Normen
AsylG 2005 §55;
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8;
BFA-VG 2014 §9 Abs2;
BFA-VG 2014 §9 Abs3;
BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §52 Abs3;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AsylG 2005 §55;
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8;
BFA-VG 2014 §9 Abs2;
BFA-VG 2014 §9 Abs3;
BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §52 Abs3;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Der am 31. August 1976 geborene Revisionswerber, ein pakistanischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner illegalen Einreise am 22. Mai 2001 einen Asylantrag, der vom Bundesasylamt mit Bescheid vom 29. September 2009 - in Verbindung mit einer Ausweisung des Revisionswerbers nach Pakistan und mit der Feststellung der Zulässigkeit seiner Abschiebung dorthin - abgewiesen wurde. Die dagegen erhobene Beschwerde wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 29. November 2011 ab.
2 Der weiterhin in Österreich verbliebene Revisionswerber stellte am 3. Juni 2015 den gegenständlichen Antrag, der (nach einer entsprechenden Änderung nur mehr) auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels "aus Gründen des Art 8 EMRK" gemäß § 55 AsylG 2005 gerichtet war.
3 Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 18. Februar 2016 ab. Unter einem wurde - soweit für das vorliegende Verfahren relevant - gegen den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen, wobei die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt wurde. Schließlich wurde vom BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG noch festgestellt, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Pakistan zulässig sei.
4 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 30. September 2016 als unbegründet ab. Weiters sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat:
6 Die Revision erweist sich - wie in ihrer Zulässigkeitsbegründung zutreffend aufgezeigt wird - deshalb als zulässig und berechtigt, weil das BVwG in Bezug auf die für die Abweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 gleichermaßen wie für die Erlassung der Rückkehrentscheidung maßgebliche (zum diesbezüglichen inhaltlichen Gleichklang vgl. Punkt 3.3. und 3.4. des hg. Erkenntnisses vom 12. November 2015, Ra 2015/21/0101, und darauf Bezug nehmend den hg. Beschluss vom 28. Jänner 2016, Ra 2016/21/0006) Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.
7 Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes etwa den Beschluss vom 20. Oktober 2016, Ra 2016/21/0271, Rz 9, mwN).
8 Bei dieser Interessenabwägung hat das BVwG allerdings der besonders langen Dauer des Aufenthalts des Revisionswerbers in Österreich, die bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits mehr als 15 Jahre betragen hatte, nicht die ihr nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen, indem es den Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG ("Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren") in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund stellte. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber bereits wiederholt klargestellt, dieser Aspekt habe schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung (bzw. Rückkehrentscheidung) führen könne (vgl. etwa das Erkenntnis vom 4. August 2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253, Rz 9, mwN).
9 Daran knüpft die ständige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes an, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (siehe auch dazu beispielhaft das Erkenntnis vom 4. August 2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253, Rz 10, mwN, und daran anschließend zuletzt das Erkenntnis vom 26. Jänner 2017, Ra 2016/21/0168, Rz 31).
10 Das BVwG hat zwar an einer Stelle seines Erkenntnisse (Seite 55) bei Behandlung der nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG maßgeblichen Frage der Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden eingeräumt, nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nehme das persönliche Interesse des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer des Aufenthaltes zu. Es findet sich aber weder in diesem Zusammenhang noch sonst im angefochtenen Erkenntnis die - nach der in der Rz 9 dargestellten Judikatur - gebotene Berücksichtigung der im vorliegenden Fall besonders langen Aufenthaltsdauer. Demzufolge wird auch die Annahme des BVwG (vgl. Seite 63 Mitte), der Revisionswerber halte sich im Vergleich mit seinem Lebensalter hier "erst einen kurzen Zeitraum" auf, den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht, zumal der Revisionswerber schon im
25. Lebensjahr nach Österreich kam und sich - wie erwähnt - hier bereits mehr als 15 Jahre aufhält. Im Übrigen wäre in diesem Zusammenhang iSd § 9 Abs. 2 Z 9 BFA-VG auch noch besonders darauf Bedacht zu nehmen gewesen, dass im vorliegenden Fall die Erledigung des Asylantrages - ohne Verschulden des Revisionswerbers (so das BVwG auf Seite 56, 2. Abs.) - äußerst lange dauerte und dass sich der Revisionswerber schon bei Erlassung des Erkenntnisses des Asylgerichtshofes Ende November 2011 mehr als zehn Jahre in Österreich aufgehalten hatte.
11 Den wenig detaillierten Feststellungen des BVwG zur Integration des Revisionswerbers lässt sich entnehmen, dass er die Deutschprüfung auf dem Niveau B1 absolviert habe. Er sei in der Vergangenheit (bis September 2015 als Paketzusteller) erwerbstätig gewesen, nach dem Entzug des diesbezüglichen Gewerbescheines verfüge er derzeit über kein regelmäßiges Einkommen. Er lebe von der Unterstützung seiner Freunde; ab und zu verteile er Werbematerial. Er verfüge allerdings über eine aufrechte Einstellungszusage. Der ledige und unbescholtene Revisionswerber wohne gemeinsam mit vier pakistanischen Freunden in einer Mietwohnung. Die Identität des Revisionswerbers - so das BVwG (siehe Seite 7 Mitte iVm Seite 38, 3. Abs.) - stehe aufgrund der von ihm vorgelegten unbedenklichen Dokumente fest. Aus seiner Vernehmung ergibt sich - wie auch die Revision ins Treffen führt - noch ergänzend, dass er von 2005 bis 2011 eine Beziehung mit einer slowakischen Staatsangehörigen geführt habe und Mitglied in einem näher genannten Verein sei. Außerdem sei der Revisionswerber kranken- und unfallversichert.
12 Davon ausgehend kann nicht gesagt werden, der Revisionswerber habe die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Diesen Standpunkt vertrat auch das BVwG nicht. Vielmehr ging es nur davon aus, eine "berücksichtigungswürdige besondere Integration" liege nicht vor, es seien "keine Aspekte einer außergewöhnlichen schützenswerten, dauernden Integration" hervorgekommen. Damit verkannte das BVwG jedoch, dass beim Erstrevisionswerber auf eine derart ausgeprägte Integration gemäß der unter Rz 9 zitierten Judikatur nicht abzustellen gewesen wäre.
13 Es ist zwar auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. das hg. Erkenntnis vom 17. Oktober 2016, Ro 2016/22/0005, Rz 13 bis 16, und darauf Bezug nehmend das schon genannte Erkenntnis vom 26. Jänner 2017, Ra 2016/21/0168, Rz 33; siehe auch den Beschluss vom heutigen Tag, Ra 2016/21/0340, Rz 12 bis 14). Derartige Gegebenheiten, die trotz des mehr als 15-jährigen Aufenthalts des Revisionswerbers eine Aufenthaltsbeendigung noch gerechtfertigt erscheinen ließen, hat das BVwG aber nicht festgestellt und auch sonst nicht ins Treffen geführt.
14 Nach dem Gesagten ist somit das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die vom BFA vorgenommene Abweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 und die erlassene Rückkehrentscheidung bestätigt wurden, mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Es war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, wobei die Aufhebung auch die auf die Erlassung der Rückkehrentscheidung aufbauenden Absprüche nach § 52 Abs. 9 FPG und nach § 55 FPG zu erfassen hat.
15 Ergänzend ist aber in Bezug auf die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses noch Folgendes zu bemängeln, wobei sich der Verwaltungsgerichtshof zu diesen Ausführungen veranlasst sieht, weil ein derartiger Begründungsstil in der Vergangenheit in zahlreichen Entscheidungen des BVwG zu beobachten war:
Das BVwG hat im vorliegenden Fall zwar entsprechend dem Antrag in der Beschwerde eine mündliche Verhandlung - offenbar mit dem Ziel, die Integration des Revisionswerbers näher zu beleuchten und sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen - durchgeführt. Dem angefochtenen Erkenntnis lässt sich allerdings nicht entnehmen, dass deren Ergebnisse auch bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt worden wären. Damit wurde das BVwG aber dem Zweck der mündlichen Verhandlung nicht gerecht.
Das angefochtene Erkenntnis umfasst insgesamt 66 Seiten. Dabei traf das BVwG - wie erwähnt - zur primär maßgeblichen Frage der Integration des Revisionswerbers im Umfang von etwa einer Seite nur rudimentäre Feststellungen. Das Erkenntnis enthält demgegenüber auf 30 Seiten detaillierte Feststellungen zur "asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Pakistan" samt umfangreichen Quellenzitaten. Diesbezüglich ist zu kritisieren, dass dazu kein konkreter Fallbezug hergestellt wurde, obwohl die vollumfängliche Relevanz dieser Feststellungen für das vorliegende Verfahren nicht evident ist und weitgehend nicht nachvollzogen werden kann. Unter der Überschrift "Individuell" werden daran anschließend zwar negative Feststellungen zu einer aktuellen Gefährdung oder Verfolgung des Revisionswerbers getroffen. Konkrete Ausführungen, aus welchen hierfür maßgeblichen bestimmten Teilen der Länderfeststellungen diese Schlussfolgerung getroffen wurde, fehlen jedoch.
Die rechtliche Beurteilung zur entscheidungswesentlichen Frage der Versagung des beantragten Aufenthaltstitels bzw. der Erlassung einer Rückkehrentscheidung beginnt mit der gänzlichen Wiedergabe von - jedoch nur in Teilen relevanten - Rechtsvorschriften auf insgesamt 10 Seiten, was die Übersichtlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidung ebenfalls nicht fördert.
Die weiteren Ausführungen sind von der umfangreichen Wiedergabe von Auszügen aus Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes geprägt, die sich weitgehend in ihrem Zitat erschöpfen, ohne dass eine Verbindung zum vorliegenden Fall dargetan wird. Daher erkannte das BVwG offenbar auch nicht, dass manchen dargestellten Entscheidungen schon von vornherein die fallbezogene Relevanz fehlt (so etwa die auf Seite 51/52 zitierte Judikatur zum Begriff "Familienleben") oder dass sie bereits überholt sind (so beispielsweise die auf Seite 53/54 wiedergegebene Judikatur zu den nunmehr ohnehin ausdrücklich in das Gesetz aufgenommenen, für die Interessenabwägung maßgeblichen Kriterien).
Gleiches gilt für die unter dem Punkt "weitere Erwägungen" (Seite 58 bis 62) referierte Judikatur, bei der ebenfalls kaum erkennbar ist, inwieweit deren Anwendbarkeit auf die konkret vorliegende Konstellation geprüft wurde. So gehen etwa - wie die Revision zutreffend rügt - die (wiederholten) Ausführungen, wonach es dem Revisionswerber nicht möglich sei, "seinen Aufenthalt vom Inland her zu legalisieren", weil eine "Erstantragstellung für solche Fremde nur vom Ausland aus möglich" sei, völlig am gegenständlichen Fall vorbei, in dem es gerade um die Erteilung eines Erstaufenthaltstitels für einen gemäß § 55 AsylG 2005 voraussetzungsgemäß "im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen" geht. Auch sonst bleibt mangels entsprechender Ausführungen in diesem Teil des angefochtenen Erkenntnisses in Bezug auf die in textbausteinartiger Form zitierten Entscheidungen weitgehend offen, ob sich die referierten Aussagen auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation überhaupt übertragen lassen.
Insgesamt führen die erwähnten Unzulänglichkeiten zwar noch nicht dazu, dass das Erkenntnis an einem tragenden, für sich allein zur Aufhebung führenden Begründungsmangel leidet, weil die maßgeblichen Erwägungen des BVwG ungeachtet dessen noch ausreichend erkennbar sind. Festzuhalten bleibt aber, dass die vorliegende Entscheidung in weiten Teilen Ausführungen enthält, die fallbezogen nicht entscheidungswesentlich sind oder denen wegen unzureichender Darstellung des Subsumtionsvorgangs kein oder kaum ein Begründungswert zukommt.
16 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.
17 Der Zuspruch von Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren findet darin keine Deckung und war daher abzuweisen.
Wien, am 23. Februar 2017
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