OGH 7Ob221/20f

OGH7Ob221/20f27.1.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der 1. Minderjährigen M***** P*****, geboren am ***** 2009, vertreten durch 2. S***** P*****, 3. D***** P*****, alle *****, vertreten durch Prof. Haslinger & Partner, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei S***** GesmbH, *****, vertreten durch Dr. Robert Wiesler, Rechtsanwalt in Graz, wegen 290.000 EUR sA und Feststellung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 8. Oktober 2020, GZ 7 R 13/20s‑102, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0070OB00221.20F.0127.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] Das Verfahren hinsichtlich der Zweitklägerin und des Drittklägers ruht.

[2] 1. Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Mangel des erstgerichtlichen Verfahrens, der in einem Rechtsmittel geltend gemacht, vom Gericht zweiter Instanz aber verneint wurde, im Revisionsverfahren nicht mehr gerügt werden (RS0042963, RS0106371). Eine Entscheidung des Rechtsmittelgerichts über eine Mängel‑ oder Beweisrüge ist mangelfrei, wenn es sich – wie hier – mit dieser befasst, das Verfahren des Erstgerichts überprüft und nachvollziehbare Überlegungen über die Beweiswürdigung anstellt und in seiner Entscheidung festhält (RS0043150, RS0043144). Eine unvollständige, widersprüchliche oder sonst fehlerhafte Beweiswürdigung begründet – entgegen der Ansicht der Beklagten – auch keine Nichtigkeit im Sinn des § 477 Abs 1 Z 9 ZPO (RS0106079).

[3] 1.1 Den von der Beklagten in der Befangenheit des Sachverständigen erblickten Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens hat das Berufungsgericht verneint. Das Vorgehen des Berufungsgerichts auf seine – in die Berufungsentscheidung aufgenommenen – Ausführungen zum Rekurs der Beklagten gegen die Abweisung ihrer vier Ablehnungsanträge zu verweisen, stellt kein einen Verfahrensmangel begründendes Unterbleiben der Befassung mit der Mängelrüge dar.

[4] 1.2 Entgegen denAusführungen der Beklagten behandelte das Berufungsgericht im Rahmen der Erledigung der Beweisrüge auch die von der Beklagten behaupteten (scheinbaren) Widersprüche des Sachverständigengutachtens und legte die Gründe dar, aus denen es von dessen Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit ausging, sodass auch diese behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nicht vorliegt. Die Vollständigkeit und Schlüssigkeit eines Sachverständigengutachtens und die allfällige Notwendigkeit einer Ergänzung oder eines Vorgehens nach § 362 Abs 2 ZPO fällt dagegen in den Bereich der vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbaren Beweiswürdigung (RS0113643).

[5] 1.3 Die Ansicht, dass die Geltendmachung des Berufungsgrundes der unrichtigen Beweiswürdigung die bestimmte Angabe erfordert, welche Beweise das Erstgericht unrichtig gewürdigt habe, aus welchen Erwägungen sich dies ergebe und welche Tatsachenfeststellungen bei richtiger Beweiswürdigung zu treffen gewesen wären, entspricht ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (RS0041835). Die vom Berufungsgericht seiner Erledigung der Beweisrüge zugrunde gelegte – nach den einzelnen bekämpften Feststellungen differenzierende – Auffassung, die Beklagte habe ihre Tatsachenrüge (teilweise) nicht gesetzmäßig ausgeführt, bildet keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung, zumal die Beklagte die Unrichtigkeit des Vorgehens des Berufungsgerichts bloß pauschal behauptet, die ihrer Meinung nach ordnungsgemäß bekämpften Feststellungen aber nicht bestimmt bezeichnet.

[6] 2.1 Im Rahmen des zu beurteilenden ärztlichen Behandlungsvertrags schuldete die beklagte Krankenhausträgerin der Erstklägerin die Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst durch ihr Fachpersonal. Dafür ist der aktuelle Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft maßgeblich (vgl RS0123136 [insbes T2]). Ärzte haben nach § 1299 ABGB den Mangel der gewissenhaften Betreuung ihrer Patienten nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung zu vertreten, also jene Sorgfalt, die von einem ordentlichen und pflichtgetreuen Durchschnittsarzt in der konkreten Situation erwartet wird (RS0038202). Der vom Arzt einzuhaltende Sorgfaltsmaßstab wird demnach durch die typischen und demnach objektiv bestimmten Fähigkeiten eines Angehörigen des betreffenden Verkehrskreises vorgegeben. Entscheidend ist der Leistungsstandard der betreffenden Berufsgruppe (RS0026541). Bei § 1299 ABGB geht es somit um den durchschnittlichen Fachmann des jeweiligen Gebiets, der prinzipiell der Maßgerechte im Sinn dieser Bestimmung ist (RS0026535). Ob dieser Sorgfaltsmaßstab bei einer konkreten ärztlichen Maßnahme eingehalten wurde, wirft grundsätzlich keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf (vgl RS0026535 [T8]).

[7] 2.2 Bei der am 27. 8. 2009 in der 33. Schwangerschaftswoche geborenen Erstklägerin wurde am 4. 11. 2009 ein angeborener linksseitiger Leistenbruch operativ versorgt. Um 7:41 Uhr begann die Zufuhr von Sevoflurane. Um 8:06 Uhr trat erstmals eine Bradykardie auf. Trotz dem weiteren mehrfachen Auftreten von Bradykardien – teilweise im Abstand von wenigen Minuten – wurde Sevoflurane in zu hoher Dosis verabreicht; die Überexposition erhöhte sich durch die zusätzliche Gabe von Lachgas, Propofol, Fentanyl und Midazolam sowie einem Kaudalblock. Fachgerecht wäre eine Intubation unmittelbar nach dem Auftreten der hämodynamischen Komplikationen gewesen. Eine solche wurde erst von dem um 8:20 Uhr angeforderten Kinderarzt um 8:42 Uhr durchgeführt. Diese Delegierung des Atemwegsmanagements durch die Anästhesisten entsprach nicht dem ärztlichen Standard zum Zeitpunkt der Durchführung der Operation. Nach Stabilisierung der Erstklägerin um 9:05 Uhr wurde um 9:11 Uhr mit der chirurgischen Intervention begonnen. Nach der Intubation trat bei der Erstklägerin eine Art epileptischer Anfall auf. Es vergingen zwei Tage zwischen der intraoperativen Komplikation und der diagnostischen Abklärung, sodass eine therapeutische Intervention und auch die Beiziehung eines Neurologen unterblieb. Die postoperative intensivmedizinische Betreuung der Erstklägerin erfolgte gleichfalls nicht nach den anerkannten Regeln der Medizin. Dieses Verhalten der Ärzte der Beklagten führte zu einer schweren Hirnschädigung der Erstklägerin; andere Ursachen sind für den bei ihr vorliegenden Zustand nicht wahrscheinlicher.

[8] 2.3 Die von den Vorinstanzen vorgenommene Beurteilung, es liege ein kausaler – die Haftung begründender – Behandlungsfehler durch das Unterlassen einer zeitnahen Intubation, der Reduktion der Sevoflurane und einer raschen postoperativen Diagnostik und Therapie der Erstklägerin vor, gegen die die Beklagte keine Argumente vorbringt, ist daher nicht korrekturbedürftig.

[9] 2.4 Aufgrund der Bejahung eines kausalen Behandlungsfehlers erübrigt sich ein Eingehen auf die Rechtsnatur des österreichischen Strukturplans Gesundheit 2008 und die von der Beklagten daran anknüpfende Bestreitung nach einer (zusätzlichen) Verletzung der Aufklärungspflicht.

[10] 3. Bei Verbindung einer rechtzeitigen Leistungsklage mit einer später erfolgreichen Feststellungsklage wird die nach Ablauf der ursprünglichen Verjährungsfrist erfolgte Ausdehnung eines Schmerzengeld- (2 Ob 68/18s) und Verunstaltungsentschädigungsbegehrens (10 Ob 86/01x mwN) als zulässig angesehen, auch wenn sie nicht auf neue Schadenswirkungen, sondern auf die Ergebnisse eines für den Kläger (unverhofft) günstigen Sachverständigengutachtens gestützt wird (2 Ob 33/09f, 2 Ob 68/18s, RS0031702 [T3]). Davon ausgehend hält sich die Beurteilung der Vorinstanzen, dass sich die Unterbrechungswirkung des Feststellungsbegehrens der Erstklägerin auch auf die erst im Wege der Klagsausdehnung geltend gemachten Schmerzengeld‑ und Verunstaltungsentschädigungsbeträge bezieht, die in den abschließenden, die Entwicklung der Erstklägerin bis Oktober 2018 berücksichtigenden, Ergebnissen der Gutachten zu den konkret erlittenen Beeinträchtigungen und Folgen der Fehlbehandlung gründen, im Rahmen der oberstgerichtlichen Rechtsprechung.

[11] 4. Dieser Beschluss bedarf keiner weiteren Begründung (§ 510 Abs 3 ZPO).

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