BVwG W163 1435522-5

BVwGW163 1435522-57.6.2023

AsylG 2005 §10 Abs3
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §58 Abs11 Z2
AsylG-DV 2005 §4 Abs1
AsylG-DV 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:W163.1435522.5.00

 

Spruch:

 

W163 1435522-5/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Daniel LEITNER als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX (alias XXXX ), geboren am XXXX (alias XXXX ), Staatsangehörigkeit Indien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.02.2023, Zahl XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 11.05.2023, zu Recht:

A)

Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VI. wird stattgegeben und dieser behoben. Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt

I. 1. Verfahrensgang

I.1.1. Erstes Verfahren

1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF), eine indische Staatsangehörige, stellte am 08.05.2013 nach unrechtmäßiger Einreise ins Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes (im Folgenden: BAA) vom 17.05.2013 wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz vom 08.05.2013 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.), der BF gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und diese gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen (Spruchpunkt III.).

3. Der gegen diesen Bescheid fristgerecht erhobenen Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes (im Folgenden: AsylGH) vom 08.07.2013 stattgegeben und der angefochtene Bescheid gemäß § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheids an das BAA zurückverwiesen.

4. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 17.02.2014 wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien abgewiesen (Spruchpunkt II.). Der BF wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Indien zulässig ist (Spruchpunkt III.). Der Beschwerde gegen diesen Bescheid wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.).

5. Die gegen diesen Bescheid fristgerecht erhobene Beschwerde wurde, nachdem mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes (im Folgenden: BVwG) vom 12.03.2014 gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde, mit Erkenntnis vom 05.08.2014 als unbegründet abgewiesen.

I.1.2. Zweites Verfahren

1. Am 29.01.2019 stellte die BF persönlich beim BFA einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 AsylG. Sie legte dabei Unterlagen hinsichtlich ihrer Integrationsbemühungen vor.

2. Mit Schreiben des BFA vom 29.01.2019 wurde der BF ein Verbesserungsauftrag erteilt und sie aufgefordert, ein gültiges Reisedokument vorzulegen.

3. Mit Schreiben vom 23.02.2019 gab die BF eine Stellungnahme ab und legte Unterlagen hinsichtlich ihrer Integrationsbemühungen vor.

4. Mit Schreiben vom 26.02.2019 stellte die BF einen Antrag auf Heilung gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 AsylG-DV, da ihr die Vorlage eines gültigen Reisedokumentes bzw. einer Geburtsurkunde nicht möglich sei.

5. Mit Stellungnahme vom 12.03.2019 legte die BF weitere Unterlagen hinsichtlich ihrer Integrationsbemühungen vor.

6. Mit Schreiben des BFA vom 08.05.2019 wurde die BF dazu aufgefordert, ein mit dem Schreiben übermitteltes Formblatt zur Klärung ihrer Identität auszufüllen und an die Behörde zu retournieren.

7. Am 13.01.2020 fand eine niederschriftliche Einvernahme der BF vor dem BFA statt.

8. Mit Schreiben vom 31.01.2020 gab die BF eine Stellungnahme zur Lage von alleinstehenden Frauen in Indien ab und stellte den Antrag, die Ausführungen zur Situation von alleinstehenden Frauen in Indien zu den Feststellungen zu erheben.

9. Mit Bescheid des BFA vom 28.02.2020 wurde der Antrag der BF auf Mängelheilung vom 26.02.2019 gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 iVm § 8 AsylG-DV abgewiesen (Spruchpunkt I.). Ihr Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK vom 29.01.2019 wurde gemäß § 55 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.) und gemäß § 10 Abs. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt III.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Indien zulässig ist (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG als Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt V.).

10. Die gegen diesen Bescheid fristgerecht erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 15.07.2020 hinsichtlich der Spruchpunkte I., III., IV. und V. mit der Maßgabe, dass als Frist für die freiwillige Ausreise vier Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt wird und bezüglich Spruchpunkt II. mit der Maßgabe, dass der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG zurückgewiesen wird, abgewiesen.

I.1.3. Drittes (Gegenständliches) Verfahren

1. Am 16.12.2021 stellte die BF persönlich beim BFA ihren zweiten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 AsylG. Sie legte dabei Unterlagen hinsichtlich ihrer Integrationsbemühungen vor.

2. Mit Schreiben vom 22.12.2021 wurden dem BFA weitere Unterlagen hinsichtlich der Integrationsbemühungen der BF übermittelt.

3. Mit Schreiben des BFA vom 07.04.2022 wurde der BF ein Verbesserungsauftrag gemäß § 13 AVG erteilt und sie dazu aufgefordert, bei der für den 06.05.2022 anberaumten Einvernahme die gemäß § 8 AsylG-DV für die Erteilung eines Aufenthaltstitels erforderlichen Urkunden und Nachweise vorzulegen.

4. Am 06.05.2022 fand eine niederschriftliche Einvernahme der BF vor dem BFA statt.

5. Mit Schreiben vom 16.05.2022 gab die BF eine Stellungnahme hinsichtlich der niederschriftlichen Einvernahme vom 06.05.2022 ab.

6. Mit Bescheid des BFA vom 17.06.2022 wurde der Antrag der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.) und gemäß § 10 Abs. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Indien zulässig ist (Spruchpunkt III.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG als Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wurde gegen sie ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt V.).

7. Mit Ladungsbescheid des BFA vom 03.11.2022 wurde die BF aufgefordert, persönlich zum angegebenen Termin zu erscheinen und an der Abklärung ihrer Identität mitzuwirken.

8. Der gegen den am 23.06.2022 rechtswirksam zugestellten Bescheid fristgerecht erhobenen Beschwerde der BF wurde mit Beschluss des BVwG vom 23.12.2022 stattgegeben und der Bescheid behoben.

9. Mit Verständigung vom Ergebnis einer Beweisaufnahme vom 02.02.2023 wurde der BF mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, ihren Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG zurück- bzw. abzuweisen und eine aufenthaltsbeendende Maßnahme zu erlassen. Ihr wurde die Möglichkeit geboten, binnen zehn Tagen eine Stellungnahme abzugeben.

10. Mit Schreiben vom 15.02.2023 gab die BF eine Stellungnahme ab und beantragte die Durchführung einer niederschriftlichen Einvernahme.

11. Mit im Spruch angefochtenen Bescheid des BFA wurde der Antrag der BF auf Mängelheilung vom 16.05.2022 gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 iVm § 8 AsylG-DV abgewiesen (Spruchpunkt I.) und ihr Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 Abs. 1 AsylG gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG als unzulässig zurückgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt III.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Indien zulässig ist (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde als Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt V.) und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG gegen sie ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.).

12. Gegen den am 27.02.2023 rechtswirksam zugestellten Bescheid erhob die BF im Wege ihrer rechtsfreundlichen Vertretung fristgerecht am 13.03.2023 Beschwerde an das BVwG und beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

13. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem BVwG am 30.03.2023 vom BFA vorgelegt.

14. Am 11.05.2023 führte das BVwG eine öffentliche mündliche Verhandlung in Anwesenheit der BF sowie ihrer rechtsfreundlichen Vertretung durch. Ein Behördenvertreter nahm entschuldigt nicht teil. Die BF legte in der Verhandlung einen indischen Personalausweis und Unterlagen hinsichtlich ihrer Integrationsbemühungen vor.

I.1. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens (Sachverhalt)

Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgebenden Sachverhalt aus:

a) Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei:

1. Die BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX . In den Vorfahren führte die BF die Identität XXXX , geboren am XXXX . Die BF ist Staatsangehörige von Indien. Sie stammt aus XXXX , Haryana (Indien), gehört der Volksgruppe der Punjabi und der Religionsgemeinschaft der Sikhs an. Sie spricht Punjabi, Hindi sowie Englisch.

Sie wuchs im Heimatort auf und besuchte dort zwölf Jahre die Grundschule. Ihre Eltern und ihr Bruder leben nach wie vor im Herkunftsstaat, sie hat jedoch keinen Kontakt zu ihnen.

2. Die BF reiste spätestens im Mai 2013 illegal ins Bundesgebiet ein und hält sich seither durchgehend in Österreich auf. Ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 08.05.2013 wurde schlussendlich mit Bescheid des BFA vom 17.02.2014 bzw. mit Erkenntnis des BVwG vom 05.08.2014 rechtskräftig abgewiesen. Da sie nur für die Dauer des Asylverfahrens gemäß § 13 AsylG zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt war, befindet sie sich seit 08.08.2014 unrechtmäßig in Österreich.

3. Die BF ist gesund und arbeitsfähig. Sie lebt mit einem indischen Staatsangehörigen seit 2021 in einer Lebensgemeinschaft und hat mit diesem eine zwei Jahre alte Tochter, der ebenso die indische Staatsbürgerschaft zukommt. Ihr Lebensgefährte stellte am 27.04.2010 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des BAA vom 15.05.2010 rechtskräftig abgewiesen wurde. Er verfügt im Bundesgebiet über keinen Aufenthaltstitel. Auch der von der BF für ihre Tochter gestellte Asylantrag vom 12.10.2021 wurde mit Bescheid des BFA vom 19.10.2021 bzw. mit Erkenntnis des BVwG vom 29.03.2022 rechtskräftig abgewiesen und eine Rückkehrentscheidung erlassen. Eine gegen das Erkenntnis erhobene Revision wurde mit Beschluss des VwGH vom 29.06.2022 zurückgewiesen. Die Tochter der BF hat im Bundesgebiet keine Aufenthaltsberechtigung.

Die BF besuchte im Jahr 2013 mehrere Deutschkurse und absolvierte am 13.02.2014 die ÖSD-Prüfung A2 Grundstufe Deutsch 2. Von März 2015 bis Juni 2015 nahm sie an einem Deutschkurs auf dem Niveau B1 teil. Von 04.11.2014 bis 25.11.2014 nahm die BF am Projekt XXXX teil. Weiters besuchte sie mehrere Kurse des Roten Kreuzes, und zwar am 21.02.2015 den Kurs „Das Rote Kreuz“, von 11.02.2015 bis 19.02.2015 einen Erste-Hilfe Grundkurs sowie am 06.10.2015 den Kurs „Mein neues Leben – Wege zur Gesundheit und Wohlbefinden“. Sie nahm am 16.08.2017 an einem ÖIF Werte- und Orientierungskurs teil und absolvierte in Österreich am 17.01.2017 den Pflichtschulabschluss.

Sie war im Bundesgebiet bereits ehrenamtlich tätig, und zwar von 24.07.2017 bis 11.08.2017 in einer XXXX , einem Sprachprojekt für Flüchtlingskinder, wo sie eine Kindergruppe betreute. Für das Rote Kreuz war sie im Frühjahr 2015 ehrenamtlich als Helferin bei Seniorenausflügen und von Juni bis Juli 2018 in der Betreuung von Bewohnern eines Pflege- und Betreuungszentrums tätig. Während ihres Aufenthaltes im XXXX in Hollabrunn betreute sie etwa drei Stunden pro Woche Vorschulkinder.

Die BF legte zwar mit Stellungnahme vom 23.01.2019 einen Arbeitsvorvertrag für die Tätigkeit einer Haushaltsgehilfin vor, sie war jedoch im Bundesgebiet bisher nicht erwerbstätig und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Sie legte auch zahlreiche Empfehlungsschreiben vor, es ist aber nicht hervorgekommen, dass sie in Österreich abgesehen von ihrem Lebensgefährten und ihrem Kind, über enge soziale Bindungen verfügt.

4. Sie ist strafgerichtlich unbescholten und bezieht derzeit keine Leistungen aus der Grundversorgung. Mit Strafverfügung vom 29.01.2018 wurde gegen sie wegen § 120 Abs. 1a FPG iVm § 31 Abs. 1 FPG eine Geldstrafe von EUR 600,- verhängt, weil sich die BF von 2014 bis 2018 nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, da sie ihrer Ausreiseverpflichtung trotz durchsetzbarer Rückkehrentscheidung nicht nachgekommen ist.

Die BF machte bei ihrer Einreise ins Bundesgebiet bewusst falsche Angaben hinsichtlich ihrer Identität und lebte in Österreich von Mai 2013 bis März 2021 unter einem falschen Namen. Sie legte sogar die Kopie einer gefälschten Geburtsurkunde vor und vereitelte durch ihr Verhalten die zahlreichen Versuche des BFA, für sie bei der indischen Botschaft ein Heimreisezertifikat zu erlangen.

Im gegenständlichen Verfahren legte die BF die Kopie ihres am 18.09.2009 in Mailand ausgestellten Reisepasses vor. Dieser wurde ursprünglich auf den Namen SITAL ausgestellt, jedoch im Dezember 2009 auf ihren richtigen Namen geändert und lief am 17.09.2019 ab. In der Beschwerdeverhandlung legte sie die Kopie eines indischen Personalausweises vor und ist davon auszugehen, dass sie unter Vorlage dieser Identitätsdokumente von der indischen Botschaft einen gültigen Reisepass erlangen kann.

 

 

b) Zur Lage im Herkunftsstaat

Auszüge aus dem Länderinformationsblatt Indien vom 14.11.2022, Version 6

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Indien ist aufgrund der Größe und Vielfalt des Landes und abhängig von Zeit und Ort unterschiedlich. Zivile Unruhen, einschließlich gewaltsamer Ausschreitungen, sind komplex und vielfältig und können Folgendes umfassen: Spannungen zwischen verschiedenen religiösen, sozialen und ethnischen Gemeinschaften; Aufstände, Terroranschläge oder Proteste, die durch ideologische oder politische Ziele motiviert sind; Spannungen entlang umstrittener Grenzgebiete; und Spannungen innerhalb von Gemeinschaften über Themen wie Landbesitz und Ehestreitigkeiten (DFAT 10.12.2020).

Dem österreichischen Außenministerium (BMEIA) zufolge besteht in den westlichen Teilen von Ladakh ein hohes Sicherheitsrisiko (BMEIA 11.10.2022). Das deutsche Auswärtige Amt erachtet die Sicherheitslage hier für grundsätzlich stabil, schließt allerdings einzelne terroristische Aktivitäten nicht aus (AA 18.10.2022). Laut BMEIA besteht weiters ein hohes Sicherheitsrisiko in den Grenzgebieten und in der Gegend westlich von Mulbek, in den Gebieten entlang der pakistanischen und der chinesischen Grenze, in der unmittelbare Nachbarschaft zur pakistanischen Grenze, in den Bundesstaaten Rajasthan und Punjab sowie in den Gebieten westlich der Orte Jaisalmer und Bikaner. In den Bundesstaaten Chhattisgarh und Jharkand, in den östlichen Landesteilen von Maharashtra und Madhya Pradesh, sowie vereinzelt in Odisha und Bihar sind linksgerichtete Aufständische aktiv, die immer wieder Anschläge auf öffentliche Einrichtungen bzw. öffentliche Verkehrsmittel und Sicherheitskräfte verüben (BMEIA 11.10.2022).

In den nordöstlichen Bundesstaaten (Arunachal Pradesh, Assam, Nagaland, Manipur (BMEIA 11.10.2022; vgl. AA 18.10.2022), Meghalaya, Mizoram und Tripura) sind ebenfalls vereinzelt aufständische Gruppen aktiv (BMEIA 11.10.2022). Diese führen dort einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie (FH 24.2.2022; vgl. ÖB 8.2021). Dazu zählen beispielsweise Separatistengruppen wie die United Liberation Front Assom, die National Liberation Front Tripura, der National Socialist Council Nagaland, die Manipur People’s Liberation Front und Weitere (ÖB 8.2021). Die Regierung und die Behörden des Bundesstaates Assam unterzeichneten am 15.9.2022 eine Vereinbarung mit acht bewaffneten Stammesgruppen in Assam, die darauf abzielt, die Gruppen zu integrieren und ihnen politische und wirtschaftliche Rechte zu gewähren (ICG 9.2022; vgl. TOI 15.9.2022). Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. maoistisch-umstürzlerischen) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind i.d.R. Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 22.9.2021; vgl. ÖB 8.2021).

In der ost- und zentralindischen Bergregion dauert der maoistische Aufstand - gewalttätige linksextremistische Gruppen (sog. „Naxaliten“ oder „maoistische Guerilla“) (AA 22.9.2021) - an, wo lokale Zivilisten und Journalisten, die als regierungsfreundlich gelten, angegriffen und durch Gewalt vertrieben werden und in von der Regierung geführten Lagern leben (FH 24.2.2022). Von Chhattisgarh aus kämpfen die Naxaliten in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andhra Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen (ÖB 8.2021; vgl. AA 22.9.2021). In ihrer jetzigen Form sind die naxalitisch-maoistischen Aktivitäten jedoch auf etwa ein Dutzend Bundesstaaten beschränkt. In den Jahren 2019 und 2020 konzentrierten sich, den ACLED-Daten zufolge, 80 % dieser Aktivitäten auf nur vier Bundesstaaten - Chhattisgarh, Jharkhand, Odisha und Maharashtra (ACLED 11.3.2021). Am 13.11.2021 wurden bei Feuergefechten zwischen indischen Soldaten und Naxaliten in einem abgelegenen, rohstoffreichen Waldgebiet im Distrikt Gadchiroli im Bundesstaat Maharashtra, etwa 1.000 km östlich von Mumbai, 26 maoistische Rebellen getötet. Drei Einheiten der Streitkräfte wurden schwer verletzt (BAMF 15.11.2021). Der indische Naxalismus entstand in den 1960er-Jahren im Zuge eines Aufstandes armer Landarbeiter gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung im Dorf Naxalbari im Unionsstaat Westbengalen als eine linksextremistische Bewegung, die sich u. a. auf Mao Tse-tung beruft, wonach politische Macht aus Gewehrläufen kommt. Die Bewegung fand auch in anderen Teilen Indiens Anhänger. Heute bilden den Kern der Aufständischen und Unterstützer Angehörige unterer Kasten und kastenlose Dalits sowie Adivasi (BPB 18.1.2007; vgl. EB o.D.).

In Punjab ist der Terrorismus Ende der 1990er-Jahre nahezu zum Erliegen gekommen. Die meisten hochkarätigen Mitglieder der verschiedenen militanten Gruppen haben den Punjab verlassen und operieren von anderen Unionsstaaten oder Pakistan bzw. dem Ausland aus. Finanzielle Unterstützung erhalten sie auch von Sikh-Exilgruppierungen im westlichen Ausland (ÖB 8.2021). Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2019 insgesamt zwei Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in Punjab. Im Jahr 2020 wurden drei Personen durch Terrorakte getötet, 2021 waren es zwei Todesopfer und bis zum 11.10.2022 wurden für dieses Jahr keine Opfer verzeichnet [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP o.D.a.).

Nach wie vor sind auch sogenannte Ehrenmorde ein Problem, vor allem in Punjab, Uttar Pradesh und Haryana (ÖB 8.2021; vgl. USDOS 12.4.2022). Diese sind i. d. R. darauf zurückzuführen, dass das Opfer gegen den Willen seiner Familie geheiratet hat oder heiraten will (USDOS 12.4.2022). Die Ahndung von Ehrenmorden ist schwierig, da diese oft als Selbstmord oder natürlicher Tod ausgelegt werden (ÖB 8.2021).

Im gesamten Land sind kleinere (BICC 7.2022), u.a. in Großstädten auch schwerere terroristische Anschläge möglich (BMEIA 11.10.2022; vgl. AA 18.10.2022). Die Sicherheitslage bleibt diesbezüglich angespannt. Dies gilt insbesondere im zeitlichen Umfeld staatlicher und religiöser Feiertage sowie von Großereignissen (AA 18.10.2022). Indien unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung (Prevention of Terrorism Ordinance) verabschiedet (BICC 7.2022). Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2019 insgesamt 621 Todesopfer durch terroristische Gewalt, für 2020 591, für 2021 585; 2022 wurden bis zum 4. Oktober insgesamt 340 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP o.D.b.). Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in der Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als "communal violence" bezeichnet (ÖB 8.2021).

Im Juni 2022 kam es in mehreren indischen Bundesstaaten zu gewaltsamen Protesten wegen Äußerungen zweier ehemaliger Sprecher der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP), welche als Beleidigung des Propheten Mohammed angesehen wurden (ICG 6.2022; vgl. AI 14.6.2022). Die Zahl der Todesopfer der Gewalttaten belief sich auf zwei. Während die Proteste in Delhi, Maharashtra, Karnataka, Telangana und Gujarat weitgehend friedlich verliefen, wurden aus Uttar Pradesh (Prayagraj), Howrah in Westbengalen und Teilen von Jammu und Kaschmir Zusammenstöße zwischen der Polizei und Demonstranten gemeldet (QT 11.6.2022).

Bauernproteste gab es gegen die Ende 2020 von der indischen Regierung verabschiedeten Gesetze zur Liberalisierung des Agrarsektors. Widerstand hatte sich vor allem bei Sikhs im Punjab - dem Brotkorb Indiens - formiert, aber auch in anderen Teilen des Landes. Als im Jänner 2021 die Proteste in Neu Delhi gewalttätig wurden, antwortete die Regierung mit harten Maßnahmen. Da bei den Protesten viele Sikhs beteiligt waren und u. a. eine Sikh-Flagge im Roten Fort in Delhi gehisst wurde, unterstellte die indische Regierung eine Beteiligung der Khalistan-Bewegung an den Protesten (BAMF 22.3.2021). Am 19.11.2021 hat Premierminister Narendra Modi nach mehr als einem Jahr anhaltender Bauernproteste die Reform zur Liberalisierung des Agrarsektors aufgehoben (BAMF 22.11.2021; vgl. DS 6.12.2021).

Allgemeine Menschenrechtslage

Indien hat 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet (AA 22.9.2021). Die nationale Gesetzgebung in Menschenrechtsangelegenheiten ist breit angelegt (ÖB 8.2021). Die Verfassungs- und Rechtsordnung enthalten Garantien für die grundlegenden Menschenrechte und Freiheiten. Die Umsetzung dieser Garantien ist allerdings häufig nicht in vollem Umfang gewährleistet. Eine Reihe von Sicherheitsgesetzen schränken die rechtsstaatlichen Garantien, z. B. das Recht auf ein faires Verfahren, ein. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u. a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt. Besonders in Unruhegebieten haben die Sicherheitskräfte zur Bekämpfung sezessionistischer und terroristischer Gruppen weitreichende Befugnisse, die oft exzessiv genutzt werden. Es gibt glaubhafte Berichte über extralegale Tötungen (AA 22.9.2021).

Die Lage der Menschenrechte in Indien ist regional und themenbezogen unterschiedlich (BICC 7.2022). Eine verallgemeinernde Bewertung der Menschenrechtslage ist kaum möglich: Drastische Grundrechtsverletzungen und Rechtsstaatsdefizite koexistieren mit weitgehenden bürgerlichen Freiheiten, fortschrittlichen Gesetzen und engagierten Initiativen der Zivilgesellschaft. Vor allem die Realität der unteren Gesellschaftsschichten, welche die Bevölkerungsmehrheit stellen, ist oftmals von Grundrechtsverletzungen und Benachteiligung geprägt (AA 22.9.2021).

Während die Bürger- und Menschenrechte von der Regierung größtenteils respektiert werden, ist die Lage in den Regionen, dort wo es interne Konflikte gibt, teilweise sehr schlecht. Dies trifft insbesondere auf Jammu und Kaschmir und den Nordosten des Landes zu (BICC 7.2022). Den Sicherheitskräften (BICC 7.2022; vgl. ÖB 8.2021), aber auch den nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen - seien es separatistische Organisationen oder regierungstreue Milizen - werden massive Menschenrechtsverletzungen angelastet. Dem Militär und den paramilitärischen Einheiten werden Entführungen, Folter, Vergewaltigungen, willkürliche Festnahmen und außergerichtliche Hinrichtungen vorgeworfen. Es gibt Befürchtungen, dass die neue, drakonische Anti-Terror-Gesetzgebung die Menschenrechtslage verschlimmern wird und dass diese Gesetze gegen politische Gegner missbraucht werden. Frauen, Mitglieder ethnischer und religiöser Minderheiten sowie niedriger Kasten werden systematisch diskriminiert. Den Sicherheitskräften wird Parteilichkeit vorgeworfen, besonders hinsichtlich der Spannungen zwischen Hindus und Moslems, welche im Jahr 2002 zu Tausenden von Todesfällen führten. Die Stimmung wird durch hindu-nationalistische Parteien angeheizt, welche auch in der Regierung vertreten sind (BICC 7.2022).

Insgesamt umfassen Menschenrechtsprobleme u. a. willkürliche Hinrichtungen, einschließlich von rechtswidrigen und willkürlichen Tötungen, Folter, inhumane Behandlung oder Bestrafung, willkürliche Verhaftungen, harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen sowie Korruption in der Regierung. Gesellschaftliche Gewalt auf der Grundlage von Konfession gibt nach wie vor Anlass zur Sorge (USDOS 12.4.2022). Ursachen vieler Menschenrechtsverletzungen in Indien bleiben tief verwurzelte soziale Praktiken, nicht zuletzt das Kastenwesen (AA 22.9.2021). Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit ist nach wie vor weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten (USDOS 12.4.2022). Die Gewalt gegen Dalits und Adivasi hielt unvermindert an (AI 29.3.2022). Säureangriffe auf Männer und Frauen führen weiterhin zu Todesfällen und dauerhaften Entstellungen (USDOS 12.4.2022).

Terroristische Gruppierungen in Jammu und Kaschmir, in den nordöstlichen Bundesstaaten und in Gebieten, die vom maoistischen Terrorismus betroffen sind, begehen schwere Übergriffe, darunter Tötungen und Folter von Soldaten, Polizisten, Regierungsbeamten und Zivilisten, sowie Entführung und Rekrutierung von Kindern und deren Einsatz als Kindersoldaten (USDOS‌ 12.4.2022).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Der Grundsatz der Geschlechtergleichstellung ist in der indischen Verfassung verankert. Frauen haben das Grundrecht, gleichen Schutz vor dem Gesetz zu genießen und nicht aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert zu werden (INDI 5.2022; vgl. IJLMH 5.2022, TDG 2.3.2022). Indien ist allerdings seit jeher eine extrem patriarchalische Gesellschaft (Care 28.5.2022; vgl. ÖB 8.2021, IJLMH 5.2022). Diese patriarchalische Struktur trägt dazu bei, dass die soziale Realität von Frauen in Indien von systematischer Benachteiligung und Diskriminierung bestimmt bleibt - weniger aufgrund staatlichen Handelns, als vielmehr aufgrund tief verwurzelter sozialer Traditionen (AA 22.9.2021). Frauen haben demnach zwar Zugang zu sozialen und rechtlichen Leistungen, mehr Unabhängigkeit und Mitspracherecht sowie die Möglichkeit, sich in öffentlichen Angelegenheiten zu engagieren (CAR 14.7.2022), doch trotz dieser Fortschritte bleibt geschlechtsspezifische Diskriminierung nach wie vor eine alltägliche Erscheinung (ÖB 8.2021; vgl. CAR 14.7.2022). Auch Aktivisten, die sich für Frauenrechte einsetzen, sind häufig Diskriminierung ausgesetzt, die bis zu falschen Anklagen oder unrechtmäßigem Freiheitsentzug reicht (ÖB 8.2021).

Es gibt keine Gesetze, welche die Beteiligung von Frauen oder Angehörigen von Minderheitengruppen am politischen Prozess einschränken. Das Gesetz reserviert ein Drittel der Sitze in den Gemeinderäten für Frauen. Obwohl religiöse, kulturelle und traditionelle Praktiken Frauen teilweise an einer proportionalen Beteiligung an politischen Ämtern hindern, sind Frauen in einigen hochrangigen politischen Ämtern vertreten. Bei den Parlamentswahlen 2019 wurden 78 Frauen in das Unterhaus gewählt (USDOS 12.4.2022).

Viele Bundesstaaten fördern die Sterilisation von Frauen als Familienplanungsmethode, was einerseits zu riskanten, minderwertigen Verfahren und andererseits zu einem eingeschränkten Zugang zu nicht dauerhaften Sterilisationsmethoden geführt hat (USDOS 12.4.2022; vgl. ORFo 7.4.2022). Berichten zufolge wurden einige Frauen, insbesondere arme Frauen und Frauen aus niedrigeren Kasten, zum Abbinden der Eileiter, zur Entfernung der Gebärmutter oder zu anderen Formen der Sterilisation gedrängt (USDOS 12.4.2022). Im Bundesstaat Chhattisgarh kam es in der Vergangenheit zu unter Zeitdruck durchgeführten und organisierten Massensterilisationen in Lagern, mit Fällen von verpfuschten Operationen und mangelhafter medizinischer Versorgung (ORFo 7.4.2022; vgl. TW 17.9.2021).

Geschlechtsspezifische Gewalt

Vergewaltigungen und andere sexuelle Übergriffe sind ein ernstes Problem (FH 24.2.2022; vgl. USDOS 12.4.2022), offizielle Statistiken weisen Vergewaltigungen als eines der am schnellsten wachsenden Verbrechen des Landes aus (USDOS 12.4.2022). Das Gesetz stellt Vergewaltigung in den meisten Fällen unter Strafe (USDOS 12.4.2022; vgl. IPC 21.4.2018). Geschlechtsverkehr oder sexuelle Handlungen eines Mannes mit seiner eigenen Frau, die nicht jünger als 15 Jahre ist, gelten nicht als Vergewaltigung (IPC 21.4.2018) und können nicht strafrechtlich belangt werden (NPR 8.2.2022; vgl. USDOS 12.4.2022). Ein Großteil der Fälle sexueller Gewalt findet innerhalb der Familien statt (AA 22.9.2021). Laut der jüngsten National Family Health Survey (NFHS) des indischen Gesundheitsministeriums gaben 32 % der jemals verheirateten Frauen im Alter von 18 bis 49 Jahren an, körperliche, sexuelle oder emotionale Gewalt durch den Ehepartner erlebt zu haben (MoHFW 25.11.2021). Was die sexuelle Gewalt betrifft, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine indische Frau von ihrem Ehemann sexuelle Gewalt erfährt, 17-mal höher als von einer anderen Person (NPR 8.2.2022; vgl. MoHFW 25.11.2021). Die COVID-19-Pandemie und die Lockdown-Regelungen führten zu einem Anstieg der Fälle von häuslicher Gewalt (USDOS 12.4.2022; vgl. AI 7.4.2021). Frauen und Kinder waren stärker gefährdet, da z. B. der Täter seinen Lebensunterhalt verloren hatte und weil die Familie gezwungen war, zu Hause und mit dem Täter eingeschlossen zu bleiben; es gab nur begrenzte Möglichkeiten, zu entkommen oder Zugang zu Ressourcen zu erhalten (USDOS 12.4.2022). In Indien sind die NFHS und das National Crime Records Bureau (NCRB) die einzigen beiden Quellen, die Daten über Gewalt gegen Frauen auf nationaler Ebene liefern. Die Daten des NCRB umfassen nur Fälle, wo Frauen oder Familien Anzeige bei der Polizei erstattet haben. Da das Gesetz sexuelle Gewalt durch Ehemänner nicht anerkennt, ist die Zahl der Meldungen über Vergewaltigungen in der Ehe sehr gering (NIH 29.3.2022). Laut der jüngsten NFHS-Studie aus den Jahren 2019-2021 haben nur 14 % jener Frauen, die zu Hause körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt haben, in irgendeiner Form Hilfe gesucht (MoHFW 25.11.2021).

Der Bericht Crime in India 2021 des NCRB zeigt auf, dass in Indien im Jahr 2021 31.677 Fälle von Vergewaltigung registriert wurden und jede Stunde fast 49 Fälle von Verbrechen gegen Frauen gemeldet wurden (TH 31.8.2022; vgl. NCRB 2022). Die Straftaten gegen Frauen nahmen 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 15,3 % zu (FP 30.8.2022), in Delhi sogar um mehr als 40 % (IT 30.8.2022). Die steigenden Fallzahlen lassen sich in Teilen auch auf eine zunehmende Bereitschaft zurückführen, Vergewaltigungen anzuzeigen. Doch Beobachter sind der Ansicht, dass die Zahl der Vergewaltigungen nach wie vor sehr lückenhaft dokumentiert ist. Frauen in Gebieten wie Jammu und Kaschmir oder Jharkhand und Chhattisgarh sowie gefährdete Dalit- oder Stammesfrauen werden häufig Opfer von Vergewaltigungen oder Vergewaltigungsdrohungen. Organisationen der Zivilgesellschaft bieten Frauen und Kindern, die eine Vergewaltigung überlebt haben, vorübergehend Notunterkünfte an (USDOS 12.4.2022). Im Rahmen des Swadhar Greh-Programms können NGOs, die sich seit mindestens drei Jahren für Frauen einsetzen, eine staatliche Finanzierung ihrer Frauenhäuser beantragen. Das Programm wurde 2001 von der Zentralregierung ins Leben gerufen, um Frauen, die in Not geraten sind, Unterstützung und Schutz zu bieten. Die Heime bieten Frauen, die häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch erlitten haben, sowie Frauen aus wirtschaftlich und sozial schwachen Schichten eine vorübergehende Unterkunft, Verpflegung, Beratung, Rechtsbeistand und Schulungen an, um sie zu rehabilitieren. Während COVID-19 wurden die Zahlungen jedoch ausgesetzt, obwohl der Bedarf an Frauenhilfsprogrammen gestiegen ist (TSC 22.2.2022).

Es gibt weiter Berichte, dass Frauen und Mädchen, die im Devadasi-System symbolische Ehen mit Hindu-Gottheiten eingehen (eine Form der sogenannten rituellen Prostitution), Opfer von Vergewaltigungen oder sexuellem Missbrauch durch Priester und Tempelherren werden, einschließlich Sexhandels (USDOS 12.4.2022). Diese Praxis wurde in Karnataka, Maharashtra, Andhra Pradesh und Tamil Nadu festgestellt (USDOS 12.4.2022; vgl. TCo 29.5.2022) und betrifft fast immer Mädchen aus den Gemeinschaften der Scheduled Castes und Scheduled Tribes (USDOS 12.4.2022). Nach Angaben der staatlichen National Commission for Women (NCW) aus dem Jahr 2015 gibt es in Indien noch mindestens 44.000 aktive Devadasis. Die NCW merkte jedoch auch an, dass die tatsächliche Zahl bis zu einer Viertelmillion betragen könnte (TCo 29.5.2022).

Säureangriffe auf Männer und Frauen führen weiterhin zu Todesfällen und dauerhaften Entstellungen (USDOS 12.4.2022). Säureangriffe sind zwar ein Verbrechen, das sich gegen jede Person richten kann, doch meist sind Frauen, vor allem junge Frauen, das Ziel dieser Angriffe. Der Hauptgrund für diese Angriffe ist, dass Frauen die herrschende Gesellschaftsordnung infrage stellen, indem sie nicht bereit sind, sich zu unterwerfen (KO 3.2.2022). Jährlich werden in Indien etwa 1.000 Frauen von Gewalttätern mit Säuren - Salzsäure, Salpetersäure und Schwefelsäure - angegriffen, meist im Gesicht (NN 10.6.2022).

In Indien ist die weibliche Genitalverstümmelung (FGM) eine weitverbreitete Praxis in einer kleinen Gemeinschaft (GK 4.3.2022). Namentlich wird FGM von 70 bis 90 % der Dawoodi-Bohra-Muslimen praktiziert. Deren Zahl wird auf eine Million geschätzt, die sich auf die Bundesstaaten Maharashtra, Gujarat, Madhya, Pradesh und Rajasthan verteilt. Es gibt kein nationales Gesetz, das sich mit FGM befasst (USDOS 12.4.2022). Die Dawoodi-Bohra-Gemeinschaft argumentiert, dass die Praxis nicht eingeschränkt werden könne, da die indische Verfassung in Artikel 25 Religionsfreiheit gewähre. Der Oberste Gerichtshof stellte allerdings fest, dass die Praxis von FGM gegen die Artikel 15 und 21 der indischen Verfassung verstößt und hat sie daraufhin zu einer illegalen Handlung erklärt (GK 4.3.2022).

Staatliche Maßnahmen und Strafverfolgung

Die Strafverfolgung und der Rechtsweg für Opfer von Vergewaltigungen sind unzureichend, und das Justizsystem ist nicht in der Lage, das Problem wirksam anzugehen. Es kommt vor, dass die Polizei versucht, Opfer von Vergewaltigungen und ihre Angreifer zu versöhnen oder eine Heirat zwischen Opfer und Täter vorzuschlagen (USDOS 12.4.2022). Stereotypisierung und geschlechtsspezifische Diskriminierung in Gerichtsverfahren sind weit verbreitet und tief verankert. Richter legen oft Maßstäbe dafür an, was sie für ein angemessenes Verhalten von Frauen halten. Dies führt zu Entscheidungen, die auf vorgefassten Meinungen und nicht auf Fakten beruhen. So forderte der Oberste Gerichtshof im März 2021 bei der Anhörung des Falles gegen einen Regierungsangestellten, der auf Grundlage des Gesetzes zum Schutz von Kindern vor sexuellen Straftaten angeklagt war, den Angeklagten auf, das minderjährige Opfer zu heiraten (OMCT 6.5.2022). Frauenaktivisten stellen fest, dass die niedrigen Verurteilungsraten in Vergewaltigungsfällen einer der Hauptgründe dafür sind, dass die sexuelle Gewalt unvermindert anhält und zuweilen nicht gemeldet wird (USDOS 12.4.2022; vgl. TOI 29.3.2022). Die Länge der Gerichtsverfahren, die mangelnde Unterstützung der Opfer und der unzureichende Schutz von Zeugen und Überlebenden stellen - während der COVID-19-Pandemie zusätzlich stärker ausgeprägte - große Probleme dar (USDOS 12.4.2022).

Die Mindeststrafe für Vergewaltigung beträgt 10 Jahre Haft. Die Mindeststrafe für die Vergewaltigung eines Mädchens unter 16 Jahren liegt zwischen 20 Jahren und lebenslänglich; die Mindeststrafe für die Gruppenvergewaltigung eines Mädchens unter 12 Jahren ist entweder lebenslänglich oder die Todesstrafe (USDOS 12.4.2022; vgl. IPC 21.4.2018). Das Gesetz zum Schutz von Frauen gegen häusliche Gewalt sieht Strafsanktionen vor und soll die Ehefrau neben häuslicher Gewalt auch vor dem Verlust ihres in die Familie des Mannes eingebrachten Vermögens und vor dem Verstoß aus dem Familienhaushalt schützen (ÖB 8.2021; vgl. INDI 2005).

Eine positive Entwicklung der letzten Jahre war die höchstrichterliche Rechtsprechung, die etwa erzwungenen Geschlechtsverkehr mit einem minderjährigen Ehepartner unter Strafe gestellt (2017) und Ehebruch entkriminalisiert hat (2018) (AA 22.9.2021). Die Regierung erkennt außerdem die Rolle des Gesundheitspersonals bei der Behandlung von Opfern sexueller Gewalt an und führte Protokolle ein, die internationalen Standards für eine solche medizinische Versorgung entsprechen. Die Regierung weist die Gesundheitseinrichtungen an, dafür zu sorgen, dass Opfer aller Formen sexueller Gewalt sofortigen Zugang zu Gesundheitsdiensten erhalten, einschließlich Notfallverhütung, Polizeischutz, Notunterkünften, gerichtsmedizinischen Diensten und Überweisungen für Rechtshilfe und andere Dienste. Die Umsetzung der Leitlinien verlief jedoch aufgrund begrenzter Ressourcen und sozialer Stigmatisierung uneinheitlich (USDOS 12.4.2022). Die Regierung hat Schnellgerichte für die Bearbeitung anhängiger Vergewaltigungsfälle eingerichtet, um diese Fälle zu beschleunigen (USDOS 12.4.2022; vgl. INDI 2019). Zivilgesellschaftliche Organisationen sorgen für die Sensibilisierung und die überlebensorientierte, nicht stigmatisierende, vertrauliche und kostenlose Betreuung von Gewaltopfern und erleichtern die Überweisung an tertiäre Einrichtungen, Sozialdienste und Rechtsdienste. Diese Dienste sollen Frauen und Kinder dazu ermutigen, sich und den Vergewaltigungsfall zu melden. Darüber hinaus hat die Zentralregierung Maßnahmen ergriffen, um die Sicherheit von Frauen bei der Anzeige von Gewalt zu verbessern. Dazu gehören gesonderte Zentren für die Meldung der Straftat und der Zugang zu medizinischer Unterstützung, Frauenhilfsstellen in Polizeistationen und Schulungsprogramme für Polizei, Staatsanwälte, medizinisches Personal und die Justiz, um den Opfern auf mitfühlende und respektvolle Weise zu begegnen (USDOS 12.4.2022).

Das Gesetz zur Bekämpfung von sexueller Gewalt am Arbeitsplatz wird nach wie vor nur unzureichend durchgesetzt, insbesondere für Frauen im informellen Sektor (HRW 13.1.2022). Die Arbeitgeber sind entweder nicht über die Bestimmungen des Gesetzes informiert oder haben sie nur teilweise umgesetzt, und diejenigen, die interne Gremien eingerichtet haben, haben nur schlecht ausgebildete Mitglieder (TOI 8.4.2022). Gemäß dem Gesetz über sexuelle Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz von 2013 muss jede gewerbliche oder öffentliche Organisation mit zehn oder mehr Beschäftigten eine interne Beschwerdekommission einrichten (TOI 8.4.2022; vgl. INDI 2013).

Grundversorgung und Wirtschaft

Allgemeine Wirtschaftsleistung

Indiens Wirtschaft zählt zu den größten und am schnellsten wachsenden weltweit (DS‌ 15.8.2022; vgl. IBEF 8.2022). Das reale BIP-Wachstum im Geschäftsjahr 2021-22 liegt bei 8,7 % (IBEF 8.2022). Damit wurde der durch die COVID-19-Pandemie bedingte Wirtschaftseinbruch überwunden (WKO 4.2022; vgl. IBEF 8.2022), und die indische Wirtschaft befindet sich wieder auf einem positiven Wachstumspfad. Für das am 1.4.2022 begonnene Wirtschaftsjahr wird ein Wachstum von 7,2 % des BIP prognostiziert. Diese Wachstumsdynamik wird von einem wiedererstarkten Privatkonsum, einem enormen Investitionsprogramm-Stimulus der Regierung sowie einer relativ hohen COVID-19-Impfquote der Bevölkerung getragen (WKO 4.2022).

Arbeitsmarkt

Laut Zahlen des Centre for Monitoring the Indian Economy (CMIE) umfasste die Erwerbsbevölkerung 2021 durchschnittlich 430 Millionen Menschen (GTAI‌ 19.4.2022). Nur 5 % der Gesamtarbeitskräfte sind ausgebildete Fachkräfte. Nicht mehr ganz die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig (ÖB 8.2021).

Der indische Arbeitsmarkt wird vom informellen Sektor dominiert. Dieser umfasst Familien- und Kleinbetriebe der Landwirtschaft, des produzierenden Gewerbes sowie des Dienstleistungsbereichs und unterliegt keiner Kontrolle oder Besteuerung durch den Staat. Infolgedessen bestehen in diesem Bereich keine rechtsverbindlichen Bestimmungen oder formal geregelten Arbeitsverhältnisse (Wiemann 2019; vgl. AAAI 8.2020). Annähernd 90 % der Beschäftigten werden dem informellen Sektor zugerechnet - sie sind weder gegen Krankheit (Wiemann 2019; vgl. AAAI 8.2020, BMZ 1.8.2022) oder Arbeitsunfälle abgesichert, noch haben sie Anspruch auf soziale Leistungen oder Altersversorgung (Wiemann 2019; vgl. AAAI 8.2020). Geregelte Arbeitsverhältnisse mit angemessenen und regelmäßigen Einkünften sind im "informellen" Sektor die Ausnahme (AA 22.9.2021).

Es besteht eine umfassende und internationale Standards im Wesentlichen entsprechende Arbeits- und Sozialgesetzgebung, aber sie betrifft nur die Beschäftigten in formellen Arbeitsverhältnissen - das sind ca. 8 % (AA 22.9.2021) bis 10 % (ÖB 8.2021). Gewerkschaften konzentrieren sich immer noch ganz überwiegend auf den (kleinen) formellen Sektor und sind zumeist parteipolitisch gebunden (AA 22.9.2021).

Die nationale Arbeitsvermittlungsagentur, welche bei dem Ministerium für Arbeit und dem Direktorat für Arbeit und Training angesiedelt ist, bietet Arbeitssuchenden Stellen an. Letztere müssen sich dort selbst registrieren und werden sofort informiert, sobald eine passende Stelle verfügbar ist. Einige Bundesstaaten bieten Arbeitssuchenden eine finanzielle Unterstützung für die Dauer von drei Jahren. Für weitere Informationen sollte die jeweilige lokale Vermittlungsagentur kontaktiert werden. Diese bieten auch Beratungen an, bei denen Informationen über die Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen und die Verbesserung der Fähigkeiten entsprechend der Marktnachfrage zur Verfügung gestellt werden (IOM 2021).

Der erste Lockdown führte zum Verlust von 140 Millionen Arbeitsplätzen (ÖB 8.2021). Dem Centre for Monitoring the Indian Economy (CMIE) zufolge lag die Arbeitslosenquote 2021 bei durchschnittlich 7,8 %. Für Februar 2022 meldet CMIE 8,1 %. Damit liegt die Arbeitslosigkeit weiterhin über den Werten von vor der Pandemie (GTAI‌ 19.4.2022).

Nahrungsmittelsicherheit, Armut

In absoluten Zahlen ist Indien mit 230,8 Millionen Menschen nach wie vor das Land mit den meisten Menschen, die in Armut leben. Es ist jedoch gelungen, in den vergangenen Jahren weite Teile der Bevölkerung aus der Armut zu befreien. 2005/06 waren davon noch 55,1 % der Einwohner betroffen, 2015/16 dann 27,7 % und 2020/21 16,4 %. 415 Millionen Menschen entkamen so innerhalb von 15 Jahren der Armut (Welt 17.10.2022; vgl. UNDP / OPHI 10.2022).

Trotzdem war Indien 2021 mit rund 224,3 Millionen unterernährten Menschen das Land mit den meisten von Hunger und Unterernährung betroffenen Menschen (Statista 17.8.2022). Im Welthunger-Index (WHI) 2022 stuft die NGO Welthungerhilfe die Hungerlage in Indien mit einem WHI-Wert von 29,1 als "ernst" ein. Indien rangiert auf Platz 107 von insgesamt 121 bewerteten Ländern im Index (GHI 10.2022; vgl. AJ 15.10.2022)). Auf der Grundlage von Daten aus den Jahren 2019-2021 sind 16,3 % der indischen Bevölkerung unterernährt (AJ 15.10.2022). Etwa ein Drittel aller Kinder unter fünf Jahren leidet wegen chronischer Unterernährung an Wachstumsverzögerungen. Die Kindersterblichkeit ist höher als in den Nachbarländern Nepal und Bangladesch, die zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt gehören (BMZ 1.8.2022).

Ein Programm, demzufolge 800 Millionen Menschen gratis Lebensmittelrationen erhalten (also etwa zwei Drittel der Bevölkerung) wurde bis November 2020 verlängert und im April 2021 im Zuge der zweiten Covid-19-Welle wieder in Kraft gesetzt. Die Ausmaße dieses Programms verdeutlichen, wie hart Indien von der Covid-19-Krise betroffen ist (ÖB 8.2021). Das Programm ist bis Dezember 2022 verlängert worden‌ (PIB 15.10.2022).

Wohnraum und Sozialwesen

Die Regierung betreibt eine Vielzahl von Programmen zur Finanzierung von Wohnungen. Diese richten sich jedoch zumeist an Personen unterhalb der Armutsgrenze. Weiters bieten die Regierungen eine Vielzahl an Sozialhilfen an, die sich ebenfalls an unterprivilegierte Gruppen, wie die Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, richten. Diese Programme werden grundsätzlich durch die lokalen Verwaltungen umgesetzt (Panchayat) (IOM 2021). Das staatliche Sozialversicherungsprogramm (National Social Assistance Programme) erfasst nur die Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze (IOM 2021; vgl. NSAP 21.11.2017) oder physisch Benachteiligte. Das staatliche Rentensystem National Pension System (NPS) ist ein freiwilliges, beitragsbasiertes System, welches den Teilnehmern ermöglicht, systematisch Rücklagen während ihres Arbeitslebens anzulegen (IOM 2021).

Zahlreiche Sozialprogramme sollen die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern. De facto ist der Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen in vielen Teilen Indiens noch wegen gravierender qualitativer und quantitativer Mängel, Korruption und Missmanagement beschwerlich bzw. oft verwehrt. Mit der Einführung der Identifikationsnummer "Aadhaar" und der davon unabhängigen Eröffnung von Bankkonten für jeden Haushalt in Indien konnten erste Erfolge bei der Eindämmung von Korruption und beim "verlustfreien" Transfer staatlicher Sozialleistungen verbucht werden (AA 22.9.2021).

Die Aadhaar-Karte enthält eine zwölfstellige persönliche Identifikationsnummer, die vor allem den ärmeren Bevölkerungsgruppen besseren und einfacheren Zugang zu staatlichen Transferleistungen verschaffen soll (SWP 6.10.2021). Seit 2010 wurde rund 1,2 Milliarden indischer Bürger eine Aadhaar-Karte ausgestellt (DFAT 10.12.2020). Ursprünglich wurde das System eingeführt, um Steuerbetrug entgegenzuwirken. Später wurde der Umfang jedoch stark ausgeweitet: In einigen indischen Bundesstaaten werden mittels Aadhaar Pensionen, Stipendien und die Essensausgabe für arme Menschen abgewickelt (ORF 27.9.2018). Um eine Aadhaar-Karte zu erhalten, sind keine umfangreichen Unterlagen erforderlich, und es stehen mehrere Optionen zur Verfügung, wodurch sie auch für ärmere Bürger ohne Papiere zugänglich ist (DFAT 10.12.2020).

Es gibt keine staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrer, Sozialhilfe oder ein anderes soziales Netz (AA 22.9.2021).

Rückkehr

Abgeschobene erfahren bei der Rückkehr nach Indien von den Behörden grundsätzlich keine nachteiligen Konsequenzen, abgesehen von einer Prüfung der Papiere und einer gelegentlichen Befragung durch die Sicherheitsbehörden. Gesuchte Personen müssen allerdings bei Einreise mit Verhaftung und Übergabe an die Sicherheitsbehörden rechnen (ÖB 8.2021; vgl. AA 22.9.2021). Allein die Tatsache, dass eine Person einen Asylantrag gestellt hat, führt nicht zu nachteiligen Konsequenzen nach der Abschiebung (AA 22.9.2021; vgl. DFAT 10.12.2020).

Aktivisten, die im Ausland eine in Indien verbotene terroristische Vereinigung unterstützt haben, werden hierfür nach ihrer Rückkehr strafrechtlich verfolgt, sofern ihre Aktivitäten den indischen Behörden bekannt geworden sind. Es ist strafbar, zu Terrorgruppen Kontakte zu unterhalten oder an Handlungen beteiligt zu sein, welche die Souveränität, Integrität oder Sicherheit Indiens gefährden. Menschenrechtsorganisationen berichten über Schikanen der indischen Polizei gegen Personen, die wegen terroristischer Aktivitäten verurteilt wurden, selbst wenn diese ihre Strafe bereits verbüßt haben. Auslandsaktivitäten bestimmter Gruppen (Sikhs, Kaschmiris) werden von indischer Seite beobachtet und registriert (ÖB 8.2021).

Es gibt keine staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrer allgemein oder für zurückkehrende unbegleitete Minderjährige im Speziellen (AA 22.9.2021). Die indischen Regierungen bieten allerdings eine Vielzahl an Sozialhilfen für Rückkehrende an. Die Berechtigung, diese auch in Anspruch nehmen zu dürfen, hängt von Faktoren wie der wirtschaftlichen Lage, dem Alter, dem Minderheiten- bzw. Kastenstatus, dem Geschlecht etc. ab (IOM 2021). Individuelle Reintegrationshilfen werden auch im Rahmen des JRS-Programms (Joint Reintegration Services), welches von Frontex finanziert und durch Partner durchgeführt wird, angeboten. Hierbei handelt es sich u. a. um folgende Hilfeleistungen: Unterstützung bei der Unterbringung, medizinische Versorgung, Berufsberatung, Bildung, Familienzusammenführung (FRONTEX o.D.).

I. Beweiswürdigung

Der Beweiswürdigung liegen folgende Erwägungen zugrunde:

II.1. Zum Verfahrensgang

Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des Gerichtsaktes des BVwG.

II.2. Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei

1. Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität der BF getroffen wurden, beruhen diese auf ihren Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde und dem BVwG (vgl. zuletzt Protokoll der mV S. 3f). Die BF hat im Verfahren keine unbedenklichen Dokumente im Original zu ihrer Identität vorgelegt, weshalb die Feststellungen ausschließlich für die Identifizierung ihrer Person im vorliegenden Verfahren gelten.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppenzugehörigkeit, zu den Sprachkenntnissen, zum Glauben, zur Schulbildung und zum Heimatort stützen sich auf die gleichbleibenden Angaben der BF im Verfahren. Ihr Heimatort ergibt sich auch aus der von ihr in der Beschwerdeverhandlung vorgelegten Kopie ihres indischen Personalausweises. Die BF gab zwar im gesamten Verfahren an, ihre Eltern seien bereits im Jahr 2011 verstorben und habe sie von diesen eine Wohnung und Grundstücke geerbt, in der Beschwerdeverhandlung behauptete sie jedoch, dass ihre Eltern sowie ihr Bruder im Herkunftsstaat leben würden und war in Hinblick darauf, dass die BF in der Verhandlung vor dem BVwG behauptete, sie habe in der Vergangenheit oftmals unwahre Angaben getätigt und wolle nunmehr die Wahrheit sagen, festzustellen, dass ihre Familienangehörigen nach wie vor in Indien aufhältig sind. Sie gab glaubhaft an, sie habe zu diesen momentan keinen Kontakt, dass es jedoch zu einem Zerwürfnis gekommen sei, behauptete sie nicht.

2. Die Feststellungen zur illegalen Einreise und der Aufenthaltsdauer der BF ergeben sich unstrittig aus dem Zeitpunkt der Stellung ihres Antrags auf internationalen Schutz sowie der Tatsache, dass sie ohne die erforderlichen Dokumente nach Österreich einreiste. Dass ihr Asylantrag mit Beschluss des BFA vom 17.02.2014 sowie zweitinstanzlich mit Erkenntnis des BVwG vom 05.08.2014 abgewiesen wurde, ist unstrittig den vorliegenden Verwaltungsakten zu entnehmen. Die BF hielt sich vom Zeitpunkt ihrer Asylantragstellung am 08.05.2013 bis zur rechtskräftigen Abweisung des Antrags gemäß § 13 Abs. 1 AsylG rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Da das abweisende Erkenntnis des BVwG aktenkundig am 08.08.2014 rechtswirksam zugestellt wurde und demnach mit Ablauf dieses Tages in Rechtskraft erwuchs, war festzustellen, dass sich die BF seither unrechtmäßig in Österreich aufhält.

3. Die Feststellung, dass die BF gesund und arbeitsfähig ist, beruht auf ihren Angaben in der Beschwerdeverhandlung. Dasselbe gilt für die Feststellung, dass sie in einer Lebensgemeinschaft mit einem indischen Staatsangehörigen lebt. Dass dessen Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid des BAA vom 15.05.2010 abgewiesen wurde und er in Österreich keinen Aufenthaltstitel hat, war einem Auszug aus dem Zentralen Fremdenregister zu entnehmen. Es ist unstrittig und geht aus dem aktenkundigen Schreiben eines Standesamtes vom 30.06.2021 hervor, dass die BF mit ihrem Lebensgefährten eine zweijährige Tochter hat, die am 03.06.2021 zur Welt kam. Dass diese im Wege ihrer Mutter einen Asylantrag stellte, der rechtskräftig abgewiesen und eine Revision gegen die abweisende Entscheidung mit Beschluss des VwGH zurückgewiesen wurde, ergibt sich aus dem aktenkundigen Erkenntnis des BVwG vom 29.03.2022 sowie dem Beschluss des VwGH vom 29.06.2022. Einem aktuellen Auszug aus dem Zentralen Fremdenregister der Tochter war zu entnehmen, dass diese im Bundesgebiet keinen Aufenthaltstitel hat.

Die Feststellungen zur Teilnahme der BF an mehreren Deutschkursen und zur Absolvierung einer Deutsch Prüfung auf dem Niveau A2 war den jeweiligen Bestätigungen (AS 347, AS 749) und dem ÖSD Diplom vom 13.02.2014 zu entnehmen. Dass sie im Bundesgebiet auch andere Kurse besuchte, war anhand der von ihr dazu vorgelegten Unterlagen, insbesondere der Urkunde für das Projekt XXXX (AS 667), der Bestätigung des ÖIF Werte- und Orientierungskurses vom 16.08.2017 (AS 659) und den Bescheinigungen des Roten Kreuzes vom 21.02.2015, 19.02.2015 sowie vom 06.10.2015 zu entnehmen.

Aufgrund der von der BF im Verfahren vorgelegten Unterlagen war festzustellen, dass sie in Österreich bereits mehreren ehrenamtlichen Tätigkeiten nachging. Sie war etwa zweimal ehrenamtlich in der Kinderbetreuung tätig, was der Bestätigung des XXXX vom 22.11.2016 sowie der Bestätigung der XXXX vom 11.08.2017 zu entnehmen war. Dass sie im Frühjahr 2015 und von Juni bis Juli 2018 als Helferin bei Seniorenausflügen ehrenamtlich gearbeitet hat, ergibt sich aus den Bestätigungen des Roten Kreuzes vom 08.09.2015 (AS 757) sowie eines Pflege- und Betreuungszentrums in Niederösterreich vom 20.02.2019 (AS 191). Einem weiteren Schreiben des Roten Kreuzes vom 11.02.2015 war zu entnehmen, dass sich die BF regelmäßig freiwillig engagiert, wofür sie von diesem aktenkundig am 11.02.2015 eine Urkunde für Dank und Anerkennung erhielt. Dass die BF in Österreich die Pflichtschule absolvierte, war anhand des von ihr vorgelegten Pflichtschulabschlusszeugnisses vom 17.01.2017 (AS 135) festzustellen.

Die BF gab in der Beschwerdeverhandlung selbst an, sie sei im Bundesgebiet nicht erwerbstätig und ist auch einem Sozialversicherungsdatenauszug vom 09.05.2023 zu entnehmen, dass sie bisher in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nachging. Sie legte in einer Stellungnahme vom 23.01.2019 einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag vor, dieser ist jedoch nicht als aktuell zu werten. Die BF hat im Bundesgebiet unstrittig keinen Aufenthaltstitel und ist im Verfahren nicht hervorgekommen, dass sie über sonstige arbeitsmarktbehördliche Bewilligungen verfügt, weshalb sie keine Möglichkeiten hat, legal ein Einkommen zu erzielen. Demnach war festzustellen, dass sie nicht selbsterhaltungsfähig ist. Sie gab zwar in der Beschwerdeverhandlung an, dass sie eine gute Beziehung zu österreichischen Freundinnen führe und legte mehrere Empfehlungsschreiben vor (AS 131, 133, 159, 161 und 343f), jedoch ist nicht hervorgekommen, dass sie im Bundesgebiet, abgesehen von ihrem Lebensgefährten und ihrer Tochter, über enge soziale Bindungen verfügt.

4. Dass die BF in Österreich strafgerichtlich unbescholten ist und keine Leistungen aus der Grundversorgung bezieht, ergibt sich aus einem Strafregisterauszug sowie einer amtswegig vorgenommenen Einsichtnahme in das Betreuungsinformationssystem des Bundes. Die Feststellungen zu der gegen sie ergangenen Geldstrafe wegen ihres unrechtmäßigen Aufenthaltes ergeben sich aus der aktenkundigen Strafverfügung.

Es war festzustellen, dass die BF im Verfahren bewusst falsche Angaben zu ihrer Identität machte, zumal sie bei der Stellung ihres Asylantrags und allen weiteren Verfahrensschritten bis im Jahr 2021 aktenkundig stets den Namen XXXX angab und erst im März 2021 vorbrachte, dass ihr wahrer Name XXXX sei. Diesbezüglich legte sie im gegenständlichen Verfahren erstmals die Kopie eines Reisepasses sowie eines Personalausweises vor. In der Beschwerdeverhandlung führte sie dazu aus, sie habe ihren Reisepass sowie ihren Personalausweis im Verfahren nicht vorgelegt, weil sie sehr große Angst gehabt habe, nach Indien abgeschoben zu werden. Sie gab auch zu, im Verfahren bereits eine gefälschte Geburtsurkunde vorgelegt zu haben, weshalb festzustellen war, dass sie bis März 2021 bewusst falsche Angaben zu ihrer Identität gemacht hat.

Es geht unstrittig aus dem Verwaltungsakt hervor, dass die belangte Behörde bereits mehrmals versuchte, mit den von der BF ursprünglich im Verfahren angegebenen Identitätsdaten ein Heimreisezertifikat von der indischen Botschaft zu erlangen. Erstmals wurde für die BF mit Schreiben des BFA vom 15.04.2015 um die Beantragung der Ausstellung eines Heimreisezertifikates bei der indischen Vertretungsbehörde ersucht. Mit Schreiben des BFA vom 04.07.2017 wurde die Abteilung für Heimreisezertifikate darum ersucht, bei der indischen Botschaft zu urgieren und anzufragen, ob eine HRZ-Ausstellung für die BF in absehbarer Zeit möglich sei. Bereits beim erstmaligen Ausfüllen der für das HRZ-Verfahren erforderlichen Formblätter verwendete die BF den Namen XXXX (AS 63ff). Auch bei den im Akt befindlichen von der BF ausgefüllten Formblättern vom 16.05.2018 und vom 08.09.2020 ist ersichtlich, dass sie ihre falsche Identität verwendete und diese nicht vollständig ausfüllte. Erst bei den am 03.03.2021 ausgefüllten Formblättern gab sie ihren richtigen Namen an.

Die von der belangten Behörde wiederholten Versuche, für die BF die Einleitung eines Verfahrens zur Erlangung von Heimreisezertifikaten zu veranlassen, blieben aktenkundig ohne Erfolg, wobei davon auszugehen ist, dass dies vor allem auf die falschen Identitätsangaben und die fehlende Mitwirkung der BF zurückzuführen ist. So wurden der BF etwa mit Schreiben des Bundesamtes vom 08.05.2019 bzw. 27.05.2019 erneut Formblätter zur Klärung ihrer Identität mit der Aufforderung, diese bis zum 27.05.2019 bzw. 14.06.2019 ausgefüllt zu retournieren, übermittelt und ist dem Verwaltungsakt nicht zu entnehmen, dass die BF dieser Aufforderung nachkam und der Behörde die ausgefüllten Formblätter vorlegte. Aus den Schreiben des Bundesamtes vom 20.07.2020 und vom 30.03.2021 ergibt sich, dass das BFA mehrmals versucht habe, ein HRZ-Verfahren zu veranlassen, dieses jedoch stets aufgrund der Tatsache, dass die BF die ihr vorgelegten Formblätter zum Großteil weder vollständig ausgefüllt noch unterschrieben habe, zurückgeleitet worden sei.

Da die BF im gegenständlichen Verfahren die Kopie eines abgelaufenen Reisepasses und ihres indischen Personalausweises mit ihrer wahren Identität vorlegte, ist davon auszugehen, dass sie unter Vorlage dieser Dokumente bei der indischen Botschaft Reisedokumente erhalten kann. Es sind im Verfahren keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass es für die BF nicht möglich oder unzumutbar wäre, unter Angabe ihrer richtigen Identität und der Vorlage der indischen Dokumente einen Reisepass zu beantragen. Es liegen auch keine Hinweise vor, dass die indische Vertretungsbehörde derzeit etwa keine Reisedokumente ausstellen würde. Ihr Vorbringen, sie sei bereits mehrmals bei der indischen Botschaft gewesen und habe erfolglos versucht, mit ihrer Reisepasskopie und dem Personalausweis ein Reisedokument zu erlangen, war nicht glaubhaft. So wurde die in der Beschwerdeverhandlung gestellte Frage, ob sie, nachdem ihr Reisepass im September 2019 abgelaufen sei, einen neuen Pass beantragt habe, zunächst von ihr verneint. Erst auf die Frage, warum sie die Ausstellung eines neuen Reisedokuments noch nicht veranlasst habe, gab sie an, sie sei bereits mehrmals ohne Erfolg bei der Botschaft gewesen. Sie legte im gesamten Verfahren keine Bestätigung der indischen Botschaft vor, weshalb ihr diesbezügliches Vorbringen nicht glaubhaft war. Zuletzt ist festzuhalten, dass es der BF auch im Hinblick auf die Tatsache, dass ihr Antrag auf internationalen Schutz mit Erkenntnis des BVwG vom 08.08.2014 rechtskräftig abgewiesen und ihr Fluchtvorbringen für unglaubhaft befunden wurde, zumutbar ist, bei den indischen Vertretungsbehörden die Ausstellung von Reisedokumenten zu beantragen.

II.3. Zur Lage im Herkunftsstaat

Die fallbezogenen Feststellungen zur Lage in Indien stützen sich auf das im Zuge der Beschwerdeverhandlung ins Verfahren eingeführte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 14.11.2022, Version 6. Die Länderfeststellungen gründen sich auf Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes und schlüssiges Gesamtbild der Situation in Indien ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Ausführungen zu zweifeln.

Insoweit den Feststellungen Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist darzulegen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums (Länderinformation der Staatendokumentation, Indien, Version 7, Stand 17.05.2023) für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation fallrelevant nicht wesentlich geändert haben. Die Lage in Indien stellt sich seit Jahren diesbezüglich im Wesentlichen unverändert dar. Die BF ist den Berichten in der Beschwerde nicht substantiiert entgegengetreten und hat eine fallrelevante wesentliche Änderung nicht behauptet.

II. Rechtliche Beurteilung

Zu Spruchteil A)

1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids

1.1. Zu den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG-DV sind folgende Urkunden und Nachweise – unbeschadet weiterer Urkunden und Nachweise nach den Abs. 2 und 3 – im amtswegigen Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 3) beizubringen oder dem Antrag auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels (§ 3) anzuschließen:

1. gültiges Reisedokument (§ 2 Abs. 1 Z 2 und 3 NAG);

2. Geburtsurkunde;

3. Lichtbild des Antragstellers gemäß § 5;

4. Erforderlichenfalls Heiratsurkunde, Urkunde über die Ehescheidung, Partnerschaftsurkunde, Urkunde über die Auflösung der eingetragenen Partnerschaft, Urkunde über die Annahme an Kindesstatt, Nachweis oder Urkunde über das Verwandtschaftsverhältnis, Sterbeurkunde.

Gemäß § 7 Abs. 1 AsylG-DV sind die nach § 8 bei dem amtswegigen Verfahren oder der Antragstellung erforderlichen Urkunden und Nachweise der Behörde jeweils im Original und in Kopie vorzulegen.

Gemäß § 4 Abs. 1 AsylG-DV kann die Behörde auf begründeten Antrag von Drittstaatsangehörigen die Heilung eines Mangels nach § 8 und § 58 Abs. 5, 6 und 12 AsylG zulassen:

1. im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen zur Wahrung des Kindeswohls,

2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK oder

3. im Fall der Nichtvorlage erforderlicher Urkunden oder Nachweise, wenn deren Beschaffung für den Fremden nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar war.

Gemäß § 4 Abs. 2 AsylG-DV hat die Behörde, wenn sie beabsichtigt, den Antrag nach Abs. 1 zurück- oder abzuweisen, darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

1.2. Abwägungen im vorliegenden Fall

Die BF stellte mit Stellungnahme vom 16.05.2022 einen Antrag auf Heilung des Mangels, dass sie im Verfahren keinen gültigen Reisepass vorlegen könne. Wie bereits ausführlich gewürdigt, wäre es der BF möglich und zumutbar, sich bei der indischen Botschaft Reisedokumente zu beschaffen, weshalb der Tatbestand des § 4 Abs. 1 Z 3 AsylG-DV nicht erfüllt ist. Wie in III.3. detailliert dargelegt überwiegt in einer Gesamtschau das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes der BF im Bundesgebiet ihr persönliches Interesse am Verbleib in Österreich und liegt durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des nach Art. 8 EMRK geschützten Privat- und Familienlebens der BF in Österreich nicht vor, weshalb auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV nicht erfüllt sind.

Demnach wurde der Antrag auf Mängelheilung vom 16.05.2022 von der belangten Behörde zutreffenderweise gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 8 AsylG-DV abgewiesen, weil die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 AsylG-DV gegenständlich nicht gegeben sind.

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. war demnach als unbegründet abzuweisen.

2. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids

2.1. Zu den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen

Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist gemäß § 55 Abs. 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.

Gemäß § 58 Abs. 5 AsylG sind Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 AsylG sowie auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG persönlich beim Bundesamt zu stellen. Im Antrag ist gemäß § 58 Abs. 6 AsylG der angestrebte Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 bis 57 AsylG genau zu bezeichnen. Ergibt sich auf Grund des Antrages oder im Ermittlungsverfahren, dass der Drittstaatsangehörige für seinen beabsichtigten Aufenthaltszweck einen anderen Aufenthaltstitel benötigt, so ist er über diesen Umstand zu belehren; § 13 Abs. 3 AVG gilt.

Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 AsylG begründen gemäß § 58 Abs. 13 AsylG kein Aufenthalts- oder Bleiberecht. Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 AsylG stehen der Erlassung und Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht entgegen. Sie können daher in Verfahren nach dem 7. und 8. Hauptstück des FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten.

Kommt der Drittstaatsangehörige seiner allgemeinen Mitwirkungspflicht im erforderlichen Ausmaß, insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung und Überprüfung erkennungsdienstlicher Daten, nicht nach, ist gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückzuweisen. Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren.

Nach der Judikatur des VwGH fällt die in § 8 AsylG-DV angeordnete Vorlage von Identitätsdokumenten wie etwa eines Reisepasses unter die in § 58 Abs. 11 AsylG angeordneten allgemeinen Mitwirkungspflichten. Wird dieser Mitwirkungspflicht nicht entsprochen, ist im Antragsverfahren nach dem Wortlaut des § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG mit Antragszurückweisung vorzugehen (VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0187; 19.09.2019, Ra 2019/21/0103).

§ 8 Abs. 1 Z 1 AsylG-DV normiert, dass dem Antrag auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels (§ 3) ein gültiges Reisedokument (§ 2 Abs. 1 Z 2 und 3 NAG) anzuschließen ist. Nach § 7 Abs. 1 leg.cit. sind die nach § 8 bei der Antragstellung erforderlichen Urkunden und Nachweise der Behörde jeweils im Original und in Kopie vorzulegen. Gemäß § 4 AsylG-DV kann die die Behörde auf begründeten Antrag von Drittstaatsangehörigen in bestimmten Fällen die Heilung eines Mangels nach § 8 und § 58 Abs. 5, 6 und 12 AsylG zulassen.

2.2. Abwägungen im vorliegenden Fall

Die BF beantragte am 16.12.2021 persönlich beim BFA die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG.

Mit Ladungsbescheid vom 07.04.2022 wurde die BF aufgefordert, persönlich zum angegebenen Termin beim Bundesamt zu erscheinen und insbesondere einen gültigen Reisepass mitzubringen. Mit Parteiengehör vom selben Tag wurde sie über die Folgen der Nichtvorlage eines gültigen Reisepasses und die Möglichkeit eines Antrags auf Heilung gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 AsylG-DV belehrt. Da die BF im gesamten Verfahren nicht die in § 8 AsylG-DV genannten Dokumente vorlegte und auch ihr Antrag auf Heilung eines Mangels gemäß § 4 Abs. 1 AsylG-DV unbegründet war, ist ihr Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG mit einem Formmangel belastet.

Somit lag der belangten Behörde zu keinem Zeitpunkt ein zulässiger Antrag vor, der eine weitere inhaltliche Bearbeitung möglich gemacht hätte, weshalb das BFA den vorliegenden Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK nach § 55 AsylG zu Recht gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG zurückwies.

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. war demnach als unbegründet abzuweisen.

3. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheids

3.1. Zu den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen

Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG ist, wenn ein Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55, 56 oder 57 abgewiesen wird, diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des § 58 Abs. 9 Z 1 bis 3 vorliegt.

Gemäß § 52 Abs. 3 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG zurück- oder abgewiesen wird.

Da der Antrag der BF gemäß §§ 55, 58 Abs. 11 Z 2 AsylG zurückzuweisen war, war entsprechend den zitierten Bestimmungen gleichzeitig eine Rückkehrentscheidung zu erlassen.

Der mit „Schutz des Privat- und Familienlebens“ betitelte § 9 BFA-VG lautet wie folgt:

„§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,4. der Grad der Integration,5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.“

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 Abs. 1 EMRK umfasst nicht nur die Kernfamilie von Eltern und minderjährigen Kindern bzw. von verheirateten Ehegatten, sondern auch andere nahe verwandtschaftliche Beziehungen. Ob außerhalb des Bereiches des insbesondere zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern ipso jure zu bejahenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK ein Familienleben vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des EGMR jeweils von den konkreten Umständen ab, wobei für die Prüfung einer hinreichend stark ausgeprägten persönlichen Nahebeziehung gegebenenfalls auch die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung sind. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (siehe explizit VwGH 21.04.2011, 2011/01/0093, und 19.02.2014, 2013/22/0037; sowie VfGH 09.06.2006, B 1277/04, mit dortigem Verweis auf das Urteil des EGMR vom 10.07.2003, Nr. 53441/99, im Fall Benhebba).

Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva u.a. gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.

Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst der verstrichene Zeitraum im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007, 852 ff). Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, als – abseits familiärer Umstände – eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541). Der Verwaltungsgerichtshof geht in seinem Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/01/0479, davon aus, dass „der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren [...] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte“. Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichthof bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 25.04.2018, Ra 2018/18/0187; vgl. auch VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055, mwN). Außerdem ist nach der bisherigen Rechtsprechung auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216, mwH); allerdings hat der Umstand, dass der Aufenthaltsstatus des Fremden ein unsicherer war, nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthaltes erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist (vgl. VwGH 04.08.2016, Ra 2015/21/0249 bis 253).

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann ein über zehnjähriger inländischer Aufenthalt den persönlichen Interessen eines Fremden am Verbleib im Bundesgebiet – unter Bedachtnahme auf die jeweils im Einzelfall zu beurteilenden Umstände – ein großes Gewicht verleihen (vgl. VwGH 10.05.2011, Zl. 2011/18/0100, mwN). Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, sind Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. zuletzt VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325; auch VwGH 04.08.2016, Ra 2015/21/0249; 30.08.2011, 2008/21/0605; 14.04.2016, Ra 2016/21/0029 bis 0032; 30.06.2016, Ra 2016/21/0165). Diese Rechtsprechung wurde vom Verwaltungsgerichtshof wiederholt auch auf Fälle übertragen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag (vgl. zu einem ungefähr neuneinhalbjährigen Aufenthalt VwGH 30.7.2014, 2013/22/0226; 9.9.2014, 2013/22/0247; 16.12.2014, 2012/22/0169).

Nach der Judikatur des VwGH ist aber auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Es ist daher auch in Fällen eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthaltes eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller fallbezogen maßgeblichen Aspekte vorzunehmen, wenn auch unter besonderer Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer. (VwGH 17.10.2016 Ro, 2016/22/0005; 23.02.2017 Ra2016/21/0340).

Ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale können gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden. Dazu zählen das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung (vgl. E 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0165; E 10. November 2015, Ro 2015/19/0001; B 3. September 2015, Ra 2015/21/0121; B 25. April 2014, Ro 2014/21/0054), Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften (zB AuslBG, E 16. Oktober 2012, 2012/18/0062; B 25. April 2014, Ro 2014/21/0054), eine zweifache Asylantragstellung (vgl. B 20. Juli 2016, Ra 2016/22/0039; E 26. März 2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082), unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren (vgl. E 4. August 2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253; E 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0165), sowie die Missachtung melderechtlicher Vorschriften (vgl. E 31. Jänner 2013, 2012/23/0006). Eine Mitberücksichtigung einer zwischenzeitlichen Ausreise wurde vom Verwaltungsgerichtshof nicht beanstandet (VwGH 26.03.2015, Ra 2014/22/0078).

Der VwGH hat festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Ausweisung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, Zl. 2002/18/0190). Auch der Verfassungsgerichtshof verweist darauf, dass ein allein durch beharrliche Missachtung der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkter Aufenthalt keinen Rechtsanspruch aus Art. 8 EMRK bewirken könne. Eine andere Auffassung würde sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen (VfSlg. 19.086/2010 mwH).

Dem Umstand, dass der Aufenthaltsstatus des Fremden ein unsicherer war, kommt zwar Bedeutung zu, er hat aber nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthaltes erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist (vgl. E 4. August 2016, Ra 2015/21/0249 bis 253). Allerdings ist der Umstand zu berücksichtigen, dass der Inlandsaufenthalt überwiegend unrechtmäßig war (Hinweis E 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0165; E 11. November 2013, 2013/22/0072).

Im Rahmen der Interessenabwägung unter dem Gesichtspunkt der Bindungen zum Heimatstaat (§ 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG) kann nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch der Frage, ob sich der Fremde bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine Existenzgrundlage schaffen kann, eine Bedeutung zukommen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 16. Dezember 2015, Ra 2015/21/0119 mwN).

3.2. Abwägungen im vorliegenden Fall:

Abgesehen von ihrer Tochter, der die indische Staatsbürgerschaft zukommt und die sich, wie festgestellt, unrechtmäßig in Österreich befindet, hat die BF keine im Bundesgebiet aufhältige Verwandte oder Familienangehörige. Ihr Lebensgefährte, der indischer Staatsbürger ist, hält sich ebenso unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Für die BF ist es also durchaus möglich und zumutbar, mit ihrer Tochter sowie ihrem Lebensgefährten im Familienverband nach Indien zurückzukehren, zumal alle Drei über keinen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet verfügen und indische Staatsbürger sind. Dies gilt auch in Hinblick auf das Kindeswohl ihrer Tochter, zumal mit Erkenntnis des BVwG vom 29.03.2022, das höchstgerichtlich bestätigt wurde, eine Rückkehrentscheidung gegen diese erlassen wurde. Demnach besteht im Bundesgebiet kein aufrechtes Familienleben nach Art. 8 EMRK, in das eine aufenthaltsbeendende Maßnahme eingreifen würde.

Hinsichtlich des Privatlebens ist zunächst auszuführen, dass die BF zum Aufenthalt in Österreich nur auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz, der sich letztlich nicht als begründet erwiesen hat, berechtigt gewesen ist. Ihre Aufenthaltsdauer ist mit insgesamt zehn Jahren jedenfalls als lang zu werten, sodass ihr ein entsprechend schweres Gewicht zugunsten der BF zukommt.

Diese lange Aufenthaltsdauer ist aber dadurch stark relativiert, dass der Aufenthalt der BF lediglich bis zur rechtskräftigen Abweisung ihres Antrags auf internationalen Schutz am 08.08.2014 rechtmäßig war. Somit hält sie sich nunmehr seit neun Jahren illegal in Österreich auf. Seit Erlassung der Rückkehrentscheidung im August 2014 verstößt die BF fortlaufend gegen die gegen sie ergangene Ausweisung, die den Befehl an sie darstellt, das Bundesgebiet zu verlassen. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass ein beharrliches illegales Verbleiben nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellt, sodass das Gewicht ihrer Aufenthaltsdauer trotz ihrer Länge nur abgeschwächt zu tragen kommt. Da die BF in der Beschwerdeverhandlung eine Kopie eines von 2009 bis 2019 gültigen indischen Reisepasses vorlegte, ist anzunehmen, dass es ihr nach Abweisung ihres Asylantrags im Jahr 2014 auch möglich gewesen wäre, nach Indien auszureisen.

Ihr Asylantrag wurde innerhalb eines Jahres nach ihrer Antragstellung rechtkräftig abgewiesen und ist die lange Aufenthaltsdauer der BF insbesondere darauf zurückzuführen, dass sie von Mai 2013 bis März 2021, also etwa acht Jahre unter einer von ihr bewusst falsch angegebenen Identität in Österreich lebte. Sie verhinderte dadurch, wie festgestellt, die mehrmaligen Versuche der belangten Behörde, bei der indischen Botschaft für sie ein Heimreisezertifikat zu erlangen und schaffte es durch die absichtlich falschen Identitätsangaben erfolgreich, die Effektuierung der gegen sie ergangenen Rückkehrentscheidung zu verhindern. Ihr Verhalten war jedenfalls bis März 2021, zu welchem Zeitpunkt sie ihre wahre Identität preisgab, kausal dafür, dass ihr illegaler Aufenthalt nicht beendet werden konnte. Da sie in der Beschwerdeverhandlung die Kopie eines im Jahr 2009 ausgestellten indischen Reisepasses sowie einen indischen Personalausweis vorlegte, wäre es mit großer Wahrscheinlichkeit schon früher möglich gewesen, die Ausstellung von Reisedokumenten zu erwirken. Sie gab vor dem BVwG auch selbst an, sie habe ihre Identitätsdokumente bewusst nicht früher vorgelegt, da sie Angst vor einer Abschiebung gehabt habe. Hinzu kommt, dass die BF nachweislich die ihr übermittelten Formblätter zur Erlangung eines Heimreisezertifikates nie vollständig ausfüllte und unter Verletzung ihrer diesbezüglichen Mitwirkungspflichten auch dadurch die Ausstellung eines Reisepasses verhinderte. Dass sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt selbstständig darum bemüht hätte, bei der indischen Botschaft Reisedokumente zu erlangen, konnte sie nicht glaubhaft machen.

Es wird nicht verkannt, dass sich die BF durchaus um eine Integration in Österreich bemühte. Sie nahm an mehreren Deutschkursen sowie anderen Seminaren teil und verfügt über hinreichende Deutschkenntnisse, was sich auch darin manifestiert, dass sie am 13.02.2014 die ÖSD Deutsch-Prüfung auf dem Niveau A2 und am 17.01.2017 den Pflichtschulabschluss absolvierte und . Zu ihren Gunsten ist insbesondere zu werten, dass sie sich im Bundesgebiet, vor allem in den Jahren 2017 und 2018 in verschiedenen Kinderbetreuungseinrichtungen und beim Roten Kreuz intensiv ehrenamtlich betätigte. Die BF brachte zwar glaubhaft vor, sie habe einige österreichische Freundinnen und legte auch zahlreiche Empfehlungsschreiben vor, dass sie, abgesehen von ihrem indischen Lebensgefährten, der sich ebenso illegal in Österreich aufhält, über enge soziale Bindungen verfügt, kam im Verfahren jedoch nicht hervor.

Zulasten der BF ist vor allem zu werten, dass sie bisher im Bundesgebiet nicht erwerbstätig war und mangels Aufenthaltstitel oder einer sonstigen arbeitsmarktbehördlichen Bewilligung über keine Möglichkeiten zur Aufnahme einer legalen Erwerbstätigkeit verfügt, weshalb bei ihr keine Selbsterhaltungsfähigkeit vorliegt. Weiters ist zu beachten, dass die von der BF gesetzten Integrationsschritte vornehmlich in den Jahren 2013 bis 2018 erfolgten und nicht ersichtlich ist, dass sie sich in den letzten fünf Jahren um eine nachhaltige Integration bemühte. Sie ist zwar strafgerichtlich unbescholten, jedoch wurde gegen sie wegen ihres unrechtmäßigen Aufenthaltes mit Strafverfügung vom 29.01.2018 eine Geldstrafe in der Höhe von EUR 600,- verhängt. Generell ist das Interesse der BF an der Aufrechterhaltung ihres Privatlebens dadurch geschwächt, dass sie sich bei sämtlichen Integrationsschritten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bzw. ihres illegalen Aufenthalts und damit der Vorläufigkeit ihrer Integrationsschritte bewusst sein musste. In Hinblick auf den unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz und den insgesamt neun Jahren durchgehend unrechtmäßigen Aufenthalt musste sich die BF darüber im Klaren sein, dass sie eingegangene Bindungen im Bundesgebiet nicht werde aufrechterhalten können.

Mangels Erkrankung der BF oder Hervorkommens sonstiger entsprechend beachtenswerter Umstände sind keine zusätzlichen, für die Schutzwürdigkeit ihres Privatlebens sprechenden Aspekte hervorgekommen.

Hinzu kommt im gegenständlichen Fall, dass die erwachsene BF den überwiegenden Teil ihres Lebens im Herkunftsstaat verbracht hat, dort sozialisiert wurde und somit mit den kulturellen Traditionen und Gepflogenheiten ihres Heimatlandes vertraut ist. Sie ist in Indien geboren, absolvierte dort die Schule und spricht mit Punjabi, Hindi sowie Englisch anerkannte Landessprachen. Die BF ist gebildet, gesund und arbeitsfähig, weshalb davon auszugehen ist, dass sie durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit imstande ist, ihre Existenz zu sichern. Es leben nach wir vor ihre Eltern sowie ihr Bruder im Herkunftsstaat und ist nicht hervorgekommen, dass es zwischen ihr und ihren Familienangehörigen zu einem Zerwürfnis gekommen ist, weshalb angenommen werden kann, dass eine Kontaktaufnahme zu diesen bei einer Rückkehr möglich ist. Sie berichtete in der Beschwerdeverhandlung auch von einer im Herkunftsstaat aufhältigen sehr reichen Freundin, die ihr damals die Ausreise finanziert habe und ist nicht auszuschließen, dass sie von dieser wieder unterstützt werden könnte. Hinzu kommt, dass die BF im Bundesgebiet in einer Lebensgemeinschaft mit einem hier illegal aufhältigen indischen Staatsangehörigen lebt und mit diesem eine Tochter hat, der ebenfalls die indische Staatsbürgerschaft zukommt, weshalb davon auszugehen ist, dass diese im Familienverband nach Indien zurückkehren und sich dort gemeinsam eine Existenz aufbauen können.

Unter Berücksichtigung der Feststellungen zur allgemeinen Lage in Indien ist festzuhalten, dass die Situation, die die BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat vorfinden wird, sich hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit, der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von den Verhältnissen in Österreich zwar unterscheidet, in Hinblick auf die persönliche Situation der BF – sie ist gesund, arbeitsfähig und verfügt über Schulbildung sowie hinreichende Sprachkenntnisse – ist jedoch festzustellen, dass ihre persönliche Situation im Herkunftsland nicht zu einer wesentlichen Verstärkung ihrer Interessen am Verbleib in Österreich führt.

Trotz des als sehr lang zu qualifizierenden zehnjährigen Aufenthalts und der von der BF vor allem in Hinblick auf den Erwerb von Deutschkenntnissen, die Absolvierung von verschiedenen Kursen und die Ausübung ehrenamtlicher Tätigkeiten gerichteten Integrationsschritte steht, wie oben unter Gewichtung sämtlicher Aspekte aufgezeigt, ihren persönlichen Interessen ein insbesondere durch ihren unrechtmäßigen Aufenthalt und den beharrlichen Verbleib nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens, die Angabe falscher Identitätsdaten sowie Verletzung ihrer Mitwirkungspflichten, die für den langen Verbleib der BF kausal waren und den Verstoß gegen Verwaltungsvorschriften gravierend verstärktes, gegen ihren Verbleib im Inland sprechendes öffentliches Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, entgegen. Ihre Aufenthaltsdauer ist vor allem durch den überwiegend unrechtmäßigen Aufenthalt sowie das Wissen um die Unsicherheit bzw. Unrechtmäßigkeit ihres Aufenthalts während Entwicklung ihres Privatlebens relativiert, sodass in einer Gesamtbetrachtung die persönlichen Interessen der BF an einem Verbleib in Österreich nicht überwiegen, sondern die öffentlichen Interessen gewichtiger sind und die Aufenthaltsbeendigung verhältnismäßig ist.

Aufgrund dieser Erwägungen ist davon auszugehen, dass die Interessen der BF an einem Verbleib im Bundesgebiet gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein hoher Stellenwert zukommt, in den Hintergrund treten. Allein ein durch beharrliche Missachtung der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkter Aufenthalt kann nämlich keinen Rechtsanspruch aus Art. 8 EMRK bewirken. Eine andere Auffassung würde sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber sich rechtstreu Verhaltenden führen (VfGH 12. 06. 2010, U 613/10-10, vgl. idS VwGH 11. 12. 2003, 2003/07/0007).

Das BFA ist sohin zu Recht davon ausgegangen, dass die öffentlichen Interessen an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie an einem geordneten Zuwanderungswesen im vorliegenden Fall schwerer wiegen als die privaten Interessen der BF. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG ist zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iSd Art. 8 EMRK daher nicht geboten.

Der durch die Ausweisung der BF verursachte Eingriff in ihr Recht auf Privat- oder Familienleben ist somit gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt. Die Erlassung der Rückkehrentscheidung ist zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten. Die Verfügung der Rückkehrentscheidung war daher im vorliegenden Fall dringend geboten und erscheint auch nicht unverhältnismäßig. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre, weshalb die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. als unbegründet abzuweisen war.

4. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheids

4.1. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.

Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

Nach § 50 Abs. 2 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).

Nach § 50 Abs. 3 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

Der VwGH hielt in seinem Erkenntnis vom 16.12.2015, Ra 2015/21/0119, (in einer Verfahrenskonstellation nach § 75 Abs. 20 AsylG 2005) fest, dass eine Beurteilung der Zulässigkeit der Abschiebung im Rahmen des Rückkehrentscheidungsverfahrens inhaltlich nicht von einer bereits ausgesprochenen Entscheidung über die Gewährung subsidiären Schutzes abweichen könne, sondern lediglich die notwendige Folge eines negativen Abspruchs über einen Antrag auf internationalen Schutz darstelle. In seinem Erkenntnis vom 24.05.2016, Ra 2016/21/0101, konkretisierte der VwGH diese Erwägungen, indem er ausführte, dass dies nur bei unveränderter Sachlage gelte. Stehe dagegen im Raum, dass sich die Verhältnisse im Herkunftsstaat maßgeblich verändert – aus der Sicht des Fremden: verschlechtert – hätten, so sei eine Überprüfung dahingehend vorzunehmen, ob eine Abschiebung in den Herkunftsstaat (noch) zulässig sei.

4.2. Entsprechend dieser Judikatur ergibt sich verfahrensgegenständlich die Zulässigkeit der Abschiebung der BF in den Herkunftsstaat bereits aus dem Erkenntnis des BVwG vom 05.08.2014. Unabhängig davon sind im vorliegenden Fall keine Abschiebungshindernisse im Sinne des § 50 FPG zu erkennen:

Aus der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat allein ergeben sich keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass sich die Lage derart maßgeblich verschlechtert hätte, sodass die BF im Sinne des § 50 FPG bedroht wäre. Es konnte nicht festgestellt werden, dass in Indien derzeit eine "extreme Gefahrenlage" (vgl. etwa VwGH 16. 4. 2002, 2000/20/0131) im Sinne einer dermaßen schlechten wirtschaftlichen oder allgemeinen (politischen) Situation herrschen würde, die für sich genommen bereits die Zulässigkeit der Abschiebung als unrechtmäßig erscheinen ließe.

Zudem haben sich die hier relevanten persönlichen Umstände der BF nicht maßgeblich verändert, sodass nicht von einer völligen Perspektivenlosigkeit der BF auszugehen ist. Im Hinblick auf die Feststellungen zur allgemeinen Situation, derzufolge die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln gewährleistet ist, ist es der BF als arbeitsfähiger, gesunder Frau im erwerbsfähigen Alter zumutbar, sich in ihrer Heimat den notwendigen Unterhalt zu sichern. Sie verfügt über eine mehrjährige Schulbildung und Sprachkenntnisse in Punjabi, Hindi, Englisch sowie Deutsch, sodass nicht angenommen werden kann, dass sie im Falle einer Rückkehr in eine lebensbedrohliche Notlage geriete. Schwierige Lebensumstände genügen für eine Schutzgewährung im Sinne des § 50 FPG nicht.

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. war demnach als unbegründet abzuweisen.

5. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheids

Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG vierzehn Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

Da derartige Gründe im Verfahren nicht vorgebracht wurden, ist die Frist zu Recht mit zwei Wochen bzw. vierzehn Tagen festgelegt worden. Demnach war die Beschwerde gegen Spruchpunkt V. als unbegründet abzuweisen.

6. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheids

6.1. Der mit „Einreiseverbot“ betitelte § 53 FPG lautet auszugsweise:

„§ 53. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.

(2) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist, vorbehaltlich des Abs. 3, für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat das Bundesamt das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Drittstaatsangehörige

1. wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß § 20 Abs. 2 der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl. Nr. 159, iVm § 26 Abs. 3 des Führerscheingesetzes (FSG), BGBl. I Nr. 120/1997, gemäß § 99 Abs. 1, 1a, 1b oder 2 StVO, gemäß § 37 Abs. 3 oder 4 FSG, gemäß § 366 Abs. 1 Z 1 der Gewerbeordnung 1994 (GewO), BGBl. Nr. 194, in Bezug auf ein bewilligungspflichtiges, gebundenes Gewerbe, gemäß den §§ 81 oder 82 des SPG, gemäß den §§ 9 oder 14 iVm § 19 des Versammlungsgesetzes 1953, BGBl. Nr. 98, oder wegen einer Übertretung des Grenzkontrollgesetzes, des Meldegesetzes, des Gefahrengutbeförderungsgesetzes oder des Ausländerbeschäftigungsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist;

2. wegen einer Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe von mindestens 1.000 Euro oder primären Freiheitsstrafe rechtskräftig bestraft wurde;

3. wegen einer Übertretung dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist, sofern es sich dabei nicht um eine in Abs. 3 genannte Übertretung handelt;

4. wegen vorsätzlich begangener Finanzvergehen oder wegen vorsätzlich begangener Zuwiderhandlungen gegen devisenrechtliche Vorschriften rechtskräftig bestraft worden ist;

5. wegen eines Verstoßes gegen die Vorschriften, mit denen die Prostitution geregelt ist, rechtskräftig bestraft worden ist;

(Anm.: aufgehoben durch VfGH, BGBl. I Nr. 202/2022)

[…]“

6.2. Die belangte Behörde stützte das gegen die BF verhängte Einreiseverbot gegenständlich auf § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG und begründete dies im Wesentlichen damit, dass es sich bei der BF um eine mittellose Person handle und deswegen im Hinblick auf ihr Gesamtfehlverhalten eine Gefährdung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle.

Den Ausführungen des BFA ist entgegenzuhalten, dass mit Erkenntnis des VfGH vom 06.12.2022, G 264/2022-7, der Tatbestand des § 53 Abs. 2 Z 6 FPG als verfassungswidrig aufgehoben wurde, da dieser einen Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot des Art. I Abs. 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl. 390/1973 darstellt. So ist es sachlich nicht gerechtfertigt, dass § 53 Abs. 2 Z 6 FPG im Anschluss an eine ohnedies verhängte Rückkehrentscheidung und die damit bereits beendete allfällige finanzielle Belastung der Gebietskörperschaften die Verhängung eines bis zu fünfjährigen Einreiseverbotes anordnet, nur weil der Drittstaatsangehörige im Zeitpunkt der Erlassung der Rückkehrentscheidung den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachzuweisen vermag.

Da gegen die BF eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde, die mit dem vorliegenden Erkenntnis bestätigt wird, besteht iSd des zitierten Erkenntnisses des VfGH zum Entscheidungszeitpunkt keine Gefahr, dass ihr Aufenthalt zu einer Belastung der Gebietskörperschaften führen könnte, weshalb die Verhängung eines Einreiseverbotes wegen Mittellosigkeit nicht zulässig ist.

Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheids war demnach stattzugeben und dieser aufzuheben.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

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