1. Einleitung
Unter dem Grundsatz von Treu und Glauben wird verstanden, dass jeder, der am Rechtsleben teilnimmt, zu seinem Wort und zu seinem Verhalten zu stehen hat und sich nicht ohne triftigen Grund in Widerspruch zu dem setzen darf, was er früher vertreten hat und worauf andere vertraut haben (zB VwGH 15.3.2001, 2001/16/0063).
Dieser Grundsatz ist auch im Abgabenrecht zu beachten (zB VwGH 10.10.1996, 95/15/0208, 0209).
Nach ständiger Judikatur (zB VwGH 21.1.2004, 2003/16/0113; VwGH 3.11.2005, 2003/15/0136) ist das Legalitätsprinzip (Art. 18 Abs. 1 B-VG) grundsätzlich stärker als jeder andere Grundsatz, insbesondere jener von Treu und Glauben.
Ein Widerspruch dieser beiden Grundsätze besteht allerdings nicht. Der Grundsatz von Treu und Glauben hat als Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit nämlich lediglich interpretations- und ermessensleitende Funktion.
2. Anwendungsbereich
2.1 Vollzugsspielraum
Die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben setzt einen Vollzugsspielraumvoraus (zB VwGH 21.10.2004, 2000/13/0179, 0180; VwGH 9.3.2005, 2001/13/0273; VwGH 15.6.2005, 2004/13/0161), somit einen
- Auslegungsspielraum (Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe) oder
- Rechtsanwendungsspielraum (bei Ermessensübung).
Ein unbestimmter Rechtsbegriff ist insbesondere der Begriff der Unbilligkeit der Einhebung (im Sinn des § 236 BAO). Siehe unten Abschnitt 6.
Weitere solche Rechtsbegriffe sind beispielsweise
- umfassende Umschulungsmaßnahmen (§ 4 Abs. 4 Z 7 EStG 1988),
- betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer (§ 7 Abs. 1 EStG 1988),
- ordnungsmäßige Buchführung (§ 18 Abs. 6 EStG 1988),
- Aufwendungen, die nach allgemeiner Verkehrsauffassung unangemessen hoch sind (§ 20 Abs. 1 Z 2 lit. b EStG 1988),
- Musik- und Gesangsaufführungen (§ 10 Abs. 1 Z 8 lit. b UStG 1994),
- Hausrat (§ 15 Abs. 1 Z 1 lit. a ErbStG),
- übliche Gelegenheitsgeschenke (§ 15 Abs. 1 Z 11 ErbStG),
- gemeinnützig (§ 35 BAO).
2.2 Haftung
Der Grundsatz von Treu und Glauben ist unter anderem bei der Ermessensübung für die Inanspruchnahme persönlich Haftender bedeutsam.
Haftungsinanspruchnahmen liegen nämlich im Ermessen (§ 20 BAO) der Abgabenbehörde (vgl. zB VwGH 30.3.2000, 97/16/0189; VwGH 21.2.2005, 2001/17/0075; VwGH 28.1.2005, 2002/15/0157).
Dies gilt beispielsweise für die Haftung gemäß
- § 82 EStG 1988 (Lohnsteuer; zB VwGH 25.4.2002, 2001/15/0152; VwGH 3.8.2004, 2000/13/0046),
- § 95 Abs. 2 EStG 1988 (Kapitalertragsteuer),
- § 100 Abs. 2 EStG 1988 (Abzugsteuer nach § 99 EStG 1988; zB VwGH 27.11.2003, 2003/15/0087),
- § 9 BAO (Vertreterhaftung; zB VwGH 24.3.2004, 2001/14/0083; VwGH 15.6.2005, 2005/13/0048; VwGH 18.10.2005, 2004/14/0112),
- § 12 BAO (Haftung der Gesellschafter; zB VwGH 16.10.2002, 99/13/0060),
- § 14 BAO (Erwerberhaftung; zB VwGH 16.2.1988, 87/14/0059),
- § 27 Abs. 4 UStG 1994 (VwGH 28.1.2005, 2002/15/0157),
- § 13 Abs. 2 ErbStG (VwGH 25.6.1992, 91/16/0045),
- § 30 GebG (VwGH 21.3.2002, 2001/16/0599).
Beispiel (zu § 82 EStG 1988):
Gemäß § 90 EStG 1988 wird dem Arbeitgeber vor Abschluss des Dienstvertrages mit im Außendienst tätigen Vertretern die Auskunft erteilt, dass im Auskunftsersuchen dargestellte Bezugsteile nicht steuerbar sind. Die Auskunft ist nicht offensichtlich unrichtig.
Im Vertrauen auf diese Auskunft des Finanzamtes werden solche Bezugsteile im Jahr 2004 ausbezahlt. Im Jahr 2007 wird im Rahmen einer Lohnsteuerprüfung (gestützt auf diese Rechtsfrage erstmals behandelnde Judikatur des Jahres 2005) die Nichtsteuerbarkeit als rechtswidrig beurteilt.
Der Grundsatz von Treu und Glauben steht der Haftungsinanspruchnahme für die im Jahr 2004 den Vertretern zugeflossenen Bezugsteile entgegen.
2.3 Gesamtschuld
Die Inanspruchnahme von Gesamtschuldnern (§ 6 BAO) liegt im Ermessen der Abgabenbehörde.
Im Ermessen liegt, ob die Behörde das Leistungsgebot an einen der Gesamtschuldner und an welchen Gesamtschuldner oder an mehrere oder an alle Gesamtschuldner richtet (vgl. zB VwGH 28.2.2002, 2001/16/0606; VwGH 17.10.2002, 2000/17/0099).
Ob die Inanspruchnahme mit einem Teil oder dem gesamten offenen Betrag erfolgt, ist ebenfalls eine Ermessensentscheidung (zB VwGH 20.3.2002, 99/15/0046; VwGH 23.6.2003, 2002/17/0241, 0242, 0243).
Dies gilt beispielsweise für Gesamtschuldverhältnisse nach
- § 9 Z 4 GrEStG 1987 (zB VwGH 27.1.2000, 98/16/0244-0252; VwGH 7.12.2000, 97/16/0365, 0366),
- § 13 Abs. 2 GebG (VwGH 19.9.2001, 2001/16/0306),
- § 28 GebG (zB VwGH 28.2.2002, 2001/16/0606; VwGH 31.5.1995, 94/16/0278; VwGH 19.12.2002, 99/16/0405),
- § 13 Abs. 1 ErbStG (VwGH 27.9.1990, 89/16/0214, 0215; VwGH 14.5.1992, 92/16/0013),
- § 6 Abs. 2 BAO (Umsatzsteuer, zB VwGH 22.2.1995, 95/13/0031; VwGH 29.6.1999, 98/14/0170; VwGH 29.5.2001, 2001/14/0033).
2.4 Verfahrenstitel
Weitere Beispiele für im Ermessen liegende Maßnahmen, bei denen der Grundsatz von Treu und Glauben entscheidungserheblich sein kann:
- Aufhebung bei Rechtswidrigkeit des Bescheidspruches gemäß § 299 Abs. 1 BAO (vgl. zB VwGH 26.1.1993, 89/14/0234; VwGH 7.7.2004, 2001/13/0053),
- Verfügung der Wiederaufnahme gemäß § 303 Abs. 4 BAO (vgl. zB VwGH 21.5.2005, 2000/15/0115),
- Abänderung gemäß § 295a BAO,
- Festsetzung von Selbstberechnungsabgaben (zB Dienstgeberbeitrag) gemäß § 201 Abs. 2 BAO.
Beispiel (zu § 299 BAO):
Der Abgabepflichtigen (bzw. ihrem Vertreter) wird vor Betriebseröffnung von dem für die Erhebung der Einkommensteuer zuständigen Finanzamt die Auskunft erteilt, dass eine bestimmte Art von Ausgaben als Betriebsausgaben absetzbar ist. Die Auskunft ist nicht offensichtlich unrichtig. Solche Ausgaben werden getätigt. Die Rechtsauskunft wird der Einkommensteuererklärung zu Grunde gelegt. Die Veranlagung erfolgt erklärungsgemäß.
Dem Finanzamt wird bekannt, dass das Bundesministerium für Finanzen eine gegenteilige Rechtsauffassung vertritt. Daher erweist sich (nach Ansicht des Finanzamtes) der rechtskräftige Einkommensteuerbescheid als nicht richtig (im Sinn des § 299 Abs. 1 BAO). Der Grundsatz von Treu und Glauben steht einer Aufhebung des Einkommensteuerbescheides entgegen.
Bei der Ermessensübung für die Frage, ob eine Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen (§ 303 Abs. 4 BAO) vorzunehmen ist, wird (nicht zuletzt aus verwaltungsökonomischen Überlegungen) die Unbilligkeit der Einhebung der aus der Wiederaufnahme (bzw. dem neuen Sachbescheid gemäß § 307 Abs. 1 BAO) resultierenden Nachforderung ein gegen die Verfügung der Wiederaufnahme sprechender Umstand sein. Dies gilt vor allem bei aus dem Grundsatz von Treu und Glauben resultierender sachlicher Unbilligkeit der Einhebung.
Beispiel (zu § 303 Abs. 4 BAO):
Bei einer Außenprüfung (§ 147 BAO) wird für den Prüfungszeitraum das Vorliegen der Voraussetzungen für die Umsatzsteuerfreiheit bestimmter Umsätze geprüft und bejaht; die Steuerfreiheit wird ausdrücklich anerkannt.
In den Folgejahren werden für solche Umsätze in den Abgabenerklärungen die näheren Umstände (die sich gegenüber dem Prüfungszeitraum nicht geändert haben) nicht neuerlich offengelegt; die Umsätze werden steuerfrei behandelt.
Eine Folgejahre betreffende Außenprüfung ermittelt neuerlich die (unveränderten) für die Frage der Umsatzsteuerfreiheit maßgebenden tatsächlichen Verhältnisse und beurteilt sie rechtlich abweichend, obwohl sich die maßgebenden Abgabenvorschriften nicht geändert haben. Dies sind die einzigen Prüfungsfeststellungen. Gegen eine Wiederaufnahme der Umsatzsteuerverfahren spricht der Grundsatz von Treu und Glauben (vgl. VwGH 11.12.1996, 94/13/0070).
3. Auskünfte, andere Amtshandlungen
3.1 Rechtsauskünfte
Im Zusammenhang mit nachträglich als unrichtig erkannten Rechtsauskünften setzt die Anwendung von Treu und Glauben insbesondere voraus:
- Die Auskunft wird von der zuständigen Abgabenbehörde erteilt (vgl. zB VwGH 16.9.2003, 99/14/0228; VwGH 22.4.2004, 2000/15/0196).
- Die Auskunft ist nicht offensichtlich unrichtig (zB VwGH 22.9.1999, 94/15/0104; VwGH 16.9.2003, 99/14/0228).
- Die Unrichtigkeit der Auskunft war für die Partei nicht leicht erkennbar.
- Die Partei hat im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen getroffen, die sie bei Kenntnis der Unrichtigkeit der Auskunft nicht oder anders getroffen hätte (vgl. zB VwGH 16.9.2003, 99/14/0228; VwGH 26.5.2004, 2000/14/0090).
- Schaden ("Vertrauensschaden") für die Partei, wenn die Besteuerung entgegen der Auskunft vorgenommen würde.
Für Treu und Glauben ist nicht entscheidend, ob die Auskunft aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung oder "freiwillig" erteilt wurde.
Rechtsgrundlagen für Rechtsauskünfte sind vor allem § 90 EStG 1988 (Lohnsteuerauskunft) und das Auskunftspflichtgesetz.
Bei Rechtsauskünften, denen (geplante) künftige, vom Auskunftswerber im Auskunftsersuchen dargestellte Sachverhalte zugrunde gelegt wurden, ist der Grundsatz von Treu und Glauben nicht anwendbar, wenn der tatsächlich verwirklichte Sachverhalt in wesentlichen Punkten von dem der Auskunft zugrunde liegenden Sachverhalt abweicht oder wenn für die rechtliche Beurteilung wesentliche Sachverhaltselemente verschwiegen worden sind.
Nach § 2 Auskunftspflichtgesetz können Auskunftsbegehren schriftlich, mündlich oder telefonisch erfolgen. Daraus ergibt sich, dass Auskünfte nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich oder telefonisch erfolgen dürfen.
Nicht zuletzt aus Beweisgründen (Inhalt des in der Anfrage dargestellten Sachverhaltes sowie der Auskunft) wird der Schriftform der Vorzug zu geben sein. Als Beweismittel über mündliche oder telefonische Auskünfte kommen Niederschriften (§ 87 BAO) oder Aktenvermerke (§ 89 BAO) in Betracht.
Rechtsauskünfte dürfen nicht vorbehaltlich sich nicht ändernder Rechtsprechung oder vorbehaltlich nicht später ergehender Erlässe oder Weisungen der Oberbehörde erfolgen.
Zulässig ist der Hinweis, dass die Auskunft nicht in Bescheidform ergeht sowie dass der Schutz des Vertrauens auf die Auskunft (nach dem Grundsatz von Treu und Glauben) u.a. voraussetzt, dass der Sachverhalt, welcher der Auskunft zugrunde gelegt ist, im Auskunftsersuchen richtig und vollständig dargestellt ist (und tatsächlich verwirklicht wird).
Nach VwGH 18.10.2005, 2003/16/0486, besteht kein Vertrauensschutz, wenn Auskünfte, die im Widerspruch zur ständigen Judikatur des VwGH stehen, lediglich fernmündlich erteilt wurden. Da eine fernmündliche Auskunft die Möglichkeit von Irrtümern und ungenauen Erklärungen in sich birgt, wäre der Partei bei einer im Widerspruch zur dem Abgabepflichtigen bzw. seinem Vertreter bekannten Judikatur des VwGH stehenden Auskunft zuzumuten gewesen, ihr Auskunftsverlangen schriftlich zu stellen und eine dementsprechende schriftliche Antwort abzuwarten.
Für Treu und Glauben können auch Rechtsauskünfte bedeutsam sein, die ein Finanzamt entgegen § 97 BAO als E-Mail oder Fax erteilt.
3.2 Andere Amtshandlungen
Der Grundsatz von Treu und Glauben schützt nicht ganz allgemein das Vertrauen des Abgabepflichtigen auf die Rechtsbeständigkeit einer allenfalls auch unrichtigen abgabenrechtlichen Beurteilung für die Vergangenheit. Die Behörde ist vielmehr verpflichtet, von einer gesetzwidrig erkannten Verwaltungsübung abzugehen (zB VwGH 15.6.2005, 2002/13/0104; VwGH 3.11.2005, 2003/15/0136).
Nach der Judikatur (zB VwGH 22.3.1995, 92/13/0025; VwGH 10.7.1996, 92/15/0101; VwGH 9.7.1997, 96/13/0185) müssen besondere Umstände vorliegen, die ein Abgehen von der bisherigen Rechtsauffassung unbillig erscheinen lassen.
Dies kann etwa der Fall sein, wenn ein Abgabepflichtiger von der Abgabenbehörde ausdrücklich zu einer bestimmten Vorgangsweise aufgefordert wird und sich nachträglich die Unrichtigkeit dieser Vorgangsweise herausstellt (zB VwGH 24.4.1996, 93/13/0076; VwGH 18.12.1996, 94/15/0151; VwGH 26.6.2002, 98/13/0013).
Beispiel:
In Auswertung eines Prüfungsberichts (§ 150 BAO) wird ein Aufwand aktiviert und auf 10 Jahre abgeschrieben. Es verstößt gegen Treu und Glauben, wenn Jahre später die AfA mit der Begründung, der Aufwand hätte im ersten Jahr oder über eine kürzere Nutzungsdauer abgesetzt werden müssen, nicht anerkannt wird.
Ein Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben setzt voraus,
- dass ein (unrechtes) Verhalten der Behörde, auf das der Abgabepflichtige vertraut hat, eindeutig und unzweifelhaft für ihn bzw. für seinen Vertreter zum Ausdruck gekommen ist, und
- dass der Abgabepflichtige seine Dispositionen danach eingerichtet und er als Folge hievon einen abgabenrechtlichen Nachteil erlitten hat (zB VwGH 4.12.2003, 2003/16/0114; VwGH 21.6.2004, 2003/17/0334; VwGH 18.10.2005, 2003/16/0486).
Wenn eine Behörde ein bestimmtes geschäftliches Verhalten durch Jahre hindurch in Übereinstimmung mit dem Steuerpflichtigen in vertretbarer Weise beurteilt hat und nachfolgend ein und derselbe Vorgang, wenn auch in vertretbarer Weise, anders beurteilt wird, so darf der Wechsel zu dieser anderen vertretbaren Beurteilung dennoch nicht zu einer Doppelbesteuerung führen, da hiedurch Treu und Glauben verletzt werden (VfGH 30.1.1980, B 29/77; Verletzung des Gleichheitssatzes).
Der Umstand, dass eine abgabenbehördliche Prüfung eine bestimmte Vorgangsweise des Abgabepflichtigen unbeanstandet gelassen hat, hindert die Behörde nicht, diese Vorgangsweise für spätere Zeiträume als rechtswidrig zu beurteilen (zB VwGH 20.12.2000, 98/13/0236; VwGH 21.10.2004, 2000/13/0179, 0180; VwGH 15.6.2005, 2002/14/0104).
Wurde allerdings die betreffende Vorgangsweise ausdrücklich als rechtmäßig anerkannt, so spricht der Grundsatz von Treu und Glauben gegen eine abweichende Beurteilung für Folgejahre (vgl. VwGH 11.12.1996, 94/13/0070).
Dies gilt gleichermaßen, wenn
- eine Vorgangsweise bei der Veranlagung "zugelassen" wurde oder
- das Finanzamt eine Vorgangsweise auf Vorschlag der Betriebsprüfung "akzeptiert" hat (VwGH 24.4.1996, 93/15/0076).
3.3 Vertrauensschaden
Der nachsichtsrelevante Betrag ("Vertrauensschaden") ist die Differenz zwischen jener Abgabenschuld, die sich aus dem im Vertrauen auf die Auskunft gesetzten Verhalten ergibt und der Abgabenbelastung, die aus dem Verhalten resultiert wäre, das der Abgabepflichtige gesetzt hätte, wenn ihm eine richtige Auskunft erteilt worden wäre.
Als Verhalten ist nicht nur die Verwirklichung bzw. Nichtverwirklichung des abgabenrelevanten Sachverhalts zu verstehen. Es sind auch andere wirtschaftliche Dispositionen des Abgabepflichtigen zu berücksichtigen, die er bei richtiger Auskunft gesetzt hätte.
Dazu gehört beispielsweise, ob der Abgabepflichtige in Kenntnis einer Abgabepflicht oder einer höheren Abgabepflicht (zB in Kenntnis der Dienstgeberbeitragspflicht oder des höheren Umsatzsteuersatzes) die Mehrbelastungen durch höhere Preise auf seine Kunden überwälzt hätte oder ob die Mehrbelastung Anlass für Kostensenkungsmaßnahmen (zB Kündigung von Arbeitnehmern, Standortverlegungen oder -schließungen) gewesen wäre.
4. Zuständigkeit
4.1 Grundsatz
Der VwGH schützt das Vertrauen nur in Rechtsauskünfte der für die Angelegenheit zuständigen Abgabenbehörde (vgl. zB VwGH 22.4.2004, 2000/15/0196), es bestehe somit kein Schutz bei Rechtsauskünften des Bundesministeriums für Finanzen, wenn ein Finanzamt für die Abgabenfestsetzung zuständig ist (vgl. zB VwGH 14.1.1991, 90/15/0116; VwGH 27.9.2000, 95/14/0079; VwGH 7.6.2001, 98/15/0065). Daher erscheint es für den Abgabepflichtigen empfehlenswert, sich vom zuständigen Finanzamt bestätigen zu lassen, dass es der Rechtsauslegung des Bundesministeriums für Finanzen beitritt.
Für den Vertrauensschutz ist im Allgemeinen nicht ausschlaggebend, ob der die Auskunft erteilende Organwalter der zuständigen Abgabenbehörde nach der (internen) Geschäftsverteilung hiefür zuständig war bzw. (für schriftliche Auskünfte) approbationsbefugt war. Solche Organwalter sind Betriebsprüfer auch dann, wenn sie dem Finanzamt nicht organisatorisch angehören, aber bei der Außenprüfung im Namen des Finanzamtes Amtshandlungen setzen; dies betrifft insbesondere Prüfer der Großbetriebsprüfungen.
Rechtsauskünfte der zuständigen Abgabenbehörde erster Instanz sind unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben nicht nur für erstinstanzliche Abgabenverfahren, sondern auch für das Berufungsverfahren und für aufsichtsbehördliche Maßnahmen der Oberbehörde (zB für Weisungen) bedeutsam.
4.2 Ausnahme (Nachsicht "abgeleiteter" Abgaben)
Von einer solchen Einheitlichkeit ist auch für die Nachsicht von einem Gewinnfeststellungsbescheid (§ 188 BAO) "abgeleiteter" Einkommensteuer oder Körperschaftsteuer bei Rechtsauskünften an eine Mitunternehmerschaft auszugehen.
Wird die Auskunft über eine für die Gewinnermittlung maßgebende Rechtsfrage vom für die einheitliche und gesonderte Feststellung zuständigen Finanzamt erteilt, so reicht dies für Treu und Glauben.
Die Nachsicht wegen sachlicher Unbilligkeit der Einhebung der "abgeleiteten" Einkommensteuer (Körperschaftsteuer) setzt nicht voraus, dass die Rechtsauskunft (zusätzlich) dem betreffenden Abgabepflichtigen von "seinem" für die Erhebung der Einkommensteuer (Körperschaftsteuer) zuständigen Finanzamt erteilt wurde.
5. Erlässe des BMF
5.1 Allgemeines
Erlässe sind keine
- Rechtsquellen(zB VwGH 9.3.2005, 2001/13/0062),
- Rechtsverordnungen (im Sinn des Art. 18 Abs. 2 B-VG),
- Weisungen (im Sinn des Art. 20 Abs. 1 B-VG bzw. des § 44 BDG 1979).
5.2 Ermessensübung
Das Vertrauen auf in Erlässen vertretene Rechtsauffassungen ist ein bei der Übung von Ermessen zu berücksichtigender Umstand.
Nach VwGH 27.11.2003, 2003/15/0087, ist im Rahmen der Ermessensübung (für die Haftungsinanspruchnahme für die Abzugsteuer nach § 99 EStG 1988) eine erlassmäßige Regelung mitzuberücksichtigen, wenn es der Steuerpflichtige im Vertrauen auf die Erlasslage unterlassen hat, von den ausbezahlten Honoraren Steuer abzuziehen und an das Finanzamt abzuführen (vgl. auch VwGH 31.5.1963, 1796, 1797/61, zur damaligen Aufsichtsratsabgabe).
5.3 Kein (grobes) Verschulden
Rechtlich bedeutsam ist das Vertrauen auf die Richtigkeit in Erlässen enthaltener Auslegungen überdies in jenen Bereichen, in denen Rechtsfolgen fehlenden Verschuldens bzw. fehlenden groben Verschuldens zu beurteilen sind.
Dies gilt beispielsweise für den Verspätungszuschlag (§ 135 BAO). Wer im Vertrauen auf erlassmäßige Verlängerungen von Fristen für die Einreichung von Abgabenerklärungen handelt, dem ist kein Verschulden an der verspäteten Einreichung von Abgabenerklärungen anzulasten (er handelt "entschuldbar" im Sinn des § 135 BAO; vgl. zB VwGH 25.1.1980, 3411/79).
Für Säumniszuschläge sind im Allgemeinen den Abgabepflichtigen (bzw. seinen Vertreter), der auf Rechtsauslegungen in Erlässen des Bundesministeriums für Finanzen (bzw. für den Dienstgeberbeitrag des Bundesministerium für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) vertrauend Abgaben selbst berechnet und abführt, kein grobes Verschulden (im Sinn des § 217 Abs. 7 BAO) treffen. Dies betrifft beispielsweise Umsatzsteuervorauszahlungen, Dienstgeberbeiträge, Lohnsteuer und Kapitalertragsteuer. Daher können solche Rechtsauslegungen für Anträge auf Herabsetzung oder Nichtfestsetzung von Säumniszuschlägen bedeutsam sein.
Erlässen kann für auf § 303 Abs. 1 lit. b BAO gestützte Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens weiters Bedeutung zukommen. Wer beispielsweise Ausgaben deshalb nicht als Betriebsausgaben, Werbungskosten, Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastungen in der Einkommensteuererklärung geltend macht, weil die Ausgaben in einem Erlass als nicht abzugsfähig bezeichnet werden, den trifft grundsätzlich kein grobes Verschulden, das der Bewilligung der Wiederaufnahme des Einkommensteuerverfahrens entgegenstehen würde, wenn im Wiederaufnahmsantrag als Folge die Erlassmeinung ablehnender Judikatur oder als Folge einer Änderung von Erlässen des Bundesministeriums für Finanzen die betreffenden Ausgaben offen gelegt werden (dies sind somit für das Abgabenverfahren neu hervorgekommene entscheidungserhebliche Tatsachen im Sinn des § 303 BAO).
Das Vertrauen auf in Erlässen enthaltene Rechtsauslegungen kann auch für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 308 BAO) entscheidungserheblich sein. Wer beispielsweise die Berufungsfrist nur deshalb versäumt, weil er wegen einer Erlassaussage die Geltendmachung abgabenrechtlich bedeutsamer Umstände nicht für aussichtsreich hält, den trifft in der Regel kein Verschulden (zumindest kein über einen minderen Grad des Versehens hinausgehendes Verschulden).
6. Nachsicht zur Durchsetzung des Grundsatzes von Treu und Glauben
6.1 Allgemeines
6.1.1 Unbilligkeit der Einhebung fälliger Abgaben
Fällige Abgabenschuldigkeiten können auf Antrag des Abgabepflichtigen ganz oder zum Teil durch Abschreibung nachgesehen werden, wenn ihre Einhebung nach der Lage des Falles unbillig wäre (§ 236 Abs. 1 BAO).
Die Unbilligkeit der Einhebung kann eine persönliche oder sachliche sein (zB VwGH 30.9.2004, 2004/16/0151; VwGH 11.11.2004, 2004/16/0077).
Eine sachliche Unbilligkeit liegt vor, wenn im Einzelfall bei Anwendung des Gesetzes ein vom Gesetzgeber offenbar nicht beabsichtigtes Ergebnis eintritt (zB VwGH 30.1.2001, 2000/14/0139; VwGH 11.11.2004, 2004/17/0077; VwGH 4.8.2005, 2001/17/0158).
Ein Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben ist eine solche sachliche Unbilligkeit (vgl. zB VwGH 22.4.2004, 2000/15/0196; Richtlinien für die Abgabeneinhebung - RAE, Rz 1664 und 1666).
Noch nicht entrichtete Abgaben können (dem § 236 Abs. 1 BAO zufolge) nur nachgesehen werden, wenn sie fällig sind.
Die Nachsicht setzt stets einen Abgabenanspruch voraus, der abgeschrieben werden kann. Durch Nachsicht kann daher keine Vergütung (Erstattung, Beihilfe) gewährt werden.
6.1.2 Ermessen
Die Nachsicht liegt im Ermessen der Abgabenbehörde (zB VwGH 24.9.2002, 2002/14/0082; VwGH 30.9.2004, 2004/16/0151; VwGH 17.11.2004, 2000/14/0112).
Für die Nachsicht bereits entrichteter Abgabenschuldigkeiten (§ 236 Abs. 2 BAO) ist kein strengerer Maßstab als bei Nachsicht noch nicht entrichteter Abgaben anzulegen (VwGH 20.1.1987, 86/14/0103; VwGH 22.2.2000, 94/14/0144; VwGH 2.6.2004, 2003/13/0156). Übrigens ist die Befristung des Antragsrechts auf Nachsicht bereits entrichteter Abgaben durch das AbgÄG 2005 (BGBl. I Nr. 161/2005) beseitigt worden (durch Aufhebung des zweiten Satzes des § 236 Abs. 2 BAO).
Das bisherige steuerliche Verhalten des Abgabepflichtigen wird für die Übung des Ermessens bei sachlicher Unbilligkeit der Einhebung in der Regel nicht entscheidungserheblich sein. Die Abweisung eines Nachsichtsantrages zwecks "Sanktionierung" der Verletzung abgabenrechtlicher Pflichten kommt somit im Allgemeinen nicht in Betracht.
6.1.3 Antrag
Die Nachsicht von Abgabenschuldigkeiten setzt einenAntrag des Abgabepflichtigen voraus. Wegen der Antragsgebundenheit darf die Nachsicht nicht über den Antrag hinausgehen (VwGH 30.9.2004, 2004/16/0151).
Der Antrag auf Nachsicht ist im Allgemeinen schriftlich einzubringen. Er ist nämlich ein Anbringen zur Geltendmachung von Rechten im Sinn des § 85 Abs. 1 BAO.
Der auf Nachsicht gerichtete Antrag setzt die Rechtskraft der Abgabenvorschreibung nicht voraus (VwGH 29.6.1983, 83/13/0047). Ebenso wenig erfordert die Bewilligung der Nachsicht die formelle Rechtskraft des Abgabenbescheides (oder des Haftungsbescheides), aus dem die Abgabenschuldigkeit resultiert.
Im Nachsichtsverfahren liegt das Hauptgewicht der Behauptungs- und Beweislast beim Nachsichtswerber (zB VwGH 26.2.2003, 98/13/0091; VwGH 28.4.2004, 2001/14/0022). Ihm obliegt es, im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht einwandfrei und unter Ausschluss jeglichen Zweifels das Vorliegen jener Umstände darzutun, auf welche die Nachsicht gestützt werden kann (zB VwGH 25.11.2002, 97/14/0013; VwGH 28.4.2004, 2001/14/0022).
Die Abgabenbehörde hat im Rahmen ihrer amtswegigen Ermittlungspflicht nur die vom Antragsteller geltend gemachten Gründe zu prüfen (zB VwGH 30.6.2005, 2004/16/0276).
6.2 § 3 Z 1 und 2 der Verordnung zu § 236 BAO
6.2.1 Einleitung
Die Verordnung betreffend Unbilligkeit der Einhebung im Sinn des § 236 BAO (BGBl. II Nr. 435/2005) legt in ihrem § 3 an Hand von Beispielen den unbestimmten Rechtsbegriff der sachlichen Unbilligkeit der Einhebung aus.
§ 3 lautet:
"§ 3. Eine sachliche Unbilligkeit liegt bei der Einhebung von Abgaben insbesondere vor, soweit die Geltendmachung des Abgabenanspruches
1. von Rechtsauslegungen des Verfassungsgerichtshofes oder des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn im Vertrauen auf die betreffende Rechtsprechung für die Verwirklichung des die Abgabepflicht auslösenden Sachverhaltes bedeutsame Maßnahmen gesetzt wurden;
2. in Widerspruch zu nicht offensichtlich unrichtigen Rechtsauslegungen steht, die
a) dem Abgabepflichtigen gegenüber von der für ihn zuständigen Abgabenbehörde erster Instanz geäußert oder
b) vom Bundesministerium für Finanzen im Amtsblatt der österreichischen Finanzverwaltung veröffentlicht
wurden, wenn im Vertrauen auf die betreffende Äußerung bzw. Veröffentlichung für die Verwirklichung des die Abgabepflicht auslösenden Sachverhaltes bedeutsame Maßnahmen gesetzt wurden;
3. zu einer internationalen Doppelbesteuerung führt, deren Beseitigung ungeachtet einer Einigung in einem Verständigungsverfahren die Verjährung oder das Fehlen eines Verfahrenstitels entgegensteht."
Die Aufzählung im § 3 der Verordnung ist nicht taxativ. Die Bestimmung schränkt daher den Bereich sachlicher Unbilligkeiten nicht ein.
"Rechtsauslegungen" im Sinn des § 3 Z 1 und 2 der Verordnung sind Auslegungen von Rechtsquellen (insbesondere von Abgabenvorschriften). Ein Vertrauen auf die Auslegung von Bestimmungen eines formell früheren Gesetzes (zB EStG 1972) wird in der Regel dann schutzwürdig sein, wenn der Wortlaut der maßgebenden Normen (zB des EStG 1972 und des EStG 1988) im Wesentlichen ident ist und sich in teleologischer oder systematischer Interpretation kein anderer Begriffsinhalt für die (formell) neue Bestimmung (zB des EStG 1988) ergibt.
Das Vertrauen auf Rechtsauslegungen ist nur schutzwürdig, wenn sich die Rechtslage nicht geändert hat. Es ist nicht erforderlich, dass das Finanzamt Rechtsauskünfte bei Änderung der maßgebenden Abgabenvorschriften ausdrücklich widerruft.
Rechtsauslegungen in Erlässen beziehen sich auf die hiefür maßgebliche Rechtslage.
6.2.2 Vertrauen auf Rechtsauskünfte (§ 3 Z 2 lit. a)
§ 3 Z 2 lit. a der Verordnung gilt unabhängig davon, ob die Rechtsauskunft auf Grund einer ausdrücklichen gesetzlichen Verpflichtung (zB § 90 EStG 1988, Auskunftspflichtgesetz) erfolgt.
Der Begriff der offensichtlichen Unrichtigkeit wird auch in § 293b BAO verwendet. Die diesbezügliche Judikatur wird daher bei der Auslegung des § 3 Z 2 der Verordnung nicht unberücksichtigt zu bleiben haben.
Eine sachliche Unbilligkeit nach § 3 Z 2 lit. a der Verordnung erfordert, dass die Auskunft dem betreffenden Abgabepflichtigen bzw. seinem Vertreter von der hiefür zuständigen Abgabenbehörde erster Instanz erteilt wurde.
Das Vertrauen in Rechtsauskünfte einer Oberbehörde wird durch § 3 der Verordnung nicht geschützt. Daher erscheint es für den Abgabepflichtigen empfehlenswert, sich vom zuständigen Finanzamt bestätigen zu lassen, dass es der Rechtsauslegung der Oberbehörde beitritt.
Abgabepflichtige (im Sinn des § 77 Abs. 1 BAO) sind nicht nur Eigenschuldner, sondern auch Abfuhrpflichtige (zB Arbeitgeber für die Lohnsteuer).
Dem Abfuhrpflichtigen (bzw. seinem Vertreter) erteilte Rechtsauskünfte des für die Erhebung der Abfuhrabgabe zuständigen Finanzamtes sind für die Nachsicht der Abfuhrabgabe selbst, aber auch für die Unbilligkeit der Einhebung beim Eigenschuldner (etwa bei abgabenrechtlicher Erfassung der Bezüge im Wege einer Einkommensteuerveranlagung) bedeutsam.
Beispiel:
Im Vertrauen auf eine dem Arbeitgeber vom Finanzamt (§ 57 Abs. 1 BAO) erteilte Auskunft über die Steuerfreiheit bestimmter Bezüge werden Dienstverträge abgeschlossen und bezüglich dieser Bezüge keine Lohnsteuer einbehalten und abgeführt.
Diese Bezüge werden im Einkommensteuerbescheid des Arbeitnehmers als steuerpflichtig behandelt. Die Einhebung der diesbezüglichen Abgabenschuldigkeit beim Arbeitnehmer ist sachlich unbillig im Sinn des § 3 der Verordnung.
Für die Nachsicht von Feststellungsbescheiden (§ 188 BAO) "abgeleiteter" Abgaben genügt es, wenn die Auskunft über für die Ermittlung der einheitlich und gesondert festzustellenden Einkünfte maßgebliche Fragen der Personenvereinigung (Personengemeinschaft) ohne eigene Rechtspersönlichkeit (zB KG, GesBR) von dem für die Feststellung zuständigen Finanzamt (§ 54 BAO) erteilt wurde. Es ist daher beispielsweise nicht erforderlich, dass die Rechtsauskunft dem Einkommensteuerpflichtigen von seinem Wohnsitzfinanzamt erteilt wurde.
Dies gilt etwa auch für Sonderbetriebsausgaben betreffende Rechtsauskünfte. Ein Vertrauen des diesbezügliche Maßnahmen setzenden Einkommensteuerpflichtigen kann sich diesfalls aus ihm oder aus der Personenvereinigung (Personengemeinschaft) erteilten Auskünften ergeben. Zuständiges Finanzamt (für die Auskunftserteilung) ist in beiden Fällen jenes, dem die einheitliche und gesonderte Feststellung der Einkünfte obliegt.
Für § 3 Z 2 lit. a der Verordnung ist maßgebend, welches Finanzamt für die betreffende Abgabe (bzw. für die einheitliche und gesonderte Feststellung der Einkünfte) im Zeitpunkt der Erteilung der Auskunft zuständig ist. Von diesem Finanzamt erteilte Auskünfte verlieren durch den Übergang der Zuständigkeit (insbesondere gemäß § 73 BAO) nicht ihre Bedeutung für die sachliche Unbilligkeit der Einhebung durch das zuständig gewordene Finanzamt.
6.2.3 Vertrauen auf Judikatur (§ 3 Z 1)
Im Vertrauen auf Rechtsprechung des VwGH oder des VfGH können Maßnahmen nur gesetzt werden, wenn die betreffende Judikatur dem Abgabepflichtigen bzw. seinem Vertreter bekannt war.
Ein Vertrauen auf Rechtsauslegungen des VwGH bzw. des VfGH kann frühestens ab rechtlicher Existenz der betreffenden höchstgerichtlichen Entscheidung (somit ab Zustellung der Entscheidung an die Partei) für die Unbilligkeit im Sinn des § 3 der Verordnung erheblich sein. Maßnahmen "im Vertrauen" auf Rechtsprechung werden somit in der Regel erst ab deren erstmaliger Veröffentlichung gesetzt werden können.
Aus dem demonstrativen Charakter der Aufzählung sachlicher Unbilligkeiten im § 3 der Verordnung ergibt sich kein Verbot, in Einzelfällen das Vertrauen in Rechtsprechung des EuGH oder des OGH im Wege einer Nachsicht zu schützen.
6.2.4 Vertrauen auf Erlässe (§ 3 Z 2 lit. b)
§ 3 Z 2 lit. b der Verordnung verallgemeinert die zu Rechtsauskünften der zuständigen Abgabenbehörde bestehende, auf dem Grundsatz von Treu und Glauben beruhende herrschende Auffassung (vgl. zB VwGH 22.4.2004, 2000/15/0196), weil ein Vertrauen auf im Amtsblatt der österreichischen Finanzverwaltung (AÖF) veröffentlichte Rechtsauslegungen des Bundesministeriums für Finanzen gleichermaßen schutzwürdig erscheint.
Rechtsauslegungen des Bundesministeriums für Finanzen fallen unabhängig davon unter § 3 der Verordnung, ob sie als Richtlinien bezeichnet werden. Entscheidend ist jedoch, dass sie im AÖF veröffentlicht sind.
Nicht unter § 3 Z 2 lit. b der Verordnung fallen somit beispielsweise lediglich in Fachzeitschriften abgedruckte Einzelerledigungen, Pressemitteilungen, Stellungnahmen gegenüber dem Rechnungshof oder der Volksanwaltschaft, parlamentarische Anfragebeantwortungen, nur im Internet (auf der Homepage des Bundesministeriums für Finanzen) veröffentliche Informationen sowie Broschüren.
Maßnahmen werden nur dann im Vertrauen auf einen im AÖF veröffentlichten Erlass gesetzt, wenn die betreffende Rechtsauslegung dem Abgabepflichtigen bzw. seinem Vertreter bekannt war.
Bei Erlässen ist der früheste (vertrauensrelevante) Zeitpunkt jener der Veröffentlichung im AÖF. Ein Vertrauen auf Erlassentwürfe ist ebenso wenig wie die Kenntnis unterschriebener, aber nicht im AÖF veröffentlichter (oder dort noch nicht veröffentlichter) Erlässe für die Unbilligkeit gemäß § 3 Z 2 der Verordnung bedeutsam.
Für die Nachsicht wegen sachlicher Unbilligkeit der Einhebung "abgeleiteter" Abgaben ist nicht erforderlich, dass die im Vertrauen auf Rechtsauslegungen gesetzten Maßnahmen von Abgabepflichtigen selbst gesetzt wurden. Es reicht, wenn die Maßnahmen, die für die Höhe der einheitlich und gesondert festzustellenden Einkünfte bedeutsam sind, von der Personenvereinigung (Personengemeinschaft) ohne eigene Rechtspersönlichkeit gesetzt wurden.
Aus dem demonstrativen Charakter der Aufzählung sachlicher Unbilligkeiten im § 3 der Verordnung ergibt sich kein Verbot, in Einzelfällen das Vertrauen auch in (noch) nicht im AÖF veröffentlichten Erlässen im Wege einer Nachsicht zu schützen.
7. Hinweise
Die vorstehenden Ausführungen stellen die Rechtsansicht des Bundesministeriums für Finanzen dar, die im Interesse einer bundeseinheitlichen Vorgangsweise mitgeteilt wird. Über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehende Rechte und Pflichten werden dadurch weder begründet noch können solche aus dem Erlass abgeleitet werden.
Der Erlass des Bundesministeriums für Finanzen vom 26. Jänner 1995, 05 0301/2-IV/5/94, AÖF Nr. 70/1995, wird aufgehoben.
Bundesministerium für Finanzen, 6. April 2006