VfGH G211/2021 ua

VfGHG211/2021 ua30.11.2021

Zurückweisung eines Parteiantrags auf Aufhebung des §170 Abs1 StPO mangels Darlegung konkreter Bedenken; Zurückweisung des Antrags auf Aufhebung des §8 und §35 StaatsanwaltschaftsG mangels Präjudizialität

Normen

B-VG Art140 Abs1 Z1 litd
StPO §170 Abs1
StaatsanwaltschaftsG §8, §35
VfGG §7 Abs2, §62

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2021:G211.2021

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung

I. Antrag

Gestützt auf Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG begehrt der Antragsteller

"170 Abs1 StPO in seiner Gesamtheit […]", in eventu "170 Abs1 Z2 stopp […]", "8 StAG […]" und "§35 StAG in seiner Gesamtheit […]",

als verfassungswidrig aufzuheben.

II. Rechtslage

1. §170 der Strafprozessordnung 1975 (StPO), BGBl 631/1975, idF BGBl I 19/2004 lautet (die angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben):

"2. Abschnitt

Festnahme

Zulässigkeit

 

§170.

(1) Die Festnahme einer Person, die der Begehung einer strafbaren Handlung verdächtig ist, ist zulässig,

1. wenn sie auf frischer Tat betreten oder unmittelbar danach entweder glaubwürdig der Tatbegehung beschuldigt oder mit Gegenständen betreten wird, die auf ihre Beteiligung an der Tat hinweisen,

2. wenn sie flüchtig ist oder sich verborgen hält oder, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, sie werde flüchten oder sich verborgen halten,

3. wenn sie Zeugen, Sachverständige oder Mitbeschuldigte zu beeinflussen, Spuren der Tat zu beseitigen oder sonst die Ermittlung der Wahrheit zu erschweren versucht hat oder auf Grund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, sie werde dies versuchen,

4. wenn die Person einer mit mehr als sechs Monaten Freiheitsstrafe bedrohten Tat verdächtig und auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, sie werde eine eben solche, gegen dasselbe Rechtsgut gerichtete Tat begehen, oder die ihr angelastete versuchte oder angedrohte Tat (§74 Abs1 Z5 StGB) ausführen.

(2) Wenn es sich um ein Verbrechen handelt, bei dem nach dem Gesetz auf mindestens zehnjährige Freiheitsstrafe zu erkennen ist, muss die Festnahme angeordnet werden, es sei denn, dass auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, das Vorliegen aller im Abs1 Z2 bis 4 angeführten Haftgründe sei auszuschließen.

(3) Festnahme und Anhaltung sind nicht zulässig, soweit sie zur Bedeutung der Sache außer Verhältnis stehen (§5)."

2. §8 des Bundesgesetzes vom 5. März 1986 über die staatsanwaltschaftlichen Behörden (Staatsanwaltschaftsgesetz – StAG), BGBl 164/1986, idF BGBl I 96/2015 und §35 StAG, idF BGBl I 112/2007 lauten:

"Berichte der Staatsanwaltschaften

 

§8.

(1) Die Staatsanwaltschaften haben über Strafsachen, an denen wegen der Bedeutung der aufzuklärenden Straftat oder der Funktion des Verdächtigen im öffentlichen Leben ein besonderes öffentliches Interesse besteht, oder in denen noch nicht hinreichend geklärte Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu beurteilen sind, von sich aus der jeweils übergeordneten Oberstaatsanwaltschaft zu berichten.

(1a) Berichte nach Abs1 haben das beabsichtigte Vorgehen darzustellen und zu begründen. Ihnen ist der Entwurf der beabsichtigten Erledigung anzuschließen. Soweit sich diese Angaben nicht aus dem Entwurf der Erledigung ergeben, haben sie insbesondere zu enthalten:

1. eine Darstellung des dem Bericht zu Grunde liegenden Sachverhalts;

2. die aufgenommenen Beweise und deren Würdigung;

3. die rechtliche Beurteilung des Sachverhalts.

(2) Die Oberstaatsanwaltschaften können in Wahrnehmung ihrer Aufsichts- und Weisungsbefugnisse, insbesondere auch zur Förderung einer einheitlichen Rechtsanwendung, schriftlich anordnen, dass ihnen über bestimmte Gruppen von Strafsachen Bericht erstattet werde; sie können auch in Einzelfällen Berichte anfordern, wobei sich Zeitpunkt und Art der Berichterstattung nach den besonderen Anordnungen der Oberstaatsanwaltschaften richten.

(3) Berichte nach Abs1 sind grundsätzlich vor einem Absehen von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens (§35c), einer Beendigung des Ermittlungsverfahrens nach den Bestimmungen des 10. und 11. Hauptstückes der StPO, dem Einbringen (§210 StPO) oder dem Rücktritt von einer Anklage (§227), oder vor der Entscheidung über einen Rechtsmittelverzicht oder die Ausführung eines Rechtsmittels im Hauptverfahren zu erstatten, es sei denn, dass zuvor eine Anordnung oder ein Antrag von der Beurteilung einer noch nicht hinreichend geklärten Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Im Übrigen haben die Staatsanwaltschaften in Strafverfahren, die einer Berichtspflicht nach Abs1 unterliegen, über bedeutende Verfahrensschritte, insbesondere Zwangsmaßnahmen (§§102 Abs1 zweiter Satz, 105 Abs1 StPO), zu informieren, nachdem diese angeordnet wurden.

(4) Der Pflicht zur Berichterstattung über eine beabsichtige Verfügung oder Erledigung stehen Anordnungen und Anträge, die wegen Gefahr im Verzug sofort gestellt werden müssen, nicht entgegen.

 

[…]

 

Einsicht in Behelfe und Unterlagen der staatsanwaltschaftlichen Behörden

 

§35.

(1) Das Recht auf Einsicht in Tagebücher steht unbeschadet der nachstehenden Bestimmungen nur Staatsanwaltschaften und dem Bundesministerium für Justiz sowie im erforderlichen Umfang jenen Behörden zu, die mit einem Straf- oder Disziplinarverfahren gegen einen Staatsanwalt oder mit einem Verfahren nach dem Amtshaftungsgesetz, BGBl Nr 20/1949, gegen den Bund wegen behaupteter Rechtsverletzung eines Organs einer Staatsanwaltschaft befaßt sind.

(2) Gesetzliche Bestimmungen, wonach einer gesetzgebenden Körperschaft oder der Volksanwaltschaft ein Recht auf Einsicht in Tagebücher zusteht, bleiben unberührt.

(3) Darüber hinaus kann das Bundesministerium für Justiz oder die Oberstaatsanwaltschaft zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung oder aus anderen vergleichbar wichtigen Gründen Einsicht in Tagebücher gestatten. In diesem Fall soll die Einsicht nicht gewährt werden, bevor seit Zurücklegung der Anzeige oder sonstiger Beendigung des Verfahrens zehn Jahre vergangen sind.

(4) Die Einsicht in den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakt und diesem angeschlossene Berichte über kriminalpolizeiliche und andere Ermittlungen und Beweisaufnahmen richtet sich ausschließlich nach den Bestimmungen der StPO.

(5) Die vorstehenden Bestimmungen stehen den Verständigungspflichten nach §195 StPO nicht entgegen, sofern ein begründetes rechtliches Interesse an der Auskunft besteht."

III. Anlassverfahren, Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Mit Beschluss vom 15. Juni 2021 ordnete das Landesgericht Leoben auf Antrag der Staatsanwaltschaft Leoben die Festnahme des Antragstellers wegen Fluchtgefahr gemäß §170 Abs1 Z2 StPO an.

2. Mit Eingabe vom 20. Juni 2021 beantragte der Antragsteller die Aufhebung der Festnahmeanordnung sowie den Widerruf der Fahndungsausschreibung zur Festnahme. Begründend führte er aus, dass er krank, verhandlungsunfähig und nicht flüchtig sei.

3. Mit Beschluss des Landesgerichtes Leoben vom 21. Juni 2021 wurde der Antrag des Antragstellers vom 20. Juni 2021 auf Aufhebung der Festnahmeanordnung sowie auf Widerruf der Fahndungsausschreibung zur Festnahme abgewiesen und ausgesprochen, dass die Festnahmeanordnung sowie die Fahndungsausschreibung aufrecht bleibe.

4. Aus Anlass der gegen den Beschluss des Landegerichtes Leoben vom 21. Juni 2021 erhobenen Beschwerde stellt der Antragsteller unter einem den vorliegenden Gesetzesprüfungsantrag. Darin legt er seine Bedenken wie folgt dar:

4.1. §170 Abs1 StPO sei zu weit gefasst. Die Bestimmung sei offenkundig so formuliert, dass sie mit Abs3 leg cit in direktem Widerspruch stehe bzw vom Gericht entgegen dem §170 Abs3 StPO und mit der Bedeutung der Sache außer Verhältnis stehend angewendet werden könne. Wenn §170 Abs1 StPO so formuliert sei, dass ein Strafgericht eine Festnahmeanordnung für einen vor einem Monat am offenen Gehirn operierten, 72‑jährigen COVID‑19-Hochrisikopatienten beschließen könne, sodass für diesen die reale Gefahr einer neuerlichen Gehirnblutung bestehe, und man diesen wochenlang festhalten könne, bis eine Hauptverhandlung ausgeschrieben sei, widerspreche dies dem Gleichheitsgrundsatz und sei menschenunwürdig. Wenn sich ein Gericht wie im vorliegenden Falle auf §170 Abs1 Z2 StPO berufen könne, sei diese Gesetzesbestimmung grundrechts- und verfassungswidrig, und erlaube das Leben des Antragstellers zu gefährden. §170 Abs1 Z2 StPO erlaube dem Gericht, Willkür zu üben und entgegen Art3 EMRK vorzugehen, da eine Vorgehensweise wie im vorliegenden Fall eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung sei.

4.2. Die angefochtene Bestimmung verletze zudem Art8 EMRK, der auch das Recht auf Ehre und Ansehen einschließe, sowie Art9 B‑VG iVm Art6 EMRK. Die Anordnung der Festnahme beinhalte die falsche Behauptung, der Antragsteller sei bereits mehrmals unentschuldigt nicht bei Hauptverhandlungen erschienen, was nicht den Tatsachen entspreche. Diese Behauptung verletze das Recht auf Ehre und Ansehen und §170 Abs1 StPO sei somit verfassungswidrig, da dieser so ausgelegt werden könne, dass eine Festnahmeanordnung wie die gegenständliche überhaupt erst möglich sei.

4.3. Überdies sei Art83 Abs2 B‑VG verletzt worden, da offenkundig ein befangenes Gericht entschieden habe, das die objektiven Sachverhalte nicht erkennen könne. Dass ein befangenes Gericht entschieden habe, sei unzulässig, und wenn §170 Abs1 StPO so formuliert sei, dass er dies ermögliche, sei dieser zu unkonkret, widerspreche Abs3 leg cit und sei daher aufzuheben. Die Ungleichbehandlung des Antragstellers führe dazu, dass dieser der Willkür der Gerichtsbarkeit ausgesetzt sei und er werde sohin in seinem Recht auf eine gute Verwaltung – wozu auch die Gerichtsbarkeit gehöre – verletzt.

4.4. Da durch §170 Abs1 StPO in Österreich ein verfassungswidriger Zustand hergestellt werde, werde die "EU‑Grundrechtcharta gesamt" und die "EU‑Menschenrechtskonvention gesamt" verletzt sowie §1 Abs1 des Rechts-Überleitungsgesetzes, da dieser der Grundstein aller österreichischen Gesetze sei und §170 Abs1 StPO mit den Grundsätzen einer echten Demokratie unvereinbar sei.

4.5. Der Strafakt sei ein Berichtsakt gemäß §8 Abs2 StAG. Bei §8 StAG handle es sich um ein unüberprüfbares Weisungsrecht der Staatsanwaltschaften und Gerichte. Die Bestimmung sei überschießend sowie ein Rechtsinstrument, das den Bürger in dessen Rechten verletze, da er keinerlei Überprüfung zulasse. §8 StAG sei in seiner Gesamtheit aufzuheben, da es die "Aufsichtsinstrumentarien", die durch die Bestimmung geregelt würden, ohnedies in jeder Verwaltungsbehörde gebe. Die angefochtene Bestimmung sei nicht mehr zeitgemäß und verfassungswidrig.

4.6. §8 StAG ermögliche einen mündlichen bzw schriftlichen Geheimakt, wozu jedenfalls das Tagebuch gemäß §35 StAG zähle, in dem zum Teil auch informelle Weisungen kommuniziert würden. Das Strafgericht könne die Staatsanwaltschaft anweisen, "diejenigen Anträge zu stellen, die das Gericht 'genehmigt' haben möchte, welche Weisung dann gem. §35 Abs2 StAG von der Akteneinsicht ausgenommen" seien. Es bedürfe daher einer Aufhebung des §8 StAG sowie des §35 Abs1 StAG, der ein Einsichtsrecht in das Tagebuch ausschließe.

4.7. Die angefochtenen Bestimmungen würden zu einer Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten nach Art1, 7 und 83 Abs2 B‑VG, "Art9 B‑VG iVm Art14 EMRK iVm Art2 StGG iVm 20 EU‑GRCh iVm Art2 EUV", Art3 und 8 EMRK, "Art9 B‑VG iVm Art6 EMRK", "Art9 B‑VG iVm Art41 EU‑Grundrechtcharta", "Art9B‑VG iVm Art47 EU‑Grundrechtcharta" führen.

5. Die Bundesregierung sah in der Sache von der Erstattung einer Äußerung ab. Zur Zulässigkeit des Antrages führt sie wie folgt aus (ohne die Hervorhebungen im Original):

"II. Zum Anlassverfahren und zur Zulässigkeit:

 

1. Anlass für den gegenständlichen Parteiantrag auf Normenkontrolle bildet eine Beschwerde gegen einen Beschluss des Landesgerichtes Leoben, mit dem dieses einen Antrag auf Aufhebung einer zuvor ergangenen Festnahmeanordnung sowie auf Widerruf der Fahndungsausschreibung des Angeklagten zur Festnahme abgewiesen hat und ausgesprochen hat, dass die Festnahmeanordnung und Fahndungsausschreibung aufrecht bleiben.

 

2. Ein Parteiantrag auf Normenkontrolle kann gemäß §62 Abs2 VfGG nur dann gestellt werden, wenn das angefochtene Gesetz vom Gericht in der anhängigen Rechtssache unmittelbar anzuwenden bzw wenn die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes eine Vorfrage für die Entscheidung der beim Gericht anhängigen Rechtssache ist oder nach Ansicht der Antragsteller wäre. Der Antrag hat darzulegen, inwiefern das Gericht das Gesetz anzuwenden und welche Auswirkungen die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes auf die beim Gericht anhängige Rechtssache hätte. Eine Antragstellung gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG setzt daher voraus, dass die angefochtenen Gesetzesbestimmungen in der vor dem ordentlichen Gericht entschiedenen Rechtssache präjudiziell sind (vgl zB VfSlg 20.010/2015; 19.11.2015, G498/2015 ua; 13.10.2016, G33/2016 ua; 30.11.2016, G286/2016; 14.6.2017, G26/2017).

 

Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu Gerichtsanträgen fehlt es an der gemäß §62 Abs2 VfGG erforderlichen Präjudizialität, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die angefochtene Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichts im Anlassfall bildet (zB VfSlg 17.670/2005, 17.790/2006, 17.983/2006). Diese Rechtsprechung ist sinngemäß auf Verfahren über einen Parteiantrag auf Normenkontrolle übertragbar (vgl VfGH 23.2.2017, G369/2016; 14.6.2017, G26/2017).

 

Nach Auffassung der Bundesregierung ist die Anwendung der §§8 und 35 StAG im Anlassverfahren denkunmöglich:

 

Gegenstand des Beschlusses des Anlassverfahrens ist eine Festnahmeanordnung und Fahndungsausschreibung. Um zu diesem Beschluss gelangen zu können, hat das Gericht die §§8 und 35 StAG nicht angewendet, da diese einen anderen Regelungsgegenstand haben. Diese Bestimmungen betreffen auch keine 'Vorfrage' iSv. §62 Abs2 VfGG, da der Inhalt dieser Bestimmungen keinerlei Relevanz für die Entscheidung des Gerichts haben kann.

 

Die Bundesregierung geht daher davon aus, dass der Antrag in Bezug auf die §§8 und 35 StAG mangels Präjudizialität unzulässig ist.

 

3. Nach Ansicht der Bundesregierung ist der Anfechtungsumfang in Bezug auf §170 Abs1 StPO zu eng gewählt:

 

Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist ein Antrag ua dann zu eng gefasst, wenn nach der angestrebten Aufhebung Schwierigkeiten bezüglich der Anwendbarkeit der im Rechtsbestand verbleibenden Vorschriften entstünden, und zwar in der Weise, dass der Wegfall der angefochtenen (Teile einer) Bestimmung den verbleibenden Rest unverständlich oder auch unanwendbar werden ließe. Letzteres liegt dann vor, wenn nicht mehr mit Bestimmtheit beurteilt werden kann, ob ein der verbliebenen Vorschrift zu unterstellender Fall vorliegt (siehe zB VfSlg 15.935/2000, 16.869/2003, 19.624/2012; 20.065/2016 ua).

 

Ein zu enger Aufhebungsumfang macht einen Gesetzesprüfungsantrag unzulässig, wenn der (nach der angestrebten Aufhebung) verbleibende Rest einer Gesetzesstelle als sprachlich unverständlicher Torso inhaltsleer und unanwendbar wäre, er also mit den aufzuhebenden Normenteilen untrennbar verbunden ist (vgl etwa VfGH 7.10.2015, G444/2015 mwN; sowie VfGH 22.9.2016, G224/2016; 1.12.2016, G11/2016 und G43/2016).

 

Auch ist es dem Verfassungsgerichtshof verwehrt, der Rechtsvorschrift durch Aufhebung bloßer Teile einen völlig veränderten, dem Normsetzer überhaupt nicht mehr zusinnbaren Inhalt zu geben, weil dies im Ergebnis geradezu ein Akt positiver Normsetzung wäre (vgl VfSlg 12.465/1990; 13.915/1994; 19.755/2013, VfGH 18.2.2016, G434/2015 jeweils mwN).

 

All diese Unzulässigkeitsgründe liegen hier vor: Mit §170 Abs1 StPO steht eine Reihe anderer Bestimmungen in untrennbarem Zusammenhang, denen durch den Wegfall der Gründe der Zulässigkeit einer Festnahme infolge Aufhebung des §170 Abs1 StPO der Boden ihrer Anwendbarkeit entzogen würde. Insbesondere betrifft das §170 Abs2 StPO (die Zulässigkeit einer bedingt obligatorischen Festnahme hängt ua vom Vorliegen eines Festnahmegrundes nach §170 Abs1 StPO ab) und §171 StPO, der die Modalitäten einer (zulässigen) Festnahme regelt. Die Einlieferung eines Beschuldigten in eine Justizanstalt zur Prüfung der Voraussetzungen der Untersuchungshaft (§172 Abs1 StPO) verlangt ebenso eine vorangehende Festnahme. §172 Abs2 bis 4 StPO befassen sich mit dem Vorgehen der Kriminalpolizei nach einer erfolgten Festnahme. Die Bestimmungen über die Untersuchungshaft (die §§173 ff StPO) knüpfen va. auch im Hinblick auf die bestehenden Haftgründe, die in grundsätzlicher Parallelität zu den Festnahmegründen stehen, an eine vorangehende Festnahme des Beschuldigten an.

 

Durch den Wegfall nur des §170 Abs1 Z2 StPO würde der erwähnte Gleichklang zwischen den Gründen der Festnahme und jenen der Zulässigkeit der Untersuchungshaft (konkret §173 Abs2 Z1 StPO) durchbrochen, womit es letzteren Haftgrundes gar nicht mehr bedürfte, weil die Festnahme aus einem anderen Grund des §170 Abs1 StPO erfolgen müsste und sich die Haftgründe danach zu richten hätten. Damit würde die Bestimmung über die Zulässigkeit der Verhängung der Untersuchungshaft bei Fluchtgefahr de facto obsolet, was als rechtspolitisch bedenklich dem Gesetzgeber wohl nicht zugesonnen werden kann.

 

4. Im Hinblick auf die Zulässigkeitsvoraussetzung, wonach ein Parteiantrag gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG nur dann gestellt werden kann, wenn im Anlassverfahren eine 'in erster Instanz entschiedene Rechtssache' vorliegt, stellt die Bundesregierung Folgendes zur Erwägung:

 

'Entschiedene Rechtssache' iSv. Art140 Abs1 litd B‑VG ist die Erledigung des Verfahrensgegenstandes. Handlungen des Gerichts, die den Ablauf des Verfahrens ordnen (allen voran prozessleitende Beschlüsse), stellen keine 'entschiedene Rechtssache' dar (vgl VfGH 24.9.2019, G194/2019).

 

Im Hinblick auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren ist (nur) dann vom Vorliegen einer 'in erster Instanz entschiedenen Rechtssache' und damit von der Zulässigkeit eines Parteiantrags auszugehen, wenn der betreffende Akt nicht (mehr) durch Rechtsmittel gegen das auf Grund einer Anklage im Hauptverfahren ergehende (kondemnierende) Urteil angefochten werden kann (VfSlg 20.001/2015, G372/2015, G176/2016, G236/2016, G357/2016 ua). Bloße Zwischenverfahren begründen grundsätzlich keine entschiedene Rechtssache (siehe etwa VfGH 12.10.2015, G199/2015; Grabenwarter/Frank, B‑VG Art140 Rz 32).

 

Soweit ersichtlich, hat sich der Verfassungsgerichtshof mit der Frage, ob es sich bei einer antragsbedingten Entscheidung über die Zulässigkeit einer Festnahmeanordnung bzw Fahndungsausschreibung um eine Rechtssache iSv. Art140 Abs1 litd B‑VG handelt, noch nicht befasst. (Im konkreten Fall erfolgte diese (gerichtliche) Entscheidung unüblich nicht im Ermittlungsverfahren, sondern erst im Stadium des Hauptverfahrens.)

 

Wie aus dem dem Antrag angeschlossenen Beschluss des Landesgerichts Leoben vom 21.6.2021 (34 Hv 119/17y; ON 590) hervorgeht, handelt es sich dabei um eine Entscheidung, die einer Bekämpfung im Instanzenzug mittels Beschwerde zugänglich ist. Für die inhaltliche Beurteilung des Strafverfahrens ist sie grundsätzlich ohne nähere Bedeutung, auch handelt es sich weder um eine prozessleitende Verfügung noch um ein bloßes Zwischenverfahren. Eine Geltendmachung der vom Antragsteller behaupteten Rechtswidrigkeit des Beschlusses in einem Rechtsmittel, das sich gegen das strafgerichtliche Urteil richtet, ist nicht möglich. Dies spricht dafür, eine entschiedene Rechtssache iSv. Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG anzunehmen.

 

Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der der Festnahmeanordnung zugrunde liegende Sachverhalt sowie dessen rechtliche Beurteilung einer Würdigung im Urteil unterzogen wird, gegen das Rechtsmittel erhoben – und aus dessen Anlass auch ein Parteiantrag auf Normenkontrolle gestellt – werden kann. Dies spricht dagegen, eine entschiedene Rechtssache iSv. Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG anzunehmen.

 

5. Der Antragsteller hegt gegen den angefochtenen §170 Abs1 StPO deshalb Bedenken, weil die Bestimmung es ermögliche, Festnahmeanordnung und Fahndungsausschreibung auf Basis des Haftgrundes der Fluchtgefahr selbst in dem Fall auszusprechen, in dem der Betroffene unter näher beschriebenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen leide. Ob der Betroffene an gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet, die unter dem Aspekt des Haftgrundes der Fluchtgefahr einer Festnahmeanordnung und Fahndungsausschreibung entgegenstehen, war Gegenstand des in Beschwerde gezogenen Beschlusses, in dem das Gericht jedoch einen Sachverhalt angenommen hat, der sich mit den Behauptungen des Antragstellers nicht deckt. Die Bedenken des Antragstellers gegen den angefochtenen §170 Abs1 StPO laufen demnach ausschließlich darauf hinaus, dass das Gericht einen unrichtigen Sachverhalt annehmen konnte. Die Verfassungswidrigkeit des §170 Abs1 StPO wird ausschließlich anhand des vom Antragsteller behaupteten Sachverhalts dargelegt; sonstige Bedenken gegen die angefochtene Bestimmung werden nicht vorgebracht. Dabei übersieht der Antragsteller, dass Gegenstand des Verfahrens gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ist, dass dieses Verfahren aber nicht der geeignete Ort ist, um allfällige Vollzugsmängel geltend zu machen. Der Antrag erweist sich daher auch aus diesem Grund als unzulässig (vgl VfGH 26.2.2016, G179/2015; 22.9.2016, G607/2015; 23.2.2017, G274/2016; 25.9.2017, G403/2016).

 

6. Aus diesen Gründen ist die Bundesregierung der Auffassung, dass der Antrag zur Gänze unzulässig ist."

IV. Erwägungen

1. Zur Unzulässigkeit des Antrages, soweit er sich gegen die §§8 und 35 StAG richtet:

1.1. Gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auch auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels. Nach §62a Abs1 erster Satz VfGG kann eine Person, die als Partei in einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, einen Antrag stellen, das Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben.

1.2. Ein auf Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG gestützter Antrag auf Aufhebung eines Gesetzes oder von bestimmten Stellen eines solchen kann gemäß §62 Abs2 VfGG nur dann gestellt werden, wenn das Gesetz vom Gericht in der anhängigen Rechtssache unmittelbar anzuwenden bzw die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes eine Vorfrage für die Entscheidung der beim Gericht anhängigen Rechtssache ist oder nach Ansicht des Antragstellers wäre. Eine Antragstellung gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG setzt daher voraus, dass die angefochtene Bestimmung eine Voraussetzung der Entscheidung des ordentlichen Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl VfSlg 20.010/2015, 20.029/2015).

1.3. Dem Parteiantrag liegt ein Verfahren über einen Antrag auf Aufhebung einer Festnahmeanordnung und den Widerruf einer Fahndungsausschreibung zur Festnahme zugrunde. Das Landesgericht Leoben hat die angefochtenen §§8 und 35 StAG für seine Entscheidung nicht angewandt. Mangels Präjudizialität der angefochtenen Bestimmungen erweist sich daher der Antrag, soweit er die §§8 und 35 StAG betrifft, als unzulässig.

2. Zur Unzulässigkeit des Antrages, soweit er sich gegen §170 Abs1 StPO richtet:

2.1. Gemäß §62 Abs1 Satz 2 VfGG hat der Antrag, ein Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben, die gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sprechenden Bedenken im Einzelnen darzulegen. Dieses Erfordernis ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nur dann erfüllt, wenn die Gründe der behaupteten Verfassungswidrigkeit – in überprüfbarer Art – präzise ausgebreitet werden, dh dem Antrag mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, mit welcher Verfassungsbestimmung die bekämpfte Gesetzesstelle in Widerspruch stehen soll und welche Gründe für diese Annahme sprechen (vgl zB VfSlg 11.150/1986, 11.888/1988, 13.710/1994, 13.851/1994, 14.802/1997).

Es genügt dabei nicht, dass im Antrag behauptet wird, dass die bekämpften Gesetzesstellen gegen eine oder mehrere – wenn auch näher bezeichnete – Verfassungsbestimmung(en) verstoßen; vielmehr muss konkret dargelegt werden, aus welchen Gründen den bekämpften Normen die behauptete Verfassungswidrigkeit anzulasten ist. Begnügt sich ein Antrag damit, den Verstoß gegen Verfassungsgebote zu behaupten, unterlässt er aber konkrete Darlegungen, warum die bekämpften Regelungen im Einzelnen gegen die genannten Verfassungsbestimmungen verstoßen, so ist der Antrag als unzulässig zurückzuweisen.

Es ist auch nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes, pauschal vorgetragene Bedenken einzelnen Bestimmungen zuzuordnen und – gleichsam stellvertretend – das Vorbringen für den Antragsteller zu präzisieren (VfSlg 13.123/1992, 16.507/2002).

2.2. Der Antragsteller macht mit seinem Vorbringen hinsichtlich §170 Abs1 StPO nur Vollzugsmängel geltend. Die Entscheidung eines Gerichtes ist jedoch nicht Prüfungsgegenstand in Verfahren nach Art140 B‑VG (vgl VfGH 2.7.2015, G145/2015; 26.2.2016, G179/2015 ua). Der Antrag ist daher, soweit er sich auf §170 Abs1 StPO bezieht, ebenfalls als unzulässig zurückzuweisen.

V. Ergebnis

1. Der Antrag ist als unzulässig zurückzuweisen.

2. Dies konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

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