BVwG L532 2284924-1

BVwGL532 2284924-13.9.2024

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §13 Abs2 Z2
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:L532.2284924.1.00

 

Spruch:

 

L532 2284924-1/13E

Schriftliche Ausfertigung des in der Verhandlung am 02.07.2024 mündlich verkündeten Erkenntnisses

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Georg WILD-NAHODIL als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.12.2023, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG 2005 nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 02.07.2024 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis VI. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Hinsichtlich des Spruchpunktes VII. wird der Beschwerde stattgegeben und der bekämpfte Bescheid in diesem Umfang ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin (i.d.F. „BF“), eine türkische Staatsangehörige, stellte am 05.08.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte die BF im Zuge ihrer polizeilichen Erstbefragung am folgenden Tag zum Fluchtgrund im Wesentlichen vor, ihr Vater sei in der Türkei wegen einer falschen Beschuldigung im Gefängnis gewesen. 2019 sei ihr Vater nach Österreich geflüchtet. Es sei nach dem Vorfall des Vaters schwierig gewesen, eine Arbeit in der Türkei zu finden. Auch die Mutter der BF lebe in Österreich. Die BF habe gemeinsam mit ihrer Schwester bei ihrer Großmutter und ihrem Onkel in der Türkei gelebt. Die Großmutter und der Onkel hätten viel Druck auf die BF und ihre Schwester ausgeübt, weshalb die BF zu ihren Eltern wolle. Der Onkel habe außerdem die Schwester der BF bedroht. Die BF wolle nicht mehr in die Türkei, weil es dort kein Leben mehr für sie gebe. Sie sei in der Türkei nicht in Sicherheit und habe Angst vor ihrer Familie.

2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde die BF am 21.04.2023 vor der belangten Behörde (i.d.F. „bB“ oder „Bundesamt“) einvernommen. Im Wesentlichen gab sie befragt zu ihrem Fluchtgrund an, ihr Vater sei in der Türkei zu einer Haftstrafe in der Dauer von 26 Jahren wegen Mitgliedschaft bei einer Terrororganisation und Mitgliedschaft bei der HDP verurteilt worden. Vor der Haustüre seien ständig sowohl uniformierte Polizisten als auch Polizisten in Zivil gewesen. Wegen der Verurteilung des Vaters habe die BF nicht Rechtswissenschaften studieren dürfen. Sie habe stattdessen Innenarchitektur studiert, sei allerdings nicht weit gekommen. Die BF sei auch in der Handelsakademie gewesen und habe Buchhaltung gelernt. Da die BF der kurdischen Volksgruppe angehöre und ihr Vater verurteilt worden sei, habe sie keine Arbeitsstellen in diesem Bereich bekommen und sei diskriminiert worden. Nachdem die Eltern der BF nach Österreich gezogen seien, hätte die Familie, vor allem väterlicherseits, Druck auf die BF und ihre Schwester wegen freizügiger Bekleidung und Tattoos ausgeübt. Das Leben in der Türkei sei für die BF und ihre Schwester als alleinstehende Frauen schwierig gewesen. Die Schwester sei damals verlobt gewesen und habe kurz vor der Ausreise aus Österreich geheiratet. Die BF habe in der elterlichen Wohnung gelebt, weshalb die Familie Druck ausgeübt habe. Die BF habe die Türkei verlassen, da sie ihr Leben, beispielsweise im Hinblick auf ihre Studienwahl, nicht selbstbestimmt habe führen können. Im Falle der Rückkehr befürchte die BF, keine Unterkunft zu haben. Die Wohnung gehöre ihrem Vater und habe sie keinen Kontakt zu ihrem Onkel. In der Türkei könne sie kein normales Leben führen. Ihre Eltern würden in Österreich leben und wolle die BF daher in Österreich bleiben.

3. Mit Verständigung des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 20.07.2023 wurde das Bundesamt über die Anklageerhebung gegen die BF wegen §§ 288 Abs 1, 288 Abs 4 StGB und § 297 Abs 1 zweiter Fall StGB verständigt.

4. Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes vom 30.10.2023 wurde der BF der Verlust ihres Aufenthaltsrechtes wegen eingebrachter Anklage einer gerichtlich strafbaren Handlung durch die Staatsanwaltschaft, die nur vorsätzlich begangen werden kann, mitgeteilt.

5. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 12.12.2023, Zl. XXXX , wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde der BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung der BF in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG 2005 wurde der BF eine Frist von 14 Tagen für eine freiwillige Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 13 Abs 2 Z 2 AsylG 2005 hat die BF ihr Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 20.07.2023 verloren (Spruchpunkt VII.). Mit Informationsblatt vom selben Tag wurde der BF ein Rechtsberater gem. § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

Beweiswürdigend legte die bB (im Hinblick auf die inhaltliche Entscheidung zum Antrag auf internationalen Schutz) im Wesentlichen dar, die BF habe keine physische Bedrohung oder Verfolgung vorgebracht. Die von ihr vorgebrachten Probleme mit ihren Großeltern seien auch bei Wahrunterstellung nicht asylrelevant. Es sei glaubhaft, dass die BF in der Türkei aufgrund ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit und der strafrechtlichen Verurteilung ihres Vaters diskriminiert worden sei, jedoch erreiche diese Diskriminierung keine asylrelevante Intensität. Das Vorbringen der BF sei nicht dazu geeignet, eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne der GFK bzw. ein relevantes Bedrohungsszenario im Hinblick auf einen subsidiären Schutzbedarf aufzuzeigen. Ein relevantes, die öffentlichen Interessen übersteigendes, Privat- und Familienleben liege ebenso wenig vor.

6. Gegen den der BF am 18.12.2023 zugestellten Bescheid des Bundesamtes richtet sich die am 08.01.2024 von der vormaligen Rechtsvertretung eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (i.d.F. „BVwG“). Im Wesentlichen wird im Beschwerdeschriftsatz dargelegt, die vom Bundesamt getätigten Schlussfolgerungen zum Vorbringen der BF entbehre einer tragfähigen Begründung. Das Bundesamt habe Teile des Vorbringens ignoriert und sei auf den hier relevanten Themenkreis nicht eingegangen. Es fehlen daher entsprechende konkrete Feststellungen und sei die Beweiswürdigung daher unschlüssig. Folglich sei auch keine richtige rechtliche Beurteilung erfolgt. Die Schlussfolgerung des Bundesamtes, wonach die von der BF erlittene Beeinträchtigung bzw. Verfolgung nicht asylrelevant sei, könne nachvollzogen werden, jedoch nicht, wenn das türkische Sicherheitsapparat berücksichtigt werde.

7. Am 08.02.2024 langte beim erkennenden Gericht eine Beschwerdeergänzung sowie Vollmachtsvorlage der im Spruch ausgewiesenen Rechtsvertretung ein. Im Wesentlichen wurde in der Beschwerdeergänzung vorgebracht, die Schwester der BF sei nach Rückkehr in die Türkei erneut in das Bundesgebiet eingereist und habe am 16.08.2023 erneut einen Asylantrag gestellt. Es sei nicht ausreichend gewürdigt worden, dass der Vater der BF asylberechtigt sei. Es hätte zudem geprüft werden müssen, inwieweit die bestehende Verfolgungsgefahr des Vaters Auswirkungen auf die Situation der BF habe. Auch nach der Flucht der Eltern sei regelmäßig ein schwarzes Auto mit Zivilpolizisten vor der Tür gestanden, um die Familie zu beobachten. Die BF sei an einer Haltestelle zu ihren Eltern befragt worden, woraufhin sie bald das Land verlassen habe. Minderheiten, insbesondere Kurden, würden in der Türkei außerdem überall und in vielen Lebensbereichen systematisch benachteiligt werden. Zudem habe die BF in Österreich einen Mann kennengelernt, mit dem sie eine Beziehung geführt habe. Dieser sei gegenüber der BF gewalttätig gewesen und habe die BF ihn daher angezeigt. Nachdem der genannte Mann ihr mitgeteilt habe, dass er im Falle einer Verurteilung abgeschoben und in seinem Herkunftsstaat aufgehängt werde, habe die BF jedoch die Anzeige zurückgezogen. Aus diesem Grund sei gegen die BF Anklage wegen falscher Zeugenaussage und Verleumdung erhoben worden, wobei das Verfahren vorläufig eingestellt worden sei. Der genannte Mann sei erneut gewalttätig gegenüber der BF gewesen und habe die BF eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt. Sollte der BF weder Asyl noch subsidiärer Schutz gewährt werden, so sei ihr eine Aufenthaltsberechtigung „besonderer Schutz“ zu erteilen, die zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich sei.

8. Am 02.07.2024 wurde vor dem BVwG die beantragte mündliche Verhandlung im Beisein der BF, ihrer Rechtsvertretung sowie einer Dolmetscherin für die türkische Sprache durchgeführt. Ein Vertreter der bB ist nicht erschienen. Die mündliche Verhandlung gestaltete sich wie folgt:

„[…]

RI: Wollen Sie ergänzende Beweismittel vorlegen?

RV: Ja.

 

RV legt vor:

 Teilnahmebestätigung Deutsch A2

 Anmeldebestätigung A2

 Einstellungszusage

 Negative Beschäftigungsbewilligung

 Antrag auf Beschäftigungsbewilligung

 Engagement Vereinbarung als freiwillige Mitarbeiterin

 Unterstützungsschreiben der Mutter

 Türkischsprachige strafgerichtliche Unterlagen betreffend der Vater der BF

 Kopie des positiven Asylbescheides des Vaters der BF vom 18.07.2019

 Türkischsprachige einstweilige Verfügung der Schwester der BF ( XXXX ) gegenüber der Großmutter der BF

(werden in Kopie zum Akt genommen)

 

RI: Mit der Ladung wurde Ihnen das aktuelle Länderinformationsblatt übermittelt. Haben Sie eine diesbezügliche schriftliche Stellungnahme vorbereitet oder möchten Sie am Ende der Verhandlung mündlich zum Länderinformationsblatt Stellung beziehen?

RV: Nein.

 

RI: Haben sich seit der letzten Einvernahme beim Bundesamt neue Umstände in Bezug auf Ihre Integration in Österreich (z. B. Deutschkenntnisse, Fortbildung, Erwerbstätigkeit) ergeben?

BF: Ich lerne Deutsch und mache ehrenamtliche Tätigkeiten. Ich gehe einer Arbeit nach und in meiner Freizeit kümmere ich mich um meinen jüngeren Bruder.

 

RI: Haben Sie einen Deutschkurs abgeschlossen? Wenn ja, welches Zertifikat haben Sie zuletzt erworben?

BF: Derzeit befinde ich mich auf dem A2/2 Niveau, in 3 Wochen ist der Kurs abgeschlossen. Nachgefragt gebe ich an, dass ich noch keinen Deutschkurs abgeschlossen habe. Da mein Kurs unentgeltlich ist, findet keine Prüfung statt, sondern nur eine Teilnahme.

 

RI: Gehen Sie einer Erwerbstätigkeit in Österreich nach?

BF: Eine freiwillige Arbeit.

 

RI: Was machen Sie da?

BF: In einem Heim helfe ich Mitarbeitern, egal welche Bedürfnisse sie haben. Nachgefragt, ich helfe den Mitarbeitern.

 

RI: Haben Sie in Österreich Familienangehörige oder Verwandte?

BF: Meine Mutter, mein Vater, einen jüngeren Bruder und eine ältere Schwester.

 

RI: Über welchen Aufenthaltstitel verfügen diese Personen?

BF: Allen wurde Asyl gewährt, bis auf meine ältere Schwester, ihren Mann und den Kindern. Meine Eltern und mein jüngerer Bruder haben einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Mein Bruder ist 9 Jahre alt. Nachgefragt gebe ich an, dass meine ältere Schwester sowie deren Familie ebenfalls im Asylverfahren befindlich sind.

 

RI: Bestehen finanzielle Abhängigkeiten oder ein anderer Nahebezug zwischen Ihnen und diesen Personen, wohnen Sie beispielsweise mit diesen Personen in einer gemeinsamen Unterkunft?

BF: Da sich meine Eltern scheiden ließen, lebt meine Mutter in einem Mutter-Kind-Haus. Darum kann ich nicht bei ihnen wohnen und ich lebe woanders. Aber wir haben sehr oft Kontakt.

 

RI: Leben Sie in einer Asylunterkunft?

BF: Nein.

 

RI: Wo dann?

BF: Ich lebe im XXXX Bezirk in Wien mit einer Freundin gemeinsam.

 

RI: Haben Sie Angehörige in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union?

BF: In Frankreich habe ich 3 Onkel mütterlicherseits, eine Tante mütterlicherseits in Deutschland. Wenn es noch weiter Verwandte gibt, dann weiß ich das nicht.

 

RI: Wie verbringen Sie Ihr Leben und Ihre Freizeit in Österreich?

BF: Ich schaue mir Deutschvideos an, beschäftige mich mit meinem jüngeren Bruder, ich mache Aufgaben mit ihm, gehe mit meinen Freunden aus. Manchmal besuche ich an Wochenenden meine ältere Schwester in XXXX . Ich versuche, soweit es mir möglich ist, meine Freizeit mit meiner Familie zu verbringen.

 

RI: Was können Sie mir über Ihre Freunde in Österreich erzählen?

BF: Sie sind sehr respektvoll. Da mein Deutsch nicht so gut ist, sind sie mir sehr behilflich. Ich habe 2 Freunde von meinem Arbeitsplatz, ein Mädchen und ein Junge. Wir lernen gemeinsam Deutsch, sie helfen mir dabei.

 

RI: Wie viele Freunde haben Sie ungefähr in Österreich?

BF: Ich habe 4 enge Freunde.

 

RI: Wo haben Sie diese kennengelernt?

BF: 2 Freunde am Arbeitsplatz, 2 im Instagram.

 

RI: Führen Sie in Österreich eine Beziehung?

BF: Nein, aber ich habe einen engen Freund.

 

RI: Sind Sie in Österreich in Vereinen oder ehrenamtlich aktiv?

BF: Ich besuche einen kurdischen Verein. Ich nehme lediglich nur teil an Demonstrationen, Versammlungen. Wir sitzen zusammen, wenn ich Zeit habe.

 

RI: Was würden Sie in Österreich machen, wenn Sie hier bleiben könnten?

BF: Ich möchte eine Schule besuchen und einer Arbeit nachgehen. Ich möchte Krankenschwester werden.

 

RI: Sind Sie gesund und arbeitsfähig?

BF: Ja.

 

RI: Sind Sie derzeit wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in Österreich in medizinischer Behandlung oder nehmen Medikamente?

BF: Bevor ich hierherkam hatte ich Herzbeschwerden, derzeit nicht.

 

RI: Sind Sie in Österreich bisher straffällig geworden (Verwaltungsübertretung, gerichtliche Verurteilung oder derzeitig anhängiges Verfahren)?

BF: Ja, es kann sein, dass es ein Verfahren gegen mich gibt. Da man 2-mal Gewalttätig gegen mich war. Bei einem Mal musste ich meine Aussage zurückziehen, es handelte sich um einen Iraner, der mittlerweile in den Iran abgeschoben wurde. Dem Iraner wurde mit dem Umbringen bedroht und aus Gewissensgründen habe ich die Aussage zurückgezogen. Ich erhielt wegen einer falschen Zeugenaussage eine 2-jährige Strafe.

 

RI erläutert der BF die Diversion.

 

RI: Die folgende Frage wird (ohne Dolmetscher) auf Deutsch gestellt und die Antwort wortwörtlich protokolliert:

 

RI: „Sprechen Sie Deutsch?“

BF: Ja. Ich kann Deutsch.

 

RI: „Mit wem unterhalten Sie sich auf Deutsch?“

BF: Wie bitte?. Mit wem.. Mit meinen Bruder. Er kann mehr als ich deutsch. Ich habe auch hier Freunde, wir reden deutsch.

 

RI: „Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?“

BF: Ich verbringe meine Freizeit Deutsch lernen, neue etwas. Können Sie nochmal fragen.

 

RI wiederholt die Frage.

BF: Ich verbringe meine Freizeit draußen gehen, Deutsch lernen und reden manchmal meine Freunde. Ich gehe auch manchmal kurdische Party.

 

Die weitere Befragung erfolgt wieder mit Dolmetscherin.

 

RI: Gibt es zu diesem Fragenkomplex (Integration, Leben in Österreich) Fragen des RV?

RV: Wie oft haben Sie Kontakt zu Ihrer Mutter bzw. Ihrem Bruder?

BF: Da ich nicht bei ihnen nächtigen kann, verbringe ich meinen ganzen Tag bei ihnen.

 

RV hat keine weiteren Fragen.

 

RI: Welche Ausbildung haben Sie im Herkunftsstaat genossen?

BF: Ich ging 12 Jahre zur Schule, 4 Jahre Volkschule, 4 Jahre Hauptschule und 4 Jahre Lyzeum. Ich wollte Rechtsanwältin werden, das ging aber wegen meines Vaters nicht. Ich habe den Beruf als Innenarchitektin erlernt.

 

RI: Welche Berufserfahrung haben Sie im Herkunftsstaat gesammelt?

BF: Ich habe 3 Jahre bei XXXX gearbeitet und war Chefin. Ich habe in einer Firma namens XXXX gearbeitet, aber nicht lange, das ist ein Käsegeschäft. Eigentlich war ich nur bei XXXX .

 

RI: Wie würden Sie Ihre eigene wirtschaftliche Lage in der Türkei einschätzen?

BF: Unsere wirtschaftliche Lage war in der Türkei nicht schlecht. Das war aber damals. Jetzt ist die Lage in der Türkei schlecht.

 

RI: Wer von Ihrer Familie bzw. Ihrer Verwandtschaft lebt noch im Herkunftsstaat und wo?

BF: Die Familie meines Vaters lebt in Izmir. Die Familie meiner Mutter lebt in Bursa.

 

RI: Welche Familienangehörige haben Sie noch genau in der Türkei?

BF: Die Mutter meiner Mutter, meine Tante mütterlicherseits, die Mutter meines Vaters und 3 Geschwister von ihm. Sein Vater ist auch in der Türkei.

 

RI: Haben Sie seit der Ausreise Kontakt mit Familienangehörigen oder Verwandten in Ihrem Herkunftsstaat? Wann zuletzt und mit wem?

BF: Mit der Familie meines Vaters habe ich keinen Kontakt, nur mit der Familie meiner Mutter.

 

RI: Wie regelmäßig haben Sie Kontakt?

BF: Mindestens 1-mal, meine Mutter hat öfter Kontakt. Nachgefragt gebe ich an, dass ich wöchentlich mindestens 4-mal Kontakt habe.

 

RI: Wie geht es Ihren Angehörigen im Herkunftsstaat?

BF: Die Eltern meiner Mutter sind krank. Meine Tante mütterlicherseits hat Krebs. Ich denke die Familie meines Vaters geht es gut, da ich keinen Kontakt zu ihnen habe, weiß ich es nicht.

 

RI: Wie alt sind Ihre Großeltern und Ihre Tante mütterlicherseits?

BF: Meine Tante müsste ca. 35 Jahre alt sein, meine Großeltern ca. 70 Jahre alt. Ich bin mir nicht sicher.

 

RI: Wie finanzieren Ihre Großeltern und Ihre Tante mütterlicherseits im Herkunftsstaat deren Leben?

BF: Meine Großeltern beziehen eine Pension und sind im Besitz eines Hauses, sodass sie keine Miete zahlen brauchen. Der Ehemann meiner Tante arbeitet am Bau.

 

RI: Wie würden Sie die wirtschaftliche Lage Ihrer Familie mütterlicherseits einschätzen?

BF: Es müsste Mittelschicht sein.

 

RI: Wie groß ist das Haus der Großeltern mütterlicherseits?

BF: 1 Schlafzimmer, 1 Wohnzimmer und eine Küche. Nachgefragt gebe ich an, dass das Haus eigentlich nicht klein ist, denn die Räume sind groß. In Quadratmeter kann ich es nicht abschätzen.

 

RI: Hat das Haus nur 3 Räume?

BF: Ja. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Bad und ein Vorraum.

 

RI: Haben Sie jemals bei Ihren Großeltern mütterlicherseits gewohnt oder übernachtet?

BF: Als ich ins Lyzeum ging, war ich ca. 1 bis eineinhalb Monate bei ihnen.

 

RI: Wo haben Sie bis zum Tag Ihrer Ausreise überall gewohnt? Geben Sie bitte konkret den jeweiligen Wohnort und bei wem Sie gegebenenfalls gewohnt haben an.

BF: Ich habe bis zur Ausreise mit der Familie meines Vaters in einer Wohnung in Izmir gelebt.

 

RI: Wo hält sich Ihre Schwester XXXX derzeit auf?

BF: In XXXX .

 

RI: Seit wann?

BF: Ca. 6 Monate.

 

RI: Können Sie mir Ihre Adresse im Heimatland bekanntgeben?

BF: Izmir, XXXX , XXXX .

 

RI: Ihre mit Ihnen ausgereiste Schwester XXXX hält sich inzwischen wieder in Österreich auf, kehrte aber zunächst nach Asylantragsstellung in die Türkei zurück (siehe BFA-EV, AS 102). Wo hielt sich XXXX auf als sie in der Türkei war?

BF: Meine Schwester war zum Zeitpunkt unserer Einreise nach Österreich schwanger, als sie in der Türkei zurückkehrte blieb sie bei ihrem Mann und seiner Familie. Da sie außerehelich schwanger wurde, hatte sie ihr Schwiegervater nicht bei sich aufgenommen.

 

RI: Von welchem Ort im Heimatland haben Sie Ihre Ausreise begonnen?

BF: Vom Flughafen Adnan Menderes.

 

RI: Wann war die Ausreise?

BF: Am 29.07.2022.

 

RI: Erzählen Sie mir wie der Tag der Ausreise abgelaufen ist.

BF: Wir besorgten uns ein paar Tage davor ein Flugticket. Ich, meine ältere Schwester und ihr Verlobter und die Mutter ihres Verlobten fuhren zum Flughafen und wir stiegen in das Flugzeug zu.

 

RI: Über welche Länder und mit welchen Transportmitteln kamen Sie nach Österreich?

BF: Wir flogen bis Bosnien-Herzegowina, dort blieben wir 3 Tage. Wir wurden in ein großes schwarzes Auto gesteckt. Welche Länder wir danach durchreisten, weiß ich nicht. Wir mussten wo aussteigen und machten einen 10-stündigen Fußmarsch, dann stiegen wir wieder in ein Auto zu und stiegen nähe Wien aus. Von dort kamen wir mit einem Schnellzug hierher.

 

RI: Erfolgte die Ausreise aus der Türkei legal oder illegal?

BF: Legal.

 

RI: Erfolgte die Ausreise behördlich kontrolliert?

BF: Ja, wir passierten die Reisepasskontrolle.

 

RI: Hatten Sie im Zuge der Ausreise Probleme mit Grenzbeamten?

BF: Nein.

 

RI: Hatten Sie ein konkretes Reiseziel anlässlich Ihrer Ausreise?

BF: Da meine Familie hier lebt, wollte ich in kein anderes Land.

 

RI: Gibt es zu diesem Fragenkomplex (persönlicher und familiärer Hintergrund, Reiseroute) Fragen des RV?

RV: Nein.

 

RI: Haben Sie gegenüber der Polizei und dem BFA wahrheitsgemäß und vollständig ausgesagt, wurde alles richtig protokolliert und rückübersetzt?

BF: Ja.

 

RI: Wie empfanden Sie die Einvernahmesituation beim BFA?

BF: Ich fühlte mich wohl, es waren eine Dolmetscherin und ein Beamter anwesend.

 

RI: Was war entscheidend dafür, dass Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben?

BF: Mein Vater wurde zu 28 Jahren verurteilt. Als meine Eltern die Türkei verließen, fing die Polizei an zu kommen. Als meine Mutter noch in der Türkei war, wurde ein Feuerball auf dem Balkon geworfen und ein Teil verbrannte. Ich hatte kein Leben und keine Freiheit, mir ging es psychisch nicht gut.

 

RI: Wann verließen Ihre Eltern die Türkei?

BF: Im Jahr 2019 mein Vater und meine Mutter am 19.07. Beim Jahr bin ich mir nicht sicher, ich glaube 2021.

 

RI: Können Sie mir sagen, wann der Vorfall mit dem Feuerball gewesen ist?

BF: Es war Winter. In der Früh, ca. 4-5 Uhr zum Morgengebet hatte der Brand ein gegenüberliegender Nachbar gesehen. Nachgefragt, ob ich das Jahr eingrenzen könnte, gebe ich an, dass mein Vater im Jahr 2019 ausreiste. Das war auf jeden Fall noch in diesem Jahr. An das Datum kann ich mich nicht erinnern.

 

RI: Können Sie mir schildern, inwiefern die Polizei auf Sie wegen Ihres Vater zukam?

BF: Mein Vater hatte eine Fußfessel, die ihm der Polizist hinunter gab. Dann ging mein Vater ins Ausland. Daraufhin kam die Polizei des Öfteren zu uns zuhause und fragte nach ihm. Vor unserer Haustüre befanden sich oft Zivilpolizisten.

 

RI: gab es noch weitere diesbezügliche Vorfälle?

BF: Nein, die Polizei suchte uns öfter auf und fragte nach meinem Vater. Mehr war nicht. Aber ich fühlte mich psychisch nicht gut.

 

RI: Warum fühlten Sie sich psychisch nicht gut?

BF: Weil die Polizei uns laufend aufsuchte und Polizisten vor unserer Haustüre warteten. Sie haben einige Male mit meiner Mutter vor der Haustütre gesprochen. Mein Onkel väterlicherseits musste einmal zur Dienststelle.

 

RI: Gab es noch weitere Ausreisemotive?

BF: Als ich mir Tätowierungen machte, war meine Großmutter väterlicherseits stark dagegen. Ich wollte Rechtsanwältin werden und meine ältere Schwester Polizistin, was wir beide wegen meines Vaters nicht werden konnten und ich konnte die Schule nicht mehr weiter besuchen. Weil mein Vater Probleme mit dem türkischen Staat hatte, konnten ich und meine Schwester nicht das werden, was wir uns wünschten. Meine Schwester nicht Polizistin und ich nicht Rechtsanwältin.

 

RI: Können Sie mir die Probleme mit Ihrer Großmutter väterlicherseits schildern?

BF: Als meine Eltern nach Österreich kamen, hat meine Großmutter väterlicherseits Druck auf uns ausgeübt. Zwischen meiner Großmutter und meiner älteren Schwester kam es zu einer Auseinandersetzung. Mein Onkel väterlicherseits schlug auf meine Schwester ein und sie mussten zur Polizei. Meine Großmutter teilte der Polizei mit, dass sie uns nicht mehr im Haus haben möchte. Meine Großmutter und meine Schwester mussten eine Aussage bei der Polizei machen. Als die Polizei aber feststellte, dass meine Schwester unschuldig ist, konnten sie uns nicht außer Haus bringen. Da meine Großmutter abscheuliche Schimpfwörter aussprach, kam es zu dieser Auseinandersetzung.

 

RI: Kam es noch zu weiteren Vorfällen mit der Familie väterlicherseits?

BF: Wir konnten uns in keiner Form vertragen und sie wollten uns nicht bei sich haben. Als meine ältere Schwester in die Türkei zurückkehrte war sie schwanger und mein Onkel väterlicherseits brach ihr das Handy, damit wir sie nicht erreichen können. Als sie meine Schwester gefunden haben, machten sie ihr Handy kaputt.

 

RI: Warum kehrte XXXX damals nach nur einer Woche in die Türkei zurück?

BF: Da sie schwanger war und sie sich psychisch nicht gut fühlte und sie ihr Kind nicht alleine großziehen wollte. Damit beschlossen sie gemeinsam nach Österreich zu kommen.

 

RI: Warum ist der Kindesvater nicht einfach nach Österreich gekommen, warum musste Ihre Schwester zuerst in die Türkei zurückkehren?

BF: Da die finanzielle Lage ihres Ehemannes nicht gut war, kehrte meine Schwester zurück. Dann kamen sie mit dem Geld, welches sie bei der Verlobung geschenkt bekamen nach Österreich.

 

RI: Wie lange hielt sich Ihre Schwester in der Türkei auf?

BF: Ich glaube sie war im 3. Monat schwanger. Kurz nach der Entbindung verließen sie die Türkei.

 

RI: Ich würde die Dolmetscherin bitten, die türkischsprachige einstweilige Verfügung im Rahmen der Verhandlung zu übersetzen. Von einer Übersetzung der Unterlagen betreffend den Vater nehme ich Abstand, da dieser Asylberechtigt ist und eine ihm betreffende Verfolgung daher unstrittig ist.

 

D: Im Namen der Türkischen Nation

Republik Türkei

Karsiyaka

1. Familiengericht

Entsprechend dem Artikel 6284 Beschluss für den Schutz

GZ: XXXX in sonstiger Sache

UrteilsNr.: XXXX

Richter: XXXX

Schriftführer: XXXX

Antragssteller: XXXX XXXX Izmir

Gegnerische Partei: XXXX XXXX Izmir

Art des Verfahrens: Nach dem Artikel 6284 für Schutzbedürftige

Antragsdatum: 07.06.2022

Urteilsdatum: 08.06.2022

(Anmerkung D: die rechte Seite der oberen drei Absätze ist bedauerlicherweise schwer lesbar; die BF schafft ihr Handy herbei, das Dokument am Handy ist besser lesbar und wird einer Übersetzung zugefügt)

Im Schreiben der Sicherheitsdirektion vom 07.06.2022 den Vorfall des Opfers XXXX betreffend wurde ein Antrag gestellt und über die gegnerische Partei XXXX der Beschluss zur Maßnahme bestätigt. Gemäß Artikel 6284 Abs. 1 wird Personen, die Opfer von Gewalt sind oder sich in dieser Gefahr befinden, Frauen, deren Kinder und Familienmitglieder, besonderer Schutz gewährt, um dieser Gewalt vorzubeugen, und werden Maßnahmen getroffen. Der Akteninhalt und die Aussagen der Gewaltopfer und andere Beweismittel und Dokumente wurden ausgewertet. Der Beschluss der Sicherheitsdirektion XXXX wurde nach Antragsstellung abgelehnt, da es nicht der Situation der Parteien entsprechend ist. Und es erging der Beschluss nach Artikel 6284 Abs. 5/1 Satz (a) für eine Dauer von einem Monat. Wie folgt unten erläutert:

Beschlossen und verkündet:

1- Ablehnung des Antrags gem. Artikel 6284 Abs. 5/1 Satz (a) XXXX hat dem Opfer XXXX gegenüber keine Gewalt, Drohung, Beleidigung, Erniedrigung oder erniedrigende Worte oder ein solches Verhalten verwirklicht

2- Es ergeht gem. Artikel 6284 Abs. 5/1 der vorbeugende Maßnahmenbeschluss und gem. Artikel 6284 Abs. 8/2 für eine Dauer von einem Monat.

3- Wenn man gegen diesen Maßnahmenbeschluss verstößt, ergeht gem. Artikel 6284 Abs. 13/1 eine drei- bis zehntägige Gefängnisstrafe, gem. Absatz 13/2 ergeht bei wiederholtem Verstoß eine 15- 30-tägige Gefängnisstrafe

 

RI: (nach erfolgter Beschlussübersetzung durch die D für die BF)

BF: Da gibt es eine Fortsetzung, damit meine ich eine zweite Seite, diese habe ich nicht. Aus dieser geht hervor, dass meine Schwester im Recht ist und das Verfahren eingestellt wird. Denn meine Großmutter verleumdet meine Schwester.

 

RI: Laut diesem Beschluss wurde in Spruchpunkt 1 festgestellt, dass es keine Gewalt oä der XXXX gegen die XXXX gab. In den Spruchpunkten 2 und 3 wurde dennoch eine einstweilige Verfügung erlassen und Strafen im Falle des Zuwiderhandelns angedroht. Verstehe ich es richtig, dass diese einstweilige Verfügung sich gegen XXXX richtete, ihr sohin die Kontaktaufnahme mit XXXX für einen Monat untersagt wurde? Normalerweise erlässt kein Gericht Spruchpunkte, um dann auf der zweiten Seite diese für obsolet zu erklären. Können Sie mir das erklären?

BF: Anhand dieses Schreibens geht hervor, dass meine Großmutter XXXX gelogen hat und meine Schwester verleumdet hat. Das Verfahren wurde eingestellt, weil meine Schwester im Recht war.

 

RI: Ganz wertfrei können wir mMn herausdestillieren, dass es Familienstreitigkeiten gab.

 

RI: Welche konkrete Befürchtung verbinden Sie mit einer Rückkehr in die Türkei?

BF: Das ganze Leben, mein Leben würde sich erschweren. Ich hätte keine Unterkunft, könnte nicht über die Runden kommen und ich weiß nicht was mir in Falle einer Rückkehr droht, womit ich konfrontiert werde die Polizei betreffend. Ich kann auf keinen Fall in die Türkei zurückkehren.

 

RI: Was meinen Sie mit „erschweren“?

BF: Ich hätte keine Unterkunft mehr und ich weiß auch nicht, ob mich die Polizei wieder aufsuchen wird. Ich habe mich an das Leben hier gewohnt und mich hier gut integriert und weiterentwickelt. Meine Familienangehörigen sind hier, meine Mutter, meine Schwester, mein jüngerer Bruder. Und hier möchte ich das studieren, was ich immer schon wollte.

 

RI: Warum gehen Sie davon aus, dass Sie nicht über die Runden kämen. Sie haben eine Ausbildung und sind arbeitsfähig?

BF: Ja. Das ist richtig. Ich habe einen Beruf erlernt. Aber ich konnte diesen dort nicht ausüben. Und musste bei XXXX arbeiten. Wenn man zu arbeiten beginnt, muss man ein Strafregister vorlegen. Und die Strafe meines Vaters scheint auf.

 

RI: Welche Sorgen haben Sie wegen der Polizei?

BF: Mein Vater hat hier auch einen Fehler begangen. Und er wurde hier wegen seines Fehlers nicht verurteilt. Aber in der Türkei wird man verurteilt, wenn ein Familienmitglied einen Fehler begeht.

 

RI: Sie fürchten also Strafverfolgung wegen Ihres Vaters? Verstehe ich das richtig?

BF: Ja, genau. Außerdem herrscht in der Türkei ohnehin Rassismus gegen die Kurden.

 

RI: Gibt es konkrete Hinweise für eine solche Strafverfolgung?

BF: Ich kann Ihnen als Beispiel den Brand, der in Diyarbakir und Mardin herrschte, nennen. Niemand half den Kurden dort. Und das war schlichtweg ein rassistisches Verhalten.

 

RI wiederholt und erörtert die Frage

BF: Nein.

 

RI: Gibt es sonst noch Gründe, außer jenen, die schon vorgebracht haben, weshalb Sie nicht in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren könnten?

BF: Wenn sich mein Leben in der Türkei wirklich nicht erschwert hätte, wäre ich dort geblieben, obwohl meine Familie hier ist.

 

RI: Gibt es zu diesem Fragenkomplex (Fluchtvorbringen) Fragen des RV?

RV: Was konkret hinderte Sie daran Jus zu studieren?

BF: Da mein Vater zu einer 28-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde wegen Kurdentums, weil er die Kurden verteidigte. Ich habe eine Rechtsanwältin gefragt und diese teilte mir mit, dass ich in so einer Situation keine Chance hätte, ein Jusstudium zu beginnen.

 

RV: Was ist der konkrete Grund, darf man nicht immatrikulieren, nicht inskribieren?

BF: Ich darf nicht inskribieren.

 

RV: Warum denken Sie, richteten sich die körperlichen Übergriffe der Familie Ihres Vaters hauptsächlich gegen Ihre Schwester, nicht gegen Sie?

BF: Mein Vater führte eine heimliche Beziehung in Österreich. Meine Großmutter väterlicherseits wusste von dieser Beziehung, wir aber nicht. Meine Großmutter telefonierte mit der Geliebten meines Vaters, sie war schwanger. Meine Großmutter beschimpfte meine Mutter, weil sich meine Mutter gehen ließ und nicht auf sich schaute. Meine Oma hat in dem Telefonat mit der Geliebten meines Vaters darüber gesprochen, dass wir, damit sind ich und meine Schwester gemeint, uns in der Türkei prostituieren würden. Meine ältere Schwester hatte dieses Telefonat mitgehört. Wir befanden uns im dritten Stock und meine Schwester stand zu diesem Zeitpunkt vor der Tür im dritten Stock. Darum kam es zu dieser Auseinandersetzung und das ganze ging bis zur Polizei.

 

RV: Ist es mehrmals zu körperlichen Übergriffen gekommen oder zu anderen Gewaltanwendungen z.B. Freiheitsentzug oder zu verbalen Angriffen, wenn ja, gegen wen richteten sich diese?

BF: Meine Schwester und ich befanden uns zuhause. Mein Großvater versuchte mit einer Metallstange die Tür aufzubrechen um uns zu vertreiben. Die Geliebte meines Vaters mochte uns nicht. Sie hetzte meine Großmutter gegen uns auf und meine Oma beschimpfte uns und wollte uns aus dem Haus vertreiben. Als wir die Türkei verließen, schlichen wir uns heimlich aus dem Haus und niemand wusste von unserer Ausreise, nur die Familie meiner Mutter wusste davon.

 

RV: Wie kam es zu diesem Anschuldigen bezüglich Prostitution. Ging es dabei um die Tattoos?

BF: Als sich meine Eltern nicht mehr in die Türkei befanden übten sie mehr Druck auf uns auf. Sie wollten, dass ich und meine Schwester jeden Tag nach der Arbeit zu ihnen schauen. Meine Großmutter rief daraufhin immer meinen Vater an und versuchte zwischen meinen Vater und meiner Mutter Unruhe zu stiften, damit sie sich trennen.

 

RV: Hat es aufgrund der Verleumdung der Großmutter irgendwelche rechtlichen Sanktionen gegen sie gegeben?

BF: Nein. Denn mein Onkel väterlicherseits wäre auf uns losgegangen, denn wir dürften nichts über seine Mutter verlieren, weil er lässt nichts über sie kommen.

 

RV: Fürchten Sie im Falle einer Rückkehr eine konkrete Verfolgung durch die Familie des Vaters?

BF: Ja, natürlich. Ich möchte hier bleiben, um leben zu können.

 

RV: keine weiteren Fragen.

 

RV: Zur Asylrelevanz von häuslicher Gewalt bzw. iZm der Zuerkennung subsidiären Schutzes möchte ich eine Zusammenfassung eines EuGH-Urteils von 16.01.2024 zu Zl. C-621/21 vorlegen.

 

RI: Wird angesichts der Abschiebung des Gefährders das Vorbringen bzgl. § 57 AsylG aufrecht gehalten?

RV: Wenn kein Strafverfahren mehr aufrecht ist, dann nein. Zum § 13 AsylG ist der Beschluss zur Einstellung des Strafverfahrens da, gem. § 13 Abs 2 AsylG wäre rückwirkend das Aufenthaltsrecht zu gewähren. Ich möchte noch zu bedenken geben, dass die gesamte Kernfamilie der BF in Österreich lebt. Sie war zum Zeitpunkt der Familienzusammenführung zum Vater gerade einmal volljährig und kam deshalb dafür nicht mehr in Frage. Sie verbringt aber praktisch den ganzen Tag mit ihrer Mutter und dem mj. Bruder. Es ist davon auszugehen, dass trotz der Volljährigkeit der BF ein Familienleben iSd Art. 8 EMRK vorliegt. Wir ersuchen um entsprechende Berücksichtigung bei der Entscheidungsfindung und halten die Anträge aufrecht.

 

RI: Möchten Sie Beweisanträge stellen?

RV: Nein.

 

RI: Das letzte Wort steht bei Ihnen. Wollen Sie mir noch etwas sagen oder schließen Sie sich den Worten der RV an?

BF: Ich schließe mich den Worten des RV an. Denn das entspricht alles der Richtigkeit.

 

Verständigung mit Dolmetscherin:

RI: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?

BF: Ja.

 

RI: Gab es in der Verhandlung sonst irgendwelche Probleme mit der Dolmetscherin?

BF: Nein.

 

Unterbrechung der Verhandlung um 11:50 Uhr für zehn Minuten, Fortsetzung um 12:00 Uhr

 

RI: Eine Frage hätte ich noch abschließend: Sie bejahten eine entsprechende Frage durch den RV ja vorhin, also welche konkrete Verfolgung durch die Familie des Vaters befürchten Sie im Rückkehrfall?

BF: Sie würden sich in mein ganzes Leben einmischen. Angefangen mit der Kleidung und so weiter. Was aber ein geringeres Problem für mich ist. Sie würden mich körperlich und psychisch fertigmachen.

[…]“

9. Mit in der Beschwerdeverhandlung vom 02.07.2024 mündlich verkündetem Erkenntnis wurde die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I.-VI. der BF als unbegründet abgewiesen. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. wurde stattgegeben und der bekämpfte Bescheid in diesem Umfang ersatzlos behoben.

10. Mit Eingaben vom 02.07.2024 beantragte die BF im Wege ihrer Rechtsvertretung die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses.

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Identität der BF steht fest. Die BF führt den Namen XXXX und wurde am XXXX in Izmir geboren, wo sie auch aufwuchs und die gesamte Zeit während ihres Aufenthalts in ihrem Herkunftsstaat domizilierte. Sie ist türkische Staatsangehörige, gehört der kurdischen Volksgruppe an und ist islamisch-sunnitischen Glaubens. Sie beherrscht die türkische Sprache und verfügt über geringfügige passive Kenntnisse des Kurdischen, ist ledig und kinderlos. Die BF bewohnte vor ihrer Ausreise gemeinsam mit ihrer Schwester eine Wohnung in Izmir (Stadtteil: XXXX ), welche im Eigentum ihres Vaters steht. Sie genoss im Herkunftsstaat eine zwölfjährige Schulbildung, war an der Handelsakademie und war im Anschluss daran bei XXXX , in Pizzaläden und in einem Käseladen beschäftigt.

1.2. Die Großeltern der BF sowie Onkel und Tanten mütterlicher- und väterlicherseits leben in der Türkei. Die Großeltern der BF mütterlicherseits beziehen Pension und der Mann einer Tante arbeitet im Baubereich. Die wirtschaftliche Lage der Familie stellt sich laut eigenen Angaben der BF als mittelmäßig dar, sie gehört der Mittelschicht an. Die BF hat regelmäßig Kontakt zu ihren näheren Angehörigen mütterlicherseits in der Türkei.

1.3. Die BF leidet an keinen lebensbedrohlichen physischen oder psychischen Erkrankungen. Sie bedarf auch keiner medikamentösen Behandlung.

1.4. Die BF hatte vor ihrer Ausreise keine Nachteile aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit, ihres Religionsbekenntnisses, ihres politischen Hintergrundes oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu gewärtigen.

1.5. Vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat war die BF auch keiner individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe oder Privatpersonen ausgesetzt. Der BF droht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ihr droht auch keine anderweitige individuelle Gefährdung, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie bewaffnete Auseinandersetzungen oder terroristische Anschläge in ihrer Herkunftsregion.

Sie verließ ihren Herkunftsstaat gemeinsam mit ihrer Schwester Ende Juli 2022 mit dem Flugzeug auf legalem Wege nach Bosnien und Herzegowina und gelangte anschließend von dort - über mehrere der BF (behauptetermaßen) unbekannt gebliebene Länder - schlepperunterstützt auf dem Landweg nach Österreich. Im Bundesgebiet stellte sie in weiterer Folge gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Die BF wird im Falle einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion (bzw. einer Rückkehr in die Türkei im Allgemeinen) keiner individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt und auch keiner anderweitigen asylrelevanten Bedrohung ausgesetzt sein. Die BF wurde nicht von Privatpersonen oder staatlichen Organen mit dem Tod oder dem Eintreten anderer (schutzrelevanter) Nachteile bedroht. Im Fall einer Rückkehr wird sie wiederum in den Familienverband integriert werden. Im Übrigen wird die BF im Stande sein, selbst für ihren Lebensunterhalt Sorge zu tragen.

Bursa ist (ebenso wie sämtliche andere Regionen der Türkei) ohne die maßgebliche Wahrscheinlichkeit eintretender sicherheitsrelevanter Vorfälle erreichbar.

1.6. Die BF ist in die Gesellschaft ihres Herkunftsstaates integriert. In ihrem Herkunftsstaat verfügt die BF über eine gesicherte Existenzgrundlage, eine unentgeltliche Wohnmöglichkeit in der Wohnung ihres Vaters in Izmir oder bei ihren Großeltern mütterlicherseits in Bursa sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in ihrer Herkunftsregion in Gestalt ihrer dort lebenden Großeltern, Onkel und Tanten. Auch hat die BF in der Türkei darüberhinausgehende soziale Anknüpfungspunkte. Sie wird nach erfolgter Rückkehr Aufnahme im Familienverband finden, einer beruflichen Tätigkeit nachgehen können und - sofern sie dies wünscht - im Familienverband versorgt werden und auch selbsterhaltungsfähig sein. Der BF ist selbstverständlich die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit möglich und zumutbar.

1.7. Die BF hält sich seit spätestens 05.08.2022 in Österreich auf. Sie reiste unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein, ist seither als Asylwerberin im Bundesgebiet aufhältig und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Die BF bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig.

Die BF schloss bis dato keinen Deutschkurs ab und verfügt über geringe Kenntnisse der deutschen Sprache.

In Österreich halten sich der Vater ( XXXX , geb. am XXXX ), die Mutter ( XXXX , geb. am XXXX ) sowie der Bruder der BF ( XXXX , geb. am XXXX ) auf, welche im Bundesgebiet asylberechtigt sind. Auch die Schwester der BF ( XXXX , geb. am XXXX ) hält sich im Bundesgebiet auf; sie ist Asylwerberin.

Ihre Freizeit verbringt die BF damit, Deutsch zu lernen. Sie kümmert sich um ihren Bruder, besucht ihre Schwester und versucht, ihre Freizeit mit der Familie zu verbringen. Sie geht auch mit Freunden aus.

Die BF verfügt in Österreich über einen Freundeskreis. Sie besucht fallweise einen kurdischen Verein und engagiert sich ehrenamtlich, gehört jedoch keinem Verein (offiziell) an.

Eine maßgebliche Integration der BF in Österreich ist allerdings nicht gegeben.

Die BF ist (verwaltungs-)strafrechtlich unbescholten bzw. nicht in Erscheinung getreten.

1.8. Der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs 1 Z 1 oder Abs 1a FPG 2005 geduldet. Der Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von damit zusammenhängenden zivilrechtlichen Ansprüchen notwendig. Die BF wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.9. Zur Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen getroffen:

Politische Lage

Letzte Änderung 2024-03-07 13:54

Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) unzufrieden und nach deren erneutem Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 desillusioniert. Ursache sind v. a. der durch die hohe Inflation verursachte Kaufkraftverlust, welcher durch Lohnzuwächse und von der Regierung im Vorfeld der Wahlen 2023 beschlossene Wahlgeschenke nicht nachhaltig kompensiert werden konnte, die zunehmende Verarmung von Teilen der Bevölkerung, Rückschritte in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die fortschreitende Untergrabung des Laizismus. Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Laut einer aktuellen Studie möchten fast 82 % das Land verlassen und im Ausland leben. Während die vorhergehende Regierung keinerlei Schritte unternahm, die Unabhängigkeit der Justizbehörden und eine objektive Ausgabenkontrolle wiederherzustellen, versucht die neue Regierung zumindest im wirtschaftlichen Bereich Reformen durchzuführen, um den Schwierigkeiten zu begegnen. Die Gesellschaft ist – maßgeblich aufgrund der von Präsident Erdoğan verfolgten spaltenden Identitätspolitik – stark polarisiert. Insbesondere die Endphase des Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 war von gegenseitigen Anschuldigungen und Verbalangriffen und nicht von der Diskussion drängender Probleme geprägt. Selbst die wichtigste gegenwärtige Herausforderung der Türkei, die Bewältigung der Folgen der Erdbebenkatastrophe, trat in den Hintergrund (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4f.).

Die Opposition versucht, die Regierung durch Kritik am teilweise verspäteten Erdbeben-Krisenmanagement und in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen und förderte die in breiten Bevölkerungsschichten zunehmend migrantenfeindliche Stimmung. Die Gesellschaft bleibt auch, was die irreguläre Migration betrifft, stark polarisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 5; vgl. EC 8.11.2023, S. 12, 54, WZ 7.5.2023), zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022a, S. 43). Das hat u. a. mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagieren ein "stolzes Türkentum". Islamischen Wertvorstellungen wird zusehends mehr Gewicht verliehen. Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpfen um ihr Dasein (WZ 7.5.2023). Angesichts des Ausganges der Wahlen im Frühjahr 2023 stellte das Europäische Parlament (EP) überdies hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Verfasstheit des Landes fest, dass nicht nur "rechtsextreme islamistische Parteien als Teil der Regierungskoalition ins Parlament eingezogen sind", sondern das EP war "besorgt über das zunehmende Gewicht der islamistischen Agenda bei der Gesetzgebung und in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, unter anderem durch den wachsenden Einfluss des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) im Bildungssystem" und "über den zunehmenden Druck der Regierungsstellen sowie islamistischer und ultranationalistischer Gruppen auf den türkischen Kultursektor und die Künstler in der Türkei, der sich in letzter Zeit darin zeigt, dass immer mehr Konzerte, Festivals und andere kulturelle Veranstaltungen abgesagt werden, weil sie als kritisch oder "unmoralisch" eingestuft wurden, um eine ultrakonservative Agenda durchzusetzen, die mit den Werten der EU unvereinbar ist" (EP 13.9.2023, Pt. 17).

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 10.3.2023). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 8.11.2023, S. 4, 12; vgl. EP 13.9.2023, Pt.9, WZ 7.5.2023).

Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl. DE/Aydas 31.12.2022, Güney 1.10.2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl.Esen/Gumuscu 19.2.2016).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser implizit negativ auf Demokratie und Grundrechte aus, denn einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumten, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert. Einige dieser Bestimmungen wurden um weitere zwei Jahre verlängert, aber die meisten jener sind im Juli 2022 ausgelaufen (EC 8.11.2023, S. 12). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022a). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR. Der türkische Rechtsrahmen enthält beispielsweise allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 8.11.2023, S. 6).

Das Europäische Parlament kam im September 2023 in Hinblick auf die Beitrittsbemühungen der Türkei zum Schluss, "dass die türkische Regierung kein Interesse daran hat, die anhaltende und wachsende Kluft zwischen der Türkei und der EU in Bezug auf Werte und Standards zu schließen, da die Türkei in den letzten Jahren klar gezeigt hat, dass ihr der politische Wille fehlt, um die notwendigen Reformen durchzuführen, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit, die Grundrechte und den Schutz und die Inklusion aller ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten" (EP 13.9.2023, Pt. 21).

Das Präsidialsystem

Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 28.7.2022, S. 5; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 14).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 1.4.2021, S. 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 23.2.2022a, S. 36). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55). In einer weiteren Entschließung vom September 2023 erklärte sich das Europäische Parlament "tief besorgt über die fortwährende übermäßige Machtkonzentration beim türkischen Präsidenten ohne wirksames System von Kontrollen und Gegenkontrollen, durch die die demokratischen Institutionen des Landes erheblich geschwächt wurden; [und] betont, dass die fehlende Eigenständigkeit auf mehreren Verwaltungsebenen aufgrund der extremen Abhängigkeit vom Präsidenten bei allen Arten von Entscheidungen und der Alleinherrschaft eines einzigen Mannes ein dysfunktionales System zur Folge haben kann" (EP 13.9.2023, Pt.20).

Machtfülle des Staatspräsidenten

Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7). Die gesetzgebende Funktion des Parlaments wird durch die häufige Anwendung von Präsidialdekreten und Präsidialentscheidungen eingeschränkt. Das Fehlen einer wirksamen gegenseitigen Kontrolle und die Unfähigkeit des Parlaments, das Amt des Präsidenten wirksam zu überwachen, führen dazu, dass dessen politische Rechenschaft auf die Zeit der Wahlen beschränkt ist. Die öffentliche Verwaltung, die Gerichte und die Sicherheitskräfte stehen unter dem starken Einfluss der Exekutive. Die Präsidentschaft übt direkte Autorität über alle wichtigen Institutionen und Regulierungsbehörden aus (EC 8.11.2023, S. 13-15; vgl.EP 19.5.2021, S. 20/ Pt. 55).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art. 8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 1.4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, S. 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab der Armee, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S. 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck und es mangelt ihr an Unabhängigkeit (EC 8.11.2023, S. 10f., 65).

Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen. - Von Jänner bis Dezember 2022 nahm das Parlament 80 von 749 vorgeschlagenen Gesetzen an. Demgegenüber wurden im selben Zeitraum 273 Präsidialdekrete, die im Rahmen des Ausnahmezustands zu einer Vielzahl von politischen Themen (einschließlich sozioökonomischer Fragen) erlassen wurden, den Parlamentsausschüssen vorgelegt (EC 8.11.2023, S. 13). Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7) und zwar nur durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 1.4.2021, S. 9). Das Parlament verfügt nicht über die erforderlichen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Ordentliche Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle. Die im Rahmen des Ausnahmezustands erlassenen Dekrete des Präsidenten jedoch müssen dem Parlament zur Genehmigung vorgelegt werden (EC 8.11.2023, S. 14).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).

Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57).

Monitoring des Europarates

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (CoE-PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).

Präsidentschaftswahlen

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit (seit der Verfassungsänderung 2017) einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 7). - Am 10.3.2023 rief der Präsident im Einklang mit der Verfassung und im Einvernehmen mit allen politischen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für den 14.5.2023 aus (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 4; vgl.PRT 10.3.2023).

Da keiner der vier Präsidentschaftskandidaten am 14.5.2023 die gesetzlich vorgeschriebene absolute Mehrheit für die Wahl erreichte, wurde für den 28.5.2023 eine zweite Runde zwischen den beiden Spitzenkandidaten, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und dem von der Opposition unterstützten Kemal Kılıçdaroğlu, angesetzt (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). In der ersten Runde verfehlte Amtsinhaber Erdoğan mit 49,5 % knapp die notwendige absolute Stimmenmehrheit, gefolgt von Kılıçdaroğlu mit 44,9 % und dem Ultranationalist Sinan Oğan mit 5,2 %, der kurz vor der Stichwahl eine Wahlempfehlung für Erdoğan abgab (Zeit online 22.5.2023).

Die am 28.5.2023 abgehaltene Stichwahl bot laut der internationalen Wahlbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Beteiligung von Wahlbeobachtern der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) den Wählern und Wählerinnen die Möglichkeit, zwischen echten politischen Alternativen zu wählen. Die Wahlbeteiligung war wie im ersten Wahlgang hoch, doch wie schon in der ersten Runde verschafften eine einseitige Medienberichterstattung und das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen dem Amtsinhaber einen ungerechtfertigten Vorteil. Die Wahlverwaltung hat die Wahl technisch effizient durchgeführt, aber es mangelte ihr weitgehend an Transparenz und Kommunikation. In dem gedämpften, aber dennoch kompetitiven Wahlkampf konnten die Kandidaten ihren Wahlkampf frei gestalten. Die härtere Rhetorik, hetzerische und diskriminierende Äußerungen beider Kandidaten sowie die anhaltende Einschüchterung und Schikanierung von Anhängern einiger Oppositionsparteien untergruben jedoch den Prozess (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Diesbezüglicher "Höhepunkt" waren Fake News von Erdoğan. - Dieser zeigte während einer Wahl-Kundgebung eine Videomontage, in der es so aussah, als würden PKK-Führungskräfte das Wahlkampflied der größten Oppositionspartei CHP singen (Duvar 7.5.2023; DW 23.5.2023) und Kılıçdaroğlu an den PKK-Kommandanten, Murat Karayilan, appellieren: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen" ARD 28.5.2023; vgl. DW 23.5.2023). In Folge wurde die Manipulation von Erdoğan zugegeben (ARD 28.5.2023; vgl. DS 24.5.2023), obgleich er in einem Fernsehinterview sagte, dass es ihm gewissermaßen egal sei, ob das Video manipuliert wurde oder nicht (DW 23.5.2023). Dies hielt Erdoğan nicht davon ab, unmittelbar vor der Präsidenten-Stichwahl abermals "offenkundige Absprachen" zwischen Kılıçdaroğlu und PKK-Terroristen in den Kandil-Bergen zu behaupten (DS 24.5.2023).

In einem Umfeld, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, haben sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Medien bei ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf keine redaktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleistet, was die Fähigkeit der Wähler, eine fundierte Wahl zu treffen, beeinträchtigt hat (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Amtsinhaber Erdoğan gewann die Stichwahl mit rund 52 %, während sein Herausforderer, Kılıçdaroğlu, knapp 48 % gewann. Während Kılıçdaroğlu in den großen Städten, wie Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Adana, im Südosten (mit seiner mehrheitlich kurdischen Bevölkerung) und den Mittelmeer-Provinzen gewann, dominierte Erdoğan den Rest des Landes, vor allem Zentralanatolien, die Schwarzmeerküste, aber auch vom Erdbeben betroffene Provinzen wie Hatay, Gaziantep, Adıyaman oder Şanlıurfa (AnA 29.5.2023; vgl. Politico 29.5.2023,taz 10.4.2023).

Das Parlament

Der Rechtsrahmen bietet nicht in vollem Umfang eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen. Die noch unter dem Kriegsrecht verabschiedete Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht in ausreichendem Maße, da sie sich auf Verbote zum Schutz des Staates konzentriert und Rechtsvorschriften zulässt, die weitere unzulässige Einschränkungen mit sich bringen. Die Mitglieder des 600 Sitze zählenden Parlaments werden für eine fünfjährige Amtszeit [zuvor vier Jahre] nach einem Verhältniswahlsystem in 87 Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Vor der Wahl sind Koalitionen erlaubt, aber die Parteien, die in einer Koalition kandidieren, müssen individuelle Listen einreichen. Im Einklang mit einer langjährigen Empfehlung der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats wurde mit den Gesetzesänderungen von 2022 die Hürde für Parteien und Koalitionen, um in das Parlament einzuziehen, von 10 % auf 7 % gesenkt (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S. 6f.).

Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattgefundenen Parlamentswahlen erhielt die "Volksalliance" unter Führung der AKP mit 49 % der Stimmen eine absolute Mehrheit der 600 Parlamentsitze. - Die AKP gewann hierbei 268 (35,6 %), die ultranationalistische MHP 50 (10,1 %) und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei - Yeniden Refah Partisi (YRP) fünf Sitze (2,8 %). Das Oppositionsbündnis "Allianz der Nation" unter der Führung der säkularen, sozialdemokratisch ausgerichteten CHP erlangte 35 %, wobei die CHP 169 (25,3 %) und die nationalistische İYİ-Partei 43 Sitze (9,7 %) errang. Aus dem Bündnis mehrerer Linksparteien unter dem Namen "Arbeit und Freiheitsallianz" schafften die Links-Grüne Partei - Yeşil Sol Parti (YSP) mit künftig 61 (8,8 %) und die "Arbeiterpartei der Türkei" -Türkiye İşçi Partisi (TİP) mit vier Abgeordneten den Sprung ins Parlament (TRT 2023; vgl. BBC 22.5.2023). Das Ergebnis wurde am 30.5.2023 mit dem Entscheid des Obersten Wahlrates amtlich (YSK 30.5.2023).Duvar 18.5.2023

In der neu gewählten Nationalversammlung sitzen zusätzlich Vertreter und Vertreterinnen mehrer Kleinparteien, welche auf den Listen der AKP, der CHP und er YSP standen. So entfallen von den 268 Sitzen der AKP vier auf die kurdisch-islamistische Partei der Freien Sache, Hür Dava Partisi - HÜDA-PAR und ein Sitz auf die Demokratische Linkspartei, Demokratik Sol Parti - DSP. Von den 149 Mandaten der CHP gehören 14 der Partei für Demokratie und Fortschritt, Demokrasi ve Atılım Partisi - DEVA [des ehemaligen Wirtschaftsministers Ali Babacan], zehn der Zukunftspartei, Gelecek Partisi - GP [des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu] und weitere zehn der islamisch-konservativen Partei der Glückseligkeit, Saadet Partisi -SP und drei der Demokratischen Partie, Demokrat Parti - DP. Über die CHP-Liste bekam die ansonsten eigenständig kandidierende İYİ-Partei zu ihren 43 Sitzen noch einen Sitz dazu. Über die LIsten der Links-Grünen Partei erhielten die Partei der Arbeit, Emek Partisi - EMEP zwei sowie die Partei der Sozialen Freiheit, Toplumsal Özgürlük Partisi - TÖP eines der YSP-Mandate [Anm.: die Zahl der YSP von 63 in der Grafik entspricht nicht jener des amtlichen Wahlresultats von 61 Mandataren] (Duvar 18.5.2023, vgl. BIRN 19.5.2023), was mit den übrigen 58 YSP die offiziellen 61 Parlamentarier ergibt (BIRN 19.5.2023).

Einen Monat vor der Wahl zog die HDP ihre Kandidatur als Partei aufgrund des seit 2021 Verbotsverfahrens gegen sie zurück und stellte ihre Kandidaten auf die Liste der mit ihr verbündeten Kleinpartei YSP zu den Wahlen (taz 10.4.2023; vgl. AJ 11.5.2023).

Die Parlamentswahlen fanden inmitten einer erheblichen Polarisierung und eines intensiven Wettbewerbs zwischen den Regierungs- und den Oppositionsparteien statt, die unterschiedliche politische Programme zur Gestaltung der Zukunft des Landes vertraten. Während des Wahlkampfs wurden die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Allgemeinen respektiert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. Vertreter der YSP sahen sich durchgängig Druck und Einschüchterungen ausgesetzt, die sich gegen ihre Wahlkampfveranstaltungen und Unterstützer richteten und zu systematischen Festnahmen führten. So leitete der Generalstaatsanwalt von Diyarbakır am 10.4.2023 eine Untersuchung aller Reden ein, die auf einer YSP-Kampagnenveranstaltung gehalten wurden, um festzustellen, ob irgendwelche Reden "terroristische Propaganda" enthielten. Darüber hinaus wurden einige weitere Fälle von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung beobachtet, die sich gegen Oppositionsparteien, Kandidaten und Unterstützer richteten (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 1, 13).

Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt. - Der politische Pluralismus wurde weiterhin dadurch untergraben, dass die Justiz Oppositionsparteien und einzelne Parlamentsabgeordnete, insbesondere der HDP, wegen angeblicher Terrorismusdelikte ins Visier nahm. Das System der parlamentarischen Immunität bietet den Oppositionsabgeordneten keinen ausreichenden Rechtsschutz, um ihre Ansichten innerhalb der Grenzen der Meinungsfreiheit zu äußern. Bis zum Ende der 27. Legislaturperiode (2018-2023) belief sich die Gesamtzahl der Abgeordneten, gegen die ein Beschluss über die parlamentarische Immunität und ein Antrag auf Aufhebung ihrer Immunität vorlag, auf 206 (180 von ihnen gehörten der parlamentarischen Opposition an). Allerdings wurde während des Berichtszeitraums der Europäischen Kommission (Juni 2022 - Juni 2023) weder einem bzw. einer Abgeordneten die Immunität entzogen noch wurde er bzw. sie wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Zwei ehemalige HDP-Ko-Vorsitzende und mehrere ehemalige HDP-Abgeordnete befinden sich trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu ihren Gunsten immer noch im Gefängnis [Stand: Februar 2024] (EC 8.11.2023, S. 13-14); vgl.CoE-PACE 22.4.2021, S. 2f). Drei Abgeordnete der HDP hatten ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus verloren (CoE-PACE 22.4.2021, S. 2f). - Der EGMR hatte am 1.2.2022 entschieden, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der HDP, unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität aufgehoben hatte (BIRN 1.2.2022). - Das Europäische Parlament "missbilligt[e] das gezielte Vorgehen gegen politische Parteien und Mitglieder der Opposition, die zunehmend unter Druck geraten" und "erklärt[e] sich besorgt darüber, dass die Unterdrückung und die Verfolgung der politischen Opposition nach den jüngsten Wahlen aufgrund der schlechter werdenden wirtschaftlichen Lage des Landes zunehmen werden" (EP 13.9.2023, Pt. 13). Das Verfahren zum Verbot der HDP wegen Terrorismusvorwürfen, einschließlich des Ausschlusses von 451 HDP-Mitglieder von politischer Betätigung sind weiterhin vor dem Verfassungsgericht anhängig [Stand: Februar 2024] (EC 8.11.2023, S. 14).

Die Demokratische Partei der Völker - HDP, die aufgrund des laufenden Schließungsverfahrens vor dem Verfassungsgericht von der Schließung bedroht war, nahm an den Parlamentswahlen vom 14.5.2023 unter den Listen der Links-Grünen Partei - YSP teil. Am 27.8.2023 stellte die HDP auf ihrem vierten außerordentlichen Kongress ihre Aktivitäten ein und beschloss, den politischen Kampf unter dem Dach der YSP fortzusetzen. Die YSP wiederum hielt ihren vierten großen Kongress am 15.10.2023 ab und änderte ihren Namen in Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker - Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi - HEDEP (Bianet 16.10.2023; vgl. FES 7.12.2023, S. 6). Der Kassationsgerichtshof entschied, die Abkürzung HEDEP nicht zuzulassen, weil sie eine zu große Ähnlichkeit mit der verbotenen Vorgängerpartei HADEP aufwies (FES 7.12.2023; vgl. Bianet 24.11.2023). Am 11.12.2023 änderte HEDEP ihre Abkürzung in DEM-Partei, nachdem der Kassationsgerichtshof eine Änderung aufgrund der Ähnlichkeit mit der geschlossenen Partei für Volksdemokratie (HADEP) gefordert hatte. Der vollständige neue Name der Partei wurde nicht geändert. Das Wort "Demokratie" im Parteinamen wurde verwendet, um die Abkürzung zu bilden (Duvar 11.12.2023; vgl. TM 11.12.2023).

Eingriffe in die lokale Demokratie

Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S. 15).

Bis Juni 2023 wurden auf der Basis dieses Dekrets in 65 Gemeinden, die die HDP bei den Kommunalwahlen 2019 gewonnen hatte, 48 gewählte Bürgermeister durch staatlich bestellte Treuhänder ersetzt, und weitere sechs gewählte Bürgermeister durch Bürgermeister der AK-Partei ersetzt. Seit der ersten Ernennung von Treuhändern im Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister verhaftet und 39 Bürgermeister inhaftiert [arrested]. Sechs HDP-Bürgermeister sitzen weiterhin im Gefängnis [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-Bürgermeister bzw Ko-Bürgermeisterin. - Das gilt ebenso für Führungspositionen in der Partei.] (EC 8.11.2023, S. 19). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, S. 13).

Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt, ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister/ Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Art. 45) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).

Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S. 13). Derzeit befinden sich 5.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 8.11.2023, S. 14).

[siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

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Sicherheitslage

Letzte Änderung 2024-03-07 13:56

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, S. 4; vgl.USDOS 30.11.2023) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16; vgl. USDOS 30.11.2023) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2023, S. 34). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022a). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage.

Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (MBZ 18.3.2021, S. 12). Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 8.11.2023, S. 50). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023a), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Bergregionen im Südosten des Landes (MBZ 2.3.2022, S. 13). Die Lage im Südosten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge und ist in der Grenzregion präker, insbesondere nach den Erdbeben im Februar 2023. Die türkische Regierung hat zudem grenzüberschreitende Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und Syrien durchgeführt, und in den Grenzgebieten besteht ein Sicherheitsrisiko durch terroristische Angriffe der PKK (EC 8.11.2023, S. 4, 18). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK (und der Kurdistan Freiheitsfalken - TAK), in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis 24 24.11.2022). Die Berichte der türkischen Behörden deuten zudem darauf hin, dass die Zahl der PKK-Kämpfer auf türkischem Boden zurückgegangen ist (MBZ 31.8.2023, S. 16).

Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 20.3.2023a, S. 3, 29). Die Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 2.10.2023), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK unter anderem mit Drohnenangriffen in der irakischen Region Kurdistan, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten, von den USA und Großbritannien unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (HRW 12.1.2023a). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 20.3.2023a, S. 29). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 2.10.2023).

NZZ 18.1.2024 (Karte von Ende November 2021)

Zuletzt kam es im Dezember 2023 und Jänner 2024 zu einer Eskalation. - Am 12.1.2024 wurden bei einem Angriff der PKK auf eine türkische Militärbasis im Nordirak neun Soldaten getötet. Ende Dezember 2023 waren bei einer ähnlichen Aktion zwölf Armeeangehörige ums Leben gekommen. Die türkische Regierung berief umgehend einen Krisenstab ein und holte, wie stets in solchen Fällen, zu massiven Vergeltungsschlägen aus. Bis zum 17.1.2024 waren laut Verteidigungsministerium mehr als siebzig Ziele durch Luftangriffe zerstört worden. Die Türkei beschränkte ihre Vergeltungsaktionen nicht auf den kurdischen Nordirak, sondern griff auch Positionen der SDF sowie Infrastruktureinrichtungen im Nordosten Syriens an. Ankara betrachtet die SDF und vor allem deren wichtigste Einheit, die kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten (YPG), als Arm der PKK und somit als Staatsfeind (NZZ 18.1.2024; vgl. RND 14.1.2024).

Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2022 407 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten (İHD/HRA 27.9.2023a). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum Dezember 18.12.2023 6.875 Tote (4.573 PKK-Kämpfer, 1.454 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.020], aber auch 304 Polizisten und 130 sog. Dorfschützer - 622 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen (ICG 8.1.2024).

 

Quelle: ICG 8.1.2024

Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 8.11.2023, S. 18). Hierzu bekräftigte das Europäische Parlament im September 2023 neuerlich (nach Juni 2022), "dass die Wiederaufnahme eines verlässlichen politischen Prozesses, bei dem alle relevanten Parteien und demokratischen Kräfte an einen Tisch gebracht werden, dringend erforderlich ist, um sie friedlich beizulegen; [und] fordert die neue türkische Regierung auf, sich durch die Förderung von Dialog und Aussöhnung in diese Richtung zu bewegen" (EP 13.9.2023, Pt. 16).

Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 10.1.2024; vgl. EDA 2.10.2023). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis 24 24.11.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 20.3.2023a, S. 29).

2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AlMon 20.4.2022). Der damalige Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26.9.2022 das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, AN 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (AN 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AlMon 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AlMon 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (AnA 18.11.2022). Anfang Oktober 2023 kam es zu einem Bombenanschlag in Ankara. Ein Selbstmordattentäter hatte sich im Zentrum der Hauptstadt in die Luft gesprengt. Ein zweiter Täter wurde nach Angaben des Innenministeriums erschossen. Der Angriff richtete sich gegen den Sitz der Polizei und gegen das Innenministerium, die sich in einem Gebäudekomplex in der Nähe des Parlaments befinden. Bei einem Schusswechsel im Anschluss an die Explosion wurden zwei Polizisten leicht verletzt. Die PKK bekannte sich zu dem Anschlag (DW 1.10.2023a; vgl. Presse 4.10.2023). Nach dem Anschlag kam es zu landesweiten Polizei-Razzien in 64 Provinzen. Offiziellen Angaben zufolge wurden 928 Personen wegen illegalen Waffenbesitzes und 90 Personen wegen mutmaßlicher PKK-Mitgliederschaft verhaftet (AJ 3.10.2023). Die Zahl erhöhte sich hernach auf 145 (Alaraby 3.10.2023).

Das türkische Parlament stimmte im Oktober einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP) (die kurzzeitige Nachfolgerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei und inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt wurde) waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vgl. AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).

Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023

Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei für drei Monate in Kraft (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). - Dieser endete im Mai 2023 (JICA 23.8.2023). - Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).

Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind" (ANF 9.2.2023; vgl. FR24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023). - Die PKK verkündete, die neuen Angriffswellen der türkischen Sicherheitskräfte beklagend, Mitte Juni 2023 das Ende ihres einseitigen Waffenstillstands (SBN 14.6.2023; vgl. ANF 14.6.2023).

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Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung 2024-03-07 13:55

Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38; vgl. EC 8.11.2023, S. 6, 38). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023a, S. 1, 21; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38).

Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Es wurden keine Gesetzesänderungen verabschiedet, um die verbleibenden Elemente der Notstandsgesetze von 2016 aufzuheben (Stand Nov. 2023). Die Weigerung der Türkei, bestimmte Urteile des EGMR umzusetzen, gibt der Europäischen Kommission Anlass zur Sorge hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Türkei hat das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Juli 2022, das im Rahmen des vom Ministerkomitee gegen die Türkei eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens erging, nicht umgesetzt, was darauf hindeutet, dass die Türkei sich von den Standards für Menschenrechte und Grundfreiheiten, die sie als Mitglied des Europarats unterzeichnet hat, entfernt hat. Die Umsetzung des im Jahr 2021 angenommenen Aktionsplans für Menschenrechte wurde zwar fortgesetzt, kritische Punkte wurden jedoch nicht angegangen. - Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 8.11.2023, S. 6, 28). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).

Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören: willkürliche Tötungen; verdächtige Todesfälle von Personen im Gewahrsam der Behörden; erzwungenes Verschwinden; Folter; willkürliche Verhaftung und fortgesetzte Inhaftierung von Zehntausenden von Personen, einschließlich Oppositionspolitikern und ehemaligen Parlamentariern, Rechtsanwälten, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten wegen angeblicher Verbindungen zu "terroristischen" Gruppen oder aufgrund legitimer Meinungsäußerung; politische Gefangene, einschließlich gewählter Amtsträger; grenzüberschreitende Repressalien gegen Personen außerhalb des Landes, einschließlich Entführungen und Überstellungen mutmaßlicher Mitglieder der Gülen-Bewegung ohne angemessene Garantien für ein faires Verfahren; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, einschließlich Gewalt und Gewaltandrohung gegen Journalisten, Schließung von Medien und Verhaftung oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und anderen Personen wegen Kritik an der Regierungspolitik oder an Amtsträgern; Zensur; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; gravierende Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze bezüglich der staatlichen Aufsicht über nicht-staatliche Organisationen (NGOs); Restriktionen der Bewegungsfreiheit; Zurückweisung von Flüchtlingen; schwerwiegende Schikanen der Regierung gegenüber inländischen Menschenrechtsorganisationen; fehlende Ermittlungen und Rechenschaftspflicht bei geschlechtsspezifischer Gewalt; Gewaltverbrechen gegen Mitglieder ethnischer, religiöser und sexueller [LGBTQI+] Minderheiten (USDOS 20.3.2023a, S. 1f., 96; vgl. AI 28.3.2023, EEAS 30.3.2022, S. 16f.). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 20.3.2023a, S. 1f., 96; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 39).

Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (Rat der EU 14.12.2021b, S. 16, Pt. 34). Zuletzt zeigte sich (nach Mai 2022) das Europäische Parlament im September 2023 "nach wie vor besorgt über die schwerwiegenden Einschränkungen der Grundfreiheiten – insbesondere der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, für die das Gezi-Verfahren symbolhaft ist – und die anhaltenden Angriffe auf die Grundrechte von Mitgliedern der Opposition, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Gewerkschaftern, Angehörigen von Minderheiten, Journalisten, Wissenschaftlern und Aktivisten der Zivilgesellschaft, unter anderem durch juristische und administrative Schikanen, willkürliche Anwendung von Antiterrorgesetzen, Stigmatisierung und Auflösung von Vereinigungen" (EP 13.9.2023, Pt. 10).

Mit Stand 30.11.2023 waren 23.750 (30.11.2022: 20.300) Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 33,2 % (2022: 26,8 %) aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 12.2023; ECHR 12.2022), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Im Jahr 2024 stellte der EGMR für das Jahr 2023 in 72 Fällen (von 78) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 17, betrafen das Recht auf ein faires Verfahren, gefolgt vom Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), dem Versammlung- und Vereinigungsrecht (16), dem Recht auf Familien- und Privatleben (15) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (10) (ECHR 1.2024).

Das Recht auf Leben

Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD/HRA 6.11.2022b, S. 9).

Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Mutmaßliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte im Südosten, insbesondere während der Ereignisse im Jahr 2015, wurden nicht wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 30f.). Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt, insbesondere im Südosten des Landes (EC 12.10.2022, S. 33).

Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022b).

Siehe hierzu insbesondere die Kapitel bzw. Subkapitel: Sicherheitslage, Folter und unmenschliche Behandlung sowie Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland.

Quellen

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Ethnische Minderheiten

Letzte Änderung 2024-03-07 13:54

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolischen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Jafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 20.3.2023a, S. 85). Allerdings wurden in den letzten Jahren Minderheiten in beschränktem Ausmaß kulturelle Rechte eingeräumt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Türkische Staatsangehörige nicht-türkischer Volksgruppenzugehörigkeit sind keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen. Ausweispapiere enthalten keine Aussage zur ethnischen Zugehörigkeit (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 28.7.2022, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRG 6.2018b).

Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen (BS 23.2.2022a, S. 7). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (BPB 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).

Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.3.2023a, S. 85f.).

Hassreden gegen und Hassverbrechen an Angehörigen ethnischer und nationaler Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 8.11.2023, S. 43). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).

Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023a, S. 87).

Im Bereich der kulturellen Rechte gab es keine gesetzgeberischen Entwicklungen, die die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch ermöglicht hätten. Die gesetzlichen Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Sekundarschulen blieben bestehen (EC 8.11.2023, S. 44). Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache gelehrt werden darf (EC 19.10.2021, S. 41). An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch und Tscherkessisch angeboten. Allerdings wirken die Mindestanzahl von zehn Schülern für einen Kurs sowie der Mangel oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen. Universitätsprogramme sind in Kurdisch, Zazaki, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch vorhanden. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten, insbesondere der Kurden, ausgewirkt (EC 8.11.2023, S. 44).

Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023; S. 36).

Quellen

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 BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, https://web.archive.org/web/20180220015658/http:/www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr-2017-2018 , Zugriff 18.1.2024

 BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022a): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf , Zugriff 16.10.2023

 EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023

 EC - Europäische Kommission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 31.10.2023

 EC - Europäische Kommission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 17.10.2023

 EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023

 HDF - Hrant Dink Foundation (3.11.2020): Hate Speech and Discriminatory Discourse in Media 2019 Report, https://hrantdink.org/attachments/article/2728/Hate-Speech-and-Discriminatory-Discourse-in-Media-2019.pdf , Zugriff 18.1.2024

 MRG - Minority Rights Group (6.2018b): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/ , Zugriff 18.1.2024

 ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]

 USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU ̈RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 29.9.2023

Kurden

Letzte Änderung 2024-03-07 13:55

Demografie und Selbstdefinition

Die kurdische Volksgruppe hat laut Schätzungen ca. 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung und lebt zum Großteil im Südosten des Landes sowie in den südlichen und westlich gelegenen Großstädten Adana, Antalya, Gaziantep, Mersin, Istanbul und Izmir (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 47, UKHO 10.2023b, S. 6). Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20). Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Türkei, jedoch liegen keine Angaben über deren genaue Größe vor. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. - Erstens wird bei den türkischen Volkszählungen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen nicht erfasst. Zweitens verheimlichen einige Kurden ihre ethnische Zugehörigkeit, da sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer kurdischen Herkunft befürchten. Und Drittens ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer zum kurdischen Teil der Bevölkerung gehört. So identifizieren sich Sprecher des Zazaki - einer Sprachvariante, die mit Kurmandji ("Kurdisch") verwandt ist - teils als Kurden und teils eben als eine völlig separate Bevölkerungsgruppe (MBZ 31.8.2023, S. 47).

Allgemeine Situation, politische Orientierung und Vertretung

Es gibt Belege für eine anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über rassistische Angriffe gegen Kurden (auch) im Jahr 2023. In einigen Fällen wurden diese Angriffe möglicherweise nicht ordnungsgemäß untersucht oder nicht als rassistisch erkannt (UKHO 10.2023b, S. 8f.). Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. UKHO 10.2023b, S. 8f.).

Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) [inzwischen in Partei für Gleichberechtigung und Demokratie der Völker - DEM-Partei umbenannt] (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 48). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar tritt sie wie die HDP für die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem ein, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (MBZ 31.10.2019). Die Unterstützung wiederholte sich auch angesichts der Präsidenten- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2023. - Bei den Parlamentswahlen 2023 zogen vier Abgeordnete der Hüda-Par über die Liste der AKP ins türkische Parlament ein. Möglich war das durch einen umfangreichen Deal mit Präsident Erdoğan. Für die vier sicheren Listenplätze erhielt dieser die Unterstützung der Hüda-Par bei den gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen (FR 19.5.2023; vgl. Duvar 9.6.2023). Die Hüda-Par gilt beispielsweise nicht nur als Gegnerin der Istanbuler Konvention, sondern generell der Frauenemanzipation. Die Frau ist für Hüda-Par in erster Linie Mutter. Die Partei möchte zudem außereheliche Beziehungen verbieten (FR 19.5.2023). Mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober 2023 stellte sich die Hüda-Par als Unterstützerin der HAMAS heraus, die in der EU, den USA und darüber hinaus, nicht jedoch in der Türkei, als Terrororganisation gilt. So empfing die Parlamentsfraktion der Hüda-Par bereits am 11.10.2023 eine Delegation der HAMAS unter Führung von Basam Naim im türkischen Parlament. Şehzade Demir, Abgeordneter der Hüda-Par, warf bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Israel nicht nur Kriegsverbrechen vor, sondern erklärte, dass "das zionistische Regime der gesamten islamischen Gemeinschaft und unseren heiligen Werten den Krieg erklärt" hätte (Duvar 12.10.2023). Zudem begrüßte Demir den HAMAS-Angriff vom 7.10.2023 und nannte Israel eine Terrororganisation, zu der alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen beendet werden sollten (FR 12.10.2023).

Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobanê-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (MBZ 31.10.2019).

Religiöse Orientierung

In religiöser Hinsicht sind die Kurden in der Türkei nicht einheitlich. Nach einer Schätzung sind siebzig Prozent der Kurden Sunniten, die restlichen dreißig Prozent sind Aleviten und Jesiden [eine verschwindend geringe Zahl] (MBZ 31.8.2023, S. 48; vgl. MRG 6.2018c). Die sunnitische Mehrheit unter den Kurden gehören allerdings in der Regel der Shafi'i-Schule und nicht der Hanafi-Schule wie die meisten ethnischen Türken an. Die türkischen Religionsbehörden betrachten beide Schulen als gleichwertig, und Anhänger der Schafi'i-Schule werden aus religiösen Gründen nicht unterschiedlich behandelt. Kurdische Aleviten verstehen sich eher als Aleviten denn als Kurden (DFAT 10.9.2020, S. 20, 24).

Allgemeine Einschätzungen zur Lage der Kurden

Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich auch 2023 "besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Künstler, einschließlich Massenverhaftungen vor den Wahlen [2023] sowie über das laufende Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker". Überdies zeigte sich das EP "beunruhigt über die schwere und zunehmende Unterdrückung der kurdischen Gemeinschaft, insbesondere im Südosten des Landes, unter anderem durch die weitere Einschränkung der kulturellen Rechte und rechtliche Einschränkungen im Hinblick auf den Gebrauch der kurdischen Sprache als Unterrichtssprache im Bildungswesen" (EP 13.9.2023, Pt. 13, 16).

2022 zeigte sich das EP zudem "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 44).

Laut Europäischer Kommission dauern Hassverbrechen und Hassreden gegen Kurden an (EC 8.11.2023, S. 19). Auch das EP weist darauf hin, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 19.5.2021, S. 16f, Pt. 44).

Kurdische Zivilgesellschaft

Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023a, S. 85) und die meisten blieben es auch (EC 8.11.2023, S. 18, 44). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete. Allerdings wurde das Urteil des Verfassungsgerichts (mit Stand November 2023) nicht umgesetzt (EC 8.11.2023, S. 18f.; vgl. CCRT 8.4.2021).

Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes mit der Kurdischen Arbeiterpartei - PKK

Dennoch wird der Krieg der Regierung gegen die PKK zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen (FH 10.3.2023, F4).

Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli (Dersim) blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 20.3.2023a, S. 29, 85). Die Lage im Südosten bleibt besorgniserregend und wurde durch die Erdbeben im Februar 2023, von denen auch ein Teil der Region betroffen war, noch verschärft. Die Regierung setzte ihre inländischen und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen in Irak und Syrien fort, auch nach den Erdbeben. Die Sicherheitslage in den Grenzgebieten bleibt aufgrund der terroristischen Angriffe der PKK prekär (EC 8.11.2023, S. 18).

Für weiterführende Informationen siehe Kapitel "Sicherheitslage" und Unterkapitel "Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)".

Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 18). Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise betroffen. In einem Prozess in Diyarbakır gegen 18 kurdische Journalisten und Medienschaffende, die der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" beschuldigt wurden, verbrachten 15 von ihnen 13 Monate (seit Juni 2022) in Untersuchungshaft, bevor sie bei ihrer ersten Anhörung im Juli freigelassen wurden (HRW 11.1.2024; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). In einem Verfahren in Ankara gegen 11 kurdische Journalisten verbrachten neun von ihnen sieben Monate in Untersuchungshaft, bevor sie im Mai 2023 bei ihrer ersten Anhörung freigelassen wurden (Die beiden Verfahren dauerten mit Stand Ende 2023 noch an.) (HRW 11.1.2024). Laut eigenen Angaben werden kurdische Journalisten schlicht wegen ihrer Berichte über die sich verschlimmernde Menschenrechtslage in den Kurdengebieten angeklagt (BIRN 8.12.2023). Vom Vorwurf der Terrorismusunterstützung sind nebst pro-kurdischen politischen Parteien [siehe hierzu das Unterkapitel "Opposition"] auch Vertreter kurdische NGOs und Vereine. - So hat ein Gericht in Diyarbakır Narin Gezgör, ein Gründungsmitglied der "Rosa Frauenvereinigung", einer kurdischen Frauenrechtsgruppe, im September 2023 wegen Terrorismus zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Zu den gegen Gezgör vorgebrachten Beweisen gehörten ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung sowie ihre Medieninterviews und anonymen Zeugenaussagen, die sie belasteten (SCF 11.9.2023).

Zur Verfolgung kurdischer Journalisten siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit/ Internet.

Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig, so auch 2022, anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), am 1. Mai (WKI 3.5.2022) oder regelmäßig zum kurdischen Neujahrsfest Newroz. So wurden 2023 gemäß offiziellen Angaben 224 Personen in Istanbul anlässlich des Frühlingsfestes verhaftet (Duvar 20.3.2023).

Gewaltsame Übergriffe

Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (MBZ 2.3.2022, S. 43; USDOS 20.3.2023a). Im Juli 2021 veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021). Auch in den Jahren 2022 und 2023 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35). Beispiele: Bilder von Fans des Fußballklubs Bursaspor, die Spieler von Amedspor aus Diyarbakır mit scharfen Gegenständen, leeren Patronenhülsen und Flaschen bewarfen und dabei rassistische Parolen riefen, schockierten das Land im März 2023. Ein kurdischer Jugendlicher, der es wagte, ein Amedspor-Transparent hochzuhalten, wurde von Bursaspor-Anhängern brutal zusammengeschlagen. Ein anderer kurdischer Jugendlicher wurde eingekreist und gezwungen, den Wimpel der Heimmannschaft Bursaspor zu küssen. Amedspor-Spieler gaben an, dass sie in den Umkleidekabinen von "privaten Sicherheitsleuten, Sicherheitsbeamten des Vereins, Vereinsmitarbeitern und Polizeibeamten" schikaniert wurden (AlMon 6.3.2023). Anfang April 2023 kam es zu einem gewaltsamen Übergriff auf drei Bauarbeiter im Bezirk Bodrum der Provinz Muğla, weil sie Kurdisch sprachen. Die Angreifer griffen die kurdischen Arbeiter mit einer Schrotflinte, einer Axt und Eisenstangen an und setzten danach ihre Drohungen mit WhatsApp-Nachrichten fort (Gercek 3.4.2023; vgl. TİHV/HRFT 3.4.2023). Am 2.5.2023 wurde der kurdische Straßensänger Cihan Aymaz in Istanbul von einem Mann erstochen, da er verweigerte, das Lied "Ölürem Türkiyem" ("Ich würde für meine Türkei sterben") sofort zu singen, und zudem regelmäßig kurdische Lieder sang (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 35; vgl. Bianet 4.5.2023). Die Istanbuler Polizei hat kurdische Jugendliche daran gehindert, Halay, einen traditionellen kurdischen Volkstanz, zu kurdischer Musik zu tanzen und vier von ihnen nach einem Gerangel festgenommen. Anschließend tauchte ein Video auf, das zeigt, wie die Polizei die Festgenommenen zwingt, osmanische Militärmusik zu hören, während sie mit gefesselten Händen auf dem Boden liegen (Duvar 22.5.2023). Das Sicherheitspersonal eines Flughafens in Provinz Trabzon griff am 16.12.2023 vier Bauarbeiter an, weil sie sich auf Kurdisch unterhielten. Ein Arbeiter sagte, dass drei Angreifer auf die Polizeiwache gebracht wurden, obwohl sie eigentlich von etwa 25 Personen angegriffen wurden (Duvar 17.12.2023).

[Anmerkung: Für Beispiele vor dem Jahr 2023 siehe vormalige Versionen der Länderinformationen Türkei!]

Verwendung der kurdischen Sprache

Der Gebrauch von Kurdisch als Unterrichtssprache ist eingeschränkt. Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift, wobei die Kurdischkenntnisse vor allem in den Großstädten zurückgehen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Nur wenige politische Parteien haben muttersprachlichen Unterricht ausdrücklich in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirken sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus, und eine Reihe von Kunst- und Kulturgruppen in kurdischer Sprache wurden von den Treuhändern entlassen. Ein Dutzend Konzerte, Festivals und kulturelle Veranstaltungen wurden von den Gouvernements und Gemeinden mit der Begründung "Sicherheit und öffentliche Ordnung" verboten. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, Medien und zahlreiche Kunsträume blieben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016, was zu einer weiteren Beschneidung ihrer kulturellen Rechte beitrug (EC 8.11.2023; S. 44). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (MBZ 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AlMon 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).

Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8; vgl. (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Dogan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. - Der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AlMon 10.8.2022; vgl.ÖB Ankara 30.11.2021). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Sprachkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022). Und im Jänner 2023 teilte der Parlamentsabgeordnete der HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, mit, dass zwei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Hevra festgenommen wurden, weil sie auf Kurdisch auf einem vom HDP-Jugendrat organisierten Konzert in Darıca nahe Istanbul gesungen haben (Duvar 23.1.2023).

In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Duvar 30.8.2021b). Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).

Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020). Die vom Staat ernannten Treuhänder im Südosten änderten weiterhin die ursprünglichen (kurdischen) Straßennamen (EC 8.11.2023; S. 44).

Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 10). 2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).

Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S. 71).

Siehe auch das Unterkapitel: "Opposition" und bezüglich kurdischer Gefängnisinsassen das Kapitel: "Haftbedingungen"

Verwendung des Begriffes "Kurdistan"

Obwohl der einstige türkische Staatspräsident Abdullah Gül bei seinem historischen Besuch 2009 im Nachbarland Irak zum ersten Mal öffentlich das Wort "Kurdistan" in den Mund nahm, auch wenn er sich auf die irakische autonome Region bezog, galt dies damals als Tabubruch (FAZ 24.3.2009). Laut dem pro-kurdischen Internetportal Bianet lassen sich etliche Beispiele finden, wonach das Wort "Kurdistan" in der Türkei je nach der politischen Atmosphäre gesagt oder nicht gesagt werden kann. Das Wort "Kurdistan" zu sagen, kann eine Beleidigung sein oder auch nicht. Aber am gefährlichsten ist es immer, wenn Kurden "Kurdistan" sagen (Bianet 16.7.2019). - Während auch Erdoğan, damals Regierungschef, den Begriff anlässlich des Besuchs des Präsidenten der Kurdischen Region im Nordirak, Massoud Barzani, in Diyarbakır im Oktober 2013 verwendete (DW 19.11.2013), kam es kaum einen Monat später zu Spannungen im türkischen Parlament, weil in einem Bericht der pro-kurdischen BDP [Vorgängerpartei der HDP] zum Budgetentwurf der Regierung der Begriff "Kurdistan" zur Beschreibung der kurdischen Siedlungsgebiete in Ost- und Südostanatolien auftauchte. Die anderen Parteien im Parlament wandten sich gegen die Benutzung des Wortes, das bei türkischen Nationalisten als Ausdruck eines kurdischen Separatismus gilt. Während einer Debatte über den BDP-Bericht gingen Abgeordnete von BDP und ultra-nationalistischen MHP aufeinander los (Standard 10.12.2013).

2019 sagte Binali Yıldırım, der AKP-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von İstanbul, auf einer Kundgebung vor den Wahlen "Kurdistan", und als er darauf angesprochen wurde, antwortete er, dass das Wort Kurdistan jenes sei, welches Mustafa Kemal Atatürk für die Vertreter verwendet hatte, die während des Unabhängigkeitskampfes vor der Gründung der Republik aus dieser Region kamen. Für die "Vereinigung der Jugendbewegung Kurdistans" in Istanbul hingegen erklärte das Innenministerium, dass die Verwendung des Wortes "Kurdistan" ein Verstoß gegen Artikel 14 der Verfassung und Artikel 302 des türkischen Strafgesetzbuches sei. Es dürfe nicht im Namen einer Vereinigung verwendet werden. Es folgte eine Klage gegen den Verein (Bianet 16.7.2019). Und im Oktober 2021 verhaftete die Polizei in Siirt vorübergehend einen kurdischen Geschäftsmann, nachdem er während eines Streits mit einem nationalistischen Politiker seine Stadt als Teil von "Kurdistan" bezeichnet hatte. Ihm wurde vorgeworfen, Propaganda für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu machen (Rudaw 29.10.2021).

Die Auseinandersetzung hinsichtlich der Verwendung des Begriffes "Kurdistan" hat mittlerweile selbst den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erreicht. - Dieser entschied am 13.6.2023, dass die türkischen Behörden die Rechte des ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Volkspartei (HDP), Osman Baydemir, verletzt hatten, indem sie gegen ihn eine Strafe verhängten, weil er 2017 während einer Rede im Parlament den Begriff "Kurdistan" verwendet hatte. In seinem Urteil vom 13.6.2023 stellte der EGMR fest, dass Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über "Meinungsfreiheit" verletzt worden sei. Der EGMR verurteilte die Türkei zur Zahlung einer Entschädigung von 16.957 Euro an Baydemir (Duvar 13.6.2023; vgl. ECHR 13.6.2023).

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Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Letzte Änderung 2024-03-07 13:52

Allgemeiner Rechtsrahmen und Defizite

Die türkische Gesetzgebung verankert die Gleichheit von Mann und Frau in Art. 10 der Verfassung. Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung - auch in der Ehe - sind unter Strafe gestellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 44), und zwar mit zwei bis zehn Jahren Freiheitsentzug bei Verurteilung wegen versuchten sexuellen Missbrauchs und mindestens zwölf Jahren bei Verurteilung wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung (USDOS 20.3.2023a, S. 79). Allerdings werden diese Bestimmungen nicht immer effektiv umgesetzt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 44; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 79), sodass nach wie vor Probleme in den Bereichen Geschlechtergleichheit, Gewalt gegen Frauen, Ehrenmorde, Zwangsehen sowie häusliche Gewalt bestehen. Ursache hierfür ist, dass in bestimmten Teilen der Gesellschaft verankerte Stereotype ebenso ein Hindernis bei der Umsetzung der Rechte der Frauen bleiben (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 45) wie der mangelnde politische Wille und der patriarchale Zugang der Regierung zur Problematik (MEI 18.12.2019).

Zwar wurden in den letzten 15 Jahren zahlreiche neue Gesetze - insbesondere 2012 das Gesetz Nr. 6284 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt - und politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen verabschiedet, inklusive der Bekämpfung häuslicher Gewalt, doch gibt es in fast allen Bereichen der Sozialpolitik, die mit Frauenrechten zu tun haben - von sexueller Gewalt über häusliche Gewalt bis hin zu Menschenhandel - erhebliche Umsetzungslücken, die weiterhin eine große Herausforderung darstellen. So werden im türkischen Strafgesetzbuch nicht alle Arten von Gewalt gegen Frauen als Straftaten definiert. Zwangsheirat oder psychische Gewalt werden nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt. Besorgniserregend ist laut Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen der Vereinten Nationen auch die Unvereinbarkeit und mangelnde Harmonisierung der nationalen Gesetze der Türkei mit ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen (OHCHR 27.7.2022a, S. 4). Das UN-Komitee für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW-Komitee) begrüßte 2022 die bedeutenden Rechtsreformen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, und dass das Gesetz Nr. 6284/2012 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt gegen Frauen einen wichtigen Rahmen für die Verhütung von Gewalt und den Schutz der Opfer bildet. CEDAW stellte jedoch mit Besorgnis fest, dass sowohl der Geltungsbereich der bestehenden Rechtsvorschriften als auch ihre Umsetzung noch Lücken aufweisen (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 7f.).

Austritt aus der "Istanbul-Konvention" - politische Gründe

Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention trat mit 1.7.2021 in Kraft (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 45; vgl. AP 19.7.2022). Das Gesetz zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen (Gesetz Nr. 6284) aus dem Jahr 2012 übernahm allerdings viele Aspekte der Istanbul-Konvention in das innerstaatliche Recht und bleibt trotz des Austritts der Türkei aus der Konvention in Kraft. Darüber hinaus ist die Türkei an andere internationale Menschenrechtsvorschriften gebunden, die sie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verpflichten. Zu nennen sind hier insbesondere das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) (HRW 5.2022, S. 2, 5). Die Bewertung der Auswirkungen des Austritts der Türkei aus der Istanbul-Konvention erwies sich als recht schwierig. Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wirkte sich der Austritt der Türkei aus diesem Vertrag vor allem auf der politischen Ebene aus. Nach dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention legten die türkischen Behörden ihren eigenen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vor. Der Aktionsplan enthielt weder einen Hinweis auf die "Gleichstellung der Geschlechter" noch waren Frauenrechtsorganisationen bei seiner Ausarbeitung konsultiert worden. Verschiedene Quellen betonten, dass weder die Istanbul-Konvention noch das daraus resultierende Schutzgesetz 6284 jemals wirksam umgesetzt worden seien (MBZ 31.8.2023, S. 59).

Seinerzeit wurde die Istanbul-Konvention als erste internationale völkerrechtsverbindliche Vereinbarung vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan als einem der ersten 2011 unterschrieben und im Parlament 2012 ratifiziert. Seit Jahren wurde insbesondere von den Islamisten innerhalb und außerhalb der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Kritik an der Konvention immer lauter, nämlich dahin gehend, dass diese die Ordnung in der Familie untergrabe, die Scheidungsrate steigere und überhaupt hierdurch die Frau dem Manne den Gehorsam verweigere. Außerdem sahen islamisch-konservative Kreise in der Konvention auch einen Türöffner für die von ihnen verhasste "LGBTIQ-Kultur" und überhaupt für das Vordringen vermeintlicher westlicher Dekadenz (Standard 20.3.2021; vgl. AP 20.3.2021, NZZ 21.3.2021). So erklärte der Kommunikationschef des Präsidenten, die Konvention sei missbraucht worden, um "Homosexualität zu normalisieren", was mit den gesellschaftlichen Werten der Türkei unvereinbar sei. Die Ministerin für Familie, Arbeit und Sozialpolitik, Zehra Zumrut, argumentierte den Austritt damit, dass die Garantie von Frauenrechten in den türkischen Gesetzen und in der Verfassung ausreiche (DW 20.3.2021b).

Kinder-, Früh- und Zwangsehen

Die Europäische Kommission (EK) zeigte sich bereits 2020 besorgt ob der Kinder-, Früh- und Zwangsehen (EC 6.10.2020, S. 39). Angesichts der Errichtung einer parlamentarischen Kommission zur Untersuchung von Kindesmissbrauch im Januar 2023 verlangte die EK, dass ein nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung und Verhinderung von Kinder-, Früh- und Zwangsehen und zur Sensibilisierung für die schädlichen Auswirkungen von Kinderheiraten aufgestellt wird (EC 8.11.2023, S. 41). Ebenso äußerte sich das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom September 2023 (EP 13.9.2023, Pt. 14).

Während ihrer langjährigen Regierungsherrschaft hat die konservative AK-Partei eine starke Agenda der Familienwerte vorangetrieben: Frauen sollten heiraten und drei Kinder bekommen, so z.B. Präsident Erdoğan (NYRB 20.2.2019), weil sie ansonsten "unvollständig" seien. Das Frau-Sein wird mit der Mutterschaft gleichgesetzt. Laut Erdoğan können Frauen und Männer nicht gleichbehandelt werden, da dies gegen die Natur sei. Kurz nachdem Präsident Erdoğan im Jahr 2012 Abtreibung mit Mord gleichgesetzt hatte, sank die Zahl der staatlichen Krankenhäuser, die Abtreibungsdienste anbieten, dramatisch ab, sodass einige Frauen wie auch Mediziner im Zweifel sind, ob die Abtreibung, die 1983 legalisiert wurde, immer noch legal ist oder nicht (MEI 18.12.2019).

Gesetzliche Schutzmaßnahmen und deren praktische Umsetzung/ Verschärfungen des Strafrechts bezüglich Gewalt gegen Frauen

Das Gesetz verpflichtet die Polizei und die lokalen Behörden, Überlebenden von Gewalt oder von Gewalt bedrohten Personen verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Es schreibt auch staatliche Dienstleistungen wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für Überlebende vor und sieht vor, dass Familiengerichte Sanktionen gegen die Täter verhängen können (USDOS 20.3.2023a, S. 80). Opfer häuslicher Gewalt können bei der Polizei oder beim Staatsanwalt am Gericht eine vorbeugende Verwarnung beantragen, die eine Reihe von Maßnahmen umfassen kann, die darauf abzielen, Täter häuslicher Gewalt zu zwingen, alle Formen der Belästigung und des Missbrauchs einzustellen, einschließlich des Verbots, sich dem Opfer zu nähern und es zu kontaktieren. Die Opfer haben auch das Recht, Schutzanordnungen zu beantragen, um verschiedene Formen des physischen Schutzes zu erwirken, einschließlich des sofortigen Zugangs zu einem Frauenhaus oder einer kurzfristigen Unterkunft, wenn kein Frauenhaus in unmittelbarer Nähe zur Verfügung steht. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, auf Verlangen Polizeischutz in Anspruch zu nehmen, und in einigen Fällen können Frauen ihre Identität und ihren Aufenthaltsort anonymisieren lassen. Die Gerichte stellen eine einstweilige Verfügung für eine bestimmte Dauer von bis zu sechs Monaten. Das Opfer kann deren Verlängerung beantragen. Täter können mit kurzen Haftstrafen (zorlama hapsi) belegt oder zum Tragen einer elektronischen Fußfessel verpflichtet werden, wenn sie gegen die Bedingungen der vorbeugenden Abmahnung verstoßen (HRW 5.2022, S. 2).

Mit dem vierten Justizreformpaket vom Juli 2021 wurden die Verbrechen der vorsätzlichen Tötung, vorsätzlichen Körperverletzung, Verfolgung und Freiheitsentziehung einer ehemaligen Ehepartnerin/ eines ehemaligen Ehepartners in die Liste der sog. "qualifizierten Verbrechen" aufgenommen, was bisher nur während aufrechter Ehe galt. Die Strafen wurden angehoben. Im Mai 2022 trat ein Justiz-Sofortpaket zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Kraft. Trotz positiver Änderungen, wie der Anhebung der Mindesthöhe von Freiheitsstrafen für einige Delikte, halten Experten die neuen Regelungen für wenig wirkungsvoll, vor allem aufgrund der nach wie vor vergleichsweise niedrigen Maximalstrafen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 45). Sie kritisierten auch die Beschränkung auf das formale Kriterium einer (früheren) Ehe unter Nichtbeachtung anderer partnerschaftlicher Verbindungen (ÖB Ankara 30.11.2022, S. 13f.). So kritisierte Reem Alsalem, UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen, ihre Ursachen und Folgen, dass die Änderung der Strafprozessordnung jedoch vorsieht, dass neben einem "dringenden strafrechtlichen Verdacht" auch "konkrete Beweise" für die Verhängung einer Untersuchungshaft während des Prozesses bei Straftaten, einschließlich sexueller Übergriffe und Missbrauch, verlangt werden. Laut Alsalem zugetragenen Informationen würden Männer, die Gewalt gegen Frauen ausüben, sich weiterhin erfolgreich auf "Gewohnheit" als mildernden Umstand berufen, um ihre Strafe gemäß Artikel 29 des Strafgesetzbuches zu verringern, was gegen internationale Menschenrechtsvorschriften verstößt. Anlass zur Sorge gäbe außerdem der eingeschränkte Umfang der Prozesskostenhilfe, der dazu führt, dass Frauen, die den Mindestlohn verdienen, keinen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, das umständliche Verfahren zum Nachweis der Anspruchsberechtigung und die Sprachbarrieren, mit denen sich rechtsuchende Frauen konfrontiert sehen, insbesondere Frauen, die ethnischen Minderheiten angehören, einschließlich türkisch-kurdischer Frauen, und Frauen, die Flüchtlinge oder Migranten sind oder unter vorübergehendem Schutz stehen. Auch geschlechtsspezifische Stereotype und der Mangel an Richterinnen sind Alsalem zufolge problematisch (OHCHR 27.7.2022a, S. 6).

Am 27.5.2022 wurde das Gesetz Nr. 7406, welches u.a. Änderungen des türkischen Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung (StPO) vornimmt, im Amtsblatt veröffentlicht. Dieses Änderungsgesetz macht die vorsätzliche Tötung einer Person zu einem erschwerenden Delikt, wenn das Opfer eine Frau ist. Zuvor galt unter anderem die Tötung einer "Frau, von der man weiß, dass sie schwanger ist", als erschwerender Umstand. Durch die Gesetzesänderung wird die vorsätzliche Tötung einer Frau nun mit einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet. Das Änderungsgesetz führt auch erhöhte Mindeststrafen für die Straftatbestände der vorsätzlichen Körperverletzung (Art. 86 StGB), der Peinigung (vorsätzliche Zufügung von Schmerzen und Leiden an einer Person, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist, Art. 96), Folter (folterähnliche Handlungen von Amtsträgern und ihren Gehilfen, Art. 94) und die Drohung, das Leben oder die körperliche oder sexuelle Unversehrtheit zu verletzen (Art. 106), wenn das Opfer eine Frau ist. Mit den Änderungen wird auch ein neuer Straftatbestand eingeführt, der die Verursachung einer schwerwiegenden Beunruhigung [disquiet] oder der Angst einer Person hinsichtlich ihrer eigenen Sicherheit oder die ihrer Angehörigen durch die beharrliche körperliche Verfolgung der Person oder den beharrlichen Versuch, mit der Person über Kommunikationsmedien, informationstechnische Systeme oder eine dritte Person Kontakt aufzunehmen unter Strafe stellt. Die Verfolgung der Straftat setzt die Anzeige des Opfers voraus, wobei die Straftat mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren geahndet wird. Die Strafe wird auf ein bis drei Jahre Gefängnis erhöht, wenn es u.a. ein geschiedener oder getrennt lebender Ehepartner ist. Schließlich wurden Änderungen an Artikel 62 der Strafprozessordnung (StPO) vorgenommen, indem die Gründe für eine Strafmilderung nach Ermessen des Gerichts festgelegt sind. Die Änderungen stellen klar, dass "das Verhalten des Täters nach der Begehung der Straftat und während des Prozesses" Reue zeigen muss, damit es als Grund für eine Strafmilderung gilt. Die Gründe sind nun dezidiert aufgelistet, etwa der Hintergrund des Straftäters, seine sozialen Beziehungen und das reumütige Verhalten des Straftäters nach der Begehung der Straftat. Neu wird eine Ausnahme hinzugefügt, die besagt, dass vorgeschobene Handlungen eines Straftäters, die darauf abzielen, das Gericht zu beeinflussen, nicht als Grund für eine Strafmilderung angesehen werden können. Eine Reihe von Frauengruppen und Juristen haben die neuen Änderungen kritisiert, weil sie sich auf die Verschärfung der Strafen konzentrieren und nicht auf Maßnahmen zur Prävention und effizienten Untersuchung und Verfolgung von Gewaltdelikten gegen Frauen sowie auf die Unterstützung der Opfer. Die Kriminalisierung von Stalking scheint von diesen positiver aufgenommen worden zu sein, obwohl sie kritisierten, dass die Verfolgung der Straftat von der Anzeige des Opfers abhängig gemacht wird (LoC 20.6.2022).

Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums haben Polizeibeamte mitunter den Frauen davon abgeraten, häusliche Gewalt anzuzeigen, und ermutigten sie, sich mit dem Täter zu versöhnen. Es kam auch vor, dass Frauen falsche oder gar keine Informationen erhielten, wenn sie sich an die Polizei wandten. Außerdem wurden Kontaktverbote, die von Familiengerichten oder Polizeibeamten verhängt wurden, nicht immer durchgesetzt. Darüber hinaus wurden Kontaktverbote zwar für maximal sechs Monate verhängt, jedoch nicht automatisch verlängert, sodass die Frauen wiederholt ein bürokratisches Verfahren durchlaufen mussten, um dieselbe Schutzmaßnahme erneut erwirken zu können (MBZ 2.3.2022, S. 53; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 60). Zwar erlassen Polizei und Gerichte Präventiv- und Schutzanordnungen. Deren Nichtbeachtung jedoch hinterlässt gefährliche Schutzlücken für Frauen (HRW 5.2022, S. 3). In vielen Fällen konnten sich Männer, gegen die ein Kontaktverbot verhängt worden war, der Wohnadresse der betroffenen Frau nähern, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Es gab auch Verzögerungen bei der Verhängung von Kontaktverboten, oder diesbezügliche Aufforderungen dazu wurden einfach nicht befolgt (MBZ 2.3.2022, S. 53; vgl. HRW 5.2022, S. 3). Nicht nur stellen die Gerichte häufig Verwarnungen für viel zu kurze Zeiträume aus, sondern die Behörden verabsäumen es, wirksame Risikobewertungen vorzunehmen oder die Wirksamkeit der Anordnungen zu überwachen, sodass Überlebende häuslicher Gewalt der Gefahr fortgesetzter - und manchmal tödlicher - Gewalt ausgesetzt sind. Bei denjenigen, die strafrechtlich verfolgt und verurteilt wurden, kommt dies oft zu spät und die Strafen sind zu gering, um eine wirksame Abschreckung zu bewirken. In den schwerwiegendsten Fällen wurden Frauen ermordet, obwohl den Behörden die Gefahr, der sie ausgesetzt waren, bekannt war und den Tätern förmliche Vorbeugeanordnungen zugestellt worden waren (HRW 5.2022, S. 3).

Die unzureichende Datenerhebung verhindert, dass die Behörden und die Öffentlichkeit einen soliden Überblick über das Ausmaß der häuslichen Gewalt in der Türkei oder die Lücken in der Umsetzung des Schutzes erhalten, die zu den anhaltenden Risiken für die Opfer beitragen (HRW 5.2022, S. 4; vgl. EC 12.10.2022, S. 41).

Laut (damaligen) Innenminister Süleyman Soylu wurde seit ihrer Einführung 2018 die staatliche mobile Anwendung KADES, die Frauen eine Hotline zur Meldung häuslicher Gewalt bietet, bis April 2023 von 5,2 Millionen Frauen heruntergeladen. In der Praxis hat die KADES-App die Erwartungen nicht erfüllt. Um sich zu vergewissern, ruft die Polizei oft vor dem Einsatz die betreffende Frau an, nachfragend, ob sie tatsächlich in Gefahr ist. Ein weiteres Problem ist, dass Frauen in gefährlichen Situationen nicht immer in der Lage sind, ans Telefon zu gehen. Darüber hinaus werden die beteiligten Männer aggressiver, wenn sie erfahren, dass die Frauen die Polizei gerufen hat. Beamte haben, wenn sie tatsächlich auf Notrufe reagierten, in der Regel versucht zwischen den Frauen und ihren Peinigern zu vermitteln, um eine Versöhnung herbeizuführen (MBZ 31.8.2023, S. 61).

Die Gerichte urteilen oft milde über die Täter sexueller Gewalt, darunter auch über diejenigen, die wegen der Vergewaltigung minderjähriger Mädchen verurteilt wurden, und die Strafen werden oft herabgesetzt, wenn der Angeklagte während des Prozesses "gutes Benehmen" an den Tag legt (DFAT 10.9.2020, S. 35). Frauenrechtsaktivistinnen in der Türkei haben erklärt, dass Täter, die geschlechtsspezifische Gewalt, Femizid und sexuellen Missbrauch begehen, dank reduzierter Haftstrafen straffrei ausgehen. Nach Angaben der Aktivistinnen wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 mindestens 17 Täter zu reduzierten Haftstrafen verurteilt. Einige dieser Fälle betrafen den sexuellen Missbrauch von minderjährigen Mädchen. Canan Güllü, Vorsitzende der Föderation der türkischen Frauenverbände, sagte, dass solche Strafmilderungen zu einem Anstieg der Fälle von körperlichem und sexuellem Missbrauch geführt haben. Sie kritisierte zudem, dass Richter und Staatsanwälte nicht über die notwendige Ausbildung verfügen, um geschlechtsspezifische Gewalt und Missbrauch vollständig zu verstehen. - Türkische Gerichte sind wiederholt in die Kritik geraten, weil sie dazu neigen, Straftäter milde zu bestrafen, indem sie behaupten, die Tat sei "aus Leidenschaft" begangen worden, oder indem sie das Schweigen der Opfer als Zustimmung auslegen (SCF 3.10.2023).

Femizide und sog. "Ehrenmorde"

Gewalt gegen Frauen bleibt in der Türkei ein hochaktuelles Thema. Laut Berichten von Frauenrechtsorganisationen waren 2022 mindestens 334 Frauenmorde sowie 245 "verdächtige" Todesfälle von Frauen und 2023 (bis Ende Oktober) 253 Frauenmorde sowie 194 "verdächtige" Todesfälle zu verzeichnen. Das Thema findet in den letzten Jahren wachsende Aufmerksamkeit. In Teilen der Bevölkerung findet eine wachsende Sensibilisierung statt. Projekte von NGOs zielen auf eine weitere Bewusstseinsbildung für das Problem ab (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 45). Laut einem Bericht, der am 23.11.2023 von der Nachrichtenagentur Bianet veröffentlicht wurde, sind zwischen dem 1.1. und 21.11.2023 mindestens 288 in der Türkei Opfer von Femiziden geworden. Dem Bericht zufolge wurden in 165 der Mordfälle Schusswaffen eingesetzt, drei wurden bei lebendigem Leib verbrannt und zwei zu Tode gesteinigt. Gegen 681 weitere Frauen sollen Gewalttaten verübt worden sein, und mindestens 335 Frauen sollen im Verlauf des Jahres zur Prostitution gezwungen worden sein. Bei den Tätern handelte es sich hauptsächlich um Ehemänner, Ex-Ehemänner und männliche Familienangehörige (BAMF 27.11.2023).

Es kommt immer noch zu sogenannten Ehrenmorden an Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies kann auch Vergewaltigungsopfer betreffen (AA 28.7.2022, S. 14). Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben, sind oft unmittelbar bedroht (AA 24.8.2020, S. 18). Das UN-Komitee für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau zeigte sich in seinem Bericht zur Türkei besorgt über das Fortbestehen von Verbrechen, einschließlich Tötungen, die im Namen der sogenannten "Ehre" begangen werden, und über die relativ hohe Zahl von erzwungenen Selbstmorden oder getarnten Morden an Frauen. Das CEDAW-Komitee nahm mit Besorgnis die begrenzten Bemühungen der Türkei zur Kenntnis, die Öffentlichkeit über den kriminellen Charakter und das irreführende Konzept der sogenannten "Ehrenverbrechen" aufzuklären. Das Komitee nahm die übermittelten Informationen seitens der Türkei zur Kenntnis, wonach Artikel 29 des Strafgesetzbuchs, der mildernde Umstände im Falle einer "ungerechtfertigten Provokation" vorsieht, nicht auf Tötungen im Namen der sogenannten "Ehre" angewendet wird. Der Ausschuss ist jedoch nach wie vor besorgt, dass dies keinen ausreichenden rechtlichen Schutz darstellt, da die Bestimmung, die die Anwendung von Artikel 29 ausdrücklich verbietet, sich nur auf Tötungen im Namen der "Sitte" (töre) bezieht und daher möglicherweise nicht immer Tötungen im Namen der sogenannten "Ehre" (namus) abdeckt (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 9).

Am 29.9.2021 entschied der Verfassungsgerichtshof, dass mehrere Beamte, die vor dem Mord an einer Frau keine angemessenen Präventions- und Schutzmaßnahmen ergriffen hatten, um die Tat zu verhindern, strafrechtlich verfolgt werden sollen. S. Erfındık war 2013, einen Tag nachdem eine einstweilige Verfügung gegen ihren geschiedenen Ehemann ausgelaufen war, ermordet worden. Vor der Tat hatte sie nach Morddrohungen mehrfach eine Verlängerung der einstweiligen Verfügung sowie Schutzmaßnahmen beantragt, die jedoch von den Behörden abgelehnt wurden. Der Verfassungsgerichtshof urteilte, dass der Mord auf Fahrlässigkeit der Amtsträger und deren Versäumnis, geeignete Maßnahmen durchzuführen, zurückzuführen sei (BAMF 4.10.2021, S. 13f).

Schutzeinrichtungen

Die Hilfsangebote für Frauen, die Gewalt überlebt haben, sind nach wie vor sehr begrenzt, und die Zahl der Zentren, die solche Dienste anbieten, ist weiterhin unzureichend (USDOS 20.3.2023a, S. 80; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46). Das dortige Personal, insbesondere im Südosten des Landes, kann keine angemessene Betreuung und Dienste anbieten. Laut einigen NGOs ist der Mangel an Dienstleistungen für ältere Frauen, LGBTI-Frauen sowie für Frauen mit älteren Kindern noch akuter (USDOS 20.3.2023a, S. 80).

2023 existierten im ganzen Land lediglich 159 Frauenhäuser mit einer Kapazität von knapp unter 4.000 Plätzen für weibliche Opfer von Gewalt und deren Kinder (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46). Den Angaben der Menschenrechtsvereinigung İHD zufolge waren es 145 Frauenhäuser, von denen 110 vom Ministerium für Familie und Soziales und je eines von der Migrationsverwaltung und der Mor Çatı Women's Shelter Foundation betrieben werden. Buben, älter als zwölf, und Frauen, älter als 60, können jedoch nicht in diesen Unterkünften untergebracht werden, mit Ausnahme der Schutzeinrichtung von Mor Çatı. Auch die Zahl der Unterkünfte, die Asylwerber, Flüchtlinge und Migrantinnen aufnehmen, ist begrenzt. Laut İHD sind die Bürgermeisterämter auch 2021 nicht ihren Verpflichtungen zur Einrichtung und Unterhaltung von Frauenhäusern nachgekommen. Obwohl 237 Bürgermeisterämter verpflichtet sind, Frauenhäuser einzurichten, verfügen nur 33 Gemeinden über solche Einrichtungen (İHD/HRA 2.8.2022, S. 2). Schutzeinrichtungen für Frauen und Mädchen fehlen insbesondere in ländlichen und entlegenen Regionen. Flüchtlingsfrauen und Migrantinnen (OHCHR 27.7.2022a, S. 7) sowie Frauen und Mädchen mit Behinderungen stoßen beim Zugang zu Unterkünften auf erhebliche Hindernisse (OHCHR 27.7.2022a, S. 7; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46).

Die meisten von der Regierung betriebenen Frauenhäuser gelten als überfüllt und bieten nur eine Grundversorgung, ohne professionelle Beratung oder psychologische Betreuung. Die Lebensbedingungen in den meisten dieser Frauenhäuser ähneln jenen in Gefängnissen. Die Wartezeiten für die Aufnahme sind lang, sodass Frauen, die dringend Hilfe und Beratung benötigen, diese nicht zeitnah erhalten. Zudem gibt es Behördenmitarbeiter, die nur Opfer von physischer Gewalt aufnehmen, nicht aber Opfer von psychischer Gewalt, obwohl auch letztere Opfergruppe Anspruch auf Schutz hat. Außerdem verlangen Beamte, obwohl sie dazu nicht befugt sind, in einigen Fällen medizinische Unterlagen als Beweis dafür, dass die Frau körperlich angegriffen wurde (MBZ 2.3.2022, S. 55). Das UN-CEDAW-Komitee bemängelte 2022, dass Frauen, die versuchen, einer Gewaltbeziehung zu entkommen, unzureichende Unterstützung und Rechtsmittel zur Verfügung stehen. Dies spiegelt sich unter anderem in der unzureichenden Anzahl von Frauenhäusern in der gesamten Türkei und in den unangemessenen Bedingungen für Frauen in Frauenhäusern wider (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 8).

Allgemein werden Maßnahmen in diesem Bereich im Zusammenwirken mit dem Innenministerium, dem Gesundheitsministerium, dem Justizministerium, dem Verteidigungsministerium sowie dem Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) gesetzt. 71.000 Polizeibeamte, 65.000 Beschäftigte des Gesundheitsbereichs sowie 47.566 Religionsvertreter wurden entsprechend geschult (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46). Es fehlt jedoch bislang an ausreichender Koordination zwischen einzelnen Institutionen sowie Sensibilisierung von Exekutivbeamten, wie mit Fällen von Gewalt umzugehen ist (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46; vgl. EC 6.10.2020, S. 38). NGOs beklagen, dass religiöse Würdenträger, denen offenbar leichterer Zugang zu Frauenhäusern gewährt wird als Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, Frauen oftmals zu einer Rückkehr in die Familie überreden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46).

Behördliches Vorgehen gegen Frauenorganisationen und Frauenrechtsaktivistinnen

Frauenorganisationen werden durch Verleumdungen, Festnahmen, Ermittlungen und Verhaftungen unter Druck gesetzt. Auch Aktivistinnen wurden bei der Wahrnehmung ihres Rechts auf Versammlungsfreiheit inhaftiert und waren polizeilicher Gewalt ausgesetzt. Schließungsverfahren und Gerichtsverfahren liefen bzw. laufen gegen einige Frauenorganisationen. Mehrere Menschenrechtsverteidigerinnen und Aktivistinnen wurden inhaftiert und zu Geldstrafen verurteilt, weil sie an Demonstrationen für die Rechte der Frauen teilgenommen hatten. (EC 8.11.2023, S. 16, 30). Anlässlich des internationalen Tages gegen Gewalt gegen Frauen gab es Demonstrationen am 25.11.2022. Die Behörden haben in mehreren Städten diese Demonstrationen verboten und verhindert. In Istanbul hatte die Polizei mit massivem Aufgebot die Innenstadt weiträumig abgesperrt, während in Ankara etwa Kundgebungen, aber keine Märsche zugelassen waren (ARD 25.11.2022). Allein in Istanbul waren am 28.11.2022 40 Menschen festgenommen worden, teilte die Organisation "Wir werden Frauenmorde stoppen" mit, während bereits zwei Tage zuvor nach anderen Angaben an die 200 festgenommen worden waren (Tagesspiegel 27.11.2022). Auch in den osttürkischen Provinzen Şırnak, Ağrı und Van wurde demonstriert. Rund zwei Dutzend Frauen wurden festgenommen, darunter die Provinz- und Bezirksvorsitzenden der pro-kurdischen HDP (SCF 25.11.2022). In Cizre (Kurdengebiet) gab es Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Polizei. Die "Plattform 25. November" reichte eine Strafanzeige wegen der Polizeibrutalität an diesem Tag in Istanbul ein (EC 8.11.2023, S. 38).

Am Internationalen Frauentag 2023 nahm die Polizei bei Demonstrationen in Istanbul mehrere Personen fest und setzte Tränengas gegen die Demonstrierenden ein. Zuvor hatte das Büro des Bezirksgouverneurs Istanbul, wie in den Jahren zuvor, das zentrale Taksim-Viertel und die Umgebung für Demonstrationen anlässlich des Weltfrauentages gesperrt. Die Behörden erklärten, der geplante Marsch sei aus Sorge um die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit sowie zur Verhinderung von Straftaten und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer verboten worden (BAMF 13.3.2023, S. 3; vgl. TM 8.3.2023, CNN 9.3.2023).

Hassreden gegen unabhängige Frauenorganisationen haben zugenommen. Erklärungen des Innenministeriums, die Frauenorganisationen und Feministinnen wegen angeblicher terroristischer Verbindungen ins Visier nahmen, bedrohen die Existenz von Frauenverbänden. Frauenmärsche wurden mit Polizeigewalt beantwortet, und es wurde ein Gerichtsverfahren zur Schließung der bekannten Frauenplattform namens "We Will Stop Femicides Platform" eingeleitet (EC 12.10.2022, S. 41).

Die Koalition für Frauen im Journalismus (CFWIJ) stellte im Jahr 2022 fest, dass sich Journalistinnen in der Türkei auf immer gefährlicheres Terrain begeben mussten, sowohl physisch als auch digital, um ihre Arbeit fortsetzen zu können. Zwischen Jänner und Dezember 2022 verzeichneten CFWIJ 150 Fälle von Übergriffen auf Journalistinnen. Mindestens 50 Frauen wurden juristisch verfolgt, 47 wurden vor Ort von der Polizei oder Anhängern des Staates angegriffen. Die Zahl der in der Türkei inhaftierten Journalistinnen ist laut CFWIJ im Jahr 2022 um 27 % gestiegen, und Journalistinnen wurden auch durch organisierte Online-Troll-Kampagnen und über staatliche Medien ins Visier genommen, weil sie die Regierungspolitik kritisierten (CFWIJ 14.12.2023). Dies setzte sich auch 2023 fort. Im Dezember 2023 ging die Polizei zuletzt gegen zwei kurdische Journalistinnen vor, gegen die JIN-News-Reporterin Elfazi Toral und die Journalistin der Demokratischen Moderne, Sema Korkmaz. Sie wurden von der Polizei verprügelt und festgenommen, nachdem sie über eine Pressekonferenz in Istanbul berichtet hatten. Korkmaz wurde ohne Anklage freigelassen, während Toral wegen Verstoßes gegen das Protestgesetz angeklagt wurde (CFWIJ 8.12.2023).

Sozioökonomische Stellung

Was die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Beschäftigungs- und Sozialpolitik betrifft, so sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor sehr groß, trotz Verbesserungen am Arbeitsmarkt (EC 8.11.2023, S. 102). Im November 2023 betrug die offiziell geschätzte Arbeitslosenquote 9,0 %. Allerdings lag die Quote bei den Frauen bei 11,8 % zu nur 7,5 % bei den Männern. Die Erwerbstätigenquote lag bei 48,2 % - 65,4 % bei Männern und 31,3 % bei den Frauen (TUIK 10.1.2024a).

Mit einem Wert von 0,638 (1 = bester Wert) lag die Türkei auf Platz 129 von 146 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index 2023. In den Sub-Indizes lag die Türkei bei der "Wirtschaftlichen Teilhabe und Chancen" nur auf Platz 133. Währenddessen sahen die Platzierungen beim "Bildungsstand" (Rang 99), bei der "Politischen Ermächtigung" (Platz 118) und bei der "Gesundheit" (Position 100) besser aus (WEF 6.2023).

Zur allgemeinen Situation der kurdischen Frauen siehe Kapitel: Kurden; zur Lage von inhaftierten Frauen siehe Kapitel: Haftbedingungen.

Quellen

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 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2020),_24.08.2020.pdf, Zugriff 8.9.2023 [Login erforderlich]

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 AP - Associated Press (20.3.2021): Turkey withdraws from European treaty protecting women, https://apnews.com/article/world-news-turkey-europe-istanbul-violence-f096c185314cde20dce2504a70ee6889 , Zugriff 25.1.2024

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Grundversorgung / Wirtschaft

Letzte Änderung 2024-03-07 13:56

Das Wirtschaftswachstum könnte sich 2024 infolge der strafferen Geldpolitik laut Internationalem Währungsfonds auf 3 % abschwächen, verglichen mit rund 4 % im Jahr 2023 und 5,5 % im Jahr 2022 (GTAI 12.12.2023a). Getragen von privatem Verbrauch und Staatsausgaben haben Wahlkampfgeschenke, Lohn- und Pensionssteigerungen, Frühpensionierungen und günstige Kredite das Wachstum angetrieben. Die türkische Wirtschaft profitiert zudem davon, dass viele Unternehmen aus der EU in die Türkei ausweichen, um das verlorene Geschäft mit Russland bzw. der Ukraine auszugleichen (WKO 10.2023, S. 4).

Bis zu den Mai-Wahlen 2023 verfolgte Staatspräsident Erdoğan trotz horrender Inflation eine Niedrigzinspolitik, die kurzfristig die Exporte und den Konsum anregte. Dies befeuerte die Inflation und den Abwertungsdruck auf die türkische Lira, die in der Folge staatlich gestützt wurde. Die Nettoreserven der Zentralbank sind gesunken, die Auslandsverschuldung und Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen sind hoch. Instabile Rahmenbedingungen haben das Vertrauen der Investoren erschüttert. Nach den Wahlen im Frühjahr 2023 vollzog das Land einen Kurswechsel hin zu einer restriktiveren Geldpolitik. Der Leitzins wurde bis Ende November 2023 schrittweise von 8,5 auf 40 % erhöht. Infolgedessen wird für 2024 ein Abschwächen des Wirtschaftswachstums erwartet. Weitere Herausforderungen sind eine hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende geo- und innenpolitische Spannungen, aber auch hausgemachte Probleme (GTAI 12.12.2023b).

Die Inflation hat die reale Kaufkraft der Haushalte geschmälert. Gehaltserhöhungen federn die Einbußen meist nur ab. Die Leitzinserhöhungen könnten mittelfristig den Konsum dämpfen. Noch treibt die Inflation den Konsum an, denn Sparen lohnt sich kaum. Die Bevölkerung flüchtet wegen der schwachen Lira in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien (GTAI 12.12.2023b). Zu den größten Preistreibern zählen derzeit die Sektoren Hotellerie und Gastronomie, Gesundheit, Lebensmittel, nicht-alkoholische Getränke und Transport (WKO 10.2023, S. 5). Die seit Juli 2023 wieder steigende offizielle Inflationsrate betrug für das gesamte Jahr 2023 offiziell 64,77 %. Laut Berechnungen der Forschungsgruppe für Inflation (ENAGrup) stieg der Verbraucherpreisindex für denselben Zeitraum jedoch um 127,21 % (Duvar 3.1.2024a, vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52). Die offizielle saisonal bereinigte Arbeitslosenquote ist nach einem Höchststand von 14,2 % im Juli 2020 rückläufig und erreichte im August 2023 mit 9,2 % einen Tiefststand. Neben der hohen Jugendarbeitslosigkeit von 17,2 % bleibt die Langzeitarbeitslosigkeit von 20,8 % ein Problem (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4, 52). Die offizielle saisonbereinigte Erwerbsquote lag im November 2023 bei 52,9 %. Die Erwerbsquote lag bei den Männern mit 70,7 % fast doppelt so hoch wie bei den Frauen mit lediglich 35,5 % (TUIK 10.1.2024b).

Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine Umfrage der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung unter 2.140 Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren (Erhebungszeitraum: Dezember 2022 - Jänner 2023) ergab, dass angesichts der wirtschaftlichen Stagnation 63 % der Befragten bereit sind die Türkei zu verlassen, sofern es die Möglichkeit dazu gebe. 2021 waren es sogar 72,9 % (KAS 1.6.2023). Und auch im Oktober 2023 gaben 39,1 % aller Türken und Türkinnen laut einer Umfrage von MetroPOLL Research an, dass sie gerne in einem anderen Land leben würden. Merklich höher lagen die Werte bei Anhängern der Opposition (Duvar 29.10.2023).

Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).

Was die soziale Inklusion und den sozialen Schutz betrifft, so verfügt die Türkei laut Europäischer Kommission noch immer nicht über eine gezielte Strategie zur Armutsbekämpfung. Der anhaltende Preisanstieg hat das Armutsrisiko für Arbeitslose und Lohnempfänger in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter erhöht. Die Armutsquote erreichte 2022 14,4 %, gegenüber 13,8 % im Jahr 2021. Die Quote der schweren materiellen Verarmung (severe-material-deprivation rate) erreichte im Jahr 2022 28,4 % (2021: 27,2 %). Die Kinderarmutsquote war im Jahr 2022 mit 41,6 % besonders hoch. Im Jahr 2022 beliefen sich die Sozialhilfezahlungen auf 151,9 Milliarden Lira oder 1,01 % des BIP (EC 8.11.2023, S. 102). Der Gini-Koeffizient als Maß für die soziale Ungleichheit (Dieser schwankt zwischen 0, was theoretisch völlige Gleichheit, und 1, was völlige Ungleichheit bedeuten würde.) betrug nach Einberechnung der dämpfend wirkenden Sozialtransfers offiziell 0,415 im Jahr 2022, der höchste Wert der letzten zehn Jahre (TUIK 4.5.2023) [Anm.: In Österreich betrug laut Momentum Institut der Gini-Koeffizient nach Steuern und staatlichen Transferleistungen 2020 0,28].

Die Armutsgrenze in der Türkei lag Ende Dezember 2023 laut Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) bei 47.000 Lira (rund 1.400 Euro). - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag Ende Dezember 2023 bei 14.431 Lira (rund 440 Euro) (Duvar 3.1.2024b). Die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KAMU-AR gab gegen Ende 2024 bereits eine weitere Steigerung an. - Demnach lag die Hungergrenze bei 17.442 und die Armutsgrenze bereits bei 48.559 Lira (TM 25.1.2024).

Nach einer Erhöhung des Mindestlohns um 55 % im Jänner 2023 wurde dieser mit Juli 2023 auf 11.400 Lira netto (rund 440 Euro) erhöht, eine Steigerung von 34 %. Die Steigerung lag jedoch immer noch unter der offiziellen Inflationsrate, welche im Mai 2023 fast 40 % betrug. Laut unabhängigen Experten belief sich die Preissteigerung bei Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs bei mehr als 100 %. 40 % beträgt der Anteil der Bevölkerung, der vom Mindestlohn lebt. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die oben erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 23.6.2023). Ende Dezember 2023 kündigte die Regierung eine weitere Erhöhung des Netto-Mindestlohns um 49 % auf rund 17.000 Lira (rund 520 Euro) an, denn seit Juni 2023 bzw. der letzten Erhöhung hatte der Mindestlohn circa 88 Euro an Wert eingebüßt (Duvar 27.12.2023; vgl. WKO 29.12.2023). Anders als für 2023 schloss Staatspräsident Erdoğan eine zweite Anpassung im Jahr 2024 aus (Duvar 27.12.2023).

Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betragen aber die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern im Mittel 25.365 Lira, und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira aus. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023).

Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befindet sich mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).

Die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen betrugen 2021 lediglich 10,8 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).

Quellen

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 Duvar - Duvar (27.12.2023): Turkey increases minimum wage by 49 percent to $578, https://www.duvarenglish.com/turkey-increases-minimum-wage-by-49-percent-to-578-news-63558 , Zugriff 9.1.2024

 Duvar - Duvar (29.10.2023): Four out of ten people in Turkey want to live abroad: Survey, https://www.duvarenglish.com/four-out-of-ten-people-in-turkey-want-to-live-abroad-survey-news-63229 , Zugriff 8.11.2023

 Duvar - Duvar (7.6.2022): 14.8 million people in Turkey suffer from undernourishment: UN report, https://www.duvarenglish.com/148-million-people-in-turkey-suffer-from-undernourishment-un-report-news-60908 , Zugriff 8.11.2023

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 WKO - Wirtschaftskammer Österreich (23.6.2023): Mindestlohn ab 1.7.2023 um 34 % höher, https://www.wko.at/aussenwirtschaft/mindestlohn-tuerkei , Zugriff 8.11.2023

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Sozialbeihilfen / -versicherung

Letzte Änderung 2024-03-07 12:08

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 28.7.2022, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 28.7.2022, S. 21).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 46 Sozialunterstützungsleistungen, wobei der Anspruch an schwer zu erfüllende Bedingungen gekoppelt ist. - Hierzu zählen (alle Stand: Nov. 2023): Sachspenden in Form von Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 türkische Lira (TL) für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von zwölf Monaten über monatlich 350 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 3.800 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 520 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Pensionen und Betreuungsgeld für Behinderte und ältere pflegebedürftige Personen: zwischen 1.200 TL und 1.800 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 5.089 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hatte 2023 monatlich Anspruch auf 2.250 TL aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt 23.308 TL, ansonsten 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SSA 9.2018).

Quellen

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Auswärtiges_Amt_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2022)_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich]

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt ,_B3richt_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf, Zugriff 6.11.2022 [Login erforderlich]

 ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]

 SGK - Anstalt für Soziale Sicherheit (Sosyal Güvenlik Kurumu) [Türkei] (2016): Universal Health Insurance, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins [Link funktioniert nicht mehr. - Quelle liegt bei der Staatendokumentatino auf.], Zugriff 6.11.2023

 SSA - Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 7.11.2023

Arbeitslosenunterstützung

Letzte Änderung 2024-03-07 13:55

Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR o.D..; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51).

Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 8.2022; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53., İŞKUR o.D.). Zudem muss der Arbeitnehmer die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 53).

Für das Jahr 2024 gab das türkische Arbeitsamt an, dass das Mindest-Arbeitslosengeld 7.940 TL (ca. 242 Euro, berechnet am 10.1.2024) und das Maximum an Arbeitslosenunterstützung 15.880 TL (ca. 484 Euro) betragen wird. Hierbei gilt generell die Bestimmung, wonach das maximale Arbeitslosengeld 80 % des Brutto-Mindestlohns nicht überschreiten darf, welcher für 2024 mit 20.002 TL (ca. 610 Euro) festgesetzt wurde (İŞKUR o.D.).

Quellen

 IOM - International Organization for Migration (8.2022): Länderinformationsblatt Türkei 2022, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS 2022 Türkei DE.pdf, Zugriff 6.11.2023

 IOM - International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 7.11.2023

 İŞKUR - Turkish Employment Agency (Türkiye İş Kurumu) [Turkey] (o.D.): Unemployment Benefit, https://www.iskur.gov.tr/en/job-seeker/unemployment-insurance/unemployment-benefit/ , Zugriff 10.1.2024

 ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]

Behandlung nach Rückkehr

Letzte Änderung 2024-03-07 13:53

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).

Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in bzw. für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).

Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, S. 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 10.1.2024). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (MBZ 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 10.1.2024). Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren sind auch im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien zu beobachten, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt z.B. in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben (AA 10.1.2024). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 10.1.2024).

Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 13f.).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 50). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 40). Eine Abfrage im Zentralen Personenstandsregister ist verpflichtend vorgeschrieben, insbesondere bei Rückübernahmen von türkischen Staatsangehörigen. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien und der Ukraine, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 57). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. MBZ 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (MBZ 18.3.2021, S. 71).

Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2023; vgl. USDOS 20.3.2023a, S. 25). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2023).

Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:

 Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

 Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: http://bruecke-istanbul.com/

 TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 52).

Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung

Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf (DFAT 10.9.2020, S. 50).

Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Gegen Personen, die im Ausland für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurden, kann in der Türkei erneut ein Verfahren geführt werden (Art. 9). Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11/1). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben und Geldfälschung (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 51). Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S. 50).

Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat begangen wird: entweder gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE-VC 15.2.2016).

Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wird die illegale Ausreise aus der Türkei nicht als Straftat betrachtet. Infolgedessen müssten Personen, die unter diesen Umständen zurückkehren, wahrscheinlich nur mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 88).

Quellen

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (10.1.2024): Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962 , Zugriff 11.1.2024

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Auswärtiges_Amt_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2022)_28.07.2022.pdf , Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich]

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Auswärtiges_Amt ,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Juni_2020),_24.08.2020.pdf, Zugriff 8.9.2023 [Login erforderlich]

 CoE-VC - Council of Europe - Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-en.pdf , Zugriff 11.1.2024

 DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.12.2023

 EU - Europäische Union (24.2.2023): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 24. Februar 2023, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2022/1241, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32023D0422&qid=1680857637258&from=DE , Zugriff 11.1.2024

 Independent - Independent, The (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/295631/yurtd ışında-yaşayan-binlerce-kişiye-türkiye-girişlerinde-sosyal-medya-paylaşımları, Zugriff 10.1.2024

 MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General COI report Turkiye (August 2023).pdf, Zugriff 13.11.2023

 MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich]

 MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije October 2019.pdf, Zugriff 29.11.2023 [Login erforderlich]

 VB - Verbindungsbeamte des BMI in Ankara/Istanbul [Österreich] (1.3.2023): Auskunft des Büros des ÖB Militärattachés, Antwort per E-Mail

 ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich]

 SCF - Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-or-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/ , Zugriff 11.1.2024

 TRMFA - Republic of Turkey - Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (2022): PKK, https://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa , Zugriff 11.1.2024 [Login erforderlich]

 USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU ̈RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 29.9.2023

 

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt der bB und die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks der BF im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung, Einholung aktueller Auszüge aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister, dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister und dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich und im Wege der Einsichtnahme in die vom BVwG in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquelle betreffend die Lage im Herkunftsstaat der BF, nämlich das Länderinformationsblatt Türkei der Staatendokumentation vom 07.03.2024. Weiters wurden die von der BF im Rahmen der Beschwerdeverhandlung vorgelegten Dokumente (Teilnahmebestätigung Deutsch A2, Anmeldebestätigung A2, Einstellungszusage, negative Beschäftigungsbewilligung, Antrag auf Beschäftigungsbewilligung, Engagement Vereinbarung als freiwillige Mitarbeiterin, Unterstützungsschreiben der Mutter, türkischsprachige strafgerichtliche Unterlagen betreffend Vater der BF, Kopie des positiven Asylbescheides des Vaters der BF vom 18.07.2019, türkischsprachige einstweilige Verfügung der Schwester der BF gegenüber der Großmutter der BF) berücksichtigt.

Die BF stellte im Verfahren vor dem BVwG keine über die Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinausgehenden Beweisanträge.

2.2. Die bB stellte das Feststehen der Identität der BF aufgrund des vorgelegten türkischen Führerscheins fest. Dieser behördlichen Feststellung ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen. Hinsichtlich ihrer Volksgruppenzugehörigkeit, ihres religiösen Hintergrundes und ihres allgemeinen Personenstandes erwies sich die BF als glaubwürdig.

Die Feststellungen zur Abstammung der BF und ihren persönlichen und familiären Lebensumständen im Herkunftsstaat bis zur Ausreise sowie ihren Familienverhältnissen unter Punkt 1.1. und 1.2. beruhen auf den insoweit stringenten Angaben der BF im Verfahren erster Instanz und vor dem BVwG. Substantielle Zweifel an ihren diesbezüglichen Angaben bestehen nicht.

2.3. Der Gesundheitszustand wurde aufgrund der gleichlautenden diesbezüglichen Angaben der BF gegenüber der bB und dem BVwG festgestellt.

2.4. Die BF legte selbst keine Verfolgung aufgrund ihres religiösen Hintergrundes oder ihrer politischen Gesinnung dar und gibt es auch keine dementsprechenden Hinweise. Hinsichtlich des Fluchtvorbringens der BF ist Folgendes auszuführen:

2.4.1. Im Wesentlichen brachte die BF im Rahmen der polizeilichen Erstbefragung vor, ihr Vater sei in der Türkei wegen einer falschen Beschuldigung im Gefängnis gewesen. 2019 sei ihr Vater nach Österreich geflüchtet. Es sei schwierig gewesen nach dem Vorfall des Vaters, eine Arbeit in der Türkei zu finden. Auch die Mutter der BF lebe in Österreich. Die BF habe gemeinsam mit ihrer Schwester bei ihrer Großmutter und ihrem Onkel in der Türkei gelebt. Die Großmutter und der Onkel hätten viel Druck auf die BF und ihre Schwester ausgeübt, weshalb die BF zu ihren Eltern wolle. Der Onkel habe außerdem die Schwester der BF bedroht. Die BF wolle nicht mehr in die Türkei, weil es dort kein Leben mehr für sie gebe. Sie sei in der Türkei nicht in Sicherheit und habe Angst vor ihrer Familie.

Gegenüber der bB wiederholte die BF im Wesentlichen ihr Vorbringen und gab an, ihr Vater sei in der Türkei zu einer Haftstrafe von 26 Jahren wegen Mitgliedschaft bei einer Terrororganisation und Mitgliedschaft bei der HDP verurteilt worden. Vor der Haustüre seien ständig sowohl uniformierte Polizisten als auch Polizisten in Zivil gewesen. Wegen der Verurteilung des Vaters habe die BF nicht Rechtswissenschaften studieren dürfen. Sie habe stattdessen Innenarchitektur studiert, sei allerdings nicht weit gekommen. Die BF sei auch in der Handelsakademie gewesen und habe Buchhaltung gelernt. Da die BF der kurdischen Volksgruppe angehöre und ihr Vater verurteilt worden sei, habe sie keine Arbeitsstellen in diesem Bereich bekommen und sei diskriminiert worden. Nachdem die Eltern der BF nach Österreich gezogen seien, hätte die Familie, vor allem väterlicherseits, Druck auf die BF und ihre Schwester wegen freizügiger Bekleidung und Tattoos ausgeübt. Das Leben in der Türkei sei für die BF und ihre Schwester als alleinstehende Frauen schwierig gewesen. Die Schwester sei damals verlobt gewesen und habe kurz vor der Ausreise aus Österreich geheiratet. Die BF habe in der elterlichen Wohnung gelebt, weshalb die Familie Druck ausgeübt habe. Die BF habe die Türkei verlassen, da sie nicht leben habe können, wie sie es gewollt habe und nicht studieren habe können, was sie gewollt habe. Im Falle der Rückkehr befürchte die BF, keine Unterkunft zu haben. Die Wohnung gehöre ihrem Vater und habe sie keinen Kontakt zu ihrem Onkel. In der Türkei könne sie kein normales Leben führen. Ihre Eltern würden in Österreich leben und wolle die BF daher in Österreich bleiben.

Im Verfahren vor dem erkennenden Gericht bzw. im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung wiederholte die BF ihr wesentliches (vor dem Bundesamt erstattetes) Parteienvorbringen, gab darüber hinaus jedoch auch an, dass ein Feuerball auf ihren Balkon geworfen wurde und ein Teil daher verbrannte. Dies habe sich im Winter 2019 ereignet während die Mutter der BF sich noch im Herkunftsstaat befunden habe. Die BF brachte ergänzend vor, dass ihr Onkel ihre Schwester geschlagen habe. Zudem habe der Großvater versucht, die Wohnungstür mit einer Metallstange aufzubrechen, um die BF und ihre Schwester zu vertreiben.

Das Vorbringen der BF lässt sich sohin - ganzheitlich - als Verfolgung aufgrund ihres ethnischen Hintergrundes sowie aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie verstehen.

2.4.2. Die bB führte ein einwandfreies Ermittlungsverfahren und wurde der BF schon im erstinstanzlichen Verfahren hinreichend Gelegenheit zur Äußerung eingeräumt. Ihre Erwägungen legte die bB übersichtlich und nachvollziehbar dar. Die entscheidungsrelevanten Überlegungen sind plausibel, befinden sich im Einklang mit den Denkgesetzen der Logik sowie der allgemeinen Lebenserfahrung und beruhen auf der aktuellen Berichtslage. Verfahrensfehler unterliefen dem Bundesamt nicht.

2.4.3. Der erkennende Richter gelangte nach Durchführung eines verwaltungsgerichtlichen Ermittlungsverfahrens und Anhörung der BF im Rahmen einer mündlichen Beschwerdeverhandlung zur Erkenntnis, dass den Schlussfolgerungen des Bundesamtes im Ergebnis nicht entgegenzutreten ist.

2.4.3.1. Die BF berief sich (gleichbleibend) im Wesentlichen auf Schwierigkeiten aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilung des – in Österreich asylberechtigten – Vaters im Zusammenhang mit einem Terrorismusdelikt sowie auf familieninterne (teils robuste) Konflikte mit der Mutter und dem Bruder des Vaters, von welchen sie und ihre Schwester XXXX betroffen gewesen wären. Im Übrigen machte die BF anti-kurdischen Rassismus in ihrem Herkunftsstaat geltend.

Verkannt wird nicht, dass dem Vater der BF der Status des Asylberechtigten durch das Bundesamt zuerkannt worden war. Angesichts der Erfahrungen des Gerichts ist davon auszugehen, dass dies im Zusammenhang mit der von der BF geltend gemachten Strafverfolgung durch den türkischen Staat erfolgte. Hiezu ist jedoch festzuhalten, dass die BF – bis auf fallweise Befragungen durch die Polizei nach dem Aufenthaltsort ihres Vaters im Zusammenhang mit polizeilichen Nachschauhaltungen sowie Beobachtungen des Hauses durch Beamte – keine Eingriffe in ihre persönliche geschützte Sphäre geltend machen konnte. Diese Maßnahmen erreichen keinesfalls die für eine Schutzrelevanz erforderliche Intensität und ist abschließend zu relevieren, dass die BF ihren Herkunftsstaat unverfolgt und unter Vorlage ihres Reisepasses über einen Flughafen verließ, was ein weiteres Indiz dafür ist, dass sie sich nicht im Visier des türkischen Staates befindet und konnte auch sie selbst auf entsprechende Rückfrage keine substantiierten Hinweise auf eine ihr drohende Strafverfolgung benennen konnte.

Darüber hinaus brachte die BF selbst vor, dass sich nach der Ausreise der Mutter keine Polizisten mehr vor dem Haus befunden haben, da sie sich vergewissert hätten, dass der Vater ausgereist sei (Einvernahme BFA, AS 106). Vor diesem Hintergrund kann dem Vorbringen im Beschwerdeschriftsatz, es hätten sich auch nach Ausreise der Mutter Polizisten in einem schwarzen Auto vor dem Haus befunden, kein Glauben geschenkt werden (Beschwerdeergänzung, S. 2).

Die BF brachte zudem vor dem Bundesamt vor, nicht Rechtswissenschaften studiert zu haben. Einerseits begründete sie dies mit der Verurteilung des Vaters und andererseits führte sie hingegen aus, nach der Matura nicht studiert zu haben, da sie arbeiten habe müssen, um ebenso wie ihre Schwester die Familie zu unterstützen. Sie hätten nämlich keine Einkommen gehabt, nachdem der Vater im Gefängnis gewesen sei (Einvernahme BFA, AS 106).

2.4.3.2. Der BF wird durchaus Glauben geschenkt, wenn sie familieninterne Konflikte schildert, die durchaus auch teilweise robust ausgetragen wurden. Jedoch handelt es sich bei der (vermeintlichen) körperlichen Gewalt gegen die Schwester der BF, XXXX , lediglich um Einzelfälle ohne Systematik und wurde auf die BF selbst bloß psychischer Druck ausgeübt. Zudem lässt sich aus dem Vorbringen der BF (Beschwerdeverhandlung, S. 11 und 15) und dem von der Großmutter XXXX angestrebten Verfahren auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung beim 1. Familiengericht XXXX nahelegen, dass jene Angehörige, von denen die BF sich im Rückkehrfall verfolgt wähnt, sohin insbesondere ihre Großmutter, aber auch ihr Onkel, keinerlei Kontakt zu ihr wünschen. In diesem Zusammenhang ist nicht nachvollziehbar, warum sie beispielsweise von ihrer Großmutter verfolgt werden sollte. Auch ist festzuhalten, dass die BF erst auf Nachfrage der Rechtsvertretung und darauf aufbauende Rückfrage des erkennenden Richters eine Verfolgung – auch physischer Natur – in den Raum stellte (Beschwerdeverhandlung, S. 15 f.), machte sie doch zuvor lediglich sinngemäß geltend, ihr drohe Obdachlosigkeit und sie fände keine Lebensgrundlage vor (Einvernahme BFA, AS 105 sowie Beschwerdeverhandlung, S. 13). Aus Sicht des erkennenden Richters liegt hier sohin eine Steigerung des Fluchtvorbringens vor und erweisen sich die entsprechenden Ausführungen im Lichte obiger Erwägungen für nicht plausibel.

Dass der türkische Staat im gegenständlichen Fall schutzwillig und schutzfähig ist, lässt sich friktionsfrei daraus ableiten, dass ein Verfahren auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung durch ein türkisches Gericht geführt wurde, in welchem die Schwester der BF, obschon sie als Gefährderin angeführt wurde, obsiegte, was beweist, dass der türkische Staat vorbehaltlos agierte. Auch darf nicht übersehen werden, dass XXXX , welche dem Vorbringen der BF zufolge primär von Konflikten betroffen war, ohne Not in die Türkei zurückkehrte, wo sie sich rund ein halbes Jahr aufhielt, bevor sie sich letztlich doch für eine Migration nach Österreich entschloss (Beschwerdeverhandlung, S. 11).

Das von der Rechtsvertretung ins Treffen geführte Judikat des EuGH vom 16.01.2024 (C-621/21) wurde bei der Entscheidungsfindung beachtet, wobei der der Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt mit dem gegenständlichen Fall aus hg. Sicht nicht vergleichbar ist, drohten in diesem Verfahren doch gravierende Eingriffe in die sexuelle, psychische und physische Integrität der türkischen Staatsbürgerin; es handelte sich um eine geschiedene Muslimin, welche von ihrer Familie zwangsverheiratet worden war und von ihrem Ehemann geschlagen und bedroht wurde. Im Gegensatz dazu brachte die BF im gegenständlichen Verfahren weder vor körperliche Übergriffe erlebt zu haben, noch sich vor solchen zu fürchten.

Bemerkenswert ist auch, dass die BF selbst die Gewaltübergriffe gegen ihre Schwester erst vor dem erkennenden Gericht vorbrachte (Beschwerdeverhandlung, S. 11). Bei der Erstbefragung erwähnte die BF lediglich, dass die Schwester vom Onkel bedroht worden wäre (Erstbefragung, AS 15). Auch vor dem Bundesamt war lediglich die Rede von Druckausübung gegenüber der BF und ihrer Schwester (Einvernahme BFA, AS 105). Laut Angaben der BF habe es sich beim körperlichen Übergriff des Onkels gegenüber der Schwester um denselben Vorfall mit der Großmutter gehandelt. Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Onkel in der türkischen einstweiligen Verfügung keine Erwähnung findet bzw. kein Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde, da er doch der Schwester einen Schlag versetzt haben soll. (Beschwerdeverhandlung, S. 11 f.).

2.4.3.3. Die dargelegten Widersprüche und Ungereimtheiten hinsichtlich der Gewaltübergriffe gegenüber der Schwester, welche nicht bloß von untergeordneter Beschaffenheit waren, sondern vielmehr Kernelemente des Vorbringens der BF betrafen, hatten zur Folge, dass die persönliche Glaubwürdigkeit der BF maßgeblich erschüttert wurde. Es handelt sich bei diesem Vorbringen offenbar um eine Vorbringenssteigerung, um ihre Chancen auf Asylgewährung zu erhöhen nachdem das Bundesamt bereits eine negative Entscheidung erlassen hatte.

2.4.3.4. Zur ebenfalls vorgebrachten Pauschalverfolgung von Kurden ist festzuhalten, dass sich diese angesichts dessen, dass rund 15 Millionen Kurden in der Türkei leben, bereits aus Kapazitätsgründen als vollkommen illusorisch erweist und findet Derartiges auch im Länderinformationsblatt keine Deckung. Wäre es so, dass insbesondere Kurden in der Herkunftsregion der BF mit Problemen konfrontiert wären, wäre es der BF leicht möglich gewesen, in einem anderen Landesteil der Türkei Unterkunft zu nehmen. Eine (irreguläre) Migration nach Europa wäre nicht erforderlich gewesen. Dass die BF ohne Hinzutreten weiterer, sie exponierender, Umstände bloß aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum kurdischen Volk in den Fokus der Behörden geraten würde, kann als ausgeschlossen erachtet werden. Die teils prekäre Situation exponierter Vertreter der kurdischen Opposition wird vom erkennenden Gericht nicht verkannt, gegenständlich ist jedoch weder eine derartige Stellung der Person der BF in der kurdischen Gesellschaft erkennbar, noch sind Hinweise darauf ersichtlich, dass sie von einer menschenrechtswidrigen Situation persönlich betroffen wäre. Diskriminierungshandlungen gegen Angehörige von Minderheiten sind im Übrigen - wenn auch zweifelsohne zu verurteilen - in keinem Staat der Erde auszuschließen, ziehen jedoch in aller Regel keine Schutzrelevanz nach sich.

Das Vorbringen der BF lässt auf keinerlei individuelle, ihre Person betreffende, Nachteile aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum kurdischen Volk schließen (Beschwerdeverhandlung, S. 14), andernfalls sie hinreichend Gelegenheit gehabt hätte, Derartiges geltend zu machen.

Dass es in der Türkei zu Diskriminierungen kurdischer Volksgruppenzugehöriger kommt, wird nicht übersehen, die schutzrelevante Eingriffsintensität wird jedoch üblicherweise (Ausnahmen können beispielsweise besonders exponierte Vertreter der kurdischen Opposition bzw. des kurdischen Volkes darstellen) nicht erreicht und halten sich auch zahlreiche Angehörige der BF unverfolgt in der Türkei auf.

Eine (ggf. drohende) Individualverfolgung aus ethnischen Gründen konnte sohin in keinster Weise festgestellt werden.

2.5. Dass der BF in ihrem Herkunftsstaat nicht die Verhängung der Todesstrafe droht, war problemlos daraus abzuleiten, dass diese in der Türkei abgeschafft ist und sie darüber hinaus nicht Ziel von Strafverfolgungsmaßnahmen ist. Dafür, dass der BF bei Rückkehr eine Verletzung ihres Rechts auf Leben oder körperliche Unversehrtheit, Folter oder unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohen würde, gibt es bei Zugrundelegung der gerichtlichen Feststellungen keine Hinweise. Dass derartige Eingriffe schlechthin jedem, der in der Türkei lebt, drohen, kann ebenso wenig aus den Länderfeststellungen der Staatendokumentation erschlossen werden. Dass der BF keine Verfolgungshandlungen seitens der türkischen Behörden oder Dritter drohen, gründet sich auf der o.a. Beweiswürdigung (Punkt 2.4.). Nachdem ihr schon zuvor keine maßgeblichen Verfolgungshandlungen drohten, geht das erkennende Gericht begründeter Weise nicht davon aus, dass ihr solche nach der Rückkehr drohen könnten.

Die direkte und gefahrlose Erreichbarkeit der Herkunftsregion ergibt sich zweifelsohne daraus, dass in der Türkei zwar eine angespannte Wirtschaftslage herrscht, jedoch keinerlei nennenswerte sicherheitsrelevante Vorfälle, die den grenzüberschreitenden oder innerstaatlichen öffentlichen Verkehr beeinträchtigen würden, stattfinden. Gegenteilige Behauptungen wurden im Verfahren nicht erhoben.

2.6. Die unter Punkt 1.6. getroffenen Feststellungen zur (nicht sicherheitsrelevanten) Rückkehrsituation der BF ergeben sich grundsätzlich aus ihren diesbezüglichen Angaben. Auf die Integration der BF in der herkunftsstaatlichen Gesellschaft war aufgrund ihrer Geburt und ihres Aufwachsens in der Türkei zu schließen. Ihre familiäre Verwurzelung (zumindest mütterlicherseits) erschließt sich aus den stringenten Angaben der BF und wird es ihr nach erfolgter Rückkehr selbstverständlich möglich sein, bei den von ihr angeführten Angehörigen, insbesondere ihren Großeltern mütterlicherseits, - wie auch schon während des Lyzeums - Unterkunft zu nehmen und zumindest kurzfristig die Unterstützung ihrer Verwandten zu beanspruchen. Auch ist die Familie der BF wirtschaftlich sowie im Hinblick auf deren Wohnraum grundsätzlich abgesichert, verfügen sie doch über Arbeit (bzw. beziehen Pension), Vermögen und gesicherte Unterkünfte. Zudem gehört die Familie der BF der Mittelschicht an und ist sohin mit keinen nennenswerten wirtschaftlichen Problemen konfrontiert. Aufgrund der familiären und sozialen Vernetzung sowie der adäquaten Ausbildung und der erworbenen Berufserfahrung der BF hat der erkennende Richter keinerlei Zweifel daran, dass es ihr friktionsfrei möglich sein wird, sich binnen kurzer Zeit erneut eine gesicherte, wenn auch allenfalls bescheidene, Existenz in der Türkei aufzubauen. Die Zurverfügungstellung von Wohnraum stellt kein Problem dar und wird der BF sohin keinesfalls die Unterstandslosigkeit in der Türkei drohen. Angesichts der engen familiären Bande in der Herkunftskultur der BF ist auch keinesfalls zu erwarten, dass ihre Angehörigen (mütterlicherseits) ihre Unterstandslosigkeit in Kauf nehmen würden.

Der BF ist eine Wiedereingliederung in die türkische Gesellschaft und den türkischen Arbeitsmarkt sohin im Ergebnis aus eigener Kraft ohnedies möglich und zumutbar und kann sie dabei auch auf die tatkräftige Unterstützung durch ihre Familie vertrauen.

Auf das in der Türkei bestehende Sozialsystem wird an dieser Stelle hingewiesen. Die Befürchtung, die BF könne im Falle ihrer Rückkehr in eine aussichtslose Lage geraten, ist sohin - unbeschadet dessen, dass das Gericht die schwierige wirtschaftliche Lage, in der sich die Türkei und deren Bürger gegenwärtig befinden, nicht verkennt - nicht gerechtfertigt.

2.7. Die unter Punkt 1.7. getroffenen Feststellungen zum Aufenthalt der BF in Österreich, ihren Aktivitäten und Integrationsbemühungen, gründen sich grundsätzlich auf die bezughabenden Darlegungen in den Verfahren vor dem Bundesamt und dem BVwG, denen keine gegenteiligen Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens gegenstehen, den unbestrittenen Akteninhalt sowie auf Abfragen im Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich.

Dass die BF bislang keinen Deutschkurs besucht hat, entspricht ihren eigenen Angaben. Die BF verfügt über geringe Kenntnisse der deutschen Sprache und entspricht dies den Wahrnehmungen des erkennenden Richters in der Beschwerdeverhandlung, da eine Unterredung in deutscher Sprache in vereinfachter Form möglich war (Beschwerdeverhandlung, S. 7). Vor dem Hintergrund, dass die BF sich nunmehr seit rund 23 Monaten in Österreich aufhält und über grundlegende Bildung und durchschnittliche kognitive Fähigkeiten verfügt, ist darin allerdings kein hinreichender der Aufenthaltsdauer entsprechender Fortschritt beim Spracherwerb zu erblicken.

Die Feststellungen zu ihren familiären Anknüpfungspunkten in Österreich (in Gestalt ihrer Eltern, ihrer Schwester und ihres Bruders) und ihren jeweiligen Aufenthaltsstatus wurden weitgehend bereits den behördlichen Feststellungen zugrunde gelegt und ist die BF diesen im hg. Beschwerdeverfahren nicht entgegengetreten. Ein besonderes Naheverhältnis in der Dimension eines Art. 8 EMRK entsprechenden Familienlebens war in Ansehung dessen, dass kein gemeinsamer Wohnsitz zwischen der BF und ihren Angehörigen besteht und Abhängigkeitsverhältnisse in diesem Zusammenhang von der BF selbst nicht vorgetragen wurden (Beschwerdeverhandlung, S. 5), nicht eruierbar.

Zum Freundeskreis ist anzumerken, dass sie lediglich Freundschaften aus dem „Arbeitsplatz“ und sozialen Netzwerken vorgebracht hat und diese – wie gegenständlich hervorgekommen – lediglich wenig zum Spracherwerb beigetragen haben. Auch sei angemerkt, dass das Eingehen von Freundschaften üblicherweise eines maßgeblichen Zeitraums bedarf, welcher im gegenständlichen Fall nicht vorliegend ist. Das erkennende Gericht geht daher davon aus, dass die BF - wenn überhaupt - oberflächliche Bekanntschaften im österreichischen Bundesgebiet geschlossen hat, jedoch keine maßgeblichen Freundschaften eingehen konnte. Dem entspricht auch, dass die BF – bis auf ein Schreiben der Mutter der BF – keinerlei Referenzschreiben oder Unterschriftenlisten, in welchen sich für ihren Verbleib im Inland ausgesprochen wird, vorzulegen vermochte. Eine Vereinsmitgliedschaft legte die BF selbst nicht dar. Die BF engagiert sich zwar ehrenamtlich bei der Caritas, geht jedoch keiner Erwerbstätigkeit nach und ist sohin nicht selbsterhaltungsfähig.

Bemühungen um eine Aufenthaltsverfestigung sind im Falle der BF nicht objektivierbar. Auch die Kürze des Aufenthalts spricht gegen eine nachhaltige Integration in die österreichische Gesellschaft.

2.8. Den Daten des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister kann darüber hinaus entnommen werden, dass der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet nie nach § 46a Abs 1 Z 1 oder Abs 1a FPG 2005 geduldet war. Hinweise darauf, dass ihr weiterer Aufenthalt zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig wäre oder die BF im Bundesgebiet Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO wurde, kamen im Verfahren nicht hervor. Es wurde auch kein dahingehendes Vorbringen erstattet, sodass keine positiven Feststellungen in dieser Hinsicht getroffen werden können.

Der Vollständigkeit halber wird angemerkt, dass eine einstweilige Verfügung vom Bezirksgericht XXXX erlassen worden war. Der Gefährder, XXXX , ist laut Angaben der BF jedoch bereits in den Iran abgeschoben worden.

2.9. Die zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen ergeben sich aus den vom BVwG herangezogenen Erkenntnisquellen (aktuelles Länderinformationsblatt zur Türkei), die der BF im Wege ihrer rechtsfreundlichen Vertretung unter gleichzeitiger Angabe der herangezogenen Quellen zur Erstattung einer Stellungnahme übermittelt wurden. Die BF ist den ihr übermittelten Berichten nicht entgegengetreten.

 

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 7 Abs 1 Z 1 BFA-VG idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

 

Zu A) I.

3.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.):

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 83/2022 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention), droht.

§ 2 Abs. 1 Z. 11 AsylG 2005 umschreibt Verfolgung als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, worunter – unter anderem – Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182).

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Eine Verfolgungsgefahr ist anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht.

3.1.2. Gemäß Art. 9 Abs. 1 StatusRL gelten Handlungen als Verfolgung, die a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a) beschriebenen Weise betroffen ist.

 

Laut Abs. 2 können als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

a) Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,

b) gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,

c) unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,

d) Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,

e) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Artikels 12 Abs. 2 fallen, und

f) Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

 

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist unter Verfolgung ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen (VwGH 24.11.1999, 99/01/0280).

Bei der begründeten Furcht vor Verfolgung muss es sich um eine solche handeln, die aus objektiver Sicht begründet ist und einen weiteren Verbleib des Asylwerbers in seinem Heimatland unerträglich erscheinen lässt (VwGH 24.7.2001, 97/21/0636; VwGH 25.4.1994, 94/20/0034).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist davon auszugehen, dass Verhöre und Befragungen für sich allein (wenn sie ohne weitere Folgen bleiben) keine Verfolgungshandlungen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen (vgl. zB VwGH 29.10.1993, 93/01/0859; 31.3.1993, 93/01/0168; 26.6.1996, 95/20/0427; 4.11.1992, 92/01/0819; 6.3.1996, 95/20/0128; 10.3.1994, 94/19/0257; 11.6.1997, 95/01/0627) und in polizeilichen Hausbesuchen und in der Vornahme von Hausdurchsuchungen für sich allein noch keine relevante Verfolgungshandlung erblickt werden kann (VwGH 24.4.1995, 94/19/1402; 19.2.1998, 96/20/0546).

3.1.3. Die BF brachte ich gesamten Verfahren keine gegen sie gerichtete asylrelevante Verfolgung vor. Sie sei lediglich zum Verbleib ihres Vaters von Polizisten befragt worden und seien diese regelmäßig vor dem Haus der BF gewesen. Im Einklang mit der zitierten Rechtsprechung stellen Befragungen und Verhöre durch Polizisten für sich allein keine Verfolgungshandlungen im Sonne der Genfer Flüchtlingskonvention dar.

Auch aus dem Vorbringen, auf die BF sei von Seiten der Großmutter und des Onkels väterlicherseits Druck ausgeübt worden, vermag keine asylrelevante Verfolgung darzulegen. Körperliche Übergriffe wurden nur hinsichtlich der Schwester vorgebracht, wobei daraus selbst bei Wahrunterstellung des Vorbringens keine Verfolgung der BF abgeleitet werden kann, zumal die BF und ihre Schwester beide in der Wohnung des Vaters gewohnt haben, jedoch stets nur die Schwester angegriffen worden sei. Darüber hinaus wünschen die Großmutter und der Onkel väterlicherseits ohnedies keinen Kontakt zur BF, weshalb nicht von einer drohenden Verfolgung ausgegangen werden kann.

Verfolgungshandlungen durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure gegen die BF, welche deren Begründung in einem von der GFK besonders geschützten individuellen Merkmal finden, traten nicht ans Licht und drohen ihr solche auch im Rückkehrfall nicht.

3.1.4. Eine schutzrelevante Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe vermochte die BF nicht substantiiert darzulegen; insofern die BF Diskriminierungen gegen sich geltend machte, sei auf die unter Punkt 3.1.3. zitierte höchstgerichtliche Judikaturlinie zur erforderlichen Eingriffsintensität hingewiesen. Hinweise darauf, dass diese Erheblichkeitsschwelle im gegenständlichen Verfahren erreicht worden wäre, liegen dem erkennenden Gericht nicht vor.

Die schwierige allgemeine Lage einer ethnischen Minderheit oder der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft im Heimatland eines Asylwerbers ist - für sich allein - nicht geeignet, die für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorauszusetzende Bescheinigung einer konkret gegen den Asylwerber gerichteten drohenden Verfolgungshandlung darzutun (VwGH 31.1.2002, 2000/20/0358).

3.1.5. Dem Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Flüchtlingsstellung war sohin kein Erfolg zu bescheiden und war die Beschwerde diesbezüglich abzuweisen.

3.2. Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.):

3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen, ob im Falle der Rückführung des BF in die Türkei Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde.

Bei der Beurteilung, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht, bedarf es einer Auseinandersetzung mit der allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat (VwGH 27.04.2020, Ra 2019/19/0455 mwN). Die dabei anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen.

Nach der ständigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verwaltungsgerichtshofs obliegt es grundsätzlich dem BF, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos glaubhaft zu machen, dass ihm im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (EGMR U 05.09.2013, I. gegen Schweden, Nr. 61204/09; VwGH 18.03.2015, Ra 2015/01/0255). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86).

3.2.2. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 sind in Ansehung des BF nicht gegeben:

Für die Gewährung des Abschiebungsschutzes ist die maßgebliche Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Verletzung der Menschenrechte gefordert.

Unter realer Gefahr ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (VwGH 19.2.2004, 99/20/0573, mwH auf die Judikatur des EGMR). Es müssen sachliche, stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre und es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der betroffenen Person eine derartige Gefahr drohen würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus.

Nach der Judikatur des EGMR obliegt es der betroffenen Person, die eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Abschiebung behauptet, so weit als möglich Informationen vorzulegen, die den innerstaatlichen Behörden und dem Gerichtshof eine Bewertung der mit einer Abschiebung verbundenen Gefahr erlauben (EGMR 5.7.2005, Said gg. die Niederlande).

Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH zu § 51 FPG hat der Fremde das Bestehen einer aktuellen – also im Fall der Abschiebung dort gegebenen – durch staatliche Stellen zumindest gebilligten Bedrohung im Sinn des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist. Dabei ist die konkrete Einzelsituation in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung in das Herkunftsland zu beurteilen. Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung genügt allerdings nicht, um die Abschiebung unter dem Gesichtspunkt des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG als unzulässig erscheinen zu lassen (VwGH, 13.04.2010, 2008/18/0333).

 

Gemäß Art. 15 StatusRL gilt als ernsthafter Schaden iS einer Voraussetzung für die Gewährung von subsidiärem Schutz:

a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder

b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

 

Eine in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK fallende Maßnahme stellt dann eine unmenschliche Behandlung oder Strafe dar, wenn sie eine gewisse Schwelle erreicht. Die Bestimmung der Frage, ob eine konkrete Maßnahme dieses Mindestmaß erreicht, ist relativ und hängt von den genannten Umständen des Falles ab, einschließlich der Dauer der Maßnahme sowie ihrer physischen und mentalen Auswirkungen (EGMR, 28.11.1996, Nsona v. Niederlande Nr. 23366/94).

Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (EGMR GK 07.07.1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88). Dass der BF in seinem Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden, eine dahingehende reale Gefahr ist somit nicht gegeben.

3.2.3. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des BF so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH U 17.02.2009, Meki Elgafaji und Noor Elgafaji gegen Staatssecretaris van Justitie, C-465/07). Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen: ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind, ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind, ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden und schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07). Der EuGH nennt als weitere maßgebliche Kriterien die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts, das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, den tatsächlichen Zielort des Asylwerbers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und schließlich ob die die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen eventuell mit Absicht erfolgt (EuGH U 10.06.2021, CF und DN gegen Bundesrepublik Deutschland, C-901/19).

Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt jedoch nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09).

Verkannt wird zwar nicht, dass die Türkei sich fallweise mit dem Eintreten sicherheitsrelevanter Vorfälle (insbesondere Terroranschlägen und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Kämpfern der PKK) konfrontiert sieht, dies ist jedoch weder die Regel noch stellt dies eine landesweite Problematik dar, vielmehr ist selbst in den Konfliktgebieten im Südosten des Landes üblicherweise ein von Kämpfen unbeeinflusstes Leben möglich und ist die Wahrscheinlichkeit, unschuldig zwischen die Fronten zu geraten und Schaden zu erleiden, bloß als theoretisch gegeben anzusehen. Dauerhaft bürgerkriegsähnliche Situationen oder Vergleichbares gibt es in keinem Landesteil der Türkei.

3.2.4. Die BF ist eine gesunde, arbeitsfähige und arbeitswillige Frau mit im Herkunftsstaat erworbener Bildung sowie Berufserfahrung in verschiedenen Sparten, nämlich im Einzelhandel und im Fast-Food-Sektor. Sie ist mit der Sprache, den lokalen Umständen sowie den Gebräuchen in der Türkei vertraut und wird folglich im Rückkehrfall in der Lage sein, ihr Auskommen als Arbeitnehmerin in der Privatwirtschaft zu bestreitet. Ferner ist davon auszugehen, dass die BF bei ihren in Bursa lebenden Angehörigen (zumindest mütterlicherseits) sozialen Anschluss und Unterstützung im Wege der zumindest anfänglichen Zurverfügungstellung von Grundnahrungsmitteln und eines Wohnraums vorfinden wird.

Auch verfügt die Türkei laut aktuellem Länderinformationsblatt über ein – im Ergebnis – adäquates Sozialsystem, von dem die BF profitiert. Die BF hat sohin angesichts ihres Alters, ihrer Anpassungsfähigkeit sowie der o.a. Faktoren jedenfalls die Möglichkeit, in der Türkei im Rückkehrfall neuerlich Fuß zu fassen und eine wirtschaftliche Existenz – wenn auch allenfalls auf bescheidenem Niveau – aufzubauen sowie zunächst – wie schon in der Vergangenheit kurzfristig – die Unterstützung ihrer Großeltern mütterlicherseits in Anspruch zu nehmen.

Dass die BF allenfalls nicht ihre Lebensziele in beruflicher Hinsicht erreichen kann, ist subjektiv bedauerlich, jedoch nicht schutzrelevant.

Andere Umstände (z.B. landesweite gewalttätige Auseinandersetzungen oder bürgerkriegsähnliche Situationen), welche die BF im Rückkehrfall existenziell im Hinblick auf ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit bzw. keiner Folter unterworfen zu werden bedrohen würden, liegen in der Türkei nicht vor.

Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet auch nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (VwGH 17.09.2019, Ra 2019/14/0160).

3.2.5. Ziel des Refoulementschutzes ist es jedoch nicht, Menschen vor unangenehmen Lebenssituationen, wie es beispielsweise der Neuaufbau einer Lebensgrundlage im Herkunftsland sein wird, zu beschützen, sondern einzig und allein Schutz vor Lebenssituationen, die ua Art. 3 EMRK widersprechen würden, zu gewähren (AsylGH 12.1.2009, D11 227593-0/20008/8E). Laut Länderinformationsblatt der Staatendokumentation droht der BF durch die Rückkehr in den Herkunftsstaat ansich keinerlei Gefährdung ihrer Person. Dass die BF in der Lage sein wird, sich erneut eine Existenz aufzubauen, wurde ebenso unter Hinweis auf ihr Alter, ihre Bildung und Erwerbsfähigkeit sowie ihre familiäre und soziale Vernetzung bewiesen.

Auch betont der Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung die erforderliche Exzeptionalität der Umstände und die hohe Schwelle die auch in Fällen schlechter wirtschaftlicher Existenzgrundlage vorliegen muss, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK darzustellen (VwGH 23.09.2009, Zl. 2007/01/0515; VwGH 06.11.2009, Zl. 2008/19/0174).

3.2.6. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde die BF somit nicht in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden, sodass der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten zu Recht abgewiesen wurde.

3.3. Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz (Spruchpunkt III.):

3.3.1. Wird ein Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, ist gemäß § 58 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung ist gemäß § 58 Abs. 3 AsylG 2005 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

3.3.2. Der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet war ausweislich der Feststellungen nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurde schließlich nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

Der Vollständigkeit halber wird angemerkt, dass eine einstweilige Verfügung vom Bezirksgericht XXXX erlassen worden war. Der Gefährder, XXXX , laut Angaben der BF jedoch bereits in den Iran abgeschoben worden ist. Selbst, wenn dem nicht so wäre, wäre eine Relevanz im Hinblick auf § 57 AsylG nicht gegeben gewesen, handelte es sich bei diesem doch um einen iranischen, keinen türkischen Staatsangehörigen, sodass die Voraussetzung der Notwendigkeit der Schutzerteilung für den Schutz vor weiterer Gewalt angesichts unterschiedlicher Zielstaaten nicht nachvollziehbar gewesen wäre.

3.3.3. Der BF ist daher kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen. Der gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides erhobenen Beschwerde kommt keine Berichtigung zu.

3.4. Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK und Erlassung einer Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.):

3.4.1. Die Einreise der BF in das Gebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich ist nicht rechtmäßig erfolgt. Sie war bislang als Asylweberin gemäß § 13 AsylG 2005 für die Dauer des nunmehr abgeschlossenen Verfahrens zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Ein auf eine andere Rechtsgrundlage gestütztes Aufenthaltsrecht ist nicht gegeben. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung somit mit einer Rückkehrentscheidung nach dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts des BF auf Achtung seines Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.

Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16928/2003). Der Begriff des Familienlebens ist nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein. Maßgebend sind etwa das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR U 13.06.1979, Marckx gegen Belgien, Nr. 6833/74; GK 22.04.1997, X, Y u. Z gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/93).

Das Vorliegen eines „Familienlebens“ iSd Art. 8 EMRK laut ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ipso iure wird nur bis zum Erreichen der Volljährigkeit letzterer angenommen. Danach wird die Beziehung des Kindes zu den Eltern nur dann als „Familienleben“ iSd Art. 8 EMRK zu qualifizieren sein, wenn eine „hinreichend stark ausgeprägte“ Nahebeziehung besteht, wofür nach Ansicht der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung ist (VfSlg 17.340/2004; VwGH 8.6.2006, 2003/01/0600; VwGH 26.1.2006, 2002/20/0423; jeweils unter Berufung auf die Rsp des EGMR).

Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt – auch nach der Rechtsprechung des EGMR – nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. dazu VfGH 9.6.2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch VwGH 26.1.2006, 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse VwGH 26.1.2006, 2002/20/0235; VwGH 8.6.2006, 2003/01/0600; VwGH 22.8.2006, 2004/01/0220; VwGH 29.3.2007, 2005/20/0040 und VwGH 25.4.2008, 2007/20/0720).

3.4.2. Der Abwägung der öffentlichen Interessen gegenüber den Interessen eines Fremden an einem Verbleib in Österreich in dem Sinne, ob dieser Eingriff im Sinn des Art 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig ist, ist voranzustellen, dass die Rückkehrentscheidung der innerstaatlichen Rechtslage nach einen gesetzlich zulässigen Eingriff darstellt.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist eine Maßnahme dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig ist. Das bedeutet, dass die Interessen des Staates, insbesondere unter Berücksichtigung der Souveränität hinsichtlich der Einwanderungs- und Niederlassungspolitik, gegen jene des BF abzuwägen sind (EGMR U 18.02.1991, Moustaquim gegen Belgien, Nr. 12313/86). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht ferner davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Die Konventionsstaaten sind nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt, Einreise, Ausweisung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (EGRM U 30.10.1991, Vilvarajah u.a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13163/87).

Die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt werden, ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung nach Art 8 Abs. 2 EMRK daher ein hoher Stellenwert zu (VfSlg. 18.223/2007).

3.4.3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei der Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegensteht (zur Maßgeblichkeit dieser Kriterien vgl. VfSlg. 18.223/2007).

Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine fixen zeitlichen Vorgaben knüpft (EGMR U 31.1.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99; U 16.9.2004, M. C. G. gegen Deutschland, Nr. 11.103/03), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR GK 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9214/80, 9473/81, 9474/81; U 20.6.2002, Al-Nashif gegen Bulgarien, Nr. 50.963/99) und dessen Intensität (EGMR U 02.08.2001, Boultif gegen Schweiz, Nr. 54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR U 04.10.2001, Adam gegen Deutschland, Nr. 43.359/98; GK 09.10.2003, Slivenko gegen Lettland, Nr. 48321/99), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR U 11.04.2006, Useinov gegen Niederlande Nr. 61292/00) für maßgeblich erachtet.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 MRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (statt aller VwGH 17.03.2021, Ra 2021/14/0052 mwN). Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat. Ferner sind nach der eingangs zitieren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie dies Verfassungsgerichtshofs die strafgerichtliche Unbescholtenheit aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht sowie Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und schließlich die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen.

Dem Fremden musste bei der Antragstellung klar sein, dass der Aufenthalt in Österreich im Falle einer Abweisung des Asylantrages nur ein vorübergehender ist. Ebenso indiziert die Einreise unter Umgehung der Grenzkontrolle den Umstand, dass dem Fremden die Unmöglichkeit der legalen Einreise und dauerhaften Niederlassung bewusst war. Dazu kommt, dass der Fremde gerade in diesem Stadium des ungewissen Aufenthaltes Anknüpfungspunkte gem. Art. 8 (1) EMRK begründete, weshalb er nicht schützenswert erscheint. Eine Prüfung der sonstigen genannten Kriterien brachte keine weiteren gewichtigen Argumente für den Verbleib im Bundesgebiet. Würde sich ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen. Könnte sich ein Fremder nunmehr in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen, würde dies darüber hinaus dazu führen, dass Fremde, welche die unbegründete bzw. rechtsmissbräuchliche Asylantragstellung allenfalls in Verbindung mit einer illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet in Kenntnis der Unbegründetheit bzw. Rechtsmissbräuchlichkeit des Antrags unterlassen, letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, welche genau zu diesen Mitteln greifen um sich ohne jeden sonstigen Rechtsgrund den Aufenthalt in Österreich legalisieren, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (vgl. hierzu auch das Estoppel-Prinzip) (AsylGH 4.8.2008, E10 313376-1/2008).

Eine den Schutz des Privatlebens auslösende Verbindung kann insbesondere für solche Ausländer in Betracht kommen, deren Bindung an Österreich aufgrund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse mit gleichzeitiger Entfremdung vom Heimatland quasi Österreichern gleichzustellen ist. Ihre Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass Österreich faktisch das Land ist, zu dem sie gehören, während sie mit ihrem Heimatland nur noch das formale Band der Staatsbürgerschaft verbindet (EGMR 26.3.1993 im Fall Beldjondi und vom 26.9.1997 im Fall Mehemi). Voraussetzung dafür wird sein, dass das Privat- und Familienleben in Österreich fest verankert ist. Der Besuch eines Deutschkurses oder eine Berufsausbildung allein wird somit noch kein schützenswertes Privatleben begründen (AsylGH 23.12.2009, D10 257656-0/2008).

3.4.4. In Abwägung der gemäß Art. 8 EMRK maßgeblichen Umstände in Ansehung der BF ergibt sich für den gegenständlichen Fall Folgendes:

3.4.4.1. Zur zeitlichen Komponente ist anzuführen, dass die BF am 05.08.2022 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte, sie hält sich sohin seit rund 23 Monaten in Österreich auf. Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, weil eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist. Die BF hält sich erst rund 23 Monate im Bundesgebiet auf, das Gewicht ihres Aufenthaltes ist darüber hinaus noch dadurch abgeschwächt, dass sie ihren Aufenthalt durch einen unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz zu legalisieren versuchte. Alleine durch die Stellung ihres Antrags konnte sie nämlich nicht begründeter Weise von der zukünftigen dauerhaften Legalisierung ihres Aufenthalts ausgehen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann bei einem Inlandsaufenthalt von eineinhalb Jahren von einer ins Gewicht fallenden Aufenthaltsdauer keine Rede sein. Daher kann ein mit der Erlassung der Rückkehrentscheidung verbundener Eingriff in das Privatleben nur unter außergewöhnlichen Umständen die Unzulässigkeit dieser Maßnahme bewirken (VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0191 mwN); diese Rechtsprechung muss auch bei einem um wenige Monate längerem Aufenthalt zur Anwendung kommen.

Solche außergewöhnlichen Umstände liegen gegenständlich nicht vor. Die BF verfügt in Österreich über ihre Eltern und ihren jüngeren Bruder, welche asylberechtigt sind, sowie über ihre ältere Schwester und deren Familie, welche ebenfalls Asylwerber sind. Es bestehen keine Abhängigkeiten zwischen der BF und den genannten Personen, wenn auch nicht verkannt wird, dass die BF diese regelmäßig besucht. Die BF hält sich erst seit rund 23 Monaten in Österreich auf und verfügt über Deutschkenntnisse auf Anfängerniveau, eine Unterhaltung auf schlichtem Niveau ist jedenfalls möglich. Einer geregelten Erwerbstätigkeit geht die BF, wenn sie sich auch um die Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung bemüht hat, nicht nach, sie ist jedoch ehrenamtlich tätig und verfügt über einen Freundeskreis, welcher aus vier Personen besteht. Aus privater und familiärer Hinsicht ist festzuhalten, dass die BF sich durchaus um Integration bemüht, jedoch der außerordentlich kurze Aufenthalt einerseits und die daraus resultierende geringfügige Aufenthaltsverfestigung andererseits Berücksichtigung finden müssen. Außerdem ist der Umstand, dass der vorrübergehende Aufenthalt der BF – nach illegaler Einreise - ausschließlich durch die Stellung eines unbegründeten Asylantrags legalisiert war, zu beachten.

Sämtliche persönliche Anknüpfungspunkte der BF sind des Weiteren dadurch relativiert, dass der BF und ihren allfälligen Sozialkontakten, die laut den eigenen Angaben der BF teilweise ebenfalls über den Status des Asylwerbers verfügen, die Unsicherheit ihres Aufenthalts stets bewusst war oder bewusst sein hätte müssen.

3.4.4.2. Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit der BF stellt weder eine Stärkung der persönlichen Interessen, noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, Zl. 98/18/0420).

3.4.4.3. Im gegenständlichen Verfahren ist keine unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer festzustellen, sondern wurden das Asylverfahren erster Instanz zwar nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist, dennoch aber ohne unbillige Verzögerung geführt. Das Beschwerdeverfahren wurde innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist zum Abschluss gebracht.

3.4.4.4. In einer Abwägung der erörterten Aspekte ist zunächst festzustellen, dass der Rechtsposition der BF im Hinblick auf einen weiteren Verbleib in Österreich die öffentlichen Interessen des Schutzes der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Form der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen, sowie im Hinblick auf die nicht absehbare Selbsterhaltungsfähigkeit der BF des wirtschaftlichen Wohles des Landes gegenüberstehen.

3.4.4.5. Im Rahmen einer Gesamtwürdigung anhand der in § 9 BFA-VG angeführten Kriterien gelangt das BVwG folglich zu dem Ergebnis, dass die individuellen Interessen der BF im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK eindeutig nicht dermaßen ausgeprägt sind, dass sie das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nach Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und der Einhaltung der in Geltung stehenden aufenthalts- und fremdenrechtlichen Bestimmungen überwiegen.

3.4.5. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 keine gesetzlich normierten Hindernisse entgegenstehen. Die rechtliche Würdigung der bB ist im Ergebnis zutreffend und ihr nicht entgegenzutreten.

3.5. Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkt V.):

3.5.1. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 von Amts wegen gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG 2005 (VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Fremde das Bestehen einer aktuellen und durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwendbaren Bedrohung im Sinn des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG 2005 - diese Bestimmungen stellen auf dieselben Gründe ab, wie sie in den §§ 3 und 8 AsylG 2005 enthalten sind - glaubhaft zu machen. Es ist die konkrete Einzelsituation des Fremden in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Fremden in diesen Staat zu beurteilen (VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).

Der Prüfungsmaßstab im Hinblick auf den subsidiären Schutz entspricht somit jenem des Refoulementverbots im FPG 2005. Erkennbar eben deshalb ist nach den Vorstellungen des Gesetzgebers aber auch ein gesonderter Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Grunde des § 50 FPG 2005 nicht möglich; einem Fremden ist es verwehrt, eine derartige Feststellung zu begehren, weil über das Thema dieser Feststellung ohnehin im Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz abzusprechen ist. Ein inhaltliches Auseinanderfallen der genannten Entscheidungen (insbesondere nach § 8 AsylG 2005) einerseits und der Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG 2005 andererseits ist ausgeschlossen (VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119).

3.5.2. Bezüglich § 50 Abs. 1 FPG 2005 bleibt festzuhalten, dass im Rahmen des Ermittlungsverfahrens betreffend den vom BF gestellten Antrag auf internationalen Schutz nicht festgestellt werden konnte, dass der BF im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der BF somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung, noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage in der Türkei ebenfalls nicht vor.

Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

Ebenso sind keine von Amts wegen aufzugreifenden stichhaltige Gründe für die Annahme erkennbar, dass im Herkunftsstaat der BF deren Leben oder Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten im Sinn des § 50 Abs. 2 FPG 2005 bedroht wäre und wird insoweit auf die Erwägungen in der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung betreffend den von der BF gestellten Antrag auf internationalen Schutz verwiesen.

3.5.3. Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 3 FPG 2005 schließlich unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine solche Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme besteht hinsichtlich des Staates Türkei nicht.

3.5.4. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt V. des bekämpften Bescheides war daher abzuweisen.

3.6. Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.):

3.6.1. Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich zwingend aus § 55 Abs 2 erster Satz FPG. Dass besondere Umstände, die die Drittstaatsangehörigen bei der Regelung ihrer persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätten, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidungen geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht und ist auch nicht evident. Die eingeräumte Frist ist angemessen.

3.6.2. Der Flughafen Istanbul ist geöffnet und von Wien aus (im Wege von Direktflügen) im Luftweg erreichbar, sodass auch keine Hindernisse erkannt werden können, das Bundesgebiet innerhalb der eingeräumten First in den Herkunftsstaat zu verlassen. Der Flughafen Bursa ist über Zwischenstopps erreichbar.

3.6.3. Auch im Hinblick auf Spruchpunkt VI. des bekämpften Bescheides war der Beschwerde daher kein Erfolg beschieden.

 

Zu A II.

Zum Verlust des Aufenthaltsrechts (Spruchpunkt VII.):

Das BFA erkannte der BF bescheidmäßig den rechtmäßigen Aufenthalt gem. § 13 Abs 2 AsylG ab, dies aufgrund der Anklageerhebung wegen des Delikts der falschen Beweisaussage und der Verleumdung.

Gem. Abs 2 letzter Satz leg.cit. lebt das Aufenthaltsrecht mit Einstellung gem. §§ 198 ff StPO wieder auf. Die Rechtsnorm bezieht sich zwar ihrem Wortlaut gemäß lediglich auf Einstellungen durch die Staatsanwaltschaft, angesichts des Telos des Gesetzes, nämlich das Aufenthaltsrecht lediglich in gravierenden Fällen abzuerkennen und wegen der Gleichlagerung von Einstellungen durch Staatsanwaltschaft und Gericht, ist aus hg. Sicht jedoch davon auszugehen, dass diese Bestimmungen auch auf Einstellungen nach den §§ 198 ff. StPO durch ein Strafgericht Anwendung zu finden hat.

Der Beschwerde war in diesem Umfang daher stattzugeben.

 

Zu B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiter ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Abschließend lag der Schwerpunkt hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. auf der Beweiswürdigung.

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