicht erhoben.
6.3. Aus dem Ergebnis der Erhebungen (siehe oben Punkt II.1.c und d) ergibt sich zusammengefasst, dass nicht davon auszugehen ist, dass der BF in Afghanistan in Zusammenhang mit dem Terroranschlag in Baghlan seitens der Sicherheitsbehörden gesucht wurde oder wird oder sonst in Verbindung gebracht wird. Auf ergänzende Frage der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anlässlich der Erörterung des schriftlichen Gutachtens konnte der Sachverständige zusammenfassend ausschließen, dass der BF im Zusammenhang mit diesem Anschlag auf einer Fahndungsliste stand oder gesucht wurde. Auch der im Verfahren vorgelegte Haftbefehl des Innenministeriums vermag das Erhebungsergebnis nicht in Frage zu stellen, zumal allein schon aufgrund der gehäuften Schreibfehler im Briefkopf (siehe oben) die Authentizität mehr als zweifelhaft scheint und der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung diesbezüglich ausführte, dass offizielle Dokumente keine Schreibfehler im Briefkopf aufweisen, dies aber bei Gefälligkeitsschreiben vorkomme.
Es ist auch nicht davon auszugehen, dass ein Konflikt des General XXXX , der wie die Familie des BF in der Stadt XXXX in Baghlan lebt, mit der Familie des BF besteht und deshalb eine Verfolgungsgefahr für den BF besteht. Der vom BF beschriebene Grundstückskonflikt war bereits Anfang der 90er Jahre beigelegt worden und General XXXX und der Vater des BF sind nicht mehr verfeindet. Zudem sei General XXXX nicht als Warlord oder mächtiger General bekannt, er hat auch kein staatliches Amt inne. Gegen eine Verfolgung der Familie des BF spricht auch, dass diese in der Heimatstadt zurückblieb und dort lebt.
Der Sachverständige hat seine Recherchemethoden offen gelegt und verschiedene Quellen herangezogen. Das Gutachten ist schlüssig und nachvollziehbar. Die Familie konnte identifiziert werden und der Vater des BF befragt werden, sodass das Gericht davon ausgeht, dass über die richtigen Personen Auskünfte eingeholt wurden.
Dass der Vater des BF das Vorbringen des BF bestätigt und die Angaben des BF wortwörtlich wiederholte hätte, ist kein starkes Argument für die Glaubwürdigkeit und kann im Hinblick auf die von unbeteiligten Dritten geäußerten Informationen die Fluchtgründe nicht bestätigen.
Der Einwand des BF im Rahmen der Erörterung des Erhebungsergebnisses, er hätte – entgegen den Angaben im Erhebungsbericht - keine Brüder, bezieht sich auf einen Einzelaspekt des Rechercheergebnisses. Für den Kern des Vorbringens, nämlich wegen einer Feindschaft mit General XXXX (fälschlich) beschuldigt zu werden, an einem Terroranschlag beteiligt gewesen zu sein einschließlich einer behördlichen Fahndung konnten keine hinreichenden Anhaltspunkte gefunden werden. In Hinblick auf die dargelegte Recherche-Methode haben sich auch keine Hinweise darauf ergeben, dass das Rechercheergebnis so aussehe, weil nur "Feinde" des BF befragt worden wären.
Der Auffassung des bevollmächtigten Vertreters, das Rechercheergebnis sei nicht nachvollziehbar und nicht schlüssig, weil der Sachverständige Formulierungen wie "nach meiner Sachkenntnis" oder "ein bekannter Weißbärtiger" verwendete und er die Namen der Vertrauensleute und Befragten aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich bekanntgebe, kann in Hinblick auf die dargelegte Recherchemethode nicht beigetreten werden. Der Sachverständige hat unter Zugrundelegung seiner Sachkenntnis darauf hingewiesen, dass die Familie einer Person, die beschuldigt wird, Abgeordnete und zahlreiche weitere Menschen getötet zu haben nicht ohne Schwierigkeiten in Baghlan leben kann. Die Angehörigen von Abgeordneten seien mächtige und bewaffnete Familien, die die Familie von Tätern nicht am Leben lassen würden. Dies scheint dem erkennenden Gericht unter Berücksichtigung der in Afghanistan fallweise gelebten Blutrache nachvollziehbar und schlüssig. Der Sachverständige hat auf konkrete Fragen auch dargelegt, welche Personengruppe unter der Bezeichnung "Weißbärtiger" fällt. In Hinblick auf die dargelegte Recherche-Methode und einer breit gefächerten Befragung vermag die nicht namentliche (öffentliche) Nennung der befragten Personen keine Zweifel an der Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit der Erhebungsergebnisse aufkommen zu lassen.
6.4. Auch aus der erstmals am Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht geäußerten Behauptung, es drohe ihm im Falle seiner Rückkehr Verfolgung, weil die Taliban nun behaupten würden, er wäre konvertiert oder sei ein Spion, ist eine maßgebliche Verfolgungsgefahr nicht wahrscheinlich. Der Sachverständige hat in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass tausende Afghanen aus den europäischen Ländern einschließlich der ehemaligen Ostblockstaaten nach Afghanistan zurückkehren und von niemanden verdächtigt werden, Christ geworden oder Spion zu sein, solange diese nicht selber Zeichen in diese Richtung gegeben haben. Dass der BF Anlass für eine solche Einschätzung gegeben hätte, hat er nicht behauptet.
7. Der BF konnte somit keine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen, und ist auch im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt. Es ist folglich davon auszugehen, dass eine asylrelevante Verfolgung nicht existiert.
II.3. Zur Lage im Herkunftsstaat
Die diesem Erkenntnis zugrundegelegten Länderfeststellungen (siehe oben Punkt I.2.b, c und d) gründen sich auf Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Afghanistan ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen Berichte älteren Datums zugrundeliegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem BVwG von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation fallrelevant nicht wesentlich geändert haben.
Die vom erkennenden Gericht zusätzlich in das Verfahren eingebrachten Auszüge aus drei gutachterlichen Stellungnahmen eines Ländersachverständigen sind schlüssig und nachvollziehbar. Die Fachkompetenz des Sachverständigen wird auch durch seine berufliche Laufbahn und regelmäßigen Studienaufenthalte im Herkunftsstaat des BF unterstrichen.
Der Sachverständige ist in Afghanistan geboren und aufgewachsen, er hat in Kabul das Gymnasium absolviert, in Wien Politikwissenschaft studiert und war in den neunziger Jahren an mehreren Aktivitäten der Vereinten Nationen zur Befriedung Afghanistans beteiligt. Er hat Werke über die politische Lage in Afghanistan verfasst und verfügt dort über zahlreiche Kontakte, ist mit den dortigen Gegebenheiten vertraut und recherchiert dort selbst – früher schon für den Unabhängigen Bundesasylsenat und den Asylgerichtshof und nunmehr immer wieder für das BVwG. Darüber hinaus hält er an der Universität Wien Lehrveranstaltungen ab, die sich mit Afghanistan beschäftigen. Auf Grund seiner Sachkenntnis wurde er bereits in vielen Verfahren als Gutachter herangezogen; er hat im Auftrag vieler Mitglieder des Unabhängigen Bundesasylsenates, des Asylgerichtshofes und des BVwG zahlreiche nachvollziehbare und schlüssige Gutachten zur aktuellen Lage in Afghanistan erstattet.
III. Rechtliche Beurteilung:
III.1. Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:
1. Bis Ablauf des 31.12.2013 war der AsylGH gemäß Art. 129c des Bundes-Verfassungsgesetzes, BGBl. Nr. 1/1930 idF BGBl. I Nr. 49/2012 (B-VG), zuständig, nach Erschöpfung des Instanzenzuges über Bescheide der Verwaltungsbehörden in Asylsachen – bis zum Ablauf des 31.12.2013 das BAA - sowie über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht in Asylsachen zu erkennen.
Gemäß Art. 151 Abs. 51 Z 7 des B-VG idF BGBl. I Nr. 164/2013 wird der AsylGH mit 1. Jänner 2014 zum Bundesverwaltungsgericht (BVwG). Dieses hat gemäß § 75 Abs. 19 AsylG alle mit Ablauf des 31.12.2013 beim AsylGH anhängigen Beschwerdeverfahren (nach Maßgabe des § 75 Abs. 20 AsylG) zu Ende zu führen. Das gegenständliche Verfahren war mit Ablauf des 31.12.2013 beim AsylGH anhängig, somit ist das BVwG nunmehr für die Erledigung der gegenständlichen Beschwerde zuständig.
Belangte Behörde ist ab 01.01.2014 das BFA als Rechtsnachfolger des BAA.
2. Gemäß § 1 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte, BGBl. I Nr. 33/2013 idF BGBl. I Nr. 122/2013 (VwGVG) ist das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes durch das VwGVG geregelt.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991, BGBl. Nr. 51/1991 idF BGBl. I Nr. 161/2013 (AVG), mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Im gegenständlichen Verfahren sind daher gemäß § 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 144/2013 (BFA-VG), dieses sowie weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und im Bundesgesetz über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 144/2013 (FPG) anzuwenden.
3. Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes, BGBl. I Nr. 10/2003 (BVwGG), entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da eine Senatsentscheidung in den einschlägigen Bundesgesetzen nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des BVwG zuständigen Einzelrichter.
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
4. Gemäß dem zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinbringung geltenden § 63 Abs. 5 AVG iVm dem zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinbringung geltenden § 23 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Asylgerichtshof, BGBl. I Nr. 4/2008 idF BGBl. I Nr. 10/2013 (in Folge: AsylGHG), war die Beschwerde von der Partei binnen zwei Wochen beim BAA einzubringen. Dies entspricht auch der heutigen Rechtslage (siehe § 16 Abs. 1 BFA-VG).
5. Zur Säumnis
Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG erkennen Verwaltungsgerichte über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch eine Verwaltungsbehörde.
§ 73 AVG samt Überschrift lautet:
"3. Abschnitt: Entscheidungspflicht
§ 73. (1) Die Behörden sind verpflichtet, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, über Anträge von Parteien (§ 8) und Berufungen ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach deren Einlangen den Bescheid zu erlassen. Sofern sich in verbundenen Verfahren (§ 39 Abs. 2a) aus den anzuwendenden Rechtsvorschriften unterschiedliche Entscheidungsfristen ergeben, ist die zuletzt ablaufende maßgeblich.
(2) Wird ein Bescheid, gegen den Berufung erhoben werden kann, nicht innerhalb der Entscheidungsfrist erlassen, so geht auf schriftlichen Antrag der Partei die Zuständigkeit zur Entscheidung auf die Berufungsbehörde über (Devolutionsantrag). Der Devolutionsantrag ist bei der Berufungsbehörde einzubringen. Er ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen ist.
(3) Für die Berufungsbehörde beginnt die Entscheidungsfrist mit dem Tag des Einlangens des Devolutionsantrages zu laufen."
Gemäß § 8 Abs. 1 VwGVG kann Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG (Säumnisbeschwerde) erhoben werden, wenn die Behörde die Sache nicht innerhalb von sechs Monaten, wenn gesetzlich eine kürzere oder längere Entscheidungsfrist vorgesehen ist, innerhalb dieser, entschieden hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antrag auf Sachentscheidung bei der Stelle eingelangt ist, bei der er einzubringen war. Die Beschwerde ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen ist.
§ 16 VwGVG samt Überschrift lautet:
"Nachholung des Bescheides:
§ 16. (1) Im Verfahren über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG kann die Behörde innerhalb einer Frist von bis zu drei Monaten den Bescheid erlassen. Wird der Bescheid erlassen oder wurde er vor Einleitung des Verfahrens erlassen, ist das Verfahren einzustellen.
(2) Holt die Behörde den Bescheid nicht nach, hat sie dem Verwaltungsgericht die Beschwerde unter Anschluss der Akten des Verwaltungsverfahrens vorzulegen."
Das AsylG enthält keine besonderen Bestimmungen zur Entscheidungspflicht, sodass die Bestimmungen des § 73 AVG auf die Verfahren nach diesem Gesetz anwendbar sind, wobei auch noch die in § 16 Abs. 1 VwGVG vorgesehene Nachfrist des Bundesamtes, die erst mit Einlangen bei der säumigen Behörde zu laufen beginnt, offen steht (siehe auch Erkenntnis des VwGH vom 27.05.2015, Ra 2015/19/0075, demzufolge im Falle der Bejahung der Zuständigkeit einer Behörde dies entsprechend in der Begründung darzulegen ist).
Im konkreten Fall hat der BF am 27.12.2009 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Mit der zurückverweisenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 02.06.2014, GZ W148 1412851-1/18E, war das Verfahren neuerlich beim BFA anhängig.
Mit Schriftsatz vom 22.05.2015, eingelangt beim BFA am selben Tag, erhob der gesetzliche Vertreter des BF Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß § 8 in Verbindung mit § 16 VwGVG.
Da die belangte Behörde zum Antrag des BF vom 27.12.2009 innerhalb der Frist des § 73 AVG und auch nach Einbringung der Säumnisbeschwerde innerhalb der Frist des § 16 Abs. 1 VwGVG keine Entscheidung getroffen hat, erweist sich die Säumnisbeschwerde (bzw. der Devolutionsantrag) an das BVwG als berechtigt und zulässig, zumal den BF an der Verzögerung offensichtlich kein Verschulden trifft und diese offensichtlich in die Sphäre der Verwaltungsbehörde fällt.
Zu prüfen bleibt, ob die gegenständliche Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesamtes abzuweisen ist, weil die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden des Bundesamtes zurückzuführen ist. Die belangte Behörde begründete eine fehlende Erledigung dem hohen Arbeitsaufkommen und der anhaltenden angespannten personellen Situation.
Da der Antrag mit Entscheidung des Bundesverwaltungsgericht seit Juni 2014 neuerlich beim BFA anhängig war, hat die belangte Behörde keine Umstände dargelegt, wonach die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen wäre. In diesem Zusammenhang ist weiters anzumerken, dass sich aus dem Akteninhalt auch nicht ergibt, dass die Ermittlungsverzögerung durch ein schuldhaftes Verhalten des BF verursacht war.
Daraus folgt, dass die Zuständigkeit hinsichtlich des Antrages des BF auf internationalen Schutz vom 27.12.2009 auf das BVwG übergegangen ist.
Zu Spruchteil A)
III.2. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides
1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), droht.
Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
2. Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318;
09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN;
19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131;
25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).
Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 05.11.1992, Zl. 92/01/0792; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, Zl. 94/18/0263; 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).
Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).
Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. "inländische Fluchtalternative" vor. Der Begriff "inländische Fluchtalternative" trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0503 und Zl. 98/01/0648).
Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße – möglicherweise vorübergehende – Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände iSd. Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, Zl. 98/20/0399; 03.05.2000, Zl. 99/01/0359).
3. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des BF, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:
3.1. Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
3.2. Eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen konnte vom BF nicht glaubhaft gemacht und auch sonst nicht festgestellt werden. Auch Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen keine Verfolgung im Sinne der GFK dar.
4. Der BF konnte somit keine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen, und ist auch im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt. Es ist folglich davon auszugehen, dass eine asylrelevante Verfolgung nicht existiert.
Die allgemeine Lage in Afghanistan ist nicht dergestalt, dass bereits jedem, der sich dort aufhält, der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden müsste (vgl. etwa AsylGH 07.06.2011, C1 411.358-1/2010/15E, sowie den diesbezüglichen Beschluss des VfGH vom 19.09.2011, Zahl U 1500/11-6 u.v.a.) und wurde Derartiges seitens des Beschwerdeführers auch nicht behauptet.
Auch aus der wirtschaftlich schlechten Lage in Afghanistan lässt sich für den Beschwerdeführer eine Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nicht herleiten: Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation stellt nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keinen hinreichenden Grund für eine Asylgewährung dar (vgl. etwa VwGH vom 14.3.1995, 94/20/0798; 17.6.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 9.5.1996, 95/20/0161; 30.4.1997, 95/01/0529, 8.9.1999, 98/01/0614). Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Judikatur erkennt, reicht auch der Verlust (oder die Schwierigkeit der Beschaffung) eines Arbeitsplatzes nicht aus, eine Asylgewährung zu begründen, solange damit nicht eine ernsthafte Bedrohung der Lebensgrundlage verbunden ist (VwGH 19.06.1997, 95/20/0482; vgl. 28.05.1994, 94/20/0034). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist eine Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung – zusammenhängt, was im vorliegenden Fall zu verneinen ist.
Da es dem Beschwerdeführer nicht gelungen ist, asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in seinem Herkunftsstaat glaubhaft darzutun, war der Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers gem. § 3 AsylG 2005 abzuweisen.
Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen,
1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder
2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§11 AsylG) offen steht.
Im Vergleich zu § 8 Abs. 1 AsylG 1997, der auf § 57 FrG verwies, bezieht sicht § 8 Abs. 1 AsylG 2005 nunmehr direkt auf die EMRK. Die Verbote des § 57 Abs. 1 FrG (nunmehr § 50 FPG 2005) orientierten sich aber gleichfalls an Art 3 EMRK (Vgl. auch VwGH vom 21.09.2000, 98/20/0557) und erweitern ihn um die Todesstrafe, die per se noch keine unmenschliche oder erniedrigende Strafe i.S.d. EMRK darstellt. Angesichts des somit im Wesentlichen identen Regelungsinhalts des bis 31.12.2005 in Kraft stehenden § 8 Abs. 1 AsylG 1997 im Verhältnis zum nunmehr in Geltung stehenden § 8 Abs. 1 AsylG 2005 – abgesehen vom im letzten Halbsatz des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 nunmehr enthaltenen zusätzlichen Verweis auf eine eventuelle ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes als weitere mögliche Bedingung für eine Gewährung subsidiären Schutzes - lässt sich die bisherige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum § 8 AsylG 1997 i.V.m § 57 Abs. 1 auch auf die neue Rechtslage anwenden.
Gemäß Art. 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf Leben gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. Letzteres wurde wiederum durch das Protokoll Nr. 6 beziehungsweise Nr. 13 zur Abschaffung der Todesstrafe hinfällig. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
Der Fremde hat das Bestehen einer aktuellen, also im Fall seiner Abschiebung in den von seinem Antrag erfassten Staat dort gegebenen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwendbaren und in den Schutzbereich des Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention fallenden Bedrohung glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (vgl. VwGH vom 02.08.2000, 98/21/0461, zu § 57 FrG 1997; auch VwGH vom 25.01.2001, 2001/20/0011).
Unter realer Gefahr ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr ("a sufficiently real risk") möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (vgl. etwa VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573). Es müssen stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre und es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die betroffene Person einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus. Gemäß der Judikatur des VwGH erfordert die Beurteilung des Vorliegens eines tatsächlichen Risikos eine ganzheitliche Bewertung der Gefahr an dem für die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK auch sonst gültigen Maßstab des "real risk", wobei sich die Gefahrenprognose auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. VwGH vom 31.03.2005, 2002/20/0582; VwGH vom 31.05.2005, 2005/20/0095).
Die Außerlandesbeschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art.3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH vom 25.05.2016, Ra 2016/19/0036, mit weiteren Nachweisen).
Im Fall des Beschwerdeführers ergeben sich aus den Feststellungen zur seiner persönlichen Situation vor dem Hintergrund der spezifischen Länderfeststellungen keine konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Hindernisses der Rückverbringung in seinen Herkunftsstaat Afghanistan.
Hinsichtlich der Bezugspunkte bei der Prüfung der Notwendigkeit subsidiären Schutzes hat der VfGH in seinem Erkenntnis vom 13.09.2013, U370/2012 Folgendes ausgeführt:
"Für die zur Prüfung der Notwendigkeit subsidiären Schutzes erforderliche Gefahrenprognose ist bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr abzustellen. Kommt die Herkunftsregion des Beschwerdeführers als Zielort wegen der dem Beschwerdeführer dort drohenden Gefahr nicht in Betracht, kann er nur unter Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und seiner persönlichen Umstände auf eine andere Region des Landes verwiesen werden (VfGH 12.03.2013, U1674/12; 12.06.2013, U2087/2012)."
In diesem Zusammenhang ist auszuführen, dass sich aus den zugrunde gelegten Länderfeststellungen insbesondere aus der in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht aktualisierten gutachterlichen Stellungnahme des Sachverständigen (siehe oben Punkt I.2.c) für das erkennende Gericht ergibt, dass aufgrund der in der Provinz Baghlan auftretenden Sicherheitsprobleme eine allfällige Rückführung des Beschwerdeführers in diese Region für diesen mit einer ernstzunehmenden Gefahr für Leib und Leben verbunden sein könnte, weshalb ihm eine Rückkehr dorthin nicht zugemutet werden kann.
Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführer aufgrund der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und seiner persönlichen Umstände auf eine andere Region des Landes – nämlich die Hauptstadt KABUL – verwiesen werden kann:
Nach den Ergebnissen des Verfahrens muss - wie oben bereits dargestellt - davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer weder aus "wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung" aus einem der in der GFK angeführten Asylgründe sein Land verlassen hat, noch dass er im Falle seiner Rückkehr einer "realen Gefahr" iSd Art 2 oder Art 3 EMRK ausgesetzt wäre, die subsidiären Schutz notwendig machen würde.
Denn auch unabhängig vom individuellen Vorbringen des Beschwerdeführers sind keine außergewöhnlichen, exzeptionellen Umstände hervorgekommen, die ihm im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan drohen könnten und die ein Abschiebungshindernis im Sinne von Art. 3 EMRK iVm. § 8 AsylG 2005 darstellen könnten, wie etwa eine dramatische Versorgungslage (z.B. Hungersnöte), eine massive Beeinträchtigung der Gesundheit oder gar der Verlust des Lebens (vgl. EGMR, Urteil vom 06.02.2001, Beschwerde Nr. 44599/98, Bensaid v. United Kingdom und Henao v. The Netherlands, Unzulässigkeitsentscheidung vom 24.06.2003, Beschwerde Nr. 133699/03).
Auch nach Ansicht des EGMR ist die allgemeine Situation in Afghanistan nicht dergestalt, dass schon alleine die Rückkehr eines Antragstellers eine ernsthafte Bedrohung für die durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte bedeuten würde (vgl. EGMR Urteil Husseini v. Sweden vom 13.10.2011, Beschwerdenummer 10611/09, Ziffer 84 sowie das rezente Erkenntnis des EGMR, wonach die allgemeine Situation in Afghanistan nicht so gelagert ist, dass die Ausweisung dorthin automatisch gegen Art. 3 EMRK verstoße würde: EGMR AGR/Niederlande, 12.01.2016, 13.442/08 und das dementsprechende rezente Erkenntnis des VwGH vom 23.02.2016, Zl. Ra 2015/01/0134-7). Trotz der weiterhin als instabil zu bezeichnenden allgemeinen Sicherheitslage erscheint damit eine Rückkehr nach Afghanistan im Hinblick auf die regional - sogar innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt unterschiedlichen - Sicherheitslage nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund der individuellen Situation des Beschwerdeführers ist diesem die Rückkehr in die Stadt KABUL aus folgenden Gründen auch zumutbar:
Wie oben festgestellt, ist der Beschwerdeführer ausreichend gesund und im erwerbsfähigen Alter. Er spricht Pashtu, ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut. Der BF verfügt über eine Schulbildung und war als selbständiger Händler vor seiner Ausreise erwerbstätig und hat die Möglichkeit, sich allenfalls durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern. Der Beschwerdeführer kann zudem Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen( XXXX ), wodurch er Unterstützung für die Existenzgründung bei einer Rückkehr erlangen kann. Darüber hinaus lebt die gesamte Familie des Beschwerdeführers nach wie vor in Afghanistan. Er stand mit seinem Vater in Kontakt und ist nicht ersichtlich, weshalb eine räumliche Trennung die Angehörigen des Beschwerdeführers, die in der Stadt XXXX in Baghlan eine Landwirtschaft betreiben, außer Stande setzen sollte, ihn etwa finanziell zu unterstützen, sodass insgesamt keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre. Der BF hat auf konkrete Frage in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht dargelegt, warum ihn seine Familie in Mazar-e Sharif oder in der Stadt Kabul nicht unterstützen könnte.
Darüber hinaus ist Kabul eine für Normalbürger, die nicht mit Ausländern zusammenarbeiten, vergleichsweise sichere und über den jeweiligen Flughafen gut erreichbare Stadt. Denn in Kabul ist nach den vorliegenden Länderberichten die allgemeine Lage als vergleichsweise sicher und stabil zu bezeichnen, auch wenn es dort zu vereinzelten Anschlägen kommt. Innerhalb Kabul existieren demnach in verschiedenen Vierteln unterschiedliche Sicherheitslagen. Die afghanische Regierung behält jedoch die Kontrolle über KABUL, größere Transitrouten, Provinzhauptstädte und fast alle Distriktzentren. Aus den entsprechenden Länderberichten ergibt sich, dass sich die in der Stadt Kabul verzeichneten Anschläge hauptsächlich im Nahebereich staatlicher Einrichtungen (etwa Regierungs- und Polizeigebäude) oder NGO¿s ereignen. Diese Gefährdungsquellen sind jedoch in reinen Wohngebieten nicht anzunehmen, weshalb die Sicherheitslage in der Stadt KABUL als ausreichend sicher zu bewerten ist.
Für die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan reicht es auch nicht aus, sich bloß auf eine allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan zu berufen, sondern es müssen vom Betroffenen auch individuelle Umstände glaubhaft gemacht werden, die im Fall der Rückkehr nach Afghanistan eine reale Gefahr der Verletzung des Art. 3 EMRK für maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen. Solche Umstände konnte der Beschwerdeführer im Verfahren jedoch nicht glaubhaft machen. Er spricht die dortige Landessprache, ist gesund und arbeitsfähig. Unter diesen Gesichtspunkten kann davon ausgegangen werden, dass er auch nach seiner Rückkehr in seine Heimat in der Lage sein wird, sich seinen Lebensunterhalt zu sichern. Außerdem kann er durch die Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe zumindest übergangsweise in Kabul das Auslangen finden. Deshalb ist auch nicht zu befürchten, dass er bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr und noch bevor er in der Lage wäre, selbst für seinen Unterhalt zu sorgen, in eine existenzbedrohende bzw. wirtschaftlich ausweglose Lage geraten könnte.
Mit der Aufzeigung der Möglichkeit einer schwierigen Lebenssituation bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht im Fall seiner Rückführung in den Herkunftsstaat wurde die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit einer Verletzung des Art. 3 EMRK im Sinne der obigen Rechtsgrundsätze damit in Bezug auf Kabul nicht dargetan und reicht das Faktum, dass der Beschwerdeführer nicht über hinlängliche Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten in Kabul verfügt, am Boden der bisherigen Feststellungen zur Situation in Kabul für die Annahme der Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht aus (vgl. VwGH vom 08.09.2016, Ra 2016/20/0063).
Die Prüfung der maßgeblichen Kriterien führt daher im konkreten Fall zu dem Ergebnis, dass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr in die Stadt Kabul jedenfalls möglich und auch zumutbar ist.
Ausgehend davon, ist mit Blick auf die persönliche Situation des Beschwerdeführers nicht zu erkennen, dass er im Fall seiner Abschiebung - bezogen auf das gesamte Staatsgebiet - in eine ausweglose Lebenssituation geraten und real Gefahr laufen würde, eine Verletzung seiner durch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden.
Auch seine Erkrankung rechtfertigt im Hinblick auf den strengen Maßstab der Judikatur die Gewährung von subsidiärem Schutz nicht. Nach der Judikatur können unter "außergewöhnlichen Umständen" lebensbedrohende Ereignisse (zB. Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit § 8 Abs. 1 AsylG bzw. § 50 Abs. 1 FPG bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. vs. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; VwGH 13.11.2001, 2000/01/0453; VwGH 09.07.2002, 2001/01/0164; VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059).
Eine solche schwerwiegende Erkrankung liegt nicht vor. Der BF stellte auf konkrete Frage in der mündlichen Verhandlung, ob er sich selbst als arbeitsfähig oder nicht arbeitsfähig einschätze; die Gegenfrage, warum er nicht arbeiten können sollte.
Auf Grund des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG nicht gegeben sind.
Daher ist die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 AsylG als unbegründet abzuweisen.
Die Rückverbringung des Beschwerdeführers nach Afghanistan steht daher nicht im Widerspruch zu § 8 Abs. 1 AsylG 2005, weshalb dem Beschwerdeführer nach den genannten Bestimmungen der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zuzuerkennen ist.
Zu Spruchpunkt II.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegt.
Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG hat das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, und kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 AsylG vorliegt und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das BFA mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
Der mit "Schutz des Privat- und Familienlebens" betitelte § 9 BFA-VG lautet:
"§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
der Grad der Integration,
die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden, wenn
ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl. Nr. 311/1985, verliehen hätte werden können, es sei denn, eine der Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbotes von mehr als fünf Jahren gemäß § 53 Abs. 3 Z 6, 7 oder 8 FPG liegt vor, oder
er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 in Verbindung mit 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt."
Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn
dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und
der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.
Gemäß § 55 Abs. 2 AsylG ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen, wenn nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vorliegt.
Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein – Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; siehe auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich:
Der BF hält sich seit nunmehr mehr als sieben Jahren (seit Dezember 2009) durchgehend in Österreich auf.
Der BF hat vielfach erkennbare Anstrengungen unternommen, um sich in Österreich unter den gegebenen Umständen in sprachlicher und gesellschaftlicher Hinsicht zu integrieren. Der BF spricht ausreichend Deutsch und hat ein ÖSD-Zertifikat A2 erworben. Derzeit besucht der BF einen Deutschkurs auf Niveau B1. Der BF hat seinen jahrelangen Aufenthalts im Bundesgebiet dazu genützt, freundschaftliche und soziale Kontakte aufzubauen und hat ehrenamtlich gearbeitet. Der BF ist auf die Unterstützung im Rahmen der Grundversorgung angewiesen
Aus all den dargelegten Umständen ergibt sich, dass der BF mehrere der oben angeführten Kriterien, die bei der Abwägung der betroffenen Interessen maßgeblich zu berücksichtigen sind, erfüllt und diese sehr intensiven private Interessen auch die öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts in Österreich überwiegen. So hat der BF gezeigt, dass er mit Beginn seines Aufenthalts stets um eine möglichst umfassende und letztlich auf Dauer angelegte persönliche und gesellschaftliche Integration in Österreich bemüht war und gerade deshalb auch einen entsprechend hohen Grad der Integration in sprachlicher und gesellschaftlicher Hinsicht während seines langjährigen Aufenthalts erreicht hat.
Es wird nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, im Rahmen einer Güterabwägung grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch ist im gegenständlichen Fall aus den eben dargelegten Gründen in einer Gesamtschau und Abwägung aller Umstände das Interesse an der – nicht nur vorübergehenden – Fortführung des Privat- und Familienlebens des BF in Österreich – insbesondere auch unter Berücksichtigung des vom BF in Österreich rechtmäßig verbrachten Zeitraumes – dennoch höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.
Abschließend ist festzuhalten, dass der BF strafgerichtlich unbescholten ist, weshalb im Fall des Verbleibens im Bundesgebiet auch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu erkennen ist.
Da im Hinblick auf die oben dargelegten Abwägungen zum Entscheidungszeitpunkt das Interesse des BF an der Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens in Österreich im konkreten Fall die in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten öffentlichen Interessen überwiegt und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen nicht nur vorübergehenden Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben darstellen würde, war der Beschwerde stattzugeben und gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
Da der BF einen Nachweis über die Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG vorgelegt hat (z.B. Abschluss eines Deutsch-Integrationskurses oder allgemein anerkannter Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse zumindest auf dem A2-Sprachniveau), war daher gleichzeitig festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 55 Abs. 1 AsylG vorliegen.
Zu Spruchteil B):
Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind somit weder in der gegenständlichen Beschwerde
vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen, zumal im vorliegenden Fall vornehmlich die Klärung von Sachverhaltsfragen maßgeblich für die zu treffende Entscheidung war.
Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
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