BVwG W272 2273365-1

BVwGW272 2273365-18.9.2023

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:W272.2273365.1.00

 

Spruch:

 

W272 2273363-1/9EW272 2273365-1/8EW272 2273368-1/8E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde von 1. XXXX , geboren am XXXX , 2. XXXX , geboren am XXXX und 3. XXXX , geboren am XXXX , alle Staatsangehörigkeit Russische Föderation, die Minderjährigen vertreten durch ihren Vater XXXX , alle vertreten durch Rechtsanwältin Mag.a Susanne SINGER, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich vom 12.05.2023, Zahlen: 1. XXXX , 2. XXXX und 3. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.08.2023, zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

 

 

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer ist der Vater der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin (in Folge: BF1, BF2, BF3 oder alle gemeinsam: BF). Sie sind Staatsangehörige der Russischen Föderation. Die Ehefrau und eine weitere Tochter des BF1 leben in Österreich.

2. Die BF reisten unrechtmäßig mit dem Flugzeug von der Türkei und über Albanien in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 12.09.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Bei der Erstbefragung durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 13.09.2022 gab der BF1 befragt zu seinen Fluchtgründen zusammengefasst an, dass er mit seinen beiden Kindern zu seiner Frau und seiner ebenfalls in Österreich lebenden weiteren Tochter möchte. Außerdem fürchte er im Rahmen des Ukraine Krieges zum Militär eingezogen zu werden. Er sei mit seiner Familie im Jahr 2010 ca. 3 Monate in Österreich gewesen, sie hatten um Asyl angesucht, seien aber dann freiwillig wieder nach Russland zurückgekehrt. Seine Frau und Tochter seien dann im Jahr 2016 wieder nach Österreich gekommen und haben erneut um Asyl angesucht.

Am selben Tag wurde auch die mj. BF2 erstbefragt und gab zu den Gründen einer Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz an, dass ihre Mutter und eine Schwester in Österreich seit 2016 aufhältig seien und sie mit ihnen zusammenleben wolle und sie schon 6 Jahre nicht gesehen habe. Ihr Vater bemühe sich schon seit 6 Jahren um Familienzusammenführung und sei immer wieder abgewiesen worden.

3. Am 27.04.2023 wurde der BF1 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt oder belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Russisch niederschriftlich einvernommen. Dabei gab der BF1 zu Protokoll, dass er mehrmals über diverse Botschaften der europäischen Staaten ein C-Visum versucht habe zu erlangen, um zu seiner Ehefrau und Tochter nach Österreich reisen zu können, aber habe immer eine Ablehnung erhalten. Er vertrete die minderjährigen BF und brachte für diese keine eigenen Fluchtgründe vor. Der BF1 sei in der Teilrepublik Kalmykia geboren und aufgewachsen und habe zuletzt in der Teilrepublik Dagestan in der Stadt XXXX gelebt, wo auch seine Kinder zur Welt gekommen seien und die Schule besucht haben. Er habe in der Baubranche als Selbständiger „schwarz“ gearbeitet. Der BF1 habe 2010 schon einmal in Österreich einen Asylantrag gestellt, aber das Asylverfahren sollte in Polen geführt werden und deshalb sei er mit der Familie freiwillig nach Dagestan zurückgekehrt. Seine Frau und er haben sich nicht mehr verstanden und deshalb sei sie nach Österreich gereist, aber er sei standesamtlich verheiratet und nicht geschieden. Der BF1 habe sich zwischenzeitlich mit einer anderen Frau traditionell vermählt und geheiratet, sei aber wieder getrennt. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, dass er nach Österreich gekommen sei, um mit seiner Familie, das heißt mit seiner Frau und seiner älteren Tochter wieder zusammenzuleben. Sonst habe er keine Gründe und befürchte auch nichts im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation.

Die am 02.05.2023 ebenfalls vom Bundesamt niederschriftlich befragte BF2 führte in der Einvernahme zusammengefasst an, dass sie nach Österreich gekommen sei, weil ihre Eltern das so gewollt haben. Sie habe im Sommer 2022 die Schule abgeschlossen und studiere derzeit in der Russischen Föderation ein Fernstudium. Sie lebe mit ihren Eltern zusammen und ihre Mutter und ältere Schwester arbeiten und kommen für ihren Lebensunterhalt auf.

Die BF legten im Rahmen der Einvernahme verschiedene Integrationsunterlagen vor.

Außerdem übermittelten die BF den Inlandspass des BF1, die Heiratsurkunde (Kopie) sowie die Geburtsurkunde der BF2 und BF3 (Kopie).

4. Das Bundesamt wies die Anträge der BF auf internationalen Schutz mit Bescheiden vom 12.05.2023 (alle zugestellt am 19.05.2023) sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten als auch bezüglich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation ab (Spruchpunkt I. und II.). Es erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.) und erlies eine Rückkehrentscheidung gegen die BF (Spruchpunkt IV.). In Spruchpunkt V. wurde festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist und wurde den BF eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt VI.).

Das Bundesamt führte begründend zusammengefasst aus, dass nicht festgestellt werden habe können, dass die BF in der Russischen Föderation einer Verfolgung durch staatliche Organe oder Privatpersonen unterliegen würden. Der BF1 habe keine Probleme mit den Behörden gehabt und sei weder vorbestraft noch jemals inhaftiert gewesen. Auch aus sonstigen Umständen bestehe keine asylrelvante Verfolgung der BF. Der BF1 habe bei der Schilderung der Asylgründe sich darauf zurückgezogen, dass er sich nunmehr nach ca. acht Jahren Trennung von der Ehefrau und der ältesten Tochter dazu entschlossen habe mit der Familie zusammenzuleben. Andere Gründe gebe es nicht und seien auch bezüglich den minderjährigen BF keine weiteren Fluchtgründe vorgebracht worden. Es existieren unter Berücksichtigung aller bekannten Tatsachen auch keine Umstände, welche einer Ausweisung von den BF aus dem Bundesgebiet in die Russische Föderation entgegenstehen würden.

5. Gegen diese Bescheide erhoben die BF mit Schriftsatz vom 07.06.2023 (eingebracht am 07.06.2023) innerhalb offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde. Die Bescheide wurden wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften bekämpft.

Begründend führten die BF aus, dass der BF1 in der Einvernahme ergänzend angab, dass bereits vor Ausreise, wie auch nach der Ausreise mehrmals Kontaktaufnahmen durch die dagestanische Polizei erfolgt seien und fürchte der BF1 im Falle der Rückkehr zum Wehrdienst rekrutiert und in einen Kriegseinsatz in die Ukraine entsendet zu werden. Der BF1 sei nicht in der Lage gewesen sein Vorbringen früher zu erstatten, weil er bei der Einvernahme nicht entsprechend befragt worden sei und sei eingeschüchtert von Dolmetsch und Behördenamtsträgern gewesen. Fallgegenständlich hätte sich die belangte Behörde zudem mit aktuelleren Länderberichten auseinandersetzen müssen, insbesondere auch mit aktuellen Medienberichten. So werden tschetschenische und dagestanische Männer aus diversen Regionen entführt und gezwungen ein Dokument zu unterzeichnen, um „freiwillig“ in der Ukraine zu kämpfen. Vor dem Hintergrund aktueller Länderinformationen erweise sich die Beweiswürdigung der belangten Behörde als grob mangelhaft. Da dem BF1 wegen der Wehrdienstverweigerung eine Gefängnisstrafe drohe und er kumulativ gezwungen wäre im Rahmen des Wehrdienstes an völkerrechtswidrigen Militäraktionen teilzunehmen, sei dem BF1 und der BF2 sowie BF3 im Rahmen des Familienverfahrens der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Außerdem werde mit Nachdruck darauf verwiesen, dass in casu das Kindeswohl der BF2 und BF3 von der belangten Behörde in keiner Weise berücksichtigt worden sei. Diese haben die letzten Jahre ohne deren Mutter aufwachsen müssen und sei zumindest die Rückkehrentscheidung betreffend die BF aufgrund des bestehenden Familienlebens im Bundesgebiet auf Dauer unzulässig zu erklären.

6. Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt langten am 12.06.2023 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurden der zuständigen Gerichtsabteilung zugewiesen.

7. Am 14.06.2023 wurde eine nachreichende Beschwerde übermittelt und darin ergänzend angeführt, dass insbesondere bei der Beurteilung des Familienlebens der beiden minderjährigen Töchter mit der zum dauernden Aufenthalt in Österreich berechtigten leiblichen Mutter inhaltlich anders wie im angefochtenen Bescheid zu beurteilen sei und die intensive Beziehung zur leiblichen Mutter sowie das Familienleben in Österreich im Sinne des Kindeswohles zu berücksichtigen sei. Die Ehegattin bzw. Kindesmutter der BF komme mit ihrem Einkommen zur Gänze für die BF auf und nehmen alle BF von Anfang an keine Grundversorgung in Anspruch.

8. Mit Eingabe vom 25.07.2023 übermittelten die BF ein Konvolut an Integrationsunterlagen.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.08.2023 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Russisch durch, an welcher der BF1 und die mj. BF sowie deren Rechtsanwältin als gewillkürte Vertreterin sowie die Ehefrau des BF1 und Mutter der mj. BF als Zeugin teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. Ergänzend brachte das Bundesverwaltungsgericht die aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation, Version 12 vom 04.07.2023 in das Verfahren ein. Die BF legten im Zuge der Verhandlung einen Antrag auf Beschäftigungsbewilligung des BF1 beim AMS vor.

10. Mit Eingabe 30.08.2023 übermittelten die BF einen Dienstzettel sowie einen Bescheid vom AMS und gaben bekannt, dass der BF1 seit 16.08.2023 wie auch seine Ehegattin bei XXXX arbeite und ihm eine Beschäftigungsbewilligung des AMS XXXX für die Zeit vom 16.08.2023 bis zum 15.08.2023 erteilt worden sei. Zudem wurde stellungnehmend angegeben, dass im gegenständlichen Fall das Kindeswohl beider Töchter entsprechend zu berücksichtigen sei und ihnen das Verhalten der Eltern nur in einem sehr eingeschränkten Ausmaß zuzurechnen sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes, der im Verfahren vorgelegten Unterlagen, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person der BF:

1.1.1. Die Identität der BF steht fest. Sie sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehören der Volksgruppe der Awaren an sowie die minderjährigen mütterlicherseits auch der tschetschenischen Volksgruppe und bekennen sich zum muslimisch-sunnitischen Glauben. Die BF sprechen fließend Russisch, Tschetschenisch und Awarisch (die BF3 ein bisschen).

Der BF1 ist mit XXXX verheiratet und der Vater der minderjährigen BF2 sowie der minderjährigen BF3 und der volljährigen XXXX (20 Jahre). Außerdem war er im Jahr 2016 mit einer weiteren Frau namens XXXX traditionell verheiratet; die traditionelle Ehe ist bereits wieder geschieden und es besteht kein Kontakt mehr.

1.1.2. Der BF1 wurde am XXXX in XXXX , Teilrepublik Kalmikiya geboren und verzog noch im Kleinkindalter in die Teilrepublik Dagestan, in die Stadt XXXX , wo er bis zu seiner Ausreise aufwuchs und lebte. Er besuchte die Grundschule und im Anschluss für ca. 18 Monate ein Technikum. Von Mai 1997 bis Mai 1999 leistete der BF1 als einfacher Soldat in der Seeflotte den Militärdienst. Er hat seinen Lebensunterhalt in XXXX durch Erwerbsarbeit als Mechaniker und Maler bestritten.

Die minderjährige BF2 wurde am XXXX in XXXX , Teilrepublik Dagestan geboren, wo sie aufwuchs und bis zur Ausreise im Jahr 2022 mit ihrer Schwester und ihrem Vater im gemeinsamen Haushalt in einer Eigentumswohnung lebte. Sie besuchte neun Jahre die Grundschule und schloss diese 2022 ab und verfügt über einen Freundeskreis. Sie begann zuletzt ein College mit Fachrichtung Jus.

Die minderjährige BF3 wurde am XXXX in XXXX , Teilrepublik Dagestan geboren, wo sie ebenfalls aufwuchs und bis zur Ausreise im Jahr 2022 im Familienverband lebte sowie betreut wurde (Vater, Schwester, Tante, Großeltern). Die BF3 besuchte zumindest vier Jahre die Grundschule und hat Freunde in ihrem Herkunftsort, mit denen sie die Freizeit verbrachte.

Die Ehefrau des BF1 und Mutter der BF2 und BF3 reiste gemeinsam mit einer weiteren Tochter im Jahr 2016 nach Österreich. Die BF hatten durch regelmäßige Telefonate oder auch Videotelefonie von Russland aus Kontakt mit ihrer Frau/Mutter sowie Tochter/Schwester. Die Mutter der mj. BF und Ehefrau des BF kehrte auch zumindest nach Erhalt des Aufenthaltstitels 2020 dreimal nach Russland bzw. Dagestan auf Besuch zurück und traf ihre Kinder in Dagestan und den BF1 unter anderen auch in Moskau.

1.1.3. In der Russischen Föderation, in der Teilrepublik Dagestan, in der Nähe der BF in der selben Stadt, leben die Eltern und Geschwister (zwei Schwestern und ein Bruder) des BF1. Die Eltern des BF1 beziehen eine Pension, sein Bruder (geboren 1986) arbeitet im Gasbereich. Alle seine Geschwister sind verheiratet und haben mehrere Kinder. Die Eltern der Ehefrau des BF1 sind bereits 2021 verstorben; eine Schwester der Ehefrau ist noch in Dagestan mit ihrer Familie aufhältig. Die BF haben zu ihren Familienangehörigen, Verwandten und Freunden regelmäßig telefonischen Kontakt.

1.1.4. Die BF sind gesund und leiden an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen und in der Russischen Föderation nicht behandelbaren Krankheiten, die einer Rückkehr in den Herkunftsstaat entgegenstehen.

1.1.5. Der BF1 ist arbeitsfähig und wie auch die BF2 in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Die BF3 ist strafunmündig.

1.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

1.2.1. Der BF1 sowie die minderjährigen BF waren und sind keiner konkreten und individuell gegen sie gerichteten Verfolgung oder Bedrohung in der Russischen Föderation ausgesetzt. Dies wurde im gesamten Verfahren auch nicht weiter behauptet. Der BF1 ist in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft und war dort nie inhaftiert. Er ist nie oppositionell oder gegen Putin aufgetreten, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, er hat sich nicht politisch oder journalistisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsstaat. Der BF1 hat die Russische Föderation gemeinsam mit seinen minderjährigen Kindern weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität, noch wegen Lebensgefahr verlassen. Sie reisten nach Österreich, weil hier die Ehefrau des BF1 und Mutter der BF2 sowie BF3 sowie eine weitere volljährige Tochter des BF1 und Schwester der minderjährigen BF leben und sie sich hier ein wirtschaftlich besseres Leben erwarteten und damit den geordneten Familiennachzug umgehen wollten.

1.2.2. Der BF1 läuft auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr, im Falle der Rückkehr zwangsweise im Angriffskrieg gegen die Ukraine eingesetzt zu werden. Der BF1 fällt nicht mehr in das wehrfähige Alter und verfügt über keine spezielle militärische Ausbildung. Er hat seinen Militärdienst bereits vor über 20 Jahren geleistet.

1.2.3. Der minderjährigen BF2 und BF3 drohen in der Russischen Föderation auch keine Zwangsheirat oder eine Verfolgung oder Gefährdung wegen ihrer Eigenschaft als Frau und Mädchen oder sonstige kinderspezifische Gefahren.

1.2.4. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation droht den BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch russische Behörden oder durch andere Personen.

Den BF drohen keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten, insbesondere droht ihnen auch keine Verfolgung wegen der von ihnen im Asylverfahren vorgebrachten Gründe (Familienzusammenführung).

1.2.5. Ferner droht den BF im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation wegen ihrer Anträge auf internationalen Schutz in Österreich und/oder wegen ihres einjährigen Aufenthalts außerhalb der Russische Föderation weder Verfolgung noch sonst psychische oder physische Gewalt.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat:

1.3.1. Den BF ist eine Rückkehr in die Russische Föderation nach Dagestan oder auch an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Dagestan – zB nach Moskau oder St. Petersburg – oder auch in die Teilrepublik Kalmikiya, wo der BF1 geboren wurde, möglich. Die BF können wieder zusammen in einer Eigentumswohnung in Dagestan leben, wie sie es vor ihrer Ausreise taten oder auch zu den Familienangehörigen (Eltern und Geschwister BF1), welche in eigenen Häusern/Wohnung leben, ziehen, um die Ankunft/Wiedereingliederung zu erleichtern, mit denen sie auch von Österreich aus Kontakt halten. Sie können auch eine Sozialwohnung beantragen, wenngleich dies einige Zeit dauert. Sie können aber auch an einen anderen Ort in der Russischen Föderation ziehen und in einem eigenen Haus bzw. einer eigenen Wohnung leben.

1.3.2. Der BF1 ist arbeitsfähig, gesund und nicht pflegebedürftig. Auch die minderjährige BF2 und BF3 sind gesund und können weiterhin im Familienverband durch den BF1 betreut werden. Die BF 2 hat ihre Ausbildung abgeschlossen und kann ebenfalls einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

Die BF sind im Fall ihrer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation weder in ihren Recht auf Leben gefährdet, noch der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht. Die BF laufen dort nicht Gefahr, ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die BF haben ihr gesamtes Leben vor der Einreise nach Österreich in der Russischen Föderation verbracht. Die BF sprechen Awarisch, Tschetschenisch und Russisch. Der BF1 absolvierte die Pflichtschule und ein Technikum und verfügt über Arbeitserfahrung als Mechaniker und Maler. Die Ehefrau des BF1 und Mutter der BF2 sowie BF3 lebt, wie auch eine weitere Tochter in Österreich. Sie ist erwerbstätig und kann die BF auch von Österreich aus unterstützten. Es ist ihr jedoch auch möglich und zumutbar mit den Beschwerdeführern in die Russische Föderation zurückzukehren. Der BF1 hat die alleinige Obsorge und sorgte auch davor für alle zwei minderjährigen Kinder. Die 16-jährige BF2 kann die Schule (College/Studium) fortsetzen oder auch eine Berufsausbildung oder Erwerbsarbeit anstreben. Die 12-jährige BF3 kann ihre Schulbildung ebenso fortsetzen. Der Lebensunterhalt der minderjährigen BF kann durch den BF1 gesichert werden; hinzu kommen staatliche Förderungen vor allem für kinderreiche Familien, die die BF in Anspruch nehmen können. Zudem verfügen die BF über ein familiäres Netz in der Russischen Föderation, das sie insbesondere am Anfang unterstützen kann. Die Gesundheitsversorgung ist sichergestellt und kostenlos.

Die BF sind mit den russischen und awarischen sowie tschetschenischen (minderjährigen BF mütterlicherseits) Gepflogenheiten vertraut und wurden mit diesen sozialisiert.

1.3.3. Die BF leiden an keinen schweren physischen oder psychisch akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen.

1.4. Zur Situation der BF in Österreich:

1.4.1. Der BF1 und die BF2 (BF3 war noch nicht geboren) reisten gemeinsam mit der Ehefrau/Mutter und einer weiteren Tochter im April 2011 illegal nach Österreich, aber kehrten nach wenigen Wochen freiwillig nach Dagestan zurück, weil sie zur Führung des Asylverfahrens nach Polen verwiesen wurden, wo sie zuvor einen Asylantrag gestellt haben. Die Ehefrau des BF1 und Mutter von BF2 und BF3 sowie eine weitere Tochter des BF1 reisten erneut mit einem italienischen Visum im Jahr 2016 nach Österreich, stellten wiederrum einen Antrag auf internationalen Schutz und halten sich seitdem hier auf. Mit Erkenntnis vom 14.04.2020, XXXX , erkannte das Bundesverwaltungsgericht die Rückkehrentscheidung gegen die Ehefrau und Tochter des BF1 auf Dauer für unzulässig und erteilte XXXX (geboren 1978) und XXXX (geboren 2003) den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“. Der Antrag auf internationalen Schutz wurde abgewiesen, da die Angaben der Ehefrau des BF 1 nicht glaubwürdig waren. Die Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung erfolgte im Wesentlichen, da diese bereits seit fünf Jahre in Österreich aufhältig gewesen ist, Deutschkurse besucht hat und die Integrationsprüfung Niveau B1 erfolgreich absolviert hat. Sie kümmerte sich um das Fortkommen ihrer Tochter in Österreich, hat eine breiten Freundes- und Bekanntenkreis und ist ein unverzichtbares Mitglied der Gemeinschaft. Sie hatte bereits als Reinigungskraft eine Anstellungszusage. Die Tochter in Österreich besuchte von 2015 bis 2018 die Mittelschule und danach die Handelsschule, war sehr gut integriert und lebte mittlerweile einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Lebens in Österreich. Es war zum Entscheidungszeitpunkt die Unmöglichkeit der Trennung der minderjährigen Tochter, welche in Österreich lebte, von ihrer Mutter, zu berücksichtigen.

Die Ehefrau und Tochter des BF1 verfügen nunmehr über den Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ im Bundesgebiet und sind auf Dauer aufenthaltsberechtigt.

1.4.2. Die BF reisten mit dem Flugzeug über die Türkei und Albanien unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte der BF1 für sich und seine minderjährigen Kinder BF2 und BF3 am 12.09.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Das Bundesamt wies mit Bescheiden vom 12.05.2023 (zugestellt am 19.05.2023) die Anträge der BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten sowie auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation ab (Spruchpunkt I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Das Bundesamt erließ eine Rückkehrentscheidung gegen die BF und stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt IV. und V.). Für die freiwillige Ausreise wurde ihnen eine 14-tägige Frist eingeräumt (Spruchpunkt VI.). Gegen diese Bescheide erhoben die BF fristgerecht Beschwerde. Die BF verfügten nie über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des Asylverfahrens, auch kein Schengen-Visum.

1.4.3. Die BF leben in einem gemeinsamen Haushalt mit der im Bundesgebiet zum dauernden Aufenthalt in Österreich berechtigten Ehefrau/Mutter und Tochter/Schwester der BF in XXXX , die auch im Bundesgebiet erwerbstätig sind. Die BF beziehen keine Leistungen aus der Grundversorgung.

1.4.4. Die BF sind seit ca. einem Jahr in Österreich aufhältig.

Der BF1 verfügt über geringe Deutschkenntnisse und besuchte einen Deutschkurs. Die Integrationsprüfung Deutsch A1 hat der BF1 im März 2023 nicht bestanden. Er hat in Österreich den Führerschein im Juli 2023 erhalten. Sonstige Aus- und Weiterbildungen absolvierte er nicht. Er ist nicht Mitglied in einem Verein, engagiert sich nicht ehrenamtlich und hat außer seiner Frau und Töchter sowie eine Schwägerin keine sonstigen Familienangehörigen oder Verwandte in Österreich. Bis auf lose Bekanntschaften in der Nachbarschaft verfügt der BF auch über keine weiteren sozialen Bindungen im Bundesgebiet. Der BF1 arbeitet seit 16.08.2023 so wie auch seine Ehefrau bei der Bäckerei XXXX und verfügt über eine Beschäftigungsbewilligung des AMS XXXX für die Zeit vom 16.08.2023 bis zum 15.08.2024. Der BF1 ist als Produktionsarbeiter im Ausmaß von 40 Stunden pro Woche und mit einem Grundlohn von € 10,-/Stunde angestellt. Er ist selbsterhaltungsfähig.

Der BF1 hat für seine minderjährigen Töchter (BF2 und BF3) das alleinige Obsorgerecht.

Die minderjährige BF2 hat geringe Deutschkenntnisse und besuchte einen Deutschkurs auf Anfängerniveau A1. Die nichtbestandene Deutschprüfung A1 möchte die BF2 wiederholen und eine Ausbildung machen. Sonstige Aus- und Weiterbildungen absolvierte die mj. BF2 nicht, ist nicht Mitglied in einem Verein und verfügt abgesehen von ihren Eltern und Schwestern sowie einer Tante mütterlicherseits über keine sonstigen Familienangehörigen oder engen Bezugs- und Kontaktpersonen im Bundesgebiet.

Die minderjährige BF3 hat Deutschkenntnisse auf Anfängerniveau, sodass eine einfache Unterhaltung auf Deutsch möglich ist. Sie besuchte im Bundesgebiet die Mittelschule (6. Schulstufe) im Schuljahr 2022/23 ( XXXX ) als außerordentliche Schülerin und erfolgte noch keine Beurteilung in den Fächern. Die BF3 ist nicht Mitglied in einem Verein, aber nahm bei Schulveranstaltungen teil (Tischfußballturnier, Leichtathletiktag), wo sie sportliche Erfolge erzielte (Weitsprung 1. Platz) und knüpfte erste Freundschaften. Ihr Hobby ist nähen.

1.4.5. Die BF sind keine begünstigten Drittstaatsangehörige und es kommt ihnen kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Ihr Aufenthalt im Bundesgebiet war nie geduldet. Sie waren weder Zeugen oder Opfer von strafbaren Handlungen noch sonst Opfer von Gewalt.

1.5. Die allgemeine Lage in der Russischen Föderation stellt sich im Übrigen wie folgt dar:

Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen der Staatendokumentation zur Russischen Föderation, Version 12 vom 04.07.2023 ausgegangen:

Politische Lage

Russland ist eine Präsidialrepublik mit föderativem Staatsaufbau (AA 22.2.2023a). Das Regierungssystem Russlands wird als undemokratisch (autokratisch) bzw. autoritär eingestuft (BS 2022; vgl. EIU 2.2.2023, UG 3.2023, FH 24.5.2023, Russland-Analysen 20.6.2022). Die im Verfassungsartikel 10 vorgesehene Gewaltenteilung (Duma 6.10.2022; vgl. AA 22.2.2023b) ist de facto stark eingeschränkt (AA 22.2.2023b). Das politische System ist zentral auf den Präsidenten ausgerichtet (AA 28.9.2022; vgl. FH 2023, Russland-Analysen 20.6.2022), was durch den Begriff der Machtvertikale ausgedrückt wird (SWP 19.4.2022). Gemäß Artikel 83 der Verfassung der Russischen Föderation ernennt der Staatspräsident (nach Bestätigung durch die Staatsduma) den Regierungsvorsitzenden und entlässt ihn. Der Präsident leitet den Sicherheitsrat der Russischen Föderation und schlägt dem Föderationsrat die neuen Mitglieder der Höchstgerichte vor. Laut Verfassungsartikel 129 werden der Generalstaatsanwalt sowie die Staatsanwälte der Subjekte der Russischen Föderation nach Beratungen mit dem Föderationsrat vom russischen Präsidenten ernannt und von diesem entlassen. Darüber hinaus ernennt und entlässt der Präsident die Vertreter im Föderationsrat, bringt Gesetzesentwürfe ein, löst die Staatsduma auf und ruft den Kriegszustand aus (Artikel 83-84, 87). Der Präsident bestimmt die grundlegende Ausrichtung der Innen- und Außenpolitik (Verfassungsartikel 80) (Duma 6.10.2022). Seit dem Jahr 2000 wird das Präsidentenamt (mit einer Unterbrechung von 2008 bis 2012) von Wladimir Putin bekleidet (BS 2022). Der Präsident der Russischen Föderation wird laut Verfassungsartikel 81 für eine Amtszeit von sechs Jahren von den Bürgern direkt gewählt (Duma 6.10.2022). Die letzte Präsidentschaftswahl fand am 18.3.2018 statt. Ein echter Wettbewerb fehlte. Auf kritische Stimmen wurde Druck ausgeübt (OSCE 6.6.2018). Putins einflussreicher Rivale Alexej Nawalnyj durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Nawalnyj war zuvor in einem als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden (FH 2023). Es wurden Transparenzmängel bei der Präsidentenwahl 2018 festgestellt (OSCE 6.6.2018). Die Geldquellen für Putins Wahlkampagne waren undurchsichtig (FH 2023). Auch kam es zu Unregelmäßigkeiten hinsichtlich der Einhaltung des Wahlgeheimnisses. Die Wahlbeteiligung lag laut der Zentralen Wahlkommission bei 67,47 %. Als Sieger der Präsidentenwahl 2018 ging Putin mit 76,69 % der abgegebenen Stimmen hervor (OSCE 6.6.2018). Regierungsvorsitzender ist Michail Mischustin (PM o.D.).

Die Verfassung der Russischen Föderation wurde per Referendum am 12.12.1993 angenommen. Am 1.7.2020 fand eine Volksabstimmung über eine Verfassungsreform statt (RI 4.7.2020). Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65 % der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78 % für und mehr als 21 % gegen die Verfassungsänderungen (KAS 7.2020; vgl. BPB 2.7.2020). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Putin, für zwei weitere Amtsperioden als Präsident zu kandidieren. Diese Regelung gilt nur für Putin und nicht für andere zukünftige Präsidenten (FH 2023). Unter anderem erhält durch die Verfassungsreform (2020) das russische Recht Vorrang vor internationalem Recht. Weitere Verfassungsänderungen betreffen beispielsweise die Betonung traditioneller Familienwerte sowie die Definition Russlands als Sozialstaat. Dies verleiht der Verfassung einen sozial-konservativen Anstrich. Die Verfassungsreform und der Verlauf der Volksabstimmung sorgten für Kritik (KAS 7.2020; vgl. BPB 2.7.2020, RI 4.7.2020).

Das Parlament (Föderalversammlung) besteht gemäß Verfassungsartikel 94 und 95 aus zwei Kammern, dem Föderationsrat und der Staatsduma (Duma 6.10.2022). Dem Parlament fehlt es an Unabhängigkeit von der Exekutive (USDOS 20.3.2023). Gemäß Verfassungsartikel 95 werden die Mitglieder des Föderationsrates für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt (mit Ausnahme der auf Lebenszeit ernannten Mitglieder). Zu den Kompetenzen des Föderationsrats gehören laut Verfassungsartikel 102: Bestätigung des präsidentiellen Erlasses über die Verhängung des Ausnahme- und Kriegszustands; sowie Amtsenthebung des Präsidenten. Gemäß Verfassungsartikel 95 und 96 werden die 450 Duma-Abgeordneten für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt (Duma 6.10.2022). Es gibt eine Fünfprozenthürde (OSCE 25.6.2021; vgl. RN 6.10.2021). Die Hälfte der Duma-Mitglieder wird durch Verhältniswahlsystem (Parteilisten), die andere Hälfte durch Einerwahlkreise (Direktmandat) gewählt (FH 2023; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021, KAS 21.9.2021). Die letzten Dumawahlen fanden im September 2021 statt und waren laut Wahlbeobachtern und unabhängigen Medien von beträchtlichen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet, darunter Stimmenkauf, Fälschung von Wahlprotokollen und Druck auf Wähler (FH 28.2.2022; vgl. SWP 14.10.2021, Russland-Analysen 1.10.2021, KAS 21.9.2021). Im Allgemeinen ist Wahlbetrug weitverbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BS 2022). Die Wahlbeteiligung bei der letzten Dumawahl betrug 52 % (FH 2023; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021, RN 6.10.2021). Mit großem Vorsprung gewann die Regierungspartei Einiges Russland die Wahl, so das offizielle Wahlergebnis (FH 28.2.2022). Die Partei Einiges Russland verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, welche erforderlich ist, um Verfassungsänderungen durchzusetzen. Vier weiteren Parteien gelang der Einzug ins Parlament, welche allesamt als kremltreue 'System-Opposition' bezeichnet werden (SWP 14.10.2021). Viele regimekritische Kandidaten waren von der Wahl ausgeschlossen worden (SWP 14.10.2021; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021). Anti-System-Oppositionsbewegungen wurden verboten bzw. zur Selbstauflösung gezwungen (KAS 21.9.2021). Neue politische Parteien können in der Regel nur dann registriert werden, wenn sie die Unterstützung der Machthaber im Kreml genießen (AA 28.9.2022). Aktuell sieht die Sitzverteilung der Parteien in der Staatsduma folgendermaßen aus (Duma o.D.):

 Einiges Russland (Edinaja Rossija): 322 Sitze (Parteivorsitzender Wladimir Wasilew)

 Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF): 57 Sitze (Parteivorsitzender Gennadij Sjuganow)

 sozialistische Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' (Sprawedliwaja Rossija - Patrioty - Sa Prawdu): 28 Sitze (Parteivorsitzender Sergej Mironow)

 Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR): 23 Sitze (Parteivorsitzender Leonid Sluzkij)

 Neue Leute (Nowye Ljudi): 15 Sitze (Parteivorsitzender Aleksej Netschaew)

 Zwei Duma-Abgeordnete gehören keiner Fraktion an.

 Drei Abgeordnetenmandate sind derzeit unbesetzt (Duma o.D.).

Die LDPR ist antiliberal-nationalistisch-rechtspopulistisch ausgerichtet (SWP 14.10.2021; vgl. KAS 21.9.2021). Die Partei Neue Leute wurde im Jahr 2020 gegründet und ist eine liberale Mitte-Rechts-Partei. Die Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' vertritt sozialpatriotische Inhalte (KAS 21.9.2021).

Die föderale Struktur der Russischen Föderation ist in der Verfassung festgeschrieben. Laut Verfassungsartikel 66 kann der Status von Föderationssubjekten in beiderseitigem Einvernehmen zwischen der Russischen Föderation und dem betreffenden Föderationssubjekt im Einklang mit dem föderalen Verfassungsgesetz geändert werden (Duma 6.10.2022). Russland besteht aus 83 Föderationssubjekten. Föderationssubjekte verfügen über eine eigene Legislative und Exekutive, sind aber weitgehend vom föderalen Zentrum abhängig (AA 22.2.2023b). Es besteht ein Trend der zunehmenden Zentralisierung des russischen Staates (ZOIS 3.11.2021; vgl. FH 24.5.2023). Moskau sichert sich die Unterstützung der regionalen Eliten durch gezielte Zugeständnisse (ZOIS 3.11.2021).

Die 2014 von Russland vorgenommene Annexion der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol ist international nicht anerkannt (AA 22.2.2023b). Am 21.2.2022 wurden die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk von Putin als unabhängig anerkannt. Am 24.2.2022 startete Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine (Eur-Rat 16.8.2022). Im September 2022 fanden in den beiden ukrainischen 'Volksrepubliken' Donezk und Luhansk sowie in den ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja 'Referenden' über den Beitritt zur Russischen Föderation statt. Laut den offiziellen Wahlergebnissen stimmten in der 'Volksrepublik' Donezk 99,23 % der Wähler für einen Beitritt, in der 'Volksrepublik' Luhansk 98,42 %, in Cherson 87,05 % und in Saporischschja 93,11 % (Lenta 27.9.2022). Die 'Referenden' in den vier von Russland besetzten ukrainischen Gebieten werden von den Vereinten Nationen als völkerrechtswidrig bezeichnet und international nicht anerkannt (UN 27.9.2022; vgl. Standard 30.9.2022). Die Abstimmung fand nicht nur in Wahllokalen statt, sondern prorussische De-facto-Behörden gingen außerdem mit den Wahlurnen und in Begleitung von Soldaten von Tür zu Tür (UN 27.9.2022). Die 'Stimmabgaben' erfolgten unter Zwang und Zeitdruck (Rat der EU 28.9.2022). Demokratische Mindeststandards wurden nicht eingehalten (Standard 30.9.2022). Die 'Referenden' missachteten die ukrainische Verfassung sowie Gesetze und spiegeln nicht den Willen der Bevölkerung wider (UN 27.9.2022). Nach dem Ende der Scheinreferenden baten die Anführer der prorussischen Separatisten in den ukrainischen Regionen Luhansk und Cherson den russischen Präsidenten Putin um Annexion dieser Regionen (NDR/T 28.9.2022). Am 29.9.2022 wurde die 'staatliche Souveränität' und 'Unabhängigkeit' der Regionen Cherson und Saporischschja von Putin per Erlass anerkannt (RI 30.9.2022a; vgl. RI 30.9.2022b). Im Kreml in Moskau fand am 30.9.2022 die Unterzeichnung der Verträge zum Russland-Beitritt der 'Volksrepubliken' Donezk und Luhansk sowie der Regionen Saporischschja und Cherson statt (Kreml 30.9.2022). Am 3. und 4.10.2022 stimmten die beiden russischen Parlamentskammern der Annexion zu (Tass 4.10.2022). International wird die Annexion dieser vier ukrainischen Gebiete nicht anerkannt (Standard 30.9.2022).

Russland begeht im Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung (UN-OHCHR 16.3.2023; vgl. HRW 21.4.2022). Als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die rechtswidrige Annexion einiger ukrainischer Regionen hat die EU mehrere Sanktionspakete angenommen, nämlich: Wirtschaftssanktionen; individuelle Sanktionen gegen unter anderem Wladimir Putin, den Außenminister Sergej Lawrow und Mitglieder der Staatsduma sowie des Nationalen Sicherheitsrats. Außerdem wurde das Visaerleichterungsabkommen zwischen der EU und Russland vollständig ausgesetzt (Eur-Rat 12.5.2023). Auch die USA, das Vereinigte Königreich, Kanada, Japan, die Schweiz und die restliche westliche Welt haben umfassende Sanktionen gegen Russland eingeführt (WKO 3.2023).

Quellen: […]

Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 13.1.2020; vgl. FR o.D.a) und zählt zu den ärmeren Regionen Russlands (Standard 21.5.2022). Es herrscht Unsicherheit bei der Lebensmittelversorgung. Dagestan wird in beträchtlichem Ausmaß subventioniert (FPRI 15.6.2022). Die Menschenrechtslage in Dagestan ist grundsätzlich besser als im benachbarten Tschetschenien, die Kontrolle der Zivilgesellschaft ist weniger ausgeprägt. Doch auch in Dagestan gehen mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einher, darunter Entführungen und Verschwindenlassen (AA 28.9.2022).

Das Republikoberhaupt ist seit 14.10.2021 Sergej Melikow (KU 17.1.2023a). Das Oberhaupt Dagestans wird von den Abgeordneten der Volksversammlung für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Der Regierungsvorsitzende wird vom Republikoberhaupt mit Zustimmung der Volksversammlung ernannt (FR o.D.a). Dagestans Regierungsvorsitzender ist Abdulmuslim Abdulmuslimow (ORD o.D.). Die Gesetzgebung liegt in den Händen der Volksversammlung Dagestans. Diese besteht aus 90 Abgeordneten, welche durch Verhältniswahlrecht für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt werden (FR o.D.a). Bei der Dumawahl im September 2021 gewann die Partei Einiges Russland in Dagestan 81,18 % der Stimmen. Die Kommunistische Partei (KPRF) errang 6,2 %, die Partei Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit 5,56 %, die Liberal-Demokratische Partei (LDPR) 2,49 %, und Neue Leute gewann 0,78 %. Die Wahlbeteiligung betrug 76,11 % (Russland-Analysen 1.10.2021; vgl. RN 6.10.2021). Im Allgemeinen ist Wahlbetrug weitverbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BS 2022).

Quellen: […]

Sicherheitslage

Aufgrund der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine ist die Lage in Russland zunehmend unberechenbar. Am 23. und 24.6.2023 kam es im Südwesten Russlands zu einer bewaffneten Auseinandersetzung (EDA 27.6.2023). Am Morgen des 24.6.2023 übernahmen Angehörige der privaten paramilitärischen Organisation 'Gruppe Wagner' unter der Führung von Ewgenij Prigoschin die Kontrolle über zentrale Einrichtungen der russischen Streitkräfte in der Stadt Rostow am Don (BAMF 26.6.2023). Vorausgegangen waren ein seit Monaten andauernder Machtkampf zwischen dem Chef des Militärunternehmens und Verteidigungsminister Schojgu (BAMF 26.6.2023; vgl. FA 12.5.2023, ISW 12.3.2023). Auch erfolgten unbestätigten Angaben zufolge Angriffe der regulären Streitkräfte auf ein Feldlager der Söldnertruppe. Im Tagesverlauf besetzte die Wagner-Gruppe weitere Militäreinrichtungen in den Regionen Rostow und Woronesch und rückte weitgehend ungehindert mit mehreren Tausend Kämpfern in Richtung Moskau vor - mit dem erklärten Ziel, die Militärführung um Verteidigungsminister Schojgu und Generalstabschef Gerasimow zu stürzen. Als Reaktion wurden in der Hauptstadt Truppen zusammengezogen, Kontrollpunkte eingerichtet und das Anti-Terror-Regime ausgerufen, welches den Sicherheitskräften eine weitreichende Kommunikationsüberwachung, Personenkontrollen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit erlaubt. Auf Vermittlung des belarussischen Präsidenten Lukaschenko erklärte sich Prigoschin am Abend des 24.6.23, mutmaßlich aufgrund des Ausbleibens erwarteter Unterstützung von Militär und Machteliten, zum Rückzug seiner Truppen bereit. Dieser ist weitgehend vollzogen. Im Gegenzug sicherte die Regierung den am Aufstand beteiligten Söldnern Straffreiheit und Prigoschin persönlich darüber hinaus einen freien Abzug nach Belarus zu (BAMF 26.6.2023). Gemäß Berichten schoss die Wagner-Gruppe am 24.6. Militärhubschrauber sowie ein Flugzeug ab (MOD 29.6.2023). Mittlerweile hat sich die Sicherheitslage vordergründig beruhigt, bleibt aber angespannt (EDA 27.6.2023). Das Anti-Terror-Regime wurde in Moskau und Woronesch mittlerweile wieder aufgehoben (NAK 26.6.2023).

Aufgrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine kommt es vermehrt zu Sicherheitsvorfällen in russischen Grenzregionen. Vor allem die Grenzregionen Belgorod, Rostow, Brjansk und Kursk sind mit täglichem Beschuss und Drohnenangriffen konfrontiert. Im Mai 2023 sind zwei bewaffnete Verbände in die Region Belgorod eingedrungen, was zu Kämpfen und der Evakuierung der Bevölkerung führte. Angeblich bestanden die zwei Verbände aus russischen Staatsangehörigen, welche auf der Seite der Ukraine kämpfen (ACLED 8.6.2023). In mehreren russischen Regionen nahe der Ukraine wurde der Notstand ausgerufen (AA 26.6.2023). Das Kriegsrecht wurde in Russland bislang nicht ausgerufen (Interfax 31.5.2023). Stattdessen spricht Russland nur von einer 'militärischen Spezialoperation' in der Ukraine (Kreml 9.6.2023).

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern gezeigt haben, kann es in Russland (auch außerhalb der Kaukasus-Region) zu Anschlägen kommen. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf. Im Gebiet der Russischen Föderation ist es in jüngster Zeit wiederholt zu Drohnenangriffen gekommen, auch in Moskau. Mehrere russische Regionen, darunter Moskau, wurden in einem abgestuften System in erhöhte Alarmbereitschaft gesetzt. Diese Anordnungen geben den dortigen lokalen Behörden und Sicherheitskräften Befugnisse zu eingreifenden Sicherheitsmaßnahmen, Kontrollen, Durchsuchungen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit (AA 26.6.2023). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 27.6.2023).

Nach der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan haben Russland und Tadschikistan ihr Militärbündnis gestärkt und gemeinsame Übungen an der tadschikisch-afghanischen Grenze abgehalten, um die Grenzsicherheit zu erhöhen (USDOS 27.2.2023). Gemäß dem aktuellen Globalen Terrorismus-Index (2023), welcher die Einwirkung von Terrorismus je nach Land misst, belegt Russland den 45. von insgesamt 93 Rängen. Dies bedeutet, Russland befindet sich auf niedrigem Niveau, was den Einfluss von Terrorismus betrifft (IEP 3.2023).

Die folgende Karte stellt sicherheitsrelevante Ereignisse innerhalb Russlands im Zeitraum 1.1.-23.6.2023 dar, wobei hier zwei Kategorien angezeigt werden: Kampfhandlungen (gelb) und Explosionen/'remote violence' (rot). Die dunkelgrauen Punkte beinhalten sowohl Kämpfe als auch Explosionen/'remote violence'. Wie auf der Karte zu sehen ist, konzentrieren sich die sicherheitsrelevanten Ereignisse auf westliche Teile Russlands (ACLED o.D.):

Sicherheitsrelevante Ereignisse innerhalb Russlands im Zeitraum 1.1.-23.6.2023

ACLED o.D.

Quellen: […]

Nordkaukasus

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert. Die Zahl der Opfer gewalttätiger Zusammenstöße hat in den letzten Jahren abgenommen. Es ist nicht mehr von einer breiten islamistischen Bewegung im Nordkaukasus auszugehen, wenngleich es vereinzelt zu Anschlägen kommt, die von den Behörden auch mit dem 'Islamischen Staat' (IS) in Verbindung gebracht werden. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat bisher keinen Einfluss auf die Sicherheitssituation im Nordkaukasus gehabt (ÖB 30.6.2022). Niederschwellige militante terroristische Aktivitäten sowie vermehrte Anti-Terror-Aktivitäten und Bemühungen um eine politische Konsolidierung sind feststellbar (OSAC 8.2.2021). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus deutlich zurückgegangen ist (ÖB 30.6.2021). Gemäß dem Online-Medienportal 'Kaukasischer Knoten' fielen zwischen Jänner 2022 und Mai 2023 insgesamt 19 Personen dem bewaffneten Konflikt im Nordkaukasus zum Opfer. Jeweils vier dieser Personen wurden in Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien und der Region Stawropol getötet, zwei in Kabardino-Balkarien und eine Person in Nordossetien (KU 5.6.2023; vgl. KU 9.5.2023, KU 5.4.2023, KU 5.1.2023, KU 4.10.2022, KU 6.7.2022, KU 5.4.2022). Terroranschläge ziehen staatlicherseits unter anderem kollektive Bestrafungsformen nach sich. Dies bedeutet, Familienangehörige werden für die Taten ihrer Verwandten zur Verantwortung gezogen (RUSI 30.7.2021) und müssen gemäß gesetzlichen Vorgaben Schadenersatz leisten (USDOS 20.3.2023).

Dagestan

Von offizieller Seite wurde im Jänner 2019 die praktisch vollständige Liquidierung des bewaffneten Widerstands in Dagestan verkündet, vereinzelt kommt es dennoch zu bewaffneten Zwischenfällen. Im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen mutmaßliche Terroristen bzw. Anhänger extremistischer Überzeugungen (dazu zählen auch in Dagestan die Zeugen Jehovas) (ÖB 30.6.2022). In Dagestan nimmt der Widerstand immer mehr die Form von Sabotageakten und von Partisanen-Aktivitäten an (KU 12.5.2023). Es gibt in Dagestan eine Anti-Terrorismus-Kommission, welche vom Republikoberhaupt Melikow geleitet wird (NAK o.D.b).

Quellen: […]

Folter und unmenschliche Behandlung

Folter, Gewalt sowie unmenschliche bzw. grausame oder erniedrigende Behandlung und Strafen sind in Russland auf Basis des Art. 21 der Verfassung verboten (Duma 6.10.2022). Die Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe wurde von Russland 1987 ratifiziert. Das Zusatzprotokoll hat Russland nicht unterzeichnet (UN-OHCHR o.D.). Die Zufügung körperlicher oder seelischer Schmerzen durch systematische Gewaltanwendung wird gemäß § 117 Strafgesetzbuch mit Freiheitsbeschränkung von bis zu drei Jahren, Zwangsarbeit von bis zu drei Jahren oder Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren bestraft. Wird dieselbe Tat beispielsweise von mehreren Personen oder mit besonderer Grausamkeit begangen, ist das Opfer eine minderjährige Person oder wird die Tat zum Beispiel aus politischen, ideologischen oder religiösen Motiven begangen, hat dies Freiheitsentzug von 3 - 7 Jahren zur Folge. Gemäß § 286 Strafgesetzbuch führt die Anwendung von Folter im Rahmen der Überschreitung von Amtsbefugnissen zu Freiheitsentzug von 4 - 12 Jahren (RF 28.4.2023).

Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut (ÖB 30.6.2022). Die Polizei nutzt Folter, um Andersdenkende unter Druck zu setzen. Im März 2022 berichteten mehrere Demonstranten und Demonstrantinnen, die bei Antikriegskundgebungen festgenommen worden waren, auf Polizeiwachen gefoltert oder anderweitig misshandelt worden zu sein (AI 28.3.2023). In den Haftanstalten sind Folter und andere Misshandlungen an der Tagesordnung (AI 28.3.2023) und die dafür Verantwortlichen werden selten strafrechtlich verfolgt (AI 28.3.2023; vgl. ÖB 30.6.2022). Foltervorwürfe werden nicht effektiv untersucht (UN-HRC 1.12.2022). Gemäß Berichten kommt es vor, dass Journalisten und Aktivisten, welche über Folterfälle in Gefängnissen berichten, von Behörden strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023). Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für zum Teil schwere Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein (ÖB 30.6.2022). Gemäß zahlreichen Berichten erzwingen Strafverfolgungsbehörden Geständnisse gewaltsam, durch Folter und Missbrauchshandlungen. Es kommt zu Todesfällen aufgrund von Folter (USDOS 20.3.2023). Das Problem der Folter und Erniedrigungen hat systemischen Charakter (Gulagu.net o.D.). Betroffene, welche vor Gericht Foltervorwürfe erheben, werden zunehmend unter Druck gesetzt, beispielsweise durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist kürzer geworden (früher fünf bis sechs Jahre), Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 28.9.2022). Es existieren keine verlässlichen Statistiken zu Folter und Misshandlungen (UN-HRC 1.12.2022).

Nordkaukasus/Tschetschenien

Im Nordkaukasus kommt es zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter und Misshandlungen (UN-HRC 1.12.2022). Gemäß weitverbreiteten Berichten begehen Sicherheitskräfte in nordkaukasischen Haftanstalten Missbrauchshandlungen und wenden Folter an (USDOS 20.3.2023). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet das tschetschenische Republikoberhaupt Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie beispielsweise Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 2023). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit Folter zur Erlangung von Geständnissen einher (AA 28.9.2022). Es herrscht in Tschetschenien diesbezüglich Straflosigkeit (ÖB 30.6.2022).

Quellen: […]

Wehrdienst und Rekrutierungen

Gemäß § 22 des föderalen Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' unterliegen männliche russische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 27 Jahren der Einberufung zum Wehrdienst (RF 13.6.2023). Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr. Der Staatspräsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel der jährlich ins wehrdienstpflichtige Alter kommenden jungen Männer. Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium (ÖB 30.6.2022). Es gibt in Russland zweimal jährlich eine Stellung (Spiegel 31.3.2022). Für Herbst 2022 wurden 120.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen (Kreml 30.9.2022) und für das Frühjahr 2023 147.000 (Präsident 30.3.2023). Die Anzahl der aus Tschetschenien Einberufenen ist relativ gering, im Durchschnitt 500 Einberufene pro Einberufungsperiode (ÖB 25.1.2023). Einberufungsbefehle werden Einzuberufenden in schriftlicher Form und zusätzlich elektronisch übermittelt. Die Einberufungsbefehle werden vom Militärkommissariat per eingeschriebenem Brief verschickt. Möglich ist unter anderem auch die persönliche Aushändigung des Einberufungsbefehls durch Mitarbeiter des Militärkommissariats (§ 31 des Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst') (RF 13.6.2023). Wer zum Wehrdienst einberufen wurde, darf das Land bis zur Beendigung des Wehrdiensts nicht verlassen (§ 15 des Gesetzes ’Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation') (RF 14.4.2023).

Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden als 'untauglich' von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, welche ein Studium absolvieren oder einen nahen Verwandten pflegen müssen, oder durch Väter mehrerer Kinder. Auch Angehörige bestimmter Berufsgruppen können einen Aufschub des Wehrdienstes beantragen. Die Ableistung des Grundwehrdienstes ist Voraussetzung für bestimmte (vor allem staatliche) berufliche Laufbahnen (ÖB 30.6.2022). Ab einem Alter von 16 Jahren ist der freiwillige Besuch einer Militärschule möglich (EBCO 12.5.2023). Frauen dürfen freiwillig Militärdienst leisten (CIA 15.6.2023). Nach dem Grundwehrdienst gibt es die Möglichkeit, freiwillig auf Basis eines Vertrags in der Armee zu dienen (ÖB 30.6.2022). Bislang kamen als Vertragssoldaten russische Staatsbürger im Alter von 18-40 Jahren sowie Ausländer zwischen 18 und 30 Jahren infrage. Im Mai 2022 wurden diese Altersgrenzen bis zum Pensionsalter angehoben (Duma 25.5.2022; vgl. NZZ 25.5.2022). Seit mehreren Jahren sind Bemühungen im Gang, die Armee in Richtung eines Berufsheeres umzugestalten (ISW 5.3.2022; vgl. SWP 7.12.2022, GS o.D.).

Im Militärbereich ist Korruption weitverbreitet (USDOS 20.3.2023; vgl. SWP 7.12.2022). 2015 wurden die Aufgaben der Militärpolizei erheblich erweitert. Seitdem zählt hierzu ausdrücklich die Bekämpfung der Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade sowie von Diebstählen innerhalb der Streitkräfte. Auch die sogenannte Dedowschtschina ('Herrschaft der Großväter') – ein System der Erniedrigung bis hin zur Vergewaltigung von sich ausgeliefert fühlenden Rekruten durch dienstältere Mannschaften in Verbindung mit abgelegenen Standorten und kein Ausgang bzw. kaum Urlaub - dürfte eine maßgebliche Ursache sein. Es ist zu vermuten, dass es nach wie vor zu Delikten kommt, jedoch nicht mehr in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit (AA 28.9.2022). NGOs gehen von Hunderten Gewaltverbrechen pro Jahr im Heer aus. Laut Menschenrechtsvertretern existiert Gewalt in den Kasernen zumindest in bestimmten Militäreinheiten als System und wird von den Befehlshabenden unterstützt bzw. geduldet (ÖB 30.6.2022). Die Diskreditierung der Armee ist gemäß § 280.3 des Strafgesetzbuches strafbar (RF 28.4.2023). Für Strafverfahren gegen Militärangehörige sind Militärgerichte zuständig, welche in die zivile Gerichtsbarkeit eingegliedert sind. Freiheitsstrafen wegen Militärvergehen sind ebenso wie übliche Freiheitsstrafen in Haftanstalten oder Arbeitskolonien zu verbüßen. Militärangehörige können jedoch bis zu zwei Jahre in Strafbataillone, die in der Regel zu Schwerstarbeit eingesetzt werden, abkommandiert werden (AA 28.9.2022).

Gemäß einem präsidentiellen Erlass vom 25.8.2022 ist mit 1.1.2023 die russische Armee auf einen Personalstand von 2.039.758 Bediensteten aufgestockt worden, davon 1.150.628 Militärbedienstete und der Rest Zivilpersonal wie Verwaltungsangestellte usw. (RI 25.8.2022; vgl. ORF 25.8.2022). Für den Zeitraum 2023-2026 ist eine Erhöhung der Anzahl der Militärbediensteten auf 1,5 Millionen geplant (Iswestija 17.1.2023). Im Jahr 2022 betrugen die Militärausgaben 4,1 % des Bruttoinlandsprodukts (SIPRI o.D.). Gemäß Verfassungsartikel 87 ist der Präsident der Russischen Föderation Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Duma 6.10.2022).

Mobilmachung / Ukraine-Krieg

Gemäß rechtlicher Vorgaben müssen Wehrpflichtige eine mindestens viermonatige Ausbildung absolviert haben, um zu Kampfeinsätzen im Ausland entsandt werden zu können. Jedoch zu Kriegszeiten oder im Falle der Ausrufung des Kriegsrechts ist es möglich, Wehrpflichtige früher heranzuziehen. Innerhalb Russlands dürfen Wehrpflichtige sofort (auch unausgebildet) herangezogen werden (ISW 30.10.2022). Aktuell gibt es keine Hinweise auf eine Teilnahme Wehrpflichtiger an Kampfhandlungen in der Ukraine (EUAA 16.12.2022a; vgl. ÖB 8.11.2022, ÖB 25.1.2023). Wehrpflichtige werden allerdings in Grenzregionen stationiert (EUAA 16.12.2022a; vgl. ISW 13.6.2023) (beispielsweise in Belgorod, Kursk, Brjansk, Rostow und Krasnodar) sowie auf der von Russland besetzten Krim (EUAA 16.12.2022a). Es gab Berichte über Wehrpflichtige, welche unter Druck gesetzt wurden, ihre Dienstzeit durch Freiwilligenverträge zu verlängern (RFE/RL 14.7.2022). Alle russischen Regionen wurden angewiesen, Freiwilligenbataillone für den Einsatz in der Ukraine zusammenzustellen (ÖB 30.6.2022). Mit der Rekrutierung Freiwilliger wurde im Juli/August 2022 begonnen (EUAA 16.12.2022a). Bis spätestens 1.7.2023 haben die Freiwilligenformationen einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abzuschließen (VM 10.6.2023). Das Verteidigungsministerium rekrutiert seit September 2022 Strafgefangene, welchen als Gegenleistung für einen Kampfeinsatz Geld und frühzeitige Entlassung aus dem Gefängnis angeboten wird (EUAA 16.12.2022a). Eine gesetzliche Neuregelung vom November 2022 ermöglicht die Mobilisierung von Schwerverbrechern. Davon ausgenommen sind unter anderem Terroristen, Spione sowie Personen, die Minderjährige sexuell missbrauchten (RN 4.11.2022; vgl. RF 4.11.2022).

Gemäß dem präsidentiellen Erlass (Ukas) vom 21.9.2022 werden mobilisierte Staatsbürger Vertragssoldaten gleichgestellt, auch hinsichtlich der Besoldung. Die Verträge der Vertragssoldaten laufen erst mit dem Ende der Teilmobilmachung aus. Der Erlass enthält keine Angaben zur Anzahl der einzuberufenden Staatsbürger. [Anzumerken ist auch, dass der Punkt 7 des Erlasses nicht veröffentlicht wurde und dem 'Dienstgebrauch' dient. Sein Inhalt ist unbekannt. - Anm. der Staatendokumentation] Die Umsetzung der Mobilmachung obliegt den Regionen. Ausgenommen von der Mobilmachung sind gemäß dem Erlass ältere Personen, Personen, die wegen ihres Gesundheitszustands als untauglich eingestuft werden (RI 21.9.2022), außerdem Mitarbeiter im Banken- und Mobilfunksektor, IT-Bereich sowie Mitarbeiter von Massenmedien (Kommersant 23.9.2022). Ein Einberufungsaufschub gilt für Staatsbürger, welche im Verteidigungsindustriesektor arbeiten (RI 21.9.2022). Folgende Personengruppen sind ebenfalls von der Mobilmachung ausgenommen: pflegende Angehörige; Betreuer von Personen mit Behinderungen; kinderreiche Familien; Personen, deren Mütter alleinerziehend sind und mindestens vier Kinder unter acht Jahren haben; Veteranen im Ruhestand, welche nicht mehr im Militärregister aufscheinen; sowie Personen, welche nicht in Russland leben und nicht im Militärregister aufscheinen (Meduza 22.9.2022). Der Kreml räumte Fehler bei der Umsetzung der Teilmobilmachung ein. So wurden Personen einberufen, welche eigentlich von der Mobilmachung ausgenommen sind, beispielsweise Krebskranke (Kommersant 26.9.2022). Die Teilmobilmachung führte in Russland zu Protesten, Festnahmen (OWD-Info o.D.a; vgl. Standard 22.9.2022) sowie zu einer Ausreisebewegung (WP 28.9.2022). Es wird berichtet, dass seit Verkündung der Teilmobilmachung Hunderttausende Männer Russland verließen (DW 6.10.2022). Manche Personen, welche während der Mobilisierung die Flucht versuchten, trafen an der Grenze auf Sicherheitspersonal, welches ihnen Einberufungsbefehle ausgehändigt hat (FH 2023). Bürger, welche im Militärregister aufscheinen, dürfen ab Verkündung einer Mobilmachung ihren Wohnort nur mit behördlicher Erlaubnis verlassen (§ 21 des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung') (RF 4.11.2022). Seit Kriegsbeginn bieten NGOs juristische Beratung für Grundwehrdiener und Soldaten an (ÖB 30.6.2022).

Am 28.10.2022 vermeldete der Verteidigungsminister an Präsident Putin den Abschluss der oben beschriebenen Teilmobilmachung (Tass 28.10.2022). Am 31.10.2022 bestätigte Putin mündlich das Ende der Teilmobilmachung (Kreml 31.10.2022). Gemäß einer schriftlichen Mitteilung der russischen Präsidialverwaltung vom Jänner 2023 ist der präsidentielle Erlass zur Einleitung der Teilmobilmachung (21.9.2022) nach wie vor in Kraft (ISW 20.1.2023; vgl. ÖB 25.1.2023). Im Rahmen der Teilmobilmachung wurden nach offiziellen Angaben 300.000 Reservisten einberufen (RG 21.9.2022). Als Reservist gilt jede männliche und weibliche Person, die ein Militärbuch besitzt (ÖB 19.10.2022). Prinzipiell erhalten alle Personen, welche den Wehrdienst abgeleistet haben, ein Militärbuch. Es häufen sich aber Aussagen, dass immer mehr Männer, die nie gedient haben, mit Vollendung des 25. Lebensjahres ein Militärbuch erhalten. Dieses besagt dann jedoch, dass sie nie dienten und daher auch nicht zur Reserve zählen (ÖB 25.1.2023). Ethnische Minderheiten aus ärmeren Regionen waren überproportional von der Mobilisierungswelle betroffen (Standard 28.9.2022; vgl. ISW 17.10.2022). Derzeit wird vom Kreml eine verdeckte Mobilisierung durchgeführt. Dies bedeutet, es werden beispielsweise finanzielle Anreize geschaffen und auch Zwangsmaßnahmen gesetzt, um Menschen für den Militärdienst zu gewinnen (ISW 8.6.2023).

Zu den Kämpfern in der Ukraine zählt die russische Wagner-Gruppe (RBK 13.6.2023; vgl. DW 26.6.2023). Private Militärfirmen wie 'Wagner' sind formal illegal (SWP 7.12.2022) [Informationen zum Wagner-Aufstand vom 24.6.2023 finden sich im Kapitel Sicherheitslage.]. Zur Unterstützung Russlands wurden auch syrische Söldner für den Kampf in der Ukraine rekrutiert (Rat der EU 22.7.2022). Russland begeht im Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung (UN-OHCHR 16.3.2023; vgl. HRW 21.4.2022) [siehe dazu auch das Kapitel Politische Lage].

Tschetschenien

Tschetschenische Gruppierungen kämpfen in der Ukraine seit Beginn des Kriegs im Februar 2022 (EUAA 16.12.2022a). Die von Präsident Putin am 21.9.2022 verkündete Teilmobilmachung (RI 21.9.2022) wurde in Tschetschenien nicht durchgeführt. Das tschetschenische Republiksoberhaupt, Ramsan Kadyrow, begründete dies damit, dass Tschetschenien bereits überproportional viele Kämpfer in die Ukraine entsandt hatte und somit die Quote übererfüllt war (KU 23.9.2022). In Tschetschenien wurden Freiwilligenbataillone gebildet (EUAA 16.12.2022a). Nach wie vor entsendet Tschetschenien Gruppen Freiwilliger als Kämpfer in den Ukraine-Krieg (KU 20.6.2023). Der rechtliche Status der Freiwilligen ist unklar. Ab Juni 2022 wurden Freiwillige mittels kurzfristiger Verträge an Militäreinheiten angegliedert, an private Militärunternehmen wie Wagner oder an die Nationalgarde. Am 26.6.2022 verkündete Kadyrow die Gründung von vier tschetschenischen (an das Verteidigungsministerium angegliederten) Freiwilligenbataillonen mit den Bezeichnungen Süd-Achmat, Nord-Achmat, West-Achmat sowie Ost-Achmat. Wegen des Personalmangels stammen Mitglieder dieser Einheiten hauptsächlich aus tschetschenischen Polizeieinheiten und der Nationalgarde. Zur selben Zeit begann Kadyrow mit Rekrutierungen im Kreis der tschetschenischen Sicherheitskräfte (EUAA 16.12.2022a). Am 11.6.2023 verkündete Kadyrow die Gründung von zwei tschetschenischen Regimentern des Verteidigungsministeriums: 'Achmat-Russland' und 'Achmat-Tschetschenien' (KU 20.6.2023). Zu den Kämpfern in der Ukraine zählen auch die sogenannten Kadyrowzy. Diese stellen eine Art Privatarmee des tschetschenischen Machthabers Kadyrow dar. Formal sind die Kadyrowzy der Nationalgarde unterstellt (SWP 7.12.2022). [zu den Kadyrowzy siehe auch das Kapitel Sicherheitsbehörden]

Nach Aussage von Republikoberhaupt Kadyrow sind alle in der Ukraine kämpfenden Tschetschenen, darunter auch die Sicherheitskräfte, Freiwillige (KU 1.1.2023). Tatsächlich finden in Tschetschenien Rekrutierungen von Kämpfern in einer allgemeinen Atmosphäre des Zwanges und unter Verletzung von Menschenrechtsstandards statt. In vielen Fällen erfolgen Zwangsrekrutierungen (EUAA 16.12.2022a; vgl. KR 8.6.2023, ISW 10.6.2023), wobei Methoden wie Drohungen und Entführungen angewandt werden (EUAA 16.12.2022a). Behörden in Tschetschenien betreiben eine aggressive Anwerbungskampagne, um Einheimische als 'freiwillige' Kämpfer für die Ukraine zu gewinnen (RFE/RL 10.11.2022; vgl. ÖB 25.1.2023). Kadyrow drohte Kampfunwilligen mit der 'Hölle' (KU 17.7.2022) und ordnete die Streichung von Sozialleistungen für Familien von Kriegsdienstverweigerern an (KU 25.8.2022). In Tschetschenien gibt es keine NGOs, welche eingezogene Personen unterstützen (EUAA 16.12.2022a).

Quellen: […]

Wehrersatzdienst

Das Recht auf einen zivilen Ersatzdienst (Zivildienst) aus Gewissens-, religiösen oder anderen Gründen wird durch Artikel 59 der Verfassung garantiert (Duma 6.10.2022). Eine gesetzliche Grundlage stellt das föderale Gesetz 'Über den alternativen Zivildienst' dar (RF 13.6.2023a). Ein alternativer Zivildienst kann abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die persönliche (politische, pazifistische) Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person spricht, oder falls diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditionelle Lebensweise dem Wehrdienst widerspricht (ÖB 30.6.2022). Die Zivildienstzeit beträgt 18 Monate als ziviles Personal bei den russischen Streitkräften bzw. 21 Monate in anderen staatlichen Einrichtungen, wie beispielsweise Kliniken oder Feuerwehr (ÖB 30.6.2022; vgl. AA 28.9.2022, RF 13.6.2023a). Jährlich wird eine Liste an Tätigkeiten, Berufen und Organisationen erstellt, in welchen die Ableistung eines alternativen Zivildiensts möglich ist (FAAB o.D.).

Anträge auf Ableistung des alternativen Zivildiensts sind beim Militärkommissariat spätestens sechs Monate vor den jährlichen Einberufungsterminen zu stellen und müssen eine Begründung enthalten (§ 11 des Gesetzes 'Über den alternativen Zivildienst'). Die Anträge werden laut § 10 von der Einberufungskommission geprüft (RF 13.6.2023a). Wer bereits den Wehrdienst ableistet, darf keinen Antrag mehr auf Ableistung eines Wehrersatzdienstes stellen. Jährlich werden in etwa 2.000 Anträge auf Wehrersatzdienst gestellt, wovon geschätzt die Hälfte positiv beschieden wird (EUAA 16.12.2022a). Zeugen Jehovas sind von Verletzungen des Rechts auf Wehrdienstverweigerung betroffen (EBCO 12.5.2023; vgl. WHJW 21.3.2022). Lehnt die Einberufungskommission den Antrag einer Person auf Ableistung des Zivildiensts ab, kann diese Entscheidung gerichtlich angefochten werden (§ 15 des Gesetzes 'Über den alternativen Zivildienst') (RF 13.6.2023a). Mit Stand Februar 2023 absolvierten laut Angaben des Föderalen Amts für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) 1.140 russische Staatsbürger einen alternativen Zivildienst. In Tschetschenien und Dagestan absolvierte gemäß dieser Statistik niemand den alternativen Zivildienst (FAAB 1.2.2023). Die Verweigerung der Ableistung des Zivildiensts zieht gemäß § 328 des Strafgesetzbuches folgende Strafen nach sich: Geldstrafen von bis zu RUB 80.000 [ca. EUR 868] oder in der Höhe von bis zu sechs Monatseinkommen, bis zu 480 Stunden Pflichtarbeiten oder Arrest von bis zu sechs Monaten (RF 28.4.2023).

Bei Verkündung einer Mobilmachung ist die Fortsetzung des zivilen Ersatzdienstes in Einrichtungen der russischen Streitkräfte sowie in anderen militärischen Einrichtungen gestattet. Staatsbürger, welche zu Zeiten einer Mobilmachung den zivilen Ersatzdienst in nichtmilitärischen Einrichtungen absolvieren, können als ziviles Personal in Einrichtungen der russischen Streitkräfte sowie in anderen militärischen Einrichtungen zum Einsatz kommen (§ 17.1 des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung') (RF 4.11.2022). Die Militärkommissariate und Gerichte lehnen Anträge von Personen, die für einen Einsatz in der Ukraine eingezogen worden waren und stattdessen Zivildienst leisten wollten, routinemäßig ab (AI 28.3.2023; vgl. EUAA 16.12.2022a). Zur Begründung heißt es, dass es keine spezifischen gesetzlichen Regelungen bezüglich des Zivildiensts in Zeiten einer Teilmobilmachung gibt (AI 28.3.2023).

Quellen: […]

Desertion, Wehrdienstverweigerung

Desertion

Gemäß § 338 StGB (Strafgesetzbuch) bedeutet Desertion das eigenmächtige Verlassen der Militäreinheit oder des Dienstorts mit dem Ziel, dem Wehrdienst zu entgehen. Desertion wird laut § 338 mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren geahndet. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Desertion Folge schwieriger Umstände war. Desertion mit einer Waffe sowie Desertion in einer Personengruppe werden mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren geahndet. Desertion während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen zieht eine Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren nach sich (RF 28.4.2023). In Bezug auf den Ukraine-Krieg vermeidet Russland den Begriff Krieg und spricht stattdessen von einer 'militärischen Spezialoperation' (RFE/RL 22.8.2022; vgl. Tass 21.6.2023). Je länger eine Desertion zurückliegt, desto unwahrscheinlicher scheint eine Bestrafung. Deserteure während des Zweiten Weltkriegs, welche sich zwischen 1962 und 1995 stellten, gingen in bestimmten Fällen straffrei aus. Hingegen wurden beispielsweise Soldaten, die 1995 bzw. 2008 desertierten, später von Gerichten gemäß § 338 StGB zu Haftstrafen von zwei bzw. drei Jahren verurteilt. Um als Desertion im Sinne des Strafgesetzbuches gelten zu können, ist Vorsatz erforderlich. Begangen werden kann das Delikt der Desertion von Wehrdienstleistenden, Zeitsoldaten sowie von Reservisten. Reservisten können von Militärkommissariaten zu militärischen Übungen einberufen werden. Die bloße Ausreise eines Reservisten ohne Einberufungsbefehl stellt keine Desertion im Sinne des § 338 StGB dar (ÖB 17.3.2022). Gemäß § 10 des föderalen Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' sind russische Staatsbürger jedoch zu einer Meldung an die Behörden verpflichtet, so sie für mehr als sechs Monate aus der Russischen Föderation ausreisen oder in die Russische Föderation einreisen (RF 13.6.2023). Gemäß dem Kodex über Verwaltungsübertretungen (§ 21.5) stellt die Nichterfüllung dieser Verpflichtungen eine Verwaltungsübertretung dar und zieht eine Verwarnung oder Geldstrafe von RUB 500 bis 3.000 [ca. EUR 5 bis 33] nach sich (RF 17.5.2023). Laut dem föderalen Gesetz 'Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation' (§ 15) kann das Ausreiserecht russischer Staatsbürger vorübergehend eingeschränkt werden, falls sie zum Wehr- oder Zivildienst einberufen wurden (bis zur Beendigung des Wehr- oder Zivildienstes) (RF 14.4.2023).

Bei einberufenen Reservisten ist Folgendes zu unterscheiden: Haben einberufene Reservisten an einer militärischen Übung noch nicht teilgenommen und erscheinen sie (ohne gerechtfertigten Grund) nicht zur Übung, so liegt keine Desertion vor, sondern eine Verwaltungsübertretung. Haben hingegen einberufene Reservisten an der militärischen Übung bereits teilgenommen und erscheinen sie nicht zum weiteren Dienst mit dem Vorsatz, sich auf Dauer dem Militär zu entziehen, liegt Desertion gemäß § 338 StGB vor (ÖB 17.3.2022).

Wehrdienstverweigerung

Die Verweigerung der Einberufung zum Wehrdienst zieht folgende Strafen nach sich (§ 328 StGB): Geldstrafen von bis zu RUB 200.000 [ca. EUR 2.171] oder in der Höhe von bis zu 18 Monatseinkommen, Zwangsarbeit von bis zu zwei Jahren, Arrest von bis zu sechs Monaten oder Freiheitsentzug von bis zu zwei Jahren. § 337 StGB sieht unter anderem Folgendes vor: Wehrpflichtige oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen die militärische Einheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als zwei Tagen bis max. zehn Tagen ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren bestraft. Wehrpflichtige oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen die militärische Einheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als einem Monat ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von fünf bis zehn Jahren bestraft. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Tat Folge schwieriger Umstände war. Reservisten sind während Militärübungen strafrechtlich für Taten gemäß diesem Paragrafen (§ 337) verantwortlich (RF 28.4.2023).

Wer während des Kriegsrechts, zu Kriegszeiten, im Rahmen von Kampfhandlungen oder bewaffneten Konflikten den Befehl eines Vorgesetzten nicht befolgt und die Teilnahme an Kriegs- oder Kampfhandlungen verweigert, wird mit Freiheitsentzug von zwei bis drei Jahren bestraft (§ 332 StGB). Wenn diese Taten mit schwerwiegenden Folgen verbunden waren, zieht dies eine Freiheitsstrafe von drei bis zehn Jahren nach sich. Gemäß § 339 StGB wird die Verweigerung des Wehrdiensts durch Betrug (Vortäuschung einer Krankheit, Selbstverletzung, Selbstverstümmelung, Fälschung von Dokumenten usw.) folgendermaßen geahndet: Wehrdienstbeschränkung von bis zu einem Jahr, Arrest von bis zu sechs Monaten oder Disziplinarhaft (Inhaftierung in einer militärischen Disziplinareinheit) von bis zu einem Jahr. Dieselbe Tat (mit dem Ziel, sich gänzlich den militärischen Pflichten zu entziehen) zieht eine Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren nach sich. Taten gemäß § 339 StGB, die während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen begangen wurden, ziehen eine Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren nach sich. Gemäß § 51 des Strafgesetzbuches bedeutet Wehrdienstbeschränkung eine verminderte Besoldung sowie das Aussetzen dienstlicher Beförderungen (RF 28.4.2023). Neu eingeführt wurde ins Strafgesetzbuch am 24.9.2022 ein Paragraf mit dem Titel 'Sich freiwillig in Kriegsgefangenschaft begeben' (RG 24.9.2022). Gemäß diesem § 352.1 wird eine solche Tat mit Freiheitsentzug von drei bis zehn Jahren bestraft. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn sie Maßnahmen für ihre Befreiung ergriffen haben, zu ihrer Truppe oder Dienstort zurückgekehrt sind und wenn sie während der Kriegsgefangenschaft nicht andere Straftaten begangen haben (RF 28.4.2023).

Internationale und unabhängige russische Medien berichten über viele Fälle von Vertragssoldaten, welche die Entsendung in die Ukraine verweigern oder die Ukraine verlassen haben, um zu ihren Militäreinheiten in Russland zurückzukehren (EUAA 16.12.2022a). In einigen Fällen desertieren Mobilgemachte während des Kampfeinsatzes in der Ukraine (ÖB 25.1.2023). Die genaue Anzahl von Soldaten, welche den Kampf in der Ukraine verweigern, ist unklar (Connection 2.10.2022). Die Regierung veröffentlicht keine Zahlen (AA 28.9.2022). Seit Beginn der Teilmobilmachung in Russland im September 2022 gab es mehr als 1.000 Anklagen wegen Fahnenflucht, unerlaubter Entfernung von der Truppe oder Befehlsverweigerung (Länder-Analysen o.D.). Die meisten Rekruten werden zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und können so nach kurzer Zeit wieder an die Front versetzt werden (Länder-Analysen o.D.; vgl. MOD 24.5.2023).

Quellen: […]

Menschenrechtslage - Dagestan

Die Menschenrechtslage in Dagestan ist grundsätzlich besser als im benachbarten Tschetschenien, die Kontrolle der Zivilgesellschaft ist weniger ausgeprägt. Doch auch in Dagestan gehen mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einher, darunter Entführungen und Verschwindenlassen. Vom Vorgehen der Sicherheitsbehörden wegen des Verdachts auf Extremismus sind neben Menschenrechtsorganisationen auch NGOs im sozialen/humanitären Bereich oder regierungskritische Journalisten betroffen. Im Gegensatz zu Tschetschenien können NGOs in Dagestan tätig werden, sich mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen treffen, vor Ort recherchieren und selbst Verfahren gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte wegen Foltervorwürfen anstrengen. Die NGO 'Komitee zur Verhinderung von Folter' arbeitet mit den Sicherheitsbehörden in Dagestan im Rahmen des Strafvollzugs zusammen (AA 28.9.2022).

Die massenhafte Einberufung von Reservisten (Mobilisierung) führte im September 2022 zu einer Protestwelle in Dagestan (HRW 12.1.2023). Die Massenproteste hielten mehrere Tage an und wurden von den Behörden gewaltsam niedergeschlagen (HRW 12.1.2023; vgl. KR 17.2.2023). Es kam zu Massenverhaftungen (KU 17.2.2023). Einige Verhaftete berichteten über Folterungen durch die Polizei (KR 17.2.2023). Im Zuge der Proteste in Dagestan wurden mehrere Strafverfahren gegen Protestteilnehmer wegen angeblicher Gewalt gegen die Polizei eröffnet (HRW 12.1.2023; vgl. KR 17.2.2023).

In Dagestan gibt es eine regionale Ombudsperson für Menschenrechte. Dieses Amt bekleidet derzeit Aliew Rasulowitsch (OPMR o.D.c). 

Quellen: […]

Meinungs- und Pressefreiheit, Internetfreiheit

Artikel 29 der Verfassung garantiert Meinungsfreiheit und verbietet Zensur (Duma 6.10.2022). Derzeit herrscht eine Kriegszensur (SWP 19.4.2022). Presse- und Meinungsfreiheit sind eingeschränkt (BS 2022; vgl. UN-HRC 1.12.2022), insbesondere in Bezug auf kriegskritische Aussagen (UN-HRC 1.12.2022). Wer sich offen gegen den Krieg in der Ukraine ausspricht, muss mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen (AI 28.3.2023). Journalisten dürfen gemäß einer Entscheidung der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor ausschließlich Informationen der russischen Regierung verwenden, wenn sie über den Ukraine-Krieg berichten. Ansonsten drohen Geldstrafen und Blockierung von Webseiten (UN-HRC 1.12.2022). Die Verwendung der Begriffe Krieg, Angriff und Invasion im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ist verboten. Stattdessen ist der Begriff der 'militärischen Spezialoperation' zu benutzen (SWP 19.4.2022). Die Diskreditierung der Armee kann gemäß § 280.3 des Strafgesetzbuches zu einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren führen. Bei öffentlicher Verbreitung von Falschinformationen über die Armee droht eine Haftstrafe von bis zu 15 Jahren (§ 207.3 des Strafgesetzbuches) (RF 28.4.2023). Die Maßnahmen haben zur Folge, dass jegliche abweichende Meinung und alternative Informationen über den bewaffneten Konflikt in der Ukraine unterdrückt werden (FNSF 11.2022).

Die Situation unabhängiger Medien und Journalisten hat sich beträchtlich verschlechtert (EEAS 19.4.2022). Immer weniger Medien in Russland sind tatsächlich unabhängig von staatlicher Kontrolle tätig (FNSF 11.2022). Die Regierung subventioniert staatliche Medien mit mehreren Milliarden Rubel jährlich, was den Wettbewerb für unabhängige Medien erschwert (FH 18.10.2022). Laut Berichten betreiben unabhängige Medien in großem Stil Selbstzensur (USDOS 20.3.2023). Es gibt Berichte über Schikanierung von Journalisten, darunter strafrechtliche Verfolgung, Hausdurchsuchungen, Festnahmen, physische Angriffe und Drohungen, auch gegen Familienangehörige von Journalisten (UN-HRC 1.12.2022). Es herrscht diesbezüglich Straflosigkeit (AI 4.2023). Seit Kriegsbeginn wurde gegen Journalisten und Medienmitarbeiter, darunter Blogger, eine beträchtliche Anzahl strafrechtlicher Anklagen erhoben. Beinahe alle führenden unabhängigen Medien haben mittlerweile ihren Sitz ins Ausland verlegt. Nach Entziehung der Drucklizenz entzog der Oberste Gerichtshof im September 2022 der unabhängigen Nowaja Gaseta ['Neue Zeitung'] die Online-Medienlizenz. Die Nowaja Gaseta hatte alle ihre Aktivitäten in Russland bereits im März 2022 ausgesetzt. Mehrere Journalisten der Nowaja Gaseta gründeten einen Online-Vertrieb in Europa, welcher in Russland ebenfalls blockiert ist (EUAA 16.12.2022b). Mit Echo Moskwy wurde der einzig verbliebene landesweite und vom Kreml unabhängige Rundfunksender, mit TV Doschd der letzte unabhängige Fernsehkanal gesperrt (AA 28.9.2022).

Zahlreiche Journalisten und unabhängige Medien wurden als 'ausländische Agenten' und 'unerwünscht' eingestuft, darunter Meduza, Bellingcat und Kaukasischer Knoten (FCDO 12.2022) [zur Gesetzgebung über 'unerwünschte Organisationen' siehe Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten]. Als 'ausländische Agenten' werden laut den gesetzlichen Vorgaben Personen oder Vereinigungen eingestuft, welche ausländische Unterstützung erhalten oder in irgendeiner anderen Form unter ausländischem Einfluss stehen (§ 1 des Gesetzes 'Über die Überwachung der Tätigkeit von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen'). 'Ausländische Agenten' müssen sich laut § 7 des oben genannten Gesetzes in ein Register eintragen lassen. Die Entscheidung der Behörde über die Aufnahme ins Register kann gerichtlich angefochten werden (RF 28.12.2022). Mit der Eintragung als 'ausländischer Agent' gehen umfassende Kennzeichnungs‐ und Berichtspflichten sowie zahlreiche Einschränkungen einher (ÖB 30.6.2022). Gemäß § 330.1 des Strafgesetzbuches drohen bei Verstößen gegen diese Verpflichtungen u. a. Geld- oder Haftstrafen von bis zu fünf Jahren (RF 28.4.2023; vgl. EUAA 16.12.2022b). Die Gesetzgebung zu 'ausländischen Agenten' wird immer extensiver angewendet (AA 28.9.2022) und trägt zur Selbstzensur bei (FH 18.10.2022).

Die gesamte Internet-Kommunikation wird von der Regierung überwacht (USDOS 20.3.2023). Ende Februar 2022 sperrten die Behörden viele Nachrichtenwebseiten, darunter BBC, Deutsche Welle, Bellingcat, Meduza, Mediazona und Radio Free Europe/Radio Liberty (FH 18.10.2022). Soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram und Twitter wurden ebenfalls gesperrt. Der Facebook-Konzern Meta wurde als extremistische Organisation eingestuft (SWP 19.4.2022). Die Anti-Extremismus-Gesetzgebung wird häufig dazu verwendet, die Meinungsfreiheit zu beschränken (UN-HRC 1.12.2022). Über verschiedene Online-Plattformen, welche sich beispielsweise weigerten, bestimmte Inhalte zu entfernen, verhängte die russische Regierung sehr hohe Geldstrafen. Webseiteneigentümer sind berechtigt, Entscheidungen gerichtlich anzufechten. Dafür sind aber oft nur kurze Zeiträume vorgesehen (FH 18.10.2022).

Auf der Rangliste der Pressefreiheit 2023 von Reporter ohne Grenzen rangiert Russland gegenwärtig auf Platz 164 von 180 Staaten/Gebietseinheiten. Russland befindet sich zwischen Bangladesch und der Türkei und verschlechterte sich um neun Plätze gegenüber der Reihung des Vorjahres (RWB o.D.).

Quellen: […]

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition

Versammlungsfreiheit

Gemäß Artikel 31 der Verfassung haben Bürger der Russischen Föderation das Recht, friedliche Versammlungen, Demonstrationen und Mahnwachen abzuhalten (Duma 6.10.2022). Öffentliche Kundgebungen müssen genehmigt werden (SWP 19.4.2022). Es existieren zahlreiche Berichte über Einschränkungen der Versammlungsfreiheit (UN-HRC 1.12.2022; vgl. BS 2022, AI 28.3.2023, USDOS 20.3.2023). Die russischen Behörden nehmen COVID als Vorwand, um öffentliche Aktivistenversammlungen pauschal zu verbieten. Regierungsfreundliche Massenveranstaltungen sind von diesem Verbot nicht betroffen (HRW 12.1.2023). Behörden weigern sich, friedliche Proteste zu erlauben, vor allem Anti-Kriegsproteste. Strafverfolgungsbehörden reagieren mit Gewalt auf friedliche Versammlungen (UN-HRC 1.12.2022). Nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine fanden in verschiedenen Teilen Russlands Massenproteste dagegen statt. Die Proteste führten zu Massenverhaftungen und Polizeigewalt. Die massenhafte Einberufung von Reservisten (Mobilisierung) führte im September 2022 zu Protestwellen in verschiedenen russischen Regionen, insbesondere in Gebieten, wo ethnische Minderheiten beheimatet sind, beispielsweise in Dagestan (HRW 12.1.2023). Die Anti-Mobilisierungsproteste wurden regelmäßig mit Polizeigewalt sowie willkürlichen Massenverhaftungen von Aktivisten, Demonstranten und Journalisten beantwortet (EUAA 16.12.2022b). In Dagestan hielten die Massenproteste einige Tage an. Sie wurden von den Behörden gewaltsam niedergeschlagen (HRW 12.1.2023; vgl. KR 17.2.2023), und es kam zu Massenverhaftungen (KU 17.2.2023). Im Zuge der Proteste in Dagestan wurden mehrere Strafverfahren gegen Protestteilnehmer wegen angeblicher Gewalt gegen die Polizei eröffnet (HRW 12.1.2023; vgl. KR 17.2.2023). Seit 24.2.2022 fanden in Russland 19.673 Festnahmen von Kriegsgegnern statt (OWD-Info o.D.). Wegen der repressiven Gesetzgebung sind Demonstrationen in Russland kaum noch möglich (SWP 19.4.2022; vgl. AA 28.9.2022). Behörden setzen Gesichtserkennungstechnologien ein, um Demonstranten zu identifizieren und zu verhaften (FH 2023; vgl. AI 4.2023).

Vereinigungsfreiheit

Artikel 30 der Verfassung garantiert Vereinigungsfreiheit, darunter das Recht auf Gründung von Gewerkschaften (Duma 6.10.2022). Die Vereinigungsfreiheit wird von der Regierung beträchtlich eingeschränkt (USDOS 20.3.2023). Gewerkschaftsrechte sind gesetzlich geschützt, jedoch in der Praxis beschränkt. Streiks und Arbeiterproteste finden beispielsweise in der Autoindustrie statt, aber gewerkschaftliche Diskriminierung und Repressalien sind alltäglich. Arbeitgeber ignorieren oft Tarifverhandlungsrechte. Die größte Arbeitervereinigung arbeitet eng mit dem Kreml zusammen. Unabhängige Vereinigungen sind in mehreren Industriesektoren und Regionen aktiv (FH 2023).

Die Gesetzgebung über 'unerwünschte Organisationen' erlaubt dem Generalstaatsanwalt, ausländische oder internationale Organisationen als 'unerwünscht' zu verbieten, wenn sie die Verfassungsordnung, Verteidigungsfähigkeit oder Staatssicherheit Russlands bedrohen. Das Strafmaß reicht von Geldstrafen bis hin zu sechsjährigen Haftstrafen. Auch ausländische oder internationale NGOs sowie im Ausland lebende russische Bürger werden als 'unerwünscht' eingestuft, wenn sie mit 'unerwünschten' Organisationen im Zusammenhang stehen (EUAA 16.12.2022b). Die Gesetzgebung zu 'unerwünschten Organisationen' wird immer extensiver angewendet (AA 28.9.2022). Gesetze wie 'unerwünschte Organisationen' und 'ausländische Agenten' schränken die Vereinigungsfreiheit beträchtlich ein (UN-HRC 1.12.2022) [zur Gesetzgebung über 'ausländische Agenten' siehe Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten].

Opposition

Die Tätigkeiten von Oppositionsparteien werden eingeschränkt (UN-HRC 1.12.2022). Oppositionsvertreter sehen sich unter massivem Druck durch die Behörden, einschließlich Strafverfolgung mit drohenden Haftstrafen. In Ermittlungsverfahren und vor Gericht können sie nicht auf eine faire Behandlung bzw. einen fairen Prozess vertrauen (AA 28.9.2022). Durch überschießende Anwendung der Anti-Extremismus-Gesetzgebung werden politische Gegner behindert (UN-HRC 1.12.2022). Die letzten Duma- bzw. Parlamentswahlen im September 2021 waren laut Wahlbeobachtern und unabhängigen Medien von beträchtlichen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet, darunter Stimmenkauf, Fälschung von Wahlprotokollen und Druck auf Wähler (FH 24.2.2022; vgl. SWP 14.10.2021, Russland-Analysen 1.10.2021, KAS 21.9.2021). Mit großem Vorsprung gewann die Regierungspartei Einiges Russland die Wahl, so das offizielle Wahlergebnis (FH 24.2.2022). Einiges Russland verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, welche erforderlich ist, um Verfassungsänderungen durchzusetzen. Vier weiteren Parteien gelang der Einzug ins Parlament. Sie werden allesamt als kremltreue 'System-Opposition' bezeichnet (SWP 14.10.2021). Viele regimekritische Kandidaten waren von der Wahl ausgeschlossen worden (SWP 14.10.2021; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021). Neue politische Parteien können in der Regel nur dann registriert werden, wenn sie die Unterstützung der Machthaber im Kreml genießen (AA 28.9.2022; vgl. BS 2022). Anti-System-Oppositionsbewegungen wurden verboten bzw. zur Selbstauflösung gezwungen (KAS 21.9.2021).

Alexej Nawalnyj wäre im August 2020 beinahe einem Mordanschlag zum Opfer gefallen und ist seit Jänner 2021 inhaftiert. Seine politischen Organisationen sind zerschlagen (SWP 19.4.2022). Die Gerichtsverfahren, welche zur Inhaftierung des Oppositionsführers Nawalnyj führten, boten keine Garantien für ein faires Verfahren. Gemäß Berichten ist die strafrechtliche Verfolgung Nawalnyjs politisch motiviert. Die Haftbedingungen fügen Nawalnyjs Gesundheit beträchtlichen Schaden zu (UN-HRC 1.12.2022). Im März 2022 wurde Nawalnyjs Haftstrafe um neun Jahre verlängert, und im Juni 2022 wurde Nawalnyj ins Hochsicherheitsgefängnis IK-6 in der Region Wladimir verlegt. In diesem Gefängnis wird laut verschiedenen Berichten Folter angewandt. Mitarbeiter Nawalnyjs haben Russland verlassen oder wurden verhaftet. Seit Kriegsbeginn wurden auch weitere prominente Oppositionspolitiker verhaftet und gerichtlich verfolgt, darunter Wladimir Kara-Mursa, Ewgenij Rojsman, Ilja Jaschin und Leonid Gosman (EUAA 16.12.2022b).

Das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppe auf Instagram veröffentlicht. Teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie angeblich Feinde des tschetschenischen Volkes sind, oder er ruft offen dazu auf, sie umzubringen. Oppositionelle genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 28.9.2022).

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Religionsfreiheit

Die Bevölkerung des Landes weist eine religiöse Vielfalt auf. Ca. 68 % sind russisch-orthodox, 7 % Muslime, und 25 % gehören unter anderem folgenden Gemeinschaften an: Protestanten, Katholiken, Zeugen Jehovas, Buddhisten, Judentum, Bahai usw. (USCIRF 4.2022). Gemäß einer Umfrage des Lewada-Zentrums von April 2023 bekennen sich 72 % der Befragten zur Orthodoxie, 7 % zum Islam, 13 % zu keiner Religion, 5 % zum Atheismus und ca. 3 % zu anderen Glaubensrichtungen - vor allem Katholiken, Protestanten und Buddhisten (LZ 16.5.2023). Verlässliche Zahlen zu den Mitgliedern bzw. Anhängern einzelner Gemeinschaften gibt es nicht, da ein System der Mitgliederregistrierung fehlt (MR 2022).

Artikel 28 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit. Die Wahl des Religionsbekenntnisses steht frei. Auch wird die Freiheit eingeräumt, ohne Bekenntnis zu leben. Religiöse Überzeugungen dürfen frei verbreitet werden. Gemäß Artikel 29 der Verfassung ist das Schüren von religiösem Hass verboten. Laut Verfassungsartikel 14 ist die Russische Föderation ein säkularer (weltlicher) Staat, und es gibt keine Staatsreligion. Staat und Religion sind laut Verfassung voneinander getrennt (Duma 6.10.2022). Gemäß § 3 des Gesetzes 'Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen' darf die Gewissens- und Glaubensfreiheit nur aus folgenden Gründen eingeschränkt werden: zum Schutz der Verfassung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und der gesetzlichen Interessen der Menschen und zur Gewährleistung der Landesverteidigung sowie der nationalen Sicherheit. Gemäß § 9 sind zur Gründung einer örtlichen religiösen Organisation mindestens zehn erwachsene Staatsbürger notwendig. Zentralisierte religiöse Organisationen bestehen aus mindestens drei örtlichen religiösen Organisationen. Laut § 11 unterliegen religiöse Organisationen einer staatlichen Registrierung. Die Verweigerung der staatlichen Registrierung einer religiösen Organisation kann gerichtlich angefochten werden (§ 12). Religiöse Vereinigungen können aufgelöst werden, wenn sie extremistisch tätig sind (§ 14 des Föderalen Gesetzes 'Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen') (RF 29.12.2022c). Die Anti-Extremismus-Gesetzgebung wird in Russland überschießend angewandt (UN-HRC 1.12.2022) und wegen ihrer vagen Formulierungen kritisiert, welche breite Interpretationen sowie eine missbräuchliche Anwendung erlauben (EUAA 16.12.2022b). Beschwerden über den Umgang der Regierung mit dem Thema Religionsfreiheit nimmt die Ombudsperson entgegen (USDOS 15.5.2023).

Die Religionsfreiheit ist in Russland eingeschränkt (UN-HRC 1.12.2022). Behörden missbrauchen die Anti-Terrorismus- und Anti-Extremismus-Gesetzgebung, um friedliche religiöse Gruppen als terroristisch, extremistisch und unerwünscht einzustufen. Zu den betroffenen Gruppen gehören Zeugen Jehovas, vier protestantische Gruppen aus Lettland und der Ukraine, ein regionaler Zweig von Falun Gong sowie sieben mit Falun Gong verbundene NGOs. Solchen Gruppen ist die Religionsausübung verboten, und sie sind mit langen Haftstrafen, harten Haftbedingungen, Hausarrest, Razzien, Diskriminierung und Schikanierungen konfrontiert (USDOS 20.3.2023). Viele Muslime wurden in den letzten Jahren wegen ihrer angeblichen Zugehörigkeit zu verbotenen islamistischen Gruppen inhaftiert (FH 2023). Mindestens 20 angebliche Mitglieder von Hizb-ut-Tahrir wurden im Jahr 2022 im Rahmen politisch motivierter Gerichtsverfahren zu Haftstrafen von 11-18 Jahren verurteilt. Die Bewegung Hizb-ut-Tahrir strebt die Gründung eines Kalifats an, lehnt aber Gewaltanwendung zur Erreichung dieses Ziels ab. Hizb-ut-Tahrir wurde im Jahr 2003 in Russland als terroristische Organisation verboten (HRW 12.1.2023). Zahlreiche Haftstrafen erhielten friedliche Anhänger des gemäßigten muslimischen Theologen Said Nursi sowie der Missionsgruppe Tablighi Jamaat (USCIRF 4.2022; vgl. USCIRF 5.2023). Die Regierung betrachtet unabhängige religiöse Aktivitäten als stabilitätsbedrohend (USCIRF 4.2022). Mit Stand Dezember 2022 gab es laut der Menschenrechtsorganisation Memorial 488 politische Gefangene im Land, darunter 370 Personen, welche ungerechtfertigt wegen ihrer Religionsausübung inhaftiert sind. Gemäß Memorial ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen (USDOS 20.3.2023).

Religiöse Minderheiten sind Diskriminierung ausgesetzt (Sowa-Zentr 24.3.2023; vgl. EEAS 19.4.2022). Orthodoxie, Islam, Judentum und Buddhismus sind als sogenannte traditionelle Religionen anerkannt (MR 2022). Das Föderale Gesetz 'Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen' räumt dem orthodoxen Christentum eine besondere Rolle ein (RF 29.12.2022c). Die russisch-orthodoxe Kirche genießt Privilegien (FH 2023; vgl. BS 2022) und arbeitet im innen- und außenpolitischen Bereich eng mit der Regierung zusammen (FH 2023; vgl. RAD 17.10.2022). Indigene Religionen wurden durch staatliche Programme unter einen gewissen Schutz gestellt. Sie sind jedoch, obwohl seit langer Zeit in Russland verwurzelt, nicht als traditionelle Religionen anerkannt. Ein Beispiel für eine indigene Religion stellt der Schamanismus dar. Die sogenannten traditionellen Religionen haben gesetzlich das Recht, an staatlichen Schulen Religionsunterricht anzubieten. Andere Religionsgemeinschaften dürfen an staatlichen Schulen nicht auftreten (MR 2022). Innerhalb der Politik nimmt Antisemitismus zu (USDOS 2.6.2022; vgl. USCIRF 5.2023). Die Massenmedien bedienen sich antisemitischer Rhetorik (USDOS 15.5.2023). Nach Angaben der israelischen Regierung emigrierten im Jahr 2022 43.685 Personen von Russland nach Israel (TOI 11.1.2023). Vergleichsweise waren im gesamten Jahr 2019 15.930 Russen nach Israel ausgewandert (Reuters 18.8.2022).

Die Leitung der russisch-orthodoxen Kirche hat, mit verschiedenen Nuancen und Dynamiken, Russlands militärisches Handeln in der Ukraine seit dem 24.2.2022 unverändert unterstützt (Russland-Analysen 23.2.2023). Religiöse Führer werden von der Regierung teils unter Druck gesetzt, um als Unterstützer des Krieges gegen die Ukraine aufzutreten (Forum 18 2.8.2022; vgl. FH 2023).

Quellen: […]

Tschetschenien

Artikel 25 der Verfassung der Republik Tschetschenien garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit. Die Wahl des Religionsbekenntnisses steht frei. Auch wird die Freiheit eingeräumt, ohne Bekenntnis zu leben. Gemäß Artikel 26 ist Propaganda zur Entfachung von religiösem Hass nicht gestattet. Der Verfassungsartikel 11 definiert Tschetschenien als einen säkularen (weltlichen) Staat und spricht sich gegen eine Staatsreligion aus. Staat und religiöse Vereinigungen sind voneinander getrennt (RT 23.3.2003).

Die Hauptreligionsrichtung in Tschetschenien ist der sunnitische Islam (PPTR o.D.). Seit dem späten 18. Jahrhundert blüht in Tschetschenien der Sufismus, eine von großer Vielfalt gekennzeichnete Bewegung des islamischen Mystizismus (USCIRF 10.2021). Heute identifizieren sich die meisten tschetschenischen Muslime mit dem Sufismus (USCIRF 10.2021; vgl. PPTR o.D.). Das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow hat eine zentralisierte Staatsreligion begründet, welche mit der Unterstützung Moskaus gewaltsam gegen religiöse Minderheiten sowie Kritiker des Kadyrow-Regimes vorgeht. Kadyrow lehnt jede Form von Islam ab, die nicht mit seinem Sufismus-Modell im Einklang steht. Die in Tschetschenien vorherrschende Islam-Interpretation wird stark vom tschetschenischen Gewohnheitsrecht (Adat) beeinflusst (USCIRF 10.2021). Zu den existierenden säkularen (weltlichen) Gesetzen fügt die tschetschenische Führung religiöse Normen hinzu (BS 2022). Die von Kadyrow aufgezwungene offizielle Islam-Version gibt vor, den örtlichen Glauben und die örtliche Kultur zu verteidigen sowie gewalttätigen Extremismus zu bekämpfen. Kadyrow billigt, beruhend auf seinen religiösen Ansichten, schwerwiegende Menschenrechtsverstöße gegen Frauen, sexuelle Minderheiten usw. (USCIRF 4.2022). Die tschetschenischen Behörden gehen gegen friedliche muslimische Geistliche vor, welche die Einmischung des Regimes in ihre religiösen Angelegenheiten ablehnen (USCIRF 10.2021).

Das Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige ist von Menschenrechts- und Rechtsstaatswidrigkeit gekennzeichnet. Die Bekämpfung von Extremisten geht laut NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, Verschwindenlassen, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in welchen gefoltert wird, einher (AA 28.9.2022). Tschetschenische Strafverfolgungsbehörden werfen vermeintlichen Salafisten und Wahhabiten unbegründet terroristische Machenschaften vor und erzwingen Geständnisse durch Folter (USCIRF 10.2021).

Quellen: […]

Ethnische Minderheiten

Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert für alle ethnischen Gruppen gleiche Rechte und Freiheiten. Die Staatssprache der Russischen Föderation ist Russisch. Die einzelnen Republiken sind berechtigt, ihre eigenen Staatssprachen festzulegen, wobei als Behördensprache parallel das Russische gilt (Art. 68 der Verfassung) (Duma 6.10.2022). Das UN-Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung wurde von Russland im Jahr 1969 ratifiziert (UN-OHCHR o.D.). Der Vielvölkerstaat Russland umfasst mehr als 190 ethnische Minderheiten (MT 30.1.2023). In etwa 81 % der Bevölkerung sind ethnische Russen (AA 28.9.2022).

Fremdenfeindlichkeit ist weitverbreitet und richtet sich vor allem gegen Arbeitsmigranten aus dem Südkaukasus und Zentralasien sowie gegen Studierende aus Afrika (BS 2022; vgl. ÖB 30.6.2022). Es kommt zu Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten (USDOS 20.3.2023). 'Racial Profiling' ist bei polizeilichen Personenkontrollen verbreitet. Der Kontrolldruck der Sicherheitsbehörden gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. NGOs berichten von willkürlichem Vorgehen der Polizei bei Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen. Letztere finden vor allem in Tschetschenien auch ohne Durchsuchungsbefehle statt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden Ausländer und Personen fremdländischen Aussehens oft Opfer von Misshandlungen durch Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden. Ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 28.9.2022). In vielen Fällen werden ethnische Minderheiten aus dem Nordkaukasus und dem Fernen Osten von russischen Behördenvertretern diskriminiert (BS 2022). Einige regionale Behörden schränken die Wohnsitzregistrierung bei ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 2023). Im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt werden Mitglieder ethnischer Gruppen, insbesondere Nordkaukasier, systematisch diskriminiert. Beispielsweise ist es Bürgern aus dieser Region verboten, auf öffentlichen Märkten in Moskau tätig zu sein (BS 2022).

In Russland sind 47 kleine indigene ethnische Minderheitengruppen offiziell anerkannt (MT 30.1.2023). Gemäß Berichten kommt es zu Verletzungen der Rechte indigener Völker. Diese haben bei Industrieprojekten unzureichende Mitspracherechte hinsichtlich ihrer Ressourcen und Land und Boden (UN-HRC 1.12.2022; vgl. FA 9.12.2022). Der UN-Menschenrechtsausschuss zeigt sich besorgt über die Auflösung des 'Zentrums zur Unterstützung indigener Völker des Nordens'. Indigene Menschenrechtsverteidiger sind Schikanen ausgesetzt (UN-HRC 1.12.2022). Spirituelle indigene Führer werden vermehrt juristisch verfolgt (GFBV 15.12.2022). 2023 wurden die staatlichen Subventionen zur Förderung kleiner indigener Minderheiten gekürzt (WI 30.1.2023).

Ethnische Minderheiten aus dem Süden und Osten des Landes sowie ärmere Bevölkerungsgruppen finden sich in überproportionaler Zahl unter den in der Ukraine gefallenen Soldaten der russischen Armee (SWP 7.11.2022; vgl. FP 23.9.2022, Russland-Analysen 21.12.2022).

Quellen: […]

Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Gemäß Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation haben Männer und Frauen gleiche Rechte und Freiheiten. Der Verfassungsartikel 114 schreibt die Bewahrung traditioneller Familienwerte fest (Duma 6.10.2022). Russland hat die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ratifiziert (UN-OHCHR o.D.). Es existiert eine Nationale Handlungsstrategie für Frauen für den Zeitraum 2023-2030 (Regierung 29.12.2022).

Gemäß § 131 des Strafgesetzbuches kann Vergewaltigung eine bis zu lebenslange Freiheitsstrafe nach sich ziehen (RF 28.4.2023). Vergewaltigung innerhalb der Ehe gilt nicht als Straftat (UN-HRC 1.12.2022). Manchmal weigern sich Polizeibeamte, auf Vergewaltigung oder häusliche Gewalt zu reagieren, wenn die Tat nicht unmittelbar lebensbedrohlich für das Opfer ist. Behörden stufen im Regelfall Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung nicht als lebensbedrohlich ein (USDOS 20.3.2023). Häusliche Gewalt ist weitverbreitet (AA 28.9.2022). Eine gesetzliche Definition für den Begriff häusliche Gewalt fehlt (USDOS 20.3.2023). Strafverfolgungsbehörden sind wenig gewillt, Fälle häuslicher Gewalt gerichtlich zu verfolgen (UN-HRC 1.12.2022). Die Polizei ist nicht befugt, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten, wenn das Opfer keine Anzeige erstattet (USDOS 20.3.2023). Die Anzahl der an die Behörden gemeldeten Fälle ist niedrig, weil Polizei und Justiz nicht angemessen auf die Thematik reagieren (HRW 12.1.2023). Oft drängt die Polizei Opfer häuslicher Gewalt zur Aussöhnung mit den Tätern. Die meisten Fälle häuslicher Gewalt, welche an Behörden herangetragen werden, werden entweder nicht bearbeitet oder an Schlichtungsstellen weitergeleitet. Schlichtungsstellen werden von Friedensrichtern geleitet und verfolgen eher das Ziel des Familienerhalts anstatt Bestrafung der Täter (USDOS 20.3.2023). Ein Opferschutzsystem fehlt (UN-CEDAW 30.11.2021). Opfer häuslicher Gewalt, welche Täter in Notwehr töten, werden im Regelfall inhaftiert (FH 2023).

Laut NGOs stellen von der Regierung betriebene Einrichtungen für Opfer häuslicher Gewalt Sozialwohnungen, medizinische stationäre Betreuungsmöglichkeiten sowie Notunterkünfte zur Verfügung. Der Zugang zu diesen Dienstleistungen ist oft kompliziert und erfordert die Vorlage bestimmter Dokumente, nämlich eine örtliche Wohnsitzbescheinigung und den Nachweis eines niedrigen Einkommens. In vielen Fällen werden diese Dokumente von den Tätern verwaltet und sind für Opfer nicht zugänglich (USDOS 20.3.2023). Für Opfer häuslicher Gewalt sind nicht genügend Notunterkünfte vorhanden (UN-HRC 1.12.2022). NGOs, die sich mit der Betreuung, Beratung und dem Schutz von Opfern häuslicher Gewalt beschäftigen, werden vermehrt als 'ausländische Agenten' eingestuft (AA 28.9.2022) [zum Begriff ‚ausländischer Agent‘ siehe Näheres im Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten].

Diskriminierung von Frauen und Mädchen ist weit verbreitet und beruht auf der Rhetorik traditioneller Familienwerte (EEAS 19.4.2022). Patriarchalische Einstellungen und diskriminierende Stereotypen bzw. Rollenbilder halten sich hartnäckig (UN-CEDAW 30.11.2021). In der Politik, im öffentlichen Leben und als Unternehmerinnen sind Frauen unterrepräsentiert (BS 2022; vgl. UN-CEDAW 30.11.2021). Die Politik thematisiert selten wichtige Angelegenheiten, welche Frauen betreffen (FH 2023). Frauen haben gleichen Zugang zu Bildung wie Männer (BS 2022). Bei der Kreditvergabe und auf dem Arbeitsmarkt erfahren Frauen Diskriminierung (USDOS 20.3.2023). Gesetzlich ist Frauen die Ausübung von 100 Berufen wegen deren hoher körperlicher Anforderungen verwehrt. Davon betroffen sind beispielsweise die Berufsbereiche Bergbau und Brandschutz (USDOS 20.3.2023; vgl. AM 13.5.2021, RF 11.4.2023). Frauen sind im Durchschnitt schlechter bezahlt als Männer (ÖB 30.6.2022; vgl. Regierung 29.12.2022). Das Armutsrisiko für Frauen ist hoch, so im Falle Alleinerziehender (Regierung 29.12.2022).

Quellen: […]

Frauen im Nordkaukasus, Tschetschenien

Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich von der in anderen Regionen Russlands (ÖB 30.6.2022). Nordkaukasische Frauen befinden sich in einer sehr schwierigen sozio-ökonomischen Situation (Europarat 3.6.2022). Die Lage von Frauen im Nordkaukasus wird durch die Koexistenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia – zusätzlich erschwert (ÖB 30.6.2022). Die Menschen im Nordkaukasus leben in einer geschlossenen, patriarchalischen Gesellschaft. Die lokalen und föderalen Behörden tolerieren Unterdrückung zur Aufrechterhaltung traditioneller Werte. Frauen im Nordkaukasus, welche sich traditionellen Werten nicht unterwerfen wollen, riskieren Verfolgung, Folter und Ermordung. Es herrscht Straflosigkeit (Europarat 3.6.2022). Die in Tschetschenien vorherrschende Islam-Interpretation dient als Rechtfertigung für die strikt patriarchalische Machtstruktur (USCIRF 10.2021). Das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow billigt, beruhend auf seinen religiösen Ansichten, schwerwiegende Menschenrechtsverstöße gegen Frauen (USCIRF 4.2022). Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, genießen in Tschetschenien keinen effektiven Rechtsschutz (AA 28.9.2022). Immer häufiger werden in Tschetschenien Vorwürfe wegen angeblicher Hexerei vorgebracht. Opfer sind für gewöhnlich ältere Frauen. Diese werden regelmäßig zu Geständnissen im Rahmen staatlicher Fernsehübertragungen gezwungen (USCIRF 10.2021).

Häusliche Gewalt ist im Nordkaukasus weitverbreitet (ÖB 30.6.2022). Opfer häuslicher Gewalt haben Schwierigkeiten, Schutz durch Behörden zu erlangen (USDOS 20.3.2023). Im Nordkaukasus sind Ehrenmorde verbreitet (KU 12.2.2020) und werden selten gemeldet (USDOS 20.3.2023). Opfer von Ehrenmorden sind Frauen, deren Verhalten von ihren Familienangehörigen als Schande für die Sippe empfunden wird. Ehrenmorde begehen Familienangehörige, meistens der Vater oder der Bruder (KU 12.2.2020). Kadyrow rechtfertigt Ehrenmorde an geschiedenen oder unverheirateten Frauen mit dem tschetschenischen Gewohnheitsrecht (USCIRF 10.2021). Es existieren traditionelle Gesetze im Nordkaukasus, welche Frauen das Alleinleben ohne einen Mann nicht gestatten (USDOS 20.3.2023). Im Nordkaukasus kommen Zwangsverheiratungen häufig vor (Europarat 3.6.2022). Unter den Zwangsverheirateten befinden sich Kinder. In Teilen des Nordkaukasus werden Frauen Brautentführungen, Polygamie, Jungfrauentests vor der Ehe sowie der verpflichtenden Befolgung islamischer Kleidungsvorschriften ausgesetzt (USDOS 20.3.2023). Frauen in Tschetschenien haben Kopftücher zu tragen und sich sittsam zu kleiden (USCIRF 10.2021). Es gibt Berichte zu weiblicher Genitalverstümmelung im Nordkaukasus, vor allem aus Dagestan, aber auch aus Tschetschenien (ÖB 30.6.2022; vgl. UN-HRC 1.12.2022). Gesetzlich ist weibliche Genitalverstümmelung nicht ausdrücklich verboten (USDOS 20.3.2023).

In Tschetschenien wurden im Jahr 2017 'Kommissionen zur Harmonisierung von Ehe- und Familienbeziehungen' geschaffen. Diese sind in allen Regionen tätig (KU 14.2.2023). Die Kommissionen bestehen unter anderem aus Religionsvertretern, Repräsentanten gesellschaftlicher Organisationen sowie örtlicher Strukturen und Vertretern des Innenministeriums. 2.395 Ehepaare wurden wiedervereint (KU 23.4.2023), nachdem Kadyrow 2017 die Anweisung gegeben hatte, traditionelle Familienwerte zu stärken (KU 14.2.2023). Die Wiedervereinigung von Familien in Tschetschenien geschieht unter Druck (KU 10.2.2023). Kadyrow unterstützt die erzwungene Versöhnung bzw. Wiederverheiratung geschiedener Paare und spricht sich für Polygamie aus (FH 2023). Polygamie ist offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich (AA 28.9.2022). Frauen, die in polygamen Beziehungen leben, sind rechtlich und wirtschaftlich unzureichend geschützt. In Erbschaftsangelegenheiten gelten diskriminierende religiöse und gewohnheitsrechtliche Vorschriften (UN-CEDAW 30.11.2021).

Die Flucht in andere Regionen kann zu einer gewaltsamen Rückführung oder in manchen Fällen zu Ehrenmorden führen. Auch eine Flucht ins Ausland ist beinahe unmöglich, da Frauen unter 30 Jahren in Tschetschenien Reisedokumente nur mit Zustimmung eines männlichen Familienangehörigen, welcher für ihre Rückkehr bürgt, beantragen können (Europarat 3.6.2022).

Das dagestanische Webportal daptar.ru setzt sich für Frauenrechte im Kaukasus ein (Europarat 3.6.2022). Einige zivilgesellschaftliche Initiativen bieten psychologische, rechtliche und medizinische Hilfe an: zum Beispiel 'Sintem' in Tschetschenien und 'Mat i ditja' ('Mutter und Kind') in Dagestan (ÖB 30.6.2022).

Quellen: […]

Kinder

Russland hat die UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1990 ratifiziert. Zwei Zusatzprotokolle wurden von Russland ebenfalls ratifiziert, welche die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten sowie Kinderhandel, Kinderprostitution und -pornografie betreffen (UN-OHCHR o.D.). Landesweit existiert kein Gesetz zu Kindesmissbrauch, aber Mord, Vergewaltigung sowie Körperverletzung sind gesetzlich verboten. Ebenso verboten sind kommerzielle sexuelle Ausbeutung sowie die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie. Der Besitz von Kinderpornografie ist nur dann gesetzlich verboten, wenn eine Absicht der Verbreitung besteht. Die gesetzlichen Vorgaben werden von Behörden im Allgemeinen umgesetzt (USDOS 20.3.2023). Im Jahr 2014 verabschiedete die Regierung die Grundlagen der staatlichen Jugendpolitik der Russischen Föderation für den Zeitraum bis 2025. Die Föderale Agentur für Jugendangelegenheiten (Rosmolodesch) ist seit 2018 direkt der Regierung unterstellt und besitzt einen Jahresetat von ca. RUB 8 Milliarden [ca. EUR 93 Mio.] (FES 2020). Im Jahr 2009 wurde das Amt eines Kinderrechtsbeauftragten geschaffen (UPPR o.D.). Gemäß § 3 des Gesetzes 'Über Kinderrechtsbeauftragte in der Russischen Föderation' werden Kinderrechtsbeauftragte vom Staatspräsidenten für eine Amtsperiode von fünf Jahren ernannt. Der Staatspräsident ist berechtigt, Kinderrechtsbeauftragte vorzeitig ihres Amts zu entheben. Zu den Aufgaben von Kinderrechtsbeauftragten, welche dem Staatspräsidenten gegenüber rechenschaftspflichtig sind, zählt beispielsweise die Bearbeitung von Beschwerden (Paragrafen 7 und 8 des oben genannten Gesetzes). Gemäß § 8 hat die Kinderrechtsbeauftragte jährlich einen Tätigkeitsbericht und Bericht über die Lage der Kinder in Russland vorzulegen (RF 30.4.2021).

Gemäß Berichten kommt es vor, dass Kinder (darunter Obdachlose) Opfer von Sexhandel in Russland und in anderen Ländern werden. Auch kommt es vor, dass Kinder in staatlichen Waisenheimen von Menschenhändlern in folgende Bereiche gelockt werden: Zwangsbettelei, Zwangskriminalität, Kinderpornografie, Sexhandel sowie Verwendung von Kindern durch bewaffnete Gruppierungen im Nahen Osten. Gemäß Aussage der Regierung vom Juli 2021 wurden seit Beginn des Repatriierungsprogramms im Jahr 2017 341 Kinder aus Syrien und Irak repatriiert (USDOS 7.2022). Kinder werden häufig Opfer von Gewalt (USDOS 20.3.2023). Gegen häusliche Gewalt wird unzureichend gesetzlicher Schutz geboten (AA 28.9.2022). Körperliche Züchtigung von Kindern zu Hause ist gesetzlich zugelassen. Körperliche Züchtigung von Kindern in Schulen und als Disziplinarmaßnahme in Strafanstalten ist nicht ausdrücklich verboten. Ungesetzlich ist körperliche Züchtigung als Strafmaßnahme im Zusammenhang mit Straftaten (EVAC/ECP 10.2022). Es gibt in Russland Organisationen und Privatinitiativen zur Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt (ÖB 30.6.2022). Es existiert kein System zur Gewalt-Prävention und es gibt nur wenige Einrichtungen, in welchen Frauen mit Kindern vorübergehend Zuflucht suchen können. Die Notwendigkeit der Eindämmung von Kinderprostitution, Kinderhandel, Kinderpornografie und Gewalt gegen Kinder wird in der Öffentlichkeit zunehmend thematisiert (AA 28.9.2022).

Das gesetzliche Mindestalter für Eheschließungen beträgt für Männer und Frauen 18 Jahre. Unter bestimmten Umständen dürfen lokale Behörden Eheschließungen ab einem Alter von 16 Jahren bewilligen. Mehrere Regionen erlauben Eheschließungen ab einem Alter von 14 Jahren, wenn beispielsweise eine Schwangerschaft vorliegt oder ein Kind geboren wurde. Das gesetzliche Mindestalter für einvernehmliche sexuelle Handlungen beträgt 16 Jahre (USDOS 20.3.2023).

Bildung ist kostenlos. Es herrscht Schulpflicht bis zur 11. Schulstufe. Dennoch verweigern Regionalbehörden häufig den Schulbesuch für Kinder von Personen, welche keine örtliche Wohnsitzregistrierung aufweisen (darunter Roma). Roma-Kinder werden in Schulen, deren Qualitätsstandards niedrig sind, abgesondert. HIV-infizierte Kinder sind Diskriminierung im Bildungsbereich ausgesetzt (USDOS 20.3.2023). Der Zugang zu (inklusiver) Bildung gestaltet sich - trotz bestehender gesetzlicher Regelungen - für viele beeinträchtigte Kinder schwierig. Diesbezüglich fehlt beispielsweise ausgebildetes Personal an den Schulen (USDOS 20.3.2023; vgl. Humanium o.D.). Seit 2019 läuft das sogenannte Nationale Projekt Bildung, welchem RUB 784,5 Milliarden [ca. EUR 9 Milliarden] zur Verfügung stehen, um Schulen zu sanieren und zu modernisieren, Lehrpläne zu aktualisieren, Fachpersonal zu schulen und die Schulverwaltung umzustrukturieren und fortzubilden (Russland-Analysen 21.2.2020). Im Rahmen dieses Projekts wird auf eine patriotische Erziehung Wert gelegt (NPR o.D.).

Gesetzlich ist Kindern unter 16 Jahren eine Arbeitsaufnahme in den meisten Fällen verwehrt. Die Arbeitsbedingungen für Kinder unter 18 Jahren sind gesetzlich geregelt. Vierzehnjährige dürfen unter bestimmten Bedingungen und mit Erlaubnis der Eltern oder des Vormunds einer Arbeit nachgehen. Eine solche Arbeit darf der Gesundheit bzw. dem Wohlergehen des Kindes nicht schaden. Minderjährigen ist eine berufliche Beschäftigung in bestimmten Bereichen gesetzlich verboten, z. B. Arbeiten unter Tag und in Sektoren, welche die moralische und gesundheitliche Entwicklung von Kindern gefährden. Gesetzliche Vorgaben werden von der Regierung effektiv umgesetzt, obwohl das Strafmaß zu milde ist. Es gibt Berichte über Kinder, welche im informellen Sektor und im Verkauf tätig sind. Einige Kinder sind kommerzieller sexueller Ausbeutung ausgesetzt und werden zum Betteln gezwungen (USDOS 12.4.2022).

Die medizinische Versorgungssituation für Kinder ist sehr angespannt. Es fehlen Physiotherapeuten und Psychologen (AA 28.9.2022). Gemäß dem Welthunger-Index 2022 sind 4,4 % der Kinder unter fünf Jahren ausgezehrt, und 13,4 % weisen Wachstumsverzögerungen auf. Die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren liegt bei 0,5 % (WHI o.D.). Im Jahr 2021 erhielten 12.100 Kinder im Alter zwischen 0 und 14 Jahren antiretrovirale HIV/Aids-Medikamente (UNICEF o.D.). Es existieren Berichte über Vernachlässigung, körperlichen und psychologischen Missbrauch von Kindern, welche in staatlichen Institutionen untergebracht sind. Besonders vulnerabel sind Kinder mit Beeinträchtigungen (USDOS 20.3.2023). Diese erfahren keine Gleichberechtigung, und es gibt zu wenige Unterbringungsmöglichkeiten, Infrastruktur sowie Personal (Humanium o.D.).

Gemäß dem von der NGO Humanium erstellten Index bestehen in Russland wahrnehmbare Probleme bei der Realisierung von Kinderrechten (orange Stufe bzw. 7,84 von 10 maximal erreichbaren Punkten) (Humanium o.D.).

Laut ukrainischen und russischen Behördenvertretern wurden seit 24.2.2022 Hunderttausende Kinder aus der Ukraine in die Russische Föderation gebracht. Zahlenangaben variieren beträchtlich. Von den Deportationen sind unter anderem Kinder in Einrichtungen sowie Kinder, welche aufgrund der Kampfhandlungen kurzfristig den Kontakt mit ihren Eltern verloren haben, betroffen. In Russland wird deportierten ukrainischen Kindern die russische Staatsbürgerschaft verliehen, sie werden in Pflegefamilien untergebracht usw. Für Familienangehörige gestaltet sich die Kontaktaufnahme sowie Rückführung ihrer Kinder in die Ukraine sehr schwierig (UN-HRC 15.3.2023).

Nordkaukasus

Gemäß dem russischen Ministerpräsidenten ist die Kindersterblichkeit im Nordkaukasus um ca. ein Drittel höher als im russischen Durchschnitt (ÖB 30.6.2022; vgl. PR 15.6.2021). Im Zeitraum Jänner-März 2023 starben in Dagestan fünf von 1.000 Neugeborenen. In Tschetschenien verstarben im selben Zeitraum sechs von 1.000 Neugeborenen (Rosstat o.D.). Es gibt im Nordkaukasus nicht genügend Schulen (PR 15.6.2021). In Teilen des Nordkaukasus sind Mädchen Zwangs- bzw. Kinderehen ausgesetzt (USDOS 20.3.2023). Gemäß § 13 des Gesetzes 'Über Kinderrechtsbeauftragte in der Russischen Föderation' haben Regionen in Russland eigene Kinderrechtsbeauftragte (RF 30.4.2021). Seit 2014 wird dieses Amt in Tschetschenien von Chirachmatow Chamsat Asurin-Basiriewitsch bekleidet (UPRTR o.D.). Die derzeitige Kinderrechtsbeauftragte für Dagestan ist Eschowa Marina Jurewna (UGPR o.D.).

Quellen: […]

Scheidung und Obsorge

Gemäß Artikel 38 der Verfassung der Russischen Föderation haben die Elternteile hinsichtlich der Kindererziehung gleiche Rechte und Pflichten (Duma 6.10.2022). Laut § 61 des Familiengesetzbuches der Russischen Föderation sind Eltern in Bezug auf ihre Kinder gleichberechtigt und haben auch gleiche Pflichten. Die Rechte der Eltern erlöschen mit Volljährigkeit des Kindes (18 Jahre) sowie mit Eheschließung des minderjährigen Kindes (RF 28.4.2023c).

Gemäß § 17 des Familiengesetzbuches darf ein Ehemann während der Schwangerschaft der Ehefrau und im Zeitraum bis zum ersten Geburtstag des Kindes die Auflösung der Ehe nur mit Zustimmung der Ehefrau initiieren. Außer in den Fällen der Paragrafen 21-23 wird die Auflösung einer Ehe von Standesämtern durchgeführt (§ 18 des Familiengesetzbuches). Gemäß den Paragrafen 21-23 des Familiengesetzbuches sind Gerichte für die Auflösung einer Ehe zuständig, wenn gemeinsame minderjährige Kinder existieren oder sich die Eheleute über die Auflösung der Ehe nicht einig sind. Bei einer gerichtlichen Auflösung der Ehe können die Eheleute dem Gericht zur Überprüfung eine Vereinbarung darüber vorlegen, bei wem von ihnen die minderjährigen Kinder leben werden und wie die Unterhaltszahlungen geregelt sein werden. Sind sich die Eheleute darüber uneinig oder verletzt die getroffene Vereinbarung die Interessen der Kinder oder eines der Ehegatten, muss das Gericht eine Regelung treffen (§ 24). Gemäß § 66 des Familiengesetzbuches hat derjenige Elternteil, welcher nicht mit dem Kind zusammenlebt, Recht auf Kontakt mit dem Kind, Teilhabe an der Kindererziehung sowie Recht auf gemeinsame Entscheidung hinsichtlich Ausbildungsfragen, welche das Kind betreffen. Kommt ein Elternteil der Gerichtsentscheidung nicht nach, zieht dies eine Verwaltungsstrafe nach sich. Bei böswilliger Nichterfüllung der Gerichtsentscheidung kann das Gericht auf Verlangen des nicht beim Kind lebenden Elternteils verfügen, diesem das Kind zuzusprechen, wenn dies im Interesse des Kindes liegt und dessen Meinung entspricht. Laut § 57 des Familiengesetzbuches ist ein Kind berechtigt, seine Meinung zu allen Familienfragen zu äußern, welche die Interessen des Kindes berühren. Auch hat ein Kind das Recht, im Rahmen von Gerichts- oder Verwaltungsverfahren angehört zu werden. Die Meinung des Kindes ist verpflichtend zu berücksichtigen, wenn das Kind mindestens 10 Jahre alt ist - außer dies widerspricht den Interessen des Kindes (RF 28.4.2023c). In der Praxis bleiben in der Russischen Föderation minderjährige Kinder nach einer Scheidung zu 99 % bei der Mutter (ÖB 21.2.2023).

Nordkaukasus/Tschetschenien

In Tschetschenien herrscht ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht (AA 28.9.2022). Landesweit verzeichneten Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien im Jahr 2022 den höchsten Scheidungszuwachs (KR 14.2.2023). Im Jahr 2022 wurden in Tschetschenien 9.070 Scheidungen eingereicht. Im Vergleich dazu hatte 2021 die Anzahl der eingereichten Scheidungen 3.783 betragen (KU 15.2.2023). Für Tschetschenen ist in erster Linie die Eheschließung nach der Scharia von Bedeutung. Um eine nach der Scharia geschlossene Ehe aufzulösen, muss der Ehemann die Worte 'Scheidung, Scheidung, Scheidung' aussprechen. Eine Scheidung gemäß dem tschetschenischen Gewohnheitsrecht (Adat) hat folgendermaßen abzulaufen: Der Ehemann muss vor Zeugen 'Ich verlasse dich' sagen. Adat und Scharia verlangen vom Ehemann nicht die förmliche Nennung eines Scheidungsgrundes. Das Muftiat Tschetscheniens schreibt vor, dass Männer bei der Scheidung einen Geldbetrag von RUB 300.000 [ca. EUR 3.470] an ihre früheren Ehefrauen entrichten müssen. In Tschetschenien ist es für Frauen äußerst schwierig, eine Scheidung vom Ehegatten zu erreichen. Es muss bewiesen werden, dass der Ehegatte körperlich krank bzw. geschäftsunfähig ist. Für gewöhnlich wird eine geschiedene Tschetschenin von ihrer Familie aufgenommen. Einer geschiedenen Tschetschenin ist es erlaubt, ein zweites Mal zu heiraten (Dsen 17.7.2022).

In Tschetschenien und anderen Teilen des Nordkaukasus vollziehen örtliche Behörden lokale Bräuche, welche Kinder als Eigentum des Vaters und von dessen Familie betrachten (HRW 12.1.2023). Für geschiedene Frauen im Nordkaukasus ist es schwierig, das Sorgerecht für ihre Kinder zu erlangen (KU 14.2.2023; vgl. UN-CEDAW 30.11.2021), wenn der frühere Ehemann oder dessen Verwandte die Kinder bei sich behalten wollen (KU 14.2.2023). Gerichte in Tschetschenien sprechen Kinder in vielen Fällen dem Vater zu (KR 30.3.2023). Heutzutage kämpfen nicht wenige geschiedene Frauen in Tschetschenien für das Recht, die Kinder bei sich behalten zu dürfen (Dsen 17.7.2022). In der Praxis spielen in Tschetschenien außergerichtliche Lösungswege zur Klärung von Familienrechts- und Obsorgefragen eine bedeutendere Rolle als gerichtliche Lösungswege. Selbst wenn Frauen vor Gericht recht bekommen, ist eine Umsetzung des Urteils oft nicht möglich. Gemäß dem Islam werden die Kinder nach der Scheidung der Eltern bis zu einem bestimmten Alter von der Mutter erzogen, falls sie nicht nochmals geheiratet hat: Buben bis zu einem Alter von sieben Jahren, Mädchen bis zur Erreichung der Volljährigkeit. Danach werden die Kinder dem Vater übergeben. Damit die Mutter das Recht hat, die Kinder zu erziehen, muss sie a) islamischen Glaubens, b) vernünftig (im Sinne von nicht psychisch erkrankt), c) vertrauenerweckend (nicht sündhaft im Sinne des Islam) und darf d) nicht verheiratet sein. Falls die Mutter stirbt oder psychisch krank wird, geht das Recht der Erziehung auf die Großmutter mütterlicherseits über, danach auf die Großmutter väterlicherseits, danach auf die Schwester, schließlich auf nahe männliche Verwandte (ÖB 21.2.2023).

In Tschetschenien wurden im Jahr 2017 'Kommissionen zur Harmonisierung von Ehe- und Familienbeziehungen' geschaffen. Diese sind in allen Regionen tätig (KU 14.2.2023). Die Kommissionen bestehen unter anderem aus Religionsvertretern, Repräsentanten gesellschaftlicher Organisationen sowie örtlicher Strukturen und Vertretern des Innenministeriums. 2.395 Ehepaare wurden wiedervereint (KU 23.4.2023), nachdem Kadyrow 2017 die Anweisung gegeben hatte, traditionelle Familienwerte zu stärken (KU 14.2.2023). Die Wiedervereinigung von Familien in Tschetschenien geschieht unter Druck (KU 10.2.2023). Kadyrow unterstützt die erzwungene Versöhnung bzw. Wiederverheiratung geschiedener Paare (FH 2023). Der Apparat der Ombudsperson für Menschenrechte in Tschetschenien versucht, Hilfestellung in Bezug auf Familienfragen zu geben, wenn geschiedenen Frauen der Kontakt mit ihren Kindern verwehrt wird (ÖB 21.2.2023).

Quellen: […]

Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Gemäß Artikel 27 der Verfassung der Russischen Föderation haben alle Personen, welche sich rechtmäßig auf dem Territorium der Russischen Föderation aufhalten, das Recht auf Bewegungsfreiheit sowie Wahl des Aufenthalts- und Wohnorts. Alle Personen sind laut der Verfassung berechtigt, aus der Russischen Föderation auszureisen. Bürger der Russischen Föderation haben das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren. Gemäß Artikel 61 der Verfassung dürfen Bürger der Russischen Föderation nicht aus der Russischen Föderation ausgewiesen werden (Duma 6.10.2022). Gemäß § 1 des Gesetzes 'Über das Recht der Bürger auf Bewegungsfreiheit' sind Einschränkungen des Rechts auf Bewegungsfreiheit, Wahl des Wohn- und Aufenthaltsorts nur auf gesetzlicher Grundlage möglich. Gemäß § 8 kann dieses Recht unter anderem dann eingeschränkt werden, wenn in den betreffenden Regionen der Ausnahmezustand oder das Kriegsrecht herrscht. Entscheidungen in Bezug auf Bewegungsfreiheit, Wahl des Wohn- und Aufenthaltsortes können von den Bürgern gerichtlich angefochten werden (§ 9) (RF 27.1.2023).

Gemäß § 15 des Gesetzes ’Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation' darf das Recht der Staatsbürger auf Ausreise aus der Russischen Föderation vorübergehend beschränkt werden. Von solchen Beschränkungen sind Personen betroffen, die zum Wehrdienst einberufen oder zum Wehrersatzdienst entsandt wurden (bis zur Beendigung des Wehrdiensts oder Wehrersatzdiensts); Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder unter Anklage stehen; Personen, die wegen Begehung einer Straftat verurteilt wurden (bis die Strafe verbüßt oder eine Strafbefreiung eingetreten ist); Personen, die gegen gerichtlich auferlegte Verpflichtungen verstoßen; Mitarbeiter des Föderalen Sicherheitsdiensts (FSB); sowie Personen, die zahlungsunfähig bzw. insolvent sind (RF 14.4.2023). Bürger, welche im Militärregister aufscheinen, dürfen ab Verkündung einer Mobilmachung ihren Wohnort nur mit behördlicher Erlaubnis verlassen (§ 21 des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung') (RF 4.11.2022). Die Regierung beschränkt Auslandsreisen ihrer Mitarbeiter, darunter Generalstaatsanwaltschaft, Innen- und Verteidigungsministerium usw. (USDOS 20.3.2023; vgl. Bell 7.4.2023). Die Grenz- und Zollkontrollen eigener Staatsangehöriger durch russische Behörden entsprechen in der Regel internationalem Standard (AA 28.9.2022). Im Zuge von Grenzkontrollen kommt es zu Befragungen Ausreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen (AA 28.9.2022).

Auf Grundlage eines EU-Ratsbeschlusses ist seit 12.9.2022 das Visaerleichterungsabkommen zwischen der EU und Russland vollständig ausgesetzt. Dies bedeutet nun unter anderem höhere Gebühren für einen Visumsantrag, Vorlage zusätzlicher Dokumente und längere Bearbeitungszeiten für Visa (Rat 12.5.2023). Auch die USA verhängten Visabeschränkungen, diese gelten für ca. 900 russische Amtsträger, darunter Mitglieder des Föderationsrats und des russischen Militärs (USDOS 2.8.2022). Weitere Länder (die baltischen Staaten, Tschechien, Niederlande) haben die Visavergabe an russische Staatsbürger eingeschränkt (DW 22.8.2022).

Meldewesen

Die Bürger der Russischen Föderation sind verpflichtet, ihren Aufenthalts- und Wohnort innerhalb des Landes registrieren zu lassen. Die Registrierung ist kostenlos (§ 3) (RF 27.1.2023). Die örtlichen Stellen des Innenministeriums sind gemäß § 4 die Meldebehörden (RF 27.1.2023; vgl. AA 28.9.2022). Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Mieter benötigen eine Bescheinigung des Vermieters und werden damit vorläufig ohne Eintragung im Inlandspass registriert (AA 28.9.2022). Das staatliche Melderegister der Russischen Föderation ist nicht öffentlich zugänglich. Informationen werden natürlichen und nicht staatlichen juristischen Personen auf deren Anfrage nur bei Vorhandensein der Zustimmung derjenigen Person, deren Daten angefragt werden, erteilt; staatlichen Organen, soweit dies zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben erforderlich ist (ÖB 1.2.2023).

Die Registrierung des Aufenthaltsortes hat binnen 90 Tagen nach Wohnungsnahme zu erfolgen. Von der Registrierung des Aufenthaltsortes bleibt die Wohnsitzregistrierung unberührt. Aufenthalte bis zu einer Dauer von 90 Tagen bedürfen keiner Registrierung (§ 5 des Gesetzes 'Über das Recht der Bürger auf Bewegungsfreiheit'). Beispiele für Aufenthaltsorte sind Hotels, Sanatorien, Campingplätze, medizinische Einrichtungen, Haftanstalten usw. (§ 2) (RF 27.1.2023). Die Aufenthaltsregistrierung (temporäre Registrierung) wird durch eine Bescheinigung in elektronischer oder in Papierform bestätigt (Gosuslugi o.D.). Temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notfallversorgung (ÖB 30.6.2022).

Bürger, welche ihren Wohnort wechseln, haben binnen sieben Tagen nach Wohnungsnahme die Registrierung zu veranlassen. Dabei ist ein Pass oder ein anderes Identitätsdokument vorzulegen. Anträge können auch elektronisch eingebracht werden, beispielsweise über das Portal Gosuslugi. Die Meldebehörde hat spätestens drei Tage nach Antragstellung die Registrierung vorzunehmen (§ 6) (RF 27.1.2023). Die Wohnsitzregistrierung (Propiska) wird im Pass vermerkt. Kinder bis zu einem Alter von 14 Jahren erhalten eine Registrierungsbescheinigung (Gosuslugi o.D.). Eine permanente Registrierung ist Voraussetzung für stationäre medizinische Versorgung, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld und Pensionszahlungen (ÖB 30.6.2022).

Kaukasus

Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich in andere Teile Russlands reisen (AA 28.9.2022). Einige regionale Behörden schränken die Wohnsitzregistrierung bei ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 2023).

Quellen: […]

Tschetschenen innerhalb und außerhalb der Russischen Föderation

Die Bevölkerungszahl Tschetscheniens beträgt mit Stand 2023 in etwa 1,5 Millionen (FR o.D.). Laut Aussage des Republiksoberhaupts Kadyrow leben rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region, die eine Hälfte davon in Russland, die andere Hälfte im Ausland (ÖB 30.6.2021). Zwischen Jänner und November 2022 reisten aus Tschetschenien um ca. 4.000 Personen mehr aus, als sich in Tschetschenien niedergelassen haben, ungefähr doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die Binnenmigration in der Republik Tschetschenien ist angestiegen. Die Anzahl derjenigen Tschetschenen, welche in andere Regionen Russlands reisen, ist merklich höher als die Anzahl der Rückkehrer (KR 15.2.2023). Die tschetschenische Diaspora ist in allen russischen Großstädten stark angewachsen (200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben). Sie treffen auf antikaukasische Stimmungen (AA 28.9.2022). Die Migration ins Ausland hat ebenfalls stark zugenommen (KR 15.2.2023). Im Jahr 2022 verließen 1.300 Bewohner Tschetscheniens die Russische Föderation, ein Anstieg um das Vierfache im Vergleich zum Jahr zuvor. Hauptziel der Ausreisen waren Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) (KR 1.3.2023). Die tschetschenische Diaspora in Europa zählt nach verschiedenen Einschätzungen zwischen 150.000 und 300.000 Personen. Eine der größten tschetschenischen Gemeinschaften Europas befindet sich in Frankreich, wo um die 60.000 Tschetschenen leben. In Deutschland, Österreich und Belgien leben nach offiziellen Angaben jeweils zwischen 30.000 und 45.000 Tschetschenen (KU 16.5.2023).

Die 'Ständige Vertretung Tschetscheniens beim russischen Präsidenten' vertritt laut Eigendarstellung die Interessen Tschetscheniens in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Kultur und humanitäre Zusammenarbeit. Außerdem pflegt die Ständige Vertretung Kontakte mit Organisationen der tschetschenischen Diaspora (SVTR o.D.a). Um Belange der tschetschenischen Diaspora kümmern sich beispielsweise folgende Organisationen: der Wiener Rat der Tschetschenen und Inguschen (ZO 29.4.2022), der Weltkongress des tschetschenischen Volks (PTR o.D.), die Vereinigung der Tschetschenen Europas (VTE o.D.) und die Versammlung der Tschetschenen Europas (ACE o.D.). Generalsekretär des Weltkongresses des tschetschenischen Volks ist das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow (PTR o.D.).

Quellen: […]

Grundversorgung und Wirtschaft

Wirtschaft

Als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die EU mehrere Sanktionspakete angenommen, um die wirtschaftliche Basis Russlands zu schwächen. Der Zugang Russlands zu den Kapital- und Finanzmärkten der EU wurde beschränkt. Für alle russischen Flugzeuge ist der Luftraum der EU geschlossen. Ebenso sind EU-Häfen für alle russischen Schiffe geschlossen. Transaktionen mit der russischen Zentralbank sind verboten. Mehrere russische Banken wurden aus dem SWIFT-System ausgeschlossen. Neue Investitionen in den russischen Energiesektor wurden verboten. Es gilt ein Einfuhrverbot für Eisen und Stahl aus Russland in die EU sowie ein Einfuhrverbot für Kohle, Holz, Zement, Gold, Rohöl, raffinierte Erdölerzeugnisse usw. (Rat 12.5.2023). Sanktionen gegen Russland verhängten außerdem die USA, Kanada, das Vereinigte Königreich, Japan, die Schweiz und die restliche westliche Welt (WKO 3.2023). Der Krieg und die Sanktionen wirken sich auf Wirtschaftssektoren in Russland unterschiedlich aus. In Mitleidenschaft gezogen wurden der Industriesektor sowie der Binnenhandel. Hingegen zählt die Militärproduktion zu den Profiteuren der Sanktionen. Die Energiesanktionen ließen die Staatseinnahmen beträchtlich schrumpfen (WIIW o.D.). Die Wirtschaftssanktionen des Westens haben zu einem Braindrain und einer Kapitalflucht geführt (HF o.D.). Die Isolation Russlands zwingt verstärkt zu einer Eigenproduktion kritischer Waren, darunter Medikamente, Anlagen und Computertechnik (WKO 3.2023). Eine Einschätzung der wirtschaftlichen Situation in Russland ist derzeit schwierig (NDR/Tagesschau 2.8.2022; vgl. Watson 3.2.2023).

Gemäß vorläufigen Daten des Föderalen Amts für Staatliche Statistik (Rosstat) ist das Bruttoinlandsprodukt im 1. Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahr um 1,9 % gesunken (Interfax 17.5.2023). Die Inflation betrug im April 2023 nach Angaben von Rosstat 0,38 % (Interfax 12.5.2023). Um den starken Verfall des Rubels aufzuhalten, führte die Regierung strenge Devisenbeschränkungen sowie weitere einschränkende Maßnahmen zur Stabilisierung der russischen Währung und der Wirtschaft ein (WKO 3.2023). Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2022 14,9 % des Bruttoinlandsprodukts (WIIW o.D.).

Korruption ist weitverbreitet (BS 2022; vgl. HF o.D.). Eine Herausforderung für den Staat stellt die Schattenwirtschaft dar (BS 2022). Innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte ist Russland vom Importeur zum größten Weizenexporteur der Welt aufgestiegen (ZOIS 9.3.2023). Die Wirtschaft ist wenig diversifiziert (BS 2022) und stark von Öl- und Gasexporten abhängig (HF o.D.). Russland gehört historisch zu den größten Erdölproduzenten weltweit. Exporte von Öl und Gas haben traditionell mehr als zwei Drittel der russischen Ausfuhren ausgemacht. Es gelten Exportbeschränkungen für Holzwaren (WKO 3.2023). Um die sinkenden Exporte in die Europäische Union auszugleichen, handelt Russland verstärkt mit China, Indien und der Türkei (FT 19.8.2022).

Grundversorgung

Nach Angaben von Rosstat betrug im Jahr 2022 der Anteil der russischen Bevölkerung mit Einkommen unter der Armutsgrenze 10,5 %, das heißt 15,3 Millionen Personen (Rosstat 10.3.2023). Seit 2021 wird die Armutsgrenze neu berechnet. Die neue Berechnungsmethode wird als willkürliche Verschleierung der wahren Zustände kritisiert (AA 28.9.2022). Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern (vor allem Großfamilien), Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren Moskau und St. Petersburg ist die Armutsquote halb so hoch wie im Landesdurchschnitt. Prinzipiell ist die Armutsgefährdung auf dem Land höher als in den Städten (Russland-Analysen 21.2.2020a). Die Wirkung von Regierungsprogrammen, die sich dem Kampf gegen Armut im ländlichen Raum widmen, ist begrenzt. In den größeren Städten Russlands ist eine beträchtliche Anzahl von Menschen obdachlos (BS 2022).

Gemäß der Weltbank hatten im Jahr 2020 (aktuellste verfügbare Daten) 76 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu sicher verwalteten Trinkwasserdiensten (WB o.D.a). Im Jahr 2021 wurden mehr als 450 Trinkwasserversorgungseinrichtungen und Wasseraufbereitungsanlagen errichtet und modernisiert. Dadurch erhöhte sich der Anteil derjenigen Bürger, welche mit hochwertigem Trinkwasser versorgt werden, auf 86 % (NPR o.D.a). Im Welthunger-Index 2022 belegt die Russische Föderation Platz 28 von 121 Ländern. Mit einem Wert von 6,4 fällt die Russische Föderation somit in die Schweregradkategorie niedrig. Weniger als 2,5 % der Bevölkerung sind gemäß dem Welthunger-Index unterernährt (WHI o.D.). Laut der Weltbank hatten im Jahr 2020 (aktuellste verfügbare Daten) 89 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu einer (zumindest) Basisversorgung im Bereich Hygiene (WB o.D.b). Ein Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Bezahlbare Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für Teile der Bevölkerung unerschwinglich (AA 28.9.2022). Mietkosten variieren je nach Region (IOM 12.2022).

Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 12.2022). Der Mindestlohn darf das Existenzminimum nicht unterschreiten (RN 16.1.2023). Das Existenzminimum wird per Verordnung bestimmt (AA 28.9.2022). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung RUB 15.669 [ca. EUR 184], für Kinder RUB 13.944 [ca. EUR 164] und für Pensionisten RUB 12.363 [ca. EUR 145] (Rosstat 10.1.2023). Die Höhe des monatlichen Mindestlohns beträgt für das Jahr 2023 RUB 16.242 [ca. EUR 191] (Duma 1.1.2023) und kann in jeder Region durch regionale Abkommen individuell festgelegt werden. Jedoch darf die Höhe des regionalen Mindestlohns nicht niedriger als der national festgelegte Mindestlohn sein. In der Stadt Moskau beträgt der Mindestlohn RUB 23.508 [ca. EUR 276] (RN 16.1.2023). Die primäre Versorgungsquelle der russischen Bevölkerung bleibt ihr Einkommen (AA 28.9.2022). Nach staatlichen Angaben betrug die Arbeitslosenrate im März 2023 3,5 % (Rosstat o.D.a). Die Arbeitslosenrate ist von Region zu Region verschieden (IOM 12.2022). Die versteckte Arbeitslosigkeit ist schwer einzuschätzen. Schwer am Arbeitsmarkt haben es ältere Arbeitnehmer. Besonders schwierig bis prekär ist die Lage für viele Migranten, welche überwiegend gering qualifiziert sind. Sie verdienen oft (wenn überhaupt) nur den Mindestlohn (AA 28.9.2022).

Quellen: […]

Nordkaukasus

Die sozialwirtschaftlichen Unterschiede zwischen russischen Regionen sind beträchtlich. Die ländliche Peripherie, darunter der Nordkaukasus, ist von Entwicklungsproblemen betroffen (BS 2022). Der Nordkaukasus weist eine hohe Armutsrate (KR 19.5.2023) und eine hohe Arbeitslosigkeit auf (KR 19.5.2023; vgl. ÖB 30.6.2022). In Regionen des Nordkaukasus muss jeder Fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen (Russland-Analysen 21.2.2020a). In vielen nordkaukasischen Regionen liegen Lohnniveaus und Lebensstandard weit unter dem Landesdurchschnitt (BS 2022). Der Nordkaukasus ist von einem hohen Niveau an informeller Beschäftigung von Arbeitnehmern gekennzeichnet (KU 29.3.2023a). Tschetschenien, Dagestan und andere nordkaukasische Gebiete gehören zu denjenigen Regionen Russlands, wo der Mittelschichtanteil unter der Bevölkerung am geringsten ist (Statista 7.2022). Im Jahr 2021 zählten Dagestan, Tschetschenien sowie andere nordkaukasische Regionen zu denjenigen russischen Regionen mit dem niedrigsten Bruttoregionalprodukt (Statista 3.2023).

Tschetschenien ist von großer Armut und Arbeitslosigkeit betroffen (BP 3.9.2021; vgl. AA 28.9.2022). Im Jahr 2021 lebten 19,9 % der Bevölkerung in Tschetschenien unter der Armutsgrenze (Rosstat 27.4.2022). Dank Zuschüssen aus dem russischen föderalen Budget haben sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges deutlich verbessert (AA 28.9.2022). Tschetschenien ist von Moskau finanziell abhängig. Mehr als 80 % des Budgets stammen aus Zuwendungen (ORF 30.3.2022). Die Reallöhne der tschetschenischen Bevölkerung sind im Jahr 2021 um beinahe 5 % gesunken. Am besten bezahlt werden Beamte und Mitarbeiter im Finanzbereich (KR 29.8.2022). In Tschetschenien klafft die Einkommensschere weit auseinander (KU 10.5.2023). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung in Tschetschenien RUB 15.042 [ca. EUR 176], für Kinder RUB 13.386 [ca. EUR 157] und für Pensionisten RUB 11.868 [ca. EUR 139] (Rosstat 10.1.2023).

Dagestan zählt zu den von Armut betroffenen Regionen in Russland (Der Standard 21.5.2022). Im Jahr 2021 lebten 14,7 % der Bevölkerung in Dagestan unter der Armutsgrenze (Rosstat 27.4.2022). Es herrscht Unsicherheit bei der Lebensmittelversorgung (FPRI 15.6.2022). Die Preise für Lebensmittel steigen (KR 29.8.2022). In Dagestan ist die Trinkwasserqualität niedrig (KR 15.4.2023). Die Einkommensschere klafft weit auseinander (KU 10.5.2023). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung in Dagestan RUB 14.258 [ca. EUR 167], für Kinder RUB 13.066 [ca. EUR 153] und für Pensionisten RUB 11.250 [ca. EUR 132] (Rosstat 10.1.2023). Dagestan wird in beträchtlichem Ausmaß subventioniert (FPRI 15.6.2022; vgl. MT 13.7.2022).

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Sozialbeihilfen

Artikel 7 der russischen Verfassung definiert die Russische Föderation als Sozialstaat. Gemäß dem Verfassungsartikel 75 wird Bürgern soziale Unterstützung garantiert. Die Verfassung sieht eine obligatorische Sozialversicherung vor (Duma 6.10.2022). Es ist ein System der sozialen Sicherheit und sozialen Fürsorge in Russland vorhanden, welches Pensionen auszahlt und die vulnerabelsten Bürger unterstützt. Zum Kreis vulnerabler Gruppen zählen Familien mit mindestens drei Kindern, Menschen mit Behinderungen sowie ältere Menschen (IOM 12.2022). Der Staat bietet verschiedene Sozialleistungen an, wovon unter anderem folgende Personengruppen profitieren: Veteranen, Waisenkinder, ältere Personen, Alleinerziehende, Erwerbslose, Dorfbewohner (WSP o.D.), Menschen mit Behinderungen, Familien, Pensionisten (SFR o.D.a), Bewohner des hohen Nordens sowie Familienangehörige Militärbediensteter und von infolge der Ausübung ihrer Dienstpflichten verstorbenen Bediensteten des Innenressorts (Regierung o.D.). Das föderale Gesetz 'Über die staatliche Pensionsversorgung in der Russischen Föderation' zählt im § 5 folgende staatliche Pensionsleistungen auf: Pensionen für langjährige Dienste; Alters-; Invaliditäts-; Hinterbliebenen- und Sozialpensionen (RF 28.4.2023a).

Mit 1.1.2023 wurden der Pensions- und der Sozialversicherungsfonds zum neu geschaffenen 'Fonds für Sozial- und Pensionsversicherung der Russischen Föderation' (kurz 'Sozialfonds') verschmolzen (SFR 17.1.2023). Zu den Aufgaben des neu geschaffenen Sozialfonds gehört die Auszahlung von Pensionen und staatlicher finanzieller Hilfen. In den einzelnen Subjekten der Russischen Föderation gibt es territoriale Abteilungen des Sozialfonds (SFR 30.3.2023).

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Mutterschaft: Mutterschaftskapital, Kinderbetreuungsgeld usw.

Es gibt ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien (AA 28.9.2022). Die Dauer des Mutterschaftsurlaubs beträgt 140 Tage: 70 Tage vor und 70 Tage nach der Geburt. Bei Mehrlingsgeburten erhöht sich die Dauer des Mutterschaftsurlaubs auf 194 Tage. Die Mutterschaftshilfe beträgt im Jahr 2023 mindestens RUB 74.757,2 [ca. EUR 880] und maximal RUB 383.178,6 [ca. EUR 4.510]. Ist die Versicherungsdauer im Rahmen von Beschäftigungsverhältnissen kürzer als sechs Monate, wird eine finanzielle Unterstützung maximal in der Höhe des Mindestlohns zuerkannt (Duma 6.3.2023). Eine Einmalzahlung wird russischen Staatsbürgerinnen gewährt, wenn sie ihre Schwangerschaft spätestens in der 12. Schwangerschaftswoche bei einer medizinischen Einrichtung registrieren und das Pro-Kopf-Einkommen der Familie das regionale Existenzminimum nicht übersteigt (SFR 27.1.2023). Außerdem gibt es eine Einmalzahlung bei der Geburt eines Kindes (SFR o.D.d).

Das Mutterschaftskapital, welches im Gesetz auch als Familienkapital bezeichnet wird (RF 28.12.2022b), wird vorrangig der Mutter gewährt. Wenn beispielsweise die Mutter verstorben ist, bezieht der Vater das Mutterschaftskapital. Für den Erhalt des Mutterschaftskapitals ist kein Antrag erforderlich (Duma 1.2.2023). Das Mutterschaftskapital ist eine bargeldlose, zweckgebundene Leistung (AA 28.9.2022) und darf für die Ausbildung der Kinder, zur Verbesserung der Wohnverhältnisse, für die Altersvorsorge der Mutter und für die gesellschaftliche Integration beeinträchtigter Kinder verwendet werden. Seit 1.2.2023 beträgt die Höhe des Mutterschaftskapitals RUB 587.000 [ca. EUR 6.908] für das erste Kind und RUB 775.600 [ca. EUR 9.109] für das zweite Kind. Familien mit niedrigem Einkommen können das Mutterschaftskapital in Form monatlicher Auszahlungen für die Kinder erhalten (Duma 1.2.2023). Die monatlichen Auszahlungen enden mit dem dritten Geburtstag des Kindes (SFR 29.3.2023; vgl. Duma 1.2.2023).

Kinderbetreuungsgeld wird zuerkannt, bis das Kind 1,5 Jahre alt ist. Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des Kinderbetreuungsgeldes mindestens RUB 8.591,5 [ca. EUR 101] und maximal RUB 33.281,8 [ca. EUR 391] (Duma 6.3.2023). Im Rahmen des Nationalen Projekts 'Demografie' ist der Ausbau von Kindergärten geplant, um bis Ende 2023 allen Kindern zwischen 1,5 und 3 Jahren einen Kindergarten- bzw. Krabbelstubenplatz zur Verfügung zu stellen (NPR o.D.b). Die Kosten für den staatlichen Kindergarten, welche von den Eltern zu tragen sind, werden von den örtlichen Behörden festgelegt. Die Preise sind unter anderem vom Alter des Kindes abhängig. Die örtlichen Behörden entscheiden, wer in den Genuss einer Kostenrückerstattung kommt. In der Regel werden mindestens 20 % der Kosten für 1 Kind rückerstattet, 50 % für das zweite Kind und 70 % für jedes weitere Kind. In einigen Regionen ist die Rückerstattung der Kosten für Privatkindergärten möglich, beispielsweise in Moskau (MF 7.3.2023). Für bedürftige russische Familien, welche sich dauerhaft auf dem Gebiet der Russischen Föderation aufhalten, gibt es seit 1.4.2022 eine monatliche finanzielle Unterstützung für Kinder im Alter von 8-17 Jahren (PRF 31.3.2022).

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Arbeitslosenunterstützung

Personen können sich bei den örtlichen Arbeitsämtern des Föderalen Amts für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Sollte es dem Arbeitsamt nicht gelingen, der arbeitssuchenden Person binnen 10 Tagen einen Arbeitsplatz zu beschaffen, wird der betreffenden Person der Arbeitslosenstatus und somit eine monatliche Arbeitslosenunterstützung zuerkannt (IOM 12.2022). Während der ersten drei Monate erhält die arbeitslose Person 75 % des Durchschnittseinkommens des letzten Beschäftigungsverhältnisses, jedoch höchstens RUB 12.792 [ca. EUR 150]. Während der folgenden drei Monate beträgt die Höhe der Arbeitslosenunterstützung 60 % des Einkommens bzw. höchstens RUB 5.000 [ca. EUR 59]. Die Mindesthöhe der Arbeitslosenunterstützung beträgt RUB 1.500 [ca. EUR 18] (RG 23.11.2022). Um den Anspruch auf monatliche Arbeitslosenunterstützung geltend machen zu können, haben sich die Arbeitslosengeldbezieher alle zwei Wochen im Arbeitsamt einzufinden. Außerdem dürfen sie beispielsweise nicht in eine andere Region umziehen und keine Pensionsbezieher sein. Arbeitsämter gibt es überall im Land. Sie stellen verschiedene Dienstleistungen zur Verfügung. Arbeitssuchende, die beim Rostrud registriert sind, dürfen an kostenlosen Fortbildungskursen teilnehmen, um so ihre Qualifikationen zu verbessern (IOM 12.2022).

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Wohnmöglichkeiten, Sozialwohnungen

Artikel 40 der russischen Verfassung garantiert das Recht auf Wohnraum. Laut der Verfassung wird bedürftigen Personen Wohnraum kostenlos oder zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung gestellt (Duma 6.10.2022). Bürger ohne Unterkunft oder mit einer Substandard-Unterkunft und sehr geringem Einkommen dürfen kostenfreie Wohnungen beantragen (IOM 12.2022; vgl. RF 28.4.2023b). Jedoch kann die Wartezeit bei einigen Jahren oder Jahrzehnten liegen. Ein Anrecht auf eine kostenlose Unterkunft haben Waisenkinder und Personen mit schwerwiegenden chronischen Erkrankungen (Tuberkulose etc.). Es gibt Schutzunterkünfte für Opfer von Menschenhandel und häuslicher Gewalt, für alleinerziehende Mütter und andere vulnerable Gruppen. Für gewöhnlich werden diese Unterkünfte von örtlichen NGOs verwaltet. Es gibt keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an (mindestens 12 %) (IOM 12.2022). Die Versorgung mit angemessenem Wohnraum stellt ein Problem dar. Bezahlbare Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für Teile der Bevölkerung unerschwinglich (AA 28.9.2022). Wohnungskosten sind regional unterschiedlich (MK 17.3.2023; vgl. Rosrealt o.D.). Es mangelt an ausreichendem Wohnraum für Familien (AA 28.9.2022).

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Invaliditätspension

§ 27 des Föderalen Gesetzes 'Über den sozialen Schutz von Invaliden in der Russischen Föderation' sieht die materielle Versorgung von Personen mit Behinderungen in Form von Geldleistungen vor (RF 28.12.2022c). Um eine Invaliditätspension zu erhalten, muss ein sozialmedizinisches Sachverständigengutachten erstellt werden. Die Mitarbeiter der medizinischen Einrichtung übermitteln die Daten an das Föderale Invalidenregister, woraufhin die Pension automatisch binnen sieben Tagen zugewiesen wird. Der Auszahlungsbetrag hängt unter anderem von der Pensionsart und der Invaliditätsgruppe ab. Es gibt drei Invaliditätsgruppen (Iswestija 26.10.2022) und verschiedene Arten von Invaliditätspensionen: Sozial- und Versichertenpension sowie staatliche Pension. Die staatliche Pension steht beispielsweise Militärbediensteten zu (Kommersant 24.3.2023). Personen mit Behinderungen steht eine Versichertenpension zu, so die betreffende Person einer Beschäftigung nachging. Im Rahmen der Versichertenpension erhalten Invalide der Gruppe I RUB 15.134,67 [ca. EUR 179]. Personen der Gruppe II steht die Hälfte dieses Geldbetrages zu und Personen mit Behinderungen der Gruppe III wiederum die Hälfte. Sozialpensionen erhalten Invalide ohne Arbeitserfahrung, darunter Kinder. Im Jahr 2023 beträgt die Höhe der Sozialpension für Personen der Gruppe I RUB 13.849,69 [ca. EUR 164]. Personen mit Behinderungen der Gruppe II erhalten RUB 6.924,81 [ca. EUR 82] und Personen der Gruppe III steht ein Geldbetrag von RUB 5.886,14 [ca. EUR 69] zu (PG 7.1.2023). Invaliditätsgruppe I bedeutet Erwerbsunfähigkeit und ständiger Betreuungsbedarf, Gruppe II bedeutet eingeschränkte Arbeitsfähigkeit und kein ständiger Betreuungsbedarf. Invaliditätsgruppe III bedeutet volle oder zumindest teilweise Erwerbsfähigkeit (Iswestija 26.10.2022). Personen mit Behinderungen stehen diverse Vergünstigungen (Freifahrten usw.) zu (Kommersant 24.3.2023). Sie dürfen auf Staatskosten technische Rehabilitationsmittel erwerben, beispielsweise Rollstühle oder Hörgeräte (PG 7.1.2023). Für die Schaffung von Wohnraum für Menschen mit Behinderungen sind Regionalbehörden zuständig (Kommersant 24.3.2023).

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Alterspension

Seit 2018 wird das Pensionsalter für Männer und Frauen allmählich angehoben. Im Jahr 2018 betrug das Pensionseintrittsalter 55 Jahre für Frauen und 60 Jahre für Männer. 2028 soll das Pensionsalter auf 60 Jahre für Frauen und 65 Jahre für Männer angehoben sein. Für bestimmte Personengruppen ist keine Erhöhung des Pensionsalters vorgesehen, beispielsweise für Schwerarbeiter und Personen in gefährlichen Berufsbereichen. Ebenfalls nicht betroffen von der Erhöhung des Pensionsalters sind Sozialpensionen, Invaliditätspensionen und Hinterbliebenenpensionen. Im Jahr 2022 waren für den Anspruch auf eine Alterspension Beschäftigungsverhältnisse von mindestens 13 Jahren erforderlich (SFR 15.1.2021).

Für das Jahr 2023 beträgt die Höhe des Existenzminimums für Pensionisten in Russland RUB 12.363 [ca. EUR 144]. Die Höhe des Existenzminimums für Pensionisten in einzelnen Landesteilen stellt sich wie folgt dar (SFR o.D.b):

• Moskau: RUB 16.257 [ca. EUR 189]

• Moskauer Gebiet: RUB 14.858 [ca. EUR 173]

• St. Petersburg: RUB 12.981 [ca. EUR 151]

• Tschetschenien: RUB 11.868 [ca. EUR 138]

• Dagestan: RUB 11.250 [ca. EUR 131]

Pensionisten, welche keiner Arbeit nachgehen und deren finanzielle Mittel unter dem Existenzminimum für Pensionisten liegen, erhalten einen Sozialzuschlag zur Pension. Dadurch erfolgt eine Anhebung bis zur Höhe des Existenzminimums (SFR o.D.b).

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Sozialbeihilfen für Militärbedienstete und deren Familien

Für Familien von Militärbediensteten und von Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden sind folgende Sozialbeihilfen vorgesehen: Zuschüsse zu Betriebskosten u. Ä.; Einmalzahlung für Instandsetzung des Hauses; jährliche Zahlung für den Sommererholungsurlaub des Kindes; monatliche finanzielle Unterstützung für Kinder von Militärbediensteten; monatlicher Zuschuss für Familien eines verunglückten (verstorbenen) Militärbediensteten und für Invalide, deren Behinderung auf eine Kriegsverletzung zurückzuführen ist (SFR o.D.e). Im Falle des Todes freiwilliger Kämpfer in der Ukraine sowie im Falle des Todes von in die Ukraine abkommandierten Personen sind Einmalzahlungen in der Höhe von bis zu RUB 5 Mio. [ca. EUR 58.315] vorgesehen (SFR 4.4.2023).

Ein Anrecht auf Bezug einer staatlichen Invaliditätspension haben unter anderem Militärbedienstete, welche sich während ihres Militärdienstes eine Behinderung zuzogen; und Bürger, die als Mitglieder von Freiwilligenformationen eine Behinderung erlitten. Die Höhe der Pension beträgt (SFR 14.2.2023):

• für Kriegsverletzte und Mitglieder von Freiwilligenformationen: 300 % der Höhe der Sozialpension (Invaliden der Gruppe I), 250 % der Höhe der Sozialpension (Invaliden der Gruppe II), 175 % der Höhe der Sozialpension (Invaliden der Gruppe III)

• für Personen, welche infolge einer Erkrankung während des Militärdienstes invalid wurden: 250 % der Höhe der Sozialpension (Invaliden der Gruppe I), 200 % der Höhe der Sozialpension (Invaliden der Gruppe II), 150 % der Höhe der Sozialpension (Invaliden der Gruppe III) (SFR 14.2.2023)

Bürger, welche infolge einer Kriegsverletzung zu Invaliden wurden, haben einen Anspruch auf gleichzeitigen Bezug von zwei Pensionen: staatliche Invaliditätspension sowie Alterspension (SFR 14.2.2023).

Um Opferzahlen zu verheimlichen, verweigerte der Kreml Unterstützungszahlungen an Familien von Militärbediensteten, welche in der Anfangsphase des Krieges verstorben sind (ISW 2.5.2023). So beschwerten sich z. B. Familien mobilisierter Männer öffentlich beim Gouverneur der Region Woronesch über die nicht erhaltene versprochene Entschädigung von RUB 120.000 [ca. EUR 1.310]. In Uljanowsk kam es zu Protesten mobilisierter Männer gegen nicht ausgezahlte Gelder (ISW 2.11.2022).

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Medizinische Versorgung

Artikel 41 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert russischen Staatsbürgern das Recht auf kostenlose medizinische Versorgung in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen (Duma 6.10.2022). Eine gesetzliche Grundlage stellt das föderale Gesetz 'Über die Grundlagen des Gesundheitsschutzes der Bürger in der Russischen Föderation' dar (RF 28.4.2023d). Es existiert eine durch präsidentiellen Erlass festgelegte Strategie der Entwicklung des Gesundheitswesens in der Russischen Föderation für den Zeitraum bis 2025 (Präsident 27.3.2023).

Das Basisprogramm der obligatorischen Krankenversicherung gewährleistet die kostenlose medizinische Versorgung für Bürger in allen Regionen Russlands. Das entsprechende Territorialprogramm umfasst Programme auf der Ebene der Subjekte der Russischen Föderation (§ 3 des föderalen Gesetzes 'Über die obligatorische Krankenversicherung') (RF 19.12.2022). Der föderale Fonds der obligatorischen Krankenversicherung ist für die Umsetzung der staatlichen Politik zuständig (Regierung o.D.). Es besteht die Möglichkeit einer freiwilligen Krankenversicherung, welche eine medizinische Versorgung auf höherem Niveau erlaubt (Sber Bank o.D.). Im Rahmen einer freiwilligen Krankenversicherung oder gegen direkte Bezahlung können entgeltliche medizinische Dienstleistungen in staatlichen und privaten Krankenhäusern in Anspruch genommen werden. Die Webseiten der einzelnen medizinischen Einrichtungen enthalten für gewöhnlich Preislisten, so zum Beispiel die Webseite der Poliklinik in Grosnyj/Tschetschenien: http://gr-polik6.ru/uslugi (IOM 12.2022). Für Leistungen privater Krankenhäuser müssen die Kosten selbst getragen werden.

Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos (ÖB 30.6.2022). Bestimmte Patientengruppen erhalten kostenlose oder preisreduzierte Medikamente. Befreit von Medikamentengebühren sind Kinder bis zu einem Alter von drei Jahren; Menschen mit Behinderungen; Veteranen; Patienten mit spezifischen Erkrankungen wie HIV/Aids, onkologischen Erkrankungen, Diabetes, psychiatrischen Erkrankungen usw. (EUAA 9.2022). Regionale Behörden dürfen kostenlose Medikamente für zusätzliche Patientengruppen zur Verfügung stellen (IOM 12.2022). Die Verfügbarkeit von Medikamenten schwankt. Die Beschaffung und Verteilung medizinischer Vorräte ist unzuverlässig, was zu Medikamentenknappheit und starken Preisschwankungen führt. Ursachen dafür sind unter anderem politische Sanktionen, welche Importe begrenzen, und der damit verbundene Umstieg auf einheimische Arzneimittel (EUAA 9.2022). Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können mehrere Monate betragen. Die Notfallversorgung ist nicht mehr überall gewährleistet. Durch Sparmaßnahmen sind in vielen russischen Verwaltungseinheiten die Notfall-Krankenwagen nur mit einer Person besetzt, welche die notwendigen Behandlungen nicht alleine leisten kann. Besonders angespannt ist die medizinische Versorgung für Kinder, es fehlen Physiotherapeuten und Psychologen (AA 28.9.2022). Mitunter gibt es Probleme bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB 30.6.2022).

In der Praxis müssen viele Leistungen von Patienten selbst bezahlt werden, obwohl die medizinische Versorgung für russische Staatsangehörige kostenfrei sein sollte (AA 28.9.2022). Patienten dürfen Beschwerden einreichen, wenn öffentliche medizinische Einrichtungen Gebühren für eigentlich kostenfreie Dienstleistungen einzuheben versuchen. Patientengebühren tragen zu steigender Ungleichheit bei. Zuzahlungen werden entweder von unversicherten Personen geleistet oder dienen dazu, die Leistungsdeckung der obligatorischen oder freiwilligen/privaten Krankenversicherung zu erhöhen. Beispiele für Zuzahlungen sind offizielle Zahlungen im öffentlichen oder Privatsektor oder informelle Zahlungen im öffentlichen Sektor, um beispielsweise eine spezielle Behandlung zu erhalten. Personen mit höherem Einkommen sowie Bewohner wohlhabenderer Städte wie Moskau und St. Petersburg leisten höhere Zuzahlungen, vor allem betreffend stationäre Behandlungen. Allerdings steigt die Höhe der Zuzahlungen gemäß einer Quelle aus dem Jahr 2018 für ambulante Leistungen für ärmere Bevölkerungsschichten rascher an (EUAA 9.2022). 27,76 % der Ausgaben im Gesundheitssektor entfielen im Jahr 2020 auf Zuzahlungen (WB o.D.c.).

Das Gesundheitssystem ist zentralisiert. Öffentliche Gesundheitsdienstleistungen gliedern sich in drei Ebenen: Die Primärversorgung umfasst allgemeine medizinische Leistungen, Notfallversorgung sowie einige spezielle Dienstleistungen. Die Sekundärversorgung beinhaltet eine größere Bandbreite spezieller medizinischer Leistungen, und die Tertiärversorgung bietet medizinische Leistungen auf Hightechniveau an. Wegen Personalmangels sind Mitarbeiter auf der Primärversorgungsebene oft überlastet. Es fehlt an Koordination zwischen den Ebenen Primär- und Sekundärversorgung. Dem öffentlichen Gesundheitssystem mangelt es an finanziellen Mitteln, Patientenorientierung sowie an Personal, vor allem in ländlichen Gebieten. Das medizinische Personal weist Ausbildungsdefizite auf. Viele Bedienstete im medizinischen Bereich sind wenig motiviert, was teilweise auf niedrige Gehälter zurückzuführen ist. Hinsichtlich verfügbarer Ressourcen und Dienstleistungen herrschen beträchtliche regionale Unterschiede (EUAA 9.2022). Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben (ÖB 30.6.2022). Die medizinische Versorgung ist außerhalb der Großstädte in vielen Regionen auf einfachem Niveau und in ländlichen Gebieten nicht überall ausreichend. Ein Drittel der Ortschaften in ländlichen Gebieten verfügt über keinen direkten Zugang zu medizinischer Versorgung. Der Weg zum nächsten Arzt kann in manchen Fällen bis zu 400 Kilometer betragen (AA 28.9.2022). Einrichtungen, die hochmoderne Diagnostik sowie Behandlungen anbieten, sind vorwiegend in den Großstädten Moskau und St. Petersburg zu finden (EUAA 9.2022).

Zurückgekehrte Staatsbürger haben ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann dementsprechend gegen Vorlage eines gültigen russischen Reisepasses oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren) eine Krankenversicherungskarte erhalten. Diese wird von der nächstgelegenen Krankenversicherungszweigstelle am Wohnsitzort ausgestellt (IOM 12.2022). Personen ohne Dokumente haben das Recht auf eine kostenlose medizinische Notfallversorgung (EUAA 9.2022).

Die folgende Webseite enthält eine Auflistung medizinischer Einrichtungen in der Russischen Föderation mitsamt Kontaktdetails: https://gogov.ru/clinics (IOM 12.2022).

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Psychische Erkrankungen

In Russland existieren stationäre und ambulante Einrichtungen zur Behandlung psychischer Erkrankungen (EUAA 9.2022). In Moskau gibt es mehrere öffentliche psychiatrische Krankenhäuser: die Krankenhäuser Nr. 1, 15 und 22 (EUAA 9.2022; vgl. PK1 o.D., PK 22 o.D.). In St. Petersburg befindet sich das öffentliche psychiatrische Krankenhaus Nr. 1 (EUAA 9.2022; vgl. SPK1 o.D.). In manchen Regionen haben Patienten nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu psychischen Gesundheitseinrichtungen, da die meisten dieser Einrichtungen in Städten und weniger in entlegenen Gebieten zu finden sind. In einigen Regionen gibt es praktisch keine psychiatrischen Einrichtungen. Die Zahl ambulanter Einrichtungen sinkt. Teilweise wird die psychische Gesundheitsversorgung von der regionalen Ebene finanziert. Problematisch sind mangelnde finanzielle Ressourcen sowie dürftig ausgestattete Einrichtungen und fehlende Unterstützung durch NGOs und zivilgesellschaftliche Organisationen. Die Qualität der psychischen Gesundheitsversorgung ist niedrig. Die Zahl, der im psychischen Gesundheitsversorgungsbereich Beschäftigten sinkt (EUAA 9.2022).

Die Behandlung psychischer Erkrankungen ist im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung kostenlos. Anspruch auf Behandlung psychischer Erkrankungen haben unter anderem Staatsbürger, legal Beschäftigte sowie Personen mit Langzeitaufenthaltsberechtigungen, welche eine obligatorische Krankenversicherung und einen registrierten Wohnsitz in Russland aufweisen. Zugang zu psychiatrischer Notfallversorgung ist für alle Patienten kostenlos. In der Praxis sind Medikamente für stationäre Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos, im Gegensatz zu Medikamenten für ambulante Behandlungen. In diesen Fällen müssen Patienten die Kosten selbst tragen. Kostenrückerstattungen für verschriebene Medikamente gehen sehr mühsam vonstatten, sodass viele Patienten selbst das Geld für die Medikamente aufbringen müssen. Im Allgemeinen sind psychiatrische Medikamente in der gesamten Russischen Föderation verfügbar, vor allem in größeren Städten (EUAA 9.2022).

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Drogenabhängigkeit

In Moskau bieten öffentliche Einrichtungen psychiatrische Behandlungen sowie stationäre psychologische Betreuung für Drogenabhängige an (ISOS 24.2.2022). Beispielsweise befindet sich in Moskau das nationale medizinische Forschungszentrum für Psychiatrie und Drogenentzug 'W.P. Serbskij' (NMFZ o.D.; vgl. EUAA 9.2022). In Privateinrichtungen in Moskau besteht die Möglichkeit, Psychotherapien (beispielsweise kognitive Verhaltenstherapie) in Anspruch zu nehmen. Verfügbar sind in Moskau folgende Medikamente: Naloxon, Naltrexonhydrochlorid, Disulfiram und Nalmefen. Nicht verfügbar sind Substitol und Acamprosat (ISOS 24.2.2022). Methadon, ein Medikament zur Behandlung von Drogensucht, ist in Russland offiziell verboten (NG 1.10.2021; vgl. ISOS 24.2.2022, AAC 13.11.2020). Das Föderale Amt für Staatliche Statistik (Rosstat) beziffert die Anzahl derjenigen Drogenabhängigen, welche im Jahr 2021 in Heilanstalten und prophylaktischen Einrichtungen registriert waren, mit 212.000 (Rosstat o.D.b). Drogenabhängige Patienten, welche an einem Entzugsprogramm teilnehmen, müssen sich staatlich registrieren und werden nach Abschluss des Programms noch jahrelang überwacht (AAC 13.11.2020). Gerichtlich können Drogenabhängige zu einer Therapie verpflichtet werden (GOP o.D.; vgl. AAC 13.11.2020). Drogenabhängige sind unwissenschaftlichen Drogenpräventionsmethoden und Behandlungen ausgesetzt. Auch werden ihnen essenzielle Medikamente und Gesundheitsdienstleistungen vorenthalten. Hintergrund dafür ist die sozial intolerante Haltung der Regierung gegenüber Drogenabhängigen, welche die Schlechterbehandlung dieser Personengruppe legitimiert (EUAA 9.2022).

Diabetes

In Moskau sowie St. Petersburg und in Hauptstädten der Regionen gibt es Diabetes-Zentren zur modernen Behandlung von Diabetes-Patienten. In ländlichen und entlegenen Gegenden sind Behandlungsmöglichkeiten beschränkt. Bewohner von Großstädten verfügen über einen besseren Zugang zu qualifizierten Spezialisten und medizinischen Geräten. Die medizinische Versorgung von Personen mit endokrinen Erkrankungen wie Diabetes erfolgt im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung prinzipiell kostenlos. Diabetes-Patienten erhalten kostenlos zuckersenkende Medikamente, ebenso Desinfektionsmittel, Insulin-Pens, Nadeln usw. Die Kosten mehrerer neuerer Behandlungsmethoden müssen von Patienten selbst getragen werden. Medikamente zur Behandlung endokriner Erkrankungen sind theoretisch in der gesamten Russischen Föderation verfügbar, jedoch ist die Verfügbarkeit in Großstädten besser (EUAA 9.2022).

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Hepatitis

Hepatitis ist eine Leberentzündung, welche durch eine Virusinfektion verursacht wird. Es gibt unterschiedliche Hepatitis-Viren, zum Beispiel Hepatitis A, B oder C. Deren Symptome sind unterschiedlich (EUAA 9.2022).

Die stationäre und ambulante medizinische Versorgung von Personen mit Infektionskrankheiten, darunter Hepatitis, ist in Russland im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung kostenlos. Medikamente zur Behandlung von Infektionskrankheiten sind im Allgemeinen in der gesamten Russischen Föderation theoretisch verfügbar, jedoch ist in Städten der Zugang zu diesen Medikamenten viel besser. Für viele Hepatitis-C-Patienten gestaltet sich der Zugang zu modernen Behandlungsmethoden schwierig. In Moskau gibt es ein privates Forschungszentrum für Hepatologie, welches auf Diagnose und Behandlung von Virushepatitis spezialisiert ist. Impfungen, so auch Impfungen gegen Hepatitis B, sind in Russland kostenlos (EUAA 9.2022).

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HIV, Aids

HIV/Aids bleibt eine der häufigsten Infektionskrankheiten in Russland (AA 28.9.2022). Nach Angaben des Föderalen Amts für Staatliche Statistik waren im Jahr 2021 in der Russischen Föderation 851.754 HIV-Patienten registriert (Rosstat 2022). Die Zahl der HIV-Infizierten steigt (Wedomosti 5.4.2023). Es existiert eine staatliche Strategie zur Bekämpfung der HIV-Verbreitung für den Zeitraum bis 2030 (Regierung 21.12.2020).

In St. Petersburg befindet sich die öffentliche Botkin-Klinik für Infektionskrankheiten (EUAA 9.2022; vgl. SIK o.D.), welche HIV-Patienten medizinisch betreut. Gemäß gesetzlichen Vorgaben muss jedes Subjekt der Russischen Föderation über mindestens ein HIV-Zentrum zur Behandlung von HIV-Patienten verfügen. Das führende nationale Behandlungszentrum ist das Aids-Zentrum in St. Petersburg. Die Behandlung von HIV-Patienten ist kostenlos. Der Zugang zu antiretroviralen Medikamenten gestaltet sich für HIV-Patienten in Russland schwierig. Aufgrund des mit der Erkrankung HIV/Aids verbundenen Stigmas ist der Zugang zu medizinischer Versorgung für die betroffenen Patienten im Allgemeinen schwierig (EUAA 9.2022).

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Nierenerkrankungen (Dialyse usw.)

In Moskau gibt es die öffentliche städtische Klinik № 52, welche sich der Behandlung von Nierenerkrankungen sowie der Betreuung von Patienten nach Nierentransplantationen widmet (EUAA 9.2022; vgl. SK52 o.D.). Die öffentliche Moskauer Botkin-Klinik (EUAA 9.2022; vgl. SBK o.D.) führt Nierentransplantationen durch. Vor allem in ländlichen und abgelegenen Gebieten herrscht ein Mangel an Dialyse-Zentren. Die Qualität der Dialyse-Behandlungen variiert in den verschiedenen Behandlungszentren beträchtlich. Nierentransplantationen werden durch ein Organspenderegister unterstützt. Es fehlt an finanziellen Ressourcen und qualifiziertem medizinischen Personal. Der Zugang zu Nierenfachärzten gestaltet sich für Patienten in ländlichen, entlegenen und dünn besiedelten Regionen schwierig (EUAA 9.2022).

Die medizinische Versorgung von Personen mit Nierenerkrankungen ist im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung kostenlos. Für manche Behandlungen sind Zuzahlungen üblich. Medikamente zur Behandlung von Nierenerkrankungen sind in ganz Russland theoretisch verfügbar, jedoch ist in der Praxis der Zugang zu diesen Medikamenten in größeren Städten besser (EUAA 9.2022).

Quellen: […]

Tuberkulose

Tuberkulose ist im öffentlichen wissenschaftlichen Tuberkulose-Forschungsinstitut in Moskau behandelbar (ISOS 19.6.2020; vgl. SWTF o.D.). In der Stadt Toljatti in der Region Samara gibt es das öffentliche Sanatorium Lesnoe, welches auf Tuberkulose spezialisiert ist. Das Sanatorium nimmt Patienten aus allen Regionen auf (EUAA 9.2022; vgl. SSL o.D.). In Archangelsk befindet sich eine öffentliche Anti-Tuberkulose-Klinik (EUAA 9.2022; vgl. SATK o.D.). Diese bietet ambulante und stationäre Betreuung von Tuberkulose-Patienten an und verfügt über Behandlungsmöglichkeiten für alle Tuberkulose-Fälle. Der Zugang zu Lungenspezialisten, Chirurgen und Behandlungszentren kann in ländlichen und spärlich besiedelten Gegenden beschränkt sein. Die Behandlung von Patienten mit Lungenerkrankungen erfolgt im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung kostenlos. Medikamente zur Behandlung von Lungenerkrankungen sind in ganz Russland theoretisch verfügbar, jedoch ist der Zugang zu diesen Medikamenten in größeren Städten viel besser. Mehrere russische NGOs bieten Unterstützung für Patienten mit Lungenerkrankungen an, hauptsächlich Kinder und Personen mit Behinderungen (EUAA 9.2022).

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Rückkehr

Gemäß Art. 27 der Verfassung und im Einklang mit gesetzlichen Vorgaben haben russische Staatsbürger das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren (Duma 6.10.2022; vgl. RF 14.4.2023). Jedoch kommt es de facto beispielsweise im Zuge von Grenzkontrollen zu Befragungen Einreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen. Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments nach Russland einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen beim Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 28.9.2022). Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme (ÖB 30.6.2022; vgl. EUR-Lex 17.5.2007). Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach welchem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, kann diese Person in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB 30.6.2022).

Rückkehrende haben - wie alle anderen russischen Staatsbürger - Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen (IOM 7.2022). Sozialleistungen hängen vom spezifischen Fall des Rückkehrers ab. Zurückkehrende Staatsbürger haben ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann dementsprechend gegen Vorlage eines gültigen russischen Reisepasses oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren) eine Krankenversicherungskarte erhalten. Diese wird von der nächstgelegenen Krankenversicherungszweigstelle am Wohnsitzort ausgestellt (IOM 12.2022). Von Rückkehrern aus Europa wird manchmal die Zahlung von Bestechungsgeldern für grundsätzlich kostenlose Dienstleistungen (medizinische Untersuchungen, Schulanmeldungen) erwartet. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können nicht als spezifische Probleme von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB 30.6.2022).

Es sind keine Fälle bekannt, in welchen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten (AA 28.9.2022). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien für diejenigen Personen ergeben, welche bereits vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB 30.6.2022). Der Kontrolldruck der Sicherheitsbehörden gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. NGOs berichten von willkürlichem Vorgehen der Polizei bei Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen. Letztere finden vor allem in Tschetschenien auch ohne Durchsuchungsbefehle statt (AA 28.9.2022).

Sollte ein Einberufungsbefehl ergangen sein, ist diesem bei Rückkehr Folge zu leisten (ÖB 12.12.2022). Bei Vorliegen eines Einberufungsbefehls werden russische Staatsangehörige aus Tschetschenien - wie auch andere Bürger - nach Rückkehr in die Russische Föderation eingezogen und nach einer Ausbildung im Ukraine-Krieg eingesetzt (ÖB 25.1.2023). Differenziert wird hier zwischen Wehrdienstleistenden oder Reservisten bzw. zur Mobilisierung einberufenen Personen, denn Grundwehrdienstleistende dürfen nicht im Ukraine-Krieg eingesetzt werden (VB 26.4.2023).

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Dokumente

Die von den staatlichen Behörden ausgestellten Dokumente sind in der Regel echt und inhaltlich richtig. Dokumente russischer Staatsangehöriger aus den russischen Kaukasusrepubliken (insbesondere Reisedokumente) enthalten hingegen nicht selten unrichtige Angaben. Gründe hierfür liegen häufig in mittelbarer Falschbeurkundung und unterschiedlichen Schreibweisen von beispielsweise Namen oder Orten. In Russland ist es möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie beispielsweise Staatsangehörigkeitsausweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehle und Gerichtsurteile. Es gibt Fälschungen, die auf Originalvordrucken professionell hergestellt werden und nur mit speziellen Untersuchungen erkennbar sind. Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amts hat die Anzahl der im Asylverfahren vorgelegten Vorladungen, Urteile und Beschlüsse, die sich als Fälschungen herausgestellt haben, in der letzten Zeit erheblich zugenommen (AA 28.9.2022). Das niederländische Außenministerium berichtet über manche gefälschte europäische Visa in echten russischen Reisepässen. In der Vergangenheit traten einerseits Fälle gefälschter Einreisestempel in echten russischen Reisepässen auf und andererseits echte russische Reisepässe, welche im Besitz anderer Personen waren (NL-MFA 4.2021).

Weder die Staatendokumentation, noch der Verbindungsbeamte oder die Österreichische Botschaft können die Bedeutung von Reisepassnummern, welche sich auf die ausstellenden Behörden beziehen, nachvollziehen (VB 4.3.2021).

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2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt der belangten Behörde, durch Einvernahme der BF im Rahmen einer öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie durch Sichtung der im Laufe des Verfahrens in Vorlage gebrachten bzw. vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Beweismittel.

Hinweis: die Aktenseiten (AS) sowie Ordnungszahlen (OZ) beziehen sich allgemein auf den Akt des BF1, außer es wird Gegenteiliges angeführt.

2.1. Zu den Feststellungen zur Person der BF:

2.1.1. Die Identität der BF steht auf Grund der Vorlage von Personaldokumente (russische Inlandsreisepass von BF1 sowie russische Auslandsreisepässe von BF2, ausgestellt am XXXX , gültig bis XXXX , Nr. XXXX und BF3, ausgestellt am XXXX , gültig bis XXXX , Nr. XXXX ; AS 487-501; AS 137-145 der BF2; AS 101-109 der BF3) und den gleichbleibenden Angaben der BF im gesamten Verfahren fest. Dass die BF russische Staatsangehörige sind, der awarischen bzw. die Minderjährigen mütterlicherseits der tschetschenischen Volksgruppe angehören und sich zum muslimischen Glauben bekennen, steht ebenso aufgrund ihren diesbezüglich schlüssigen und nachvollziehbaren Angaben in der mündlichen Verhandlung fest, welche mit den Angaben im behördlichen Verfahren und zu ihren Sprachekenntnissen in Einklang stehen (Seite 1-2 des Erstbefragungsprotokolls des BF1 und der BF2; Seite 2-3 des Einvernahmeprotokolls des BF1; Seite 6, 13, 17 des Verhandlungsprotokolls). So ergeht auch aus dem rechtskräftigen Erkenntnis betreffend die Mutter der minderjährigen BF und Ehefrau des BF1 vom 14.04.2020 zweifelsfrei fest, dass die Mutter der BF2 und BF3 der tschetschenischen Volksgruppe angehörig ist. Die Feststellungen zu den Sprachkenntnissen der BF basieren ebenfalls auf ihren gleichbleibenden und vor dem Hintergrund ihrer Herkunft plausiblen Angaben im gesamten Verfahren sowie dem Umstand fest, dass die BF bis zu ihrer Ausreise in der Russischen Föderation aufwuchsen, lebten und dort die Grundschule für neun bzw. vier Jahre besuchten. Dass die die BF neben Russisch und Awarisch auch Tschetschenisch sprechen, gab der BF1 so vor dem Bundesamt (Seite 2 des Einvernahmeprotokolls des BF1) und die BF2 und BF3 auch in der mündlichen Verhandlung an und ist vor dem Hintergrund, dass ihre Mutter auch Tschetschenisch spricht nachvollziehbar und glaubhaft (vgl. Erkenntnis vom 14.04.2020, XXXX ; Seite 2 des Einvernahmeprotokolls der BF2; Seite 13 und 18 des Verhandlungsprotokolls:

„RI: Welche Sprachen spricht man in der Schule?

BF2: Russisch.

RI: Sprechen Sie nur Russisch?

BF2: Tschetschenisch, Awarisch und Russisch.

RI: Warum sprechen Sie Tschetschenisch?

BF2: Weil meine Mutter Tschetschenin ist.“).

Dass der BF1 verheiratet ist und drei Töchter hat gaben die BF übereinstimmen im gesamten Verfahren sowie auch die Ehefrau als Zeugin in der mündlichen Verhandlung damit in Einklang stehend, an (Seite 3 des Erstbefragungsprotokolls; AS 143-147: alleinige Obsorge der BF2 und BF3 auf BF1 von Mutter übertragen; Seite 6,7, 24 des Verhandlungsprotokolls). Die zweite Beziehung und traditionelle Heirat des BF1, gab dieser ebenfalls gleichbleibend im gesamten Verfahren an und dürfte auch der Grund für die Ausreise seiner Frau und Eheprobleme im Jahr 2016 gewesen sein, wie seine Ehefrau als Zeugin in der mündlichen Verhandlung auch übereinstimmend angab (Seite 6, 26 des Verhandlungsprotokolls).

Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass die Mutter der mj. BF und Ehefrau des BF1 in ihrem Verfahren komplett andere Angaben zum Familienleben in der Russischen Föderation machte, die auch im Widerspruch zu ihren aktuellen Angaben als Zeugin in der mündlichen Verhandlung und den Angaben ihrer Töchter stehen. So gab die Ehefrau und Kindsmutter an, dass sie mit dem BF1 zwangsverheiratet wurde und man ihr nach der Trennung von ihrem Mann 2015 die Kinder nicht gegeben hat sowie dass ihr Mann mit ihren anderen zwei Töchtern und einer neuen Frau nach Sibirien ausgereist ist. Ebenso beschrieb sie im Beschwerdeverfahren und in der mündlichen Verhandlung, dass sie nicht wusste wo ihre Töchter sind und nunmehr nur Kontakt zur zweiten Tochter, maximal 4 Mal hatte. Im Unterschied hierzu wurde weder vom BF1 noch von der Ehefrau als Zeugin von einer Zwangsheirat gesprochen und sowohl von ihnen als auch von den mj. BF in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend angegeben, dass sie durchgängig telefonischen Kontakt zu ihrer Mutter von Russland aus hatten, und dies auch vom BF1 zu keinem Zeitpunkt vereitelt worden ist. Dass der Kindsmutter die Kinder entzogen wurden, wie sie es in ihrem Beschwerdeverfahren noch angab, wurden gegenständlich zu keinem Zeitpunkt angegeben (Verfahren XXXX ua, Seite 9-13 des Verhandlungsprotokolls vom 11.03.2020). Es zeigt sich hier deutlich, wie auch in ihrem Verfahren festgestellt, dass ihre Angabe nicht richtig waren und die Ehefrau des BF 1, Fluchtgeschichten konstruierte, um so die Möglichkeit des Aufenthaltes in Österreich bzw. die Erlangung eines internationalen Schutzes zu erhalten. Es zeigt sich, dass der Zweck lediglich war, die Einreisebestimmungen und das ordnungsgemäße Fremdenwesen zu konterkarieren. So reiste sie auch damals illegal ein und verhinderte ein ordnungsgemäßes Verfahren in Polen, indem sie sich zuerst einem weiteren Verfahren entzog und danach wiederum einreiste. Auch im gegenständlichen Verfahren zeigt sich, dass die Ehefrau des BF 1 und Mutter der BF 2 und 3, ein ordnungsgemäßes Fremdenwesen und in diesem Fall Familiennachzug nach Österreich dahingehend konterkariert, dass sie, obwohl ein etwaiges Verfahren in der Russischen Föderation vor der österreichischen Botschaft abgelehnt wurde, die Beschwerdeführer bei der Einreise und Aufenthalt unterstützt und nicht darauf drängt ein etwaiges neues Verfahren in der Russischen Föderation abzuwarten.

2.1.2. Die Feststellungen zum Lebenslauf der BF (Geburt, ihr Aufwachsen in Dagestan, ihre Schulbildung sowie die Bestreitung ihres Lebensunterhalts) gründen auf den diesbezüglich schlüssigen sowie gleichbleibenden Angaben im Verwaltungsverfahren und in der hg. mündlichen Verhandlung, die auch mit den vorgelegten Personendokumenten in Einklang stehen (vgl. Seite 1-2 der Erstbefragungsprotokolle des BF1 und der BF2; Seite 4 des Einvernahmeprotokolls des BF1 und der BF2; Seite 5,7-8, 13-14 und des Verhandlungsprotokolls).

Dass die Mutter der mj. BF und Ehefrau des BF mehrmals während die BF noch in Russland aufhältig waren nach Russland bzw. Dagestan auf Besuch zurückkehrte, steht aufgrund der übereinstimmenden Angaben in der mündlichen Verhandlung fest. So gab der BF1 als auch die BF2 und BF3 an, dass sie den Kontakt mit ihrer Mutter über Telefonate aufrecht hielten oder ihre Mutter mehr als einmal auch auf Besuch nach Dagestan kam. Auch die Ehefrau und Mutter der BF bestätigte als Zeugin in der mündlichen Verhandlung die Angaben der BF. Im Unterschied hierzu machte die Kindsmutter in ihrem Asylverfahren insbesondere in der Beschwerdeverhandlung im Vergleich hierzu komplett widersprüchliche Angaben, dass ihr ihre jüngeren zwei Töchter entzogen wurde, sie ihren Aufenthalt nicht kannte und seit kurzem nur mit einer Tochter maximal 4 Mal telefonisch in Kontakt stand. Im gegenständlichen Verfahren gab die Mutter selbst als Zeugin – über Wahrheitspflicht belehrt – an, dass sie bis zu täglich Kontakt zu ihren zwei anderen Kindern hatte, sie ihrem Mann auch sehr dankbar ist und der Kontakt zu den Kindern von ihm nie unterbrochen wurde (vgl. Verfahren XXXX ua, Seite 9-13 des Verhandlungsprotokolls vom 11.03.2020; Seite 9, 10-12, 15, 17, 25-26 des Verhandlungsprotokolls:

„RI: Wann sind Sie in Österreich eingereist das letzte Mal?

Z: Ich glaube im Jahr 2016.

RI: Sie sind ja danach auch in Russland gewesen.

Z: Als meine Eltern gestorben sind.

RI: Also wann sind Sie das letzte Mal eingereist in Österreich?

Z: Vorheriges Jahr im Urlaub, im Sommer.

RI: Wo waren Sie im Urlaub?

Z: Ich war in Russland bei meinem Mann und zu meinem Elternhaus.

RI: Wie lange waren Sie in Russland?

Z: 2 Wochen.

[…]

RI: Als Sie in Österreich waren, hatten Sie Kontakt mit den 2 anderen Kindern?

Z: Ja, wir haben per Telefon gesprochen, jeden Tag oder jeden 2. Tag. Während sie zu Hause waren und ich von der Arbeit zurückkam. Ich bin meinem Mann auch sehr dankbar. Manchmal hat er den Kontakt mit mir unterbrochen, aber die Kinder durften von ihm aus immer Kontakt mit mir haben.

[…]

RI: Wie oft waren Sie seit 2020 wieder in Russland bzw. Dagestan?

Z: Ende 2020 war ich das 1. Mal in Dagestan. 3 Mal war ich sicher dort.

RI: Waren Sie auch in Moskau mit Ihrem Mann?

Z: Wir waren in Rostow und in Moskau.“).

 

Da der Ehefrau des BF 1 und Mutter der BF 2 und 3 möglich war in die Russische Föderation mehrmals einzureisen und sie keine Probleme hatte, zeigt, dass es ihr möglich ist mit der Familie der Beschwerdeführer wieder in die Russische Föderation einzureisen und dort ein Leben ohne Gefahren zu führen. Es wird ihr auch möglich sein, dort eine Arbeit zu finden und gemeinsam im Familienverband zu leben. Sowohl in ihrem Verfahren auch im gegenständlichen Verfahren kann nicht erkannt werden, dass etwaige Probleme auftreten, zumal auch die familiären Probleme gelöst sind. Die Ehefrau ist auch nie gegen das derzeitige Regime in der Russischen Föderation aufgetreten und ist auch dahingehend keiner Verfolgung oder Gefahr ausgesetzt, auch hätte sie ansonsten nicht ohne Probleme einreisen und ausreisen können. Es ist ihre daher weiterhin möglich und auch zumutbar mit der Familie zurückzukehren. Die in Österreich aufhältige Tochter ist selbst erwerbstätig und kann daher für sich selbst sorgen und Bedarf den Schutz der Mutter nicht mehr, sowie es in ihrem Verfahren und der Zuerkennung des Aufenthaltstitels „Aufenthaltsberechtigung plus“ festgestellt wurde. Es ist der Tochter möglich auch in die Russische Föderation zu reisen, ihre Familie zu besuchen oder über soziale Medien Kontakt zu halten. Der Mutter ist es daher auch zumutbar, wieder in die Russische Föderation einzureisen. Es wird nicht übersehen, dass sie bereits einen Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich aufgebaut hat und einer Arbeit nachgeht, gut integriert ist und ihr leben seit nunmehr 7 Jahren in Österreich führt. Aber sie könnte gemeinsam mit ihrem guten Ehemann und ihren minderjährigen Kindern zurückkehren, einer Arbeit nachgehen und auch von der Russischen Föderation aus den Kontakt mit der volljährigen Tochter führen, es Bedarf nicht mehr des Schutzes, wie in ihrem Verfahren zur Rückkehrentscheidung und Zuerkennung des Aufenthaltstitels festgestellt wurde.

2.1.3. Die Feststellungen zu den Familienmitgliedern der BF und ihren aktuellen Aufenthaltsorten ergeben sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben der BF im Verwaltungsverfahren und in der mündlichen Verhandlung (vgl. auch sehr ausführlich Seite 5 des Einvernahmeprotokolls des BF1; Seite 8, 10 und 14 des Verhandlungsprotokolls). Die Angaben der BF stehen auch mit den Aussagen der Ehefrau des BF1 und Kindsmutter in der mündlichen Verhandlung in Einklang (Seite 25 des Verhandlungsprotokolls). Außerdem gaben sie übereinstimmend in der mündlichen Verhandlung an, den Kontakt zu ihren (Groß-)Eltern, weiteren Verwandten und auch Freunden so auch die minderjährigen BF telefonisch per WhatsApp auch von Österreich aus aufrecht zu halten (Seiten 19 und 20 des Verhandlungsprotokolls).

2.1.4. Die Feststellungen zum aktuellen Gesundheitszustand der BF gründen auf den Angaben der BF in der mündlichen Verhandlung und vor dem Bundesamt, wo sie übereinstimmend angaben gesund zu sein und Vorerkrankungen oder medizinische Behandlungen oder Medikamenteneinnahme verneinten (Seite 2 des Einvernahmeprotokolls des BF1 und der BF2; Seite 4, 21 des Verhandlungsprotokolls. Auch wurden keine medizinischen Unterlagen vorgelegt. Die BF leiden somit an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen. Hinzu kommt, dass den Länderberichten zur medizinische Versorgung in der Russischen Föderation zu Folge, die medizinische Versorgung in der Russischen Föderation, auch in der Teilrepublik Dagestan gewährleistet ist.

2.1.5. Die Arbeitsfähigkeit des volljährigen BF1 ergibt sich einerseits aus seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung, wonach er über Arbeitserfahrung in der Russischen Föderation berichtet sowie den Besuch eines Technikums und andererseits aufgrund seines Alters mit 44 Jahren und seinem Gesundheitszustand.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des BF1 und der BF2 gründen auf den eingeholten Strafregisterauszügen. Die BF3 ist mit 11 Jahren noch strafunmündig.

2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen der BF:

2.2.1. Die BF brachten im Wesentlichen im gesamten Verfahren vor, dass sie nach Österreich reisten, weil hier die Ehefrau des BF1 und Mutter der BF2 und BF3 sowie eine weitere volljährige Tochter des BF1 aufhältig sind. Grund für die Ausreise sei die Familienzusammenführung gewesen. Nunmehr trete seit dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine hinzu, dass dem BF1 ein zwangsweiser Einzug zum Militär und Einsatz im Ukrainekrieg droht. Sie brachten darüber hinaus keine weiteren Fluchtgründe vor und machten sie insgesamt mir ihrem vagen sowie auf Spekulationen gestützten sowie nicht asylrelevanten Vorbringen keine Verfolgung glaubhaft:

So brachte der BF1 lediglich durchgängig von Beginn an bereits bei der Erstbefragung als Fluchtgrund vor, dass er mit seinen Kindern zu seiner in Österreich lebenden Frau und Tochter wollte. Dies steht auch mit den Angaben seiner Tochter BF2, welche ebenso angab mit ihrer Mutter und Schwester in Österreich zusammenleben zu wollen, überein (Seite 7 des Erstbefragungsprotokolls der BF2; Seite 6 des Erstbefragungsprotokolls des BF1). Dies brachten beide auch im Wesentlichen vor dem Bundesamt ebenso vor, dass die in Österreich aufhältige Frau des BF1 und Mutter der BF2 und BF3 der Grund für ihre Ausreise war (Seite 7 des Einvernahmeprotokolls des BF1: „A: Ich kam deswegen, weil ich mit meiner Familie, das heißt mit meiner Frau und meiner älteren Tochter wieder zusammenleben möchte. Das ist der einzige Grund, warum ich kam.“; Seite 6 des Einvernahmeprotokolls der BF2: „A: Ich kam deswegen, weil meine Eltern das so wollten. Ich habe im Sommer 2022 die Schule abgeschlossen und studiere derzeit in der Russischen Föderation, absolviere dort ein Fernstudium.“). Andere Fluchtgründe wurden vom BF1 oder von der BF2 auch auf Nachfragen vor dem Bundesamt nicht geschildert. Gleichzeitig verneinte der BF1 auch konkret eine politische Tätigkeit, jemals inhaftiert oder vorbestraft gewesen zu sein oder Probleme in seinem Herkunftsstaat mit den russischen Behörden aufgrund seines Religionsbekenntnisses, Volksgruppenzugehörigkeit oder mit Privatperson gehabt zu haben (Seite 6 des Einvernahmeprotokolls des BF1). Der BF1 vertritt die minderjährige BF2 und BF3 als gesetzlicher Vertreter im Verfahren und brachte für diese keine eigenen, spezifischen Fluchtgründe vor. Dass die BF unrechtmäßig nach Österreich einreisten, weil hier auf Dauer Familienangehörige aufhältig sind, ist vor dem Hintergrund, dass der BF1 wiederholend anführte, eine legale Einreise ist aufgrund abgelehnter Visaanträge nicht möglich gewesen, glaubhaft, dennoch liegt dem Ausreisegrund keine konkrete Verfolgung oder Bedrohung oder Gefährdung von Leib und Leben der BF zugrunde. Vielmehr stellten die BF einen Antrag auf internationalen Schutz um die Regelungen des Familiennachzuges zu umgehen. Der BF 1 und die Ehefrau schildern auch, dass sie zwar in der Russischen Föderation versuchten den Familiennachzug zu erhalten, einen negativen Bescheid erhielten. Dass sie nunmehr erneut darum ansuchten oder den Bescheid mit einem Rechtsmittel bekämpften, brachten sie nicht vor, sondern versuchten 2016 schon aber auch danach über andere Staaten ein Visum zu bekommen (Seite 9 und 10 des Verhandlungsprotokolls) oder wie nun durchgeführt illegal einzureisen, im Wissen, dass dies gegen die österreichische Rechtsordnung und den Einreise- bzw. Zuzugsbestimmungen und damit dem geordneten Asyl- und Fremdenwesen verstößt.

Auch in der mündlichen Verhandlung gab der BF1 befragt warum er geflüchtet ist, das Zusammenleben mit der Ehefrau und Mutter der BF2 und BF3 sowie wirtschaftliche Gründe an. Hinweise für eine Bedrohung, Verfolgung oder Gefährdung im Herkunftsstaat der BF ergeben sich aus diesem Vorbringen ebenso nicht (Seite 22 des Verhandlungsprotokolls:

„RI: Sagen Sie mir noch einmal, warum sind Sie geflüchtet?

BF1: Ich wollte, dass die Kinder mit der Mutter zusammen sind. Das war nicht nur ein Jahr, dass ich nach Österreich kommen wollte. Meine Anträge wurden immer wieder abgelehnt. Ich hatte keine andere Möglichkeit nach Österreich zu kommen. Das Leben und Arbeiten ist viel besser in Österreich und die Kinder haben ein ruhigeres Leben in Österreich.“).

Der BF1 gibt auch wiederholend an, dass er mehrmals versucht habe legal nach Österreich im Rahmen einer Familienzusammenführung einzureisen, aber seine Anträge immer wieder abgelehnt worden seien. Dies bestätigt grundsätzlich auch die Ehefrau des BF1 und Kindsmutter, aber legten sie in diesem Zusammenhang keine Anträge oder Ablehnungsschreiben oder sonstige schriftliche Unterlagen vor, weshalb die genauen Gründe der Ablehnung oder die Anzahl und näheren Umstände der Anträge und Ersuchen des BF1 und seiner Frau nicht näher nachvollzogen werden konnten (Seite 26 des Verhandlungsprotokolls). Wobei glaubhaft ist, dass der BF1 und seine Ehefrau zumindest einmal einen Antrag auf ein Visum für Österreich zum Zweck des Familiennachzuges gestellt haben, aber dieser nach den schlüssigen Ausführungen der Ehefrau und Kindsmutter in der mündlichen Verhandlung als Zeugin, womöglich aufgrund eines zu geringen Einkommens abgelehnt wurde (Seite 27-28 des Verhandlungsprotokolls).

2.2.2. Lediglich äußerst vage, spekulativ und nur sehr oberflächlich brachte der BF1 bei der Erstbefragung und in der mündlichen Verhandlung eine drohende Einberufung zum Wehrdienst und Einsatz im Ukrainekrieg vor. So gab der BF bei der Erstbefragung an, dass er nicht zum Militär eingezogen werden möchte und bei der näheren Befragung zu seinen Fluchtgründen bei der Einvernahme vor dem Bundesamt, erstatte er auch auf mehrmalige Nachfrage sämtliche Gründe, warum er seinen Herkunftsstaat verlassen habe, bis auf das gewünschte Zusammenleben mit seiner Frau und Kinder in Österreich, keine Befürchtung vor einer Einberufung zum Wehrdienst an. Er verneinte auch eine staatliche Fahndungsmaßnahme wie Aufenthaltsermittlung, Haftbefehl, Strafanzeige, etc. in der Russischen Föderation (Seite 6-7 des Einvernahmeprotokolls des BF1). Nunmehr brachte der BF1 steigernd erstmals in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung vor, dass Polizisten wegen einer Mobilisierung zu ihm nach Hause gekommen seien. Der BF1 konnte weder nachvollziehbar erklären, weshalb er dies erstmalig vorbrachte und auch nicht näher mit Zeitangaben oder Details konkretisieren und habe er dies auch nur durch Dritte (hören und sagen, von Nachbarn) erfahren, die er auch nicht beim Namen nannte und durchwegs nur grobe sowie spekulative Angaben hierzu machte. Wann dies geschehen sein soll, konnte der BF auch nicht angeben, obwohl es sich vor dem Hintergrund eines offenen Asylverfahrens nach Ansicht des Gerichts um ein wichtiges Ereignis handelt, auch, nachdem der BF1 wiederholt angab noch nie zuvor Probleme mit Behörden oder dem Gericht gehabt zu haben. Widersprüchlich ist auch, dass der BF1 zum einen im Beschwerdeschriftsatz ausführte, dass bereits vor seiner Ausreise, wie auch nach der Ausreise mehrmals Kontaktaufnahmen durch die dagestanische Polizei erfolgt sei und er im Falle der Rückkehr eine Rekrutierung zum Wehrdienst und einen Kriegseinsatz in die Ukraine fürchte (Seite 3 des Beschwerdeschriftsatzes). Zum anderen gab der BF1 in der mündlichen Verhandlung widersprüchlich an, dass Polizisten zweimal nach der Ausreise sowie nach seiner Einvernahme bei ihm zu Hause gewesen seien (Seite 23 des Verhandlungsprotokolls). Dieses steigernde und rein vage sowie spekulative Vorbringen, dass die Polizei bereits nach ihm suchte ist für das erkennende Gericht nicht glaubhaft und ist auch keinesfalls nachvollziehbar, dass der BF1 wie er in der Beschwerde vorbringt – „nicht in der Lage war sein Vorbringen früher zu erstatten, weil er bei der Einvernahme nicht entsprechend befragt wurde. Er dachte lediglich auf gezielte Fragen antworten zu müssen und wollte das Verfahren nicht unnötig in die Länge ziehen“ – weil er laut Einvernahmeprotokoll insgesamt viermal gefragt wurde, seine Gründe, warum er das Heimatland verlassen hat und eine Asylantrag gestellt hat zu schildern oder ob er sämtliche Gründe, die ihn veranlasst haben, sein Herkunftsland zu verlassen vollständig geschildert hat sowie auch was er konkret erwarten würde, wenn er in die Russische Föderation zurückkehren müsste und er zu keinem Zeitpunkt erwähnte, eine Einberufung zum Wehrdienst zu befürchten oder dass die Polizei im Rahmen von Mobilisierungsmaßnahmen bereits bei ihm Zuhause gewesen sein soll (Seite 7 des Einvernahmeprotokolls des BF1). Hinzu kommt, dass er auch nach eigenen Angaben keinen Einberufungsbefehl erhalten hat und auch seine Familie sowie auch ein jüngerer Bruder (geboren 1986) weiterhin in Dagestan leben, ohne dass der BF jemals im Verfahren von Problemen mit den Behörden oder einer drohenden Einberufung des Bruders oder Streichung von Sozialleistungen wegen Wehrdienstentzug des BF1 oder Wehrdienstverweigerung berichtete.

Dass dem BF1 keine Zwangsrekrutierung und der Einsatz im Angriffskrieg mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht, steht zudem aufgrund der aktuellen Länderinformationen, wonach die Teilmobilisierung abgeschlossen wurde und es bis dato zu keiner Generalmobilisierung kam sowie zu den Feststellungen zur Person des BF sowie den nicht glaubhaften Angaben hinsichtlich des Aufsuchens des BF1 durch die Polizei, fest. Aus den Länderinformationen ergeht, dass Präsident Wladimir Putin mit 21.9.2022 eine Teilmobilmachung verkündete. Am 28.10.2022 vermeldete der Verteidigungsminister an Putin den Abschluss der Teilmobilmachung, in deren Rahmen 300.000 Reservisten einberufen wurden. Zwar wurde das Dekret des russischen Präsidenten zur Teilmobilisierung vom 21.09.2022 bislang nicht abgeschlossen (wie es juristisch zur Beendigung einer Mobilisierungskampagne vorgesehen wäre), es finden aber de facto derzeit keine Einberufungen von Wehrpflichtigen statt. Es wurden zu keiner Zeit Personen "zwangsweise" einberufen, sondern stets aufgrund der bestehenden gesetzlicher Grundlagen. Aufgrund dieser Grundlagen können jederzeit auch Einzelpersonen zum Wehrdienst oder Reservedienst einberufen werden. Die Militärkommandos setzen hier aber derzeit keine Aktivitäten und somit ist die Wahrscheinlichkeit einer Einberufung für sämtliche Personengruppen sehr gering bzw. auch nicht für bestimmte Personengruppen höher, als für andere. Als Reservist gilt jeder, der ein Militärbuch besitzt (auch Frauen) (vgl. Pkt. 1.4.). Der BF leistete gemäß seinen Angaben im Verfahren bereits vor über zwanzig Jahren von 1997 bis 1999 den Militärdienst in der Russischen Föderation, als einfacher Soldat und hat auch keine militärische Ausbildung (vgl. Seite 7 des Verhandlungsprotokolls). Hinzu kommt, dass der BF aufgrund seines fortgeschrittenen Alters mit 44 Jahren nicht mehr in die allgemeine Wehrpflicht aller männlichen russischen Staatsangehörigen im Alter zwischen 18 und 27 Jahren fällt und erscheint eine Einberufung für den Reservedienst in der russischen Armee sohin für das erkennende Gericht nicht wahrscheinlich und wurden diesbezügliche Befürchtungen auch vom BF nur sehr allgemein, ohne nähere Angaben in der Beschwerde sowie in der mündlichen Verhandlung und auch bereits bei der Erstbefragung vorgebracht, aber wiederrum bei der ausführlichen Einvernahme vor dem Bundesamt mit keinem Wort erwähnt. Auch wenn Medienberichten davon schreiben, dass der Kreml seine Bemühungen fortsetzt, mehr Männer zum Dienst zu bewegen, indem er unhaltbare finanzielle Anreize verspricht, die sich langfristig auf die russische Wirtschaft auswirken werden, hat der BF bis dato keinen Einberufungsbefehl erhalten und gibt selbst an nicht zum Militär zu gehen. Selbst wenn nach einzelnen Berichten die russischen Behörden weiterhin eine verdeckte Mobilisierung in ganz Russland durchführen und weiterhin Mobilisierungsaufforderungen an Männer im wehrfähigen Alter verschicken sollen, hat der BF mit über 44 Jahren das wehrfähigen Alter deutlich überschritten. Der BF1 stammt auch nicht aus Tschetschenien, sondern aus Dagestan, wonach die Menschenrechtslage in Vergleich zu Tschetschenien besser ist und wäre auch nicht vom „freiwilligen“ Militäreinsatz durch Kadirow betroffen. Inwieweit bei diesen Rekrutierungen stets Freiwilligkeit im Spiel ist, sei sohin auch dahingestellt: Es liegen Berichte vor, wonach die tschetschenische Militärkommandantur es insbesondere Beschäftigungslosen nahelegte, in den Wehrdienst einzutreten. Sollten diese dem Aufruf nicht folgen, so drohen drakonische Kürzungen für Sozialleistungen für die gesamte Familie. Dem ist zu entgegnen, dass der BF selbst nicht angibt, dass seine Eltern, die eine Pension erhalten, die Sozialleistungen gekürzt wurden oder auch sein jüngerer Bruder von einer Zwangsrekrutierung betroffen ist. Dieser ist vielmehr auch in Dagestan aufhältig und erwerbstätig. Auch wenn weitere Berichte wie von EUAA oder IWF davon sprechen, dass es bei der Einberufung von Personen zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist, so kann auch daraus nicht geschlossen werden, dass der BF mit seinem Profil als 44-jähriger Mann mit militärischer Grundausbildung vor über 20 Jahren beim Grundwehrdienst, nunmehr zum Reservedienst mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einberufen wird.

Insgesamt ist sohin festzustellen, dass der BF im Falle einer Rückkehr nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer Einberufung unter der Teilmobilmachung, die bereits laut Länderinformationen auch abgeschlossen ist, betroffen ist, weil er hat seinen Militärdienst bereits vor über 20 Jahren geleistet, keine spezielle militärische Ausbildung und ist mit 44 Jahren auch weit über dem wehrfähigen Alter. Der BF tritt in Österreich auch nicht öffentlich bzw. auffällig regimekritisch gegen Putin auf und war nie politisch oder journalistisch tätig.

2.2.3. Für die minderjährige BF2 und BF3 wurden vom BF1 keine eigenen Fluchtgründe und auch von der BF2 selbst wie bereits dargelegt nur vorgebracht, dass sie gemeinsam mit ihrem Vater und ihrer Schwester nach Österreich reiste, weil dort ihre Mutter und ältere Schwester leben und sie zusammenleben wollen (Seite 7 des Erstbefragungsprotokolls der BF2; Seite 6 des Einvernahmeprotokolls der BF2). Auch amtswegig ergaben sich auch vor dem Hintergrund der Länderinformationen und den Feststellungen zu den minderjährigen BF keine Anhaltspunkte für eine konkrete aktuelle Verfolgung oder Bedrohung der BF2 und BF3. So wuchsen die BF2 und BF3 im Familienverband auf, besuchten beide die Schule, die BF2 schloss die Grundschule auch 2022 ab und lebten zuletzt im gemeinsamen Haushalt mit ihrem Vater und in unmittelbarer Nähe der Großeltern und Tanten sowie Onkeln, die sich zum Teil auch um die Minderjährigen kümmerten. Dass die minderjährigen BF von häuslicher Gewalt betroffen waren oder sind, nachdem dies im Nordkaukasus laut Länderinformationen weit verbreitet ist, wurde zu keinem Zeitpunkt vorgebracht und ergaben sich hierfür auch keine Hinweise. Gemäß Berichten kommt es vor, dass Kinder (darunter Obdachlose) Opfer von Sexhandel in Russland und in anderen Ländern werden oder dass Kinder in staatlichen Waisenheimen von Menschenhändlern, Zwangsbettelei, Zwangskriminalität, Kinderpornografie, Sexhandel betroffen sind. Diese länder-und kinderspezifische Gefahren treffen auf die BF2 und BF3 nicht zu, die durchgehend im geschützten Familienverband aufwuchsen, zahlreiche Freunde haben und Schulbildung erhielten. Aber auch bestehen in der Heimatregion keine Gefahren durch die Kriegsführung der Russischen Föderation, zumal dort kein Kriegsgebiet besteht und daher keine etwaige Gefahren wie Bomben, Minen usw. gegeben sind. Zwar lebt die Mutter der BF2 und BF3 seit 2016 in Österreich, aber die mj. BF hatten durchgängig regelmäßigen, täglichen telefonischen Kontakt mit ihrer Mutter, dies wurde laut übereinstimmenden Aussagen der BF, auch von der Mutter selbst in der mündlichen Verhandlung (Seite 9, 14, 17 und 26 des Verhandlungsprotokolls) vom BF1 zu keinem Zeitpunkt untersagt und kam die Mutter auch auf Besuch nach Dagestan. Auch im Falle ihrer Rückreise können sie wieder im gemeinsamen Haushalt mit ihrem Vater aufwachsen, weiterhin ihre Freunde treffen und die Schule oder Universität besuchen. Ebenso ergeben sich auch im gesamten Verfahren keine Hinweise einer drohenden Zwangsverheiratung der BF2 oder BF3, wurde dies weder von der Kindsmutter im gegenständlichen Verfahren als Zeugin vorgebracht noch vom Vater diesbezügliche Andeutungen gemacht. Auch wurde von keiner geplanten Zwangsheirat in der Familie weder hinsichtlich der aktuell 20-jährigen Schwester der BF2 und BF3 oder von ihren Tanten berichtet. Auffallend ist in diesem Zusammenhand, dass im Unterschied hierzu, die Kindsmutter in ihrem Asylverfahren und in der Beschwerdeverhandlung noch vorbrachte, dass ihre damals noch mj. ältere Tochter, welche ebenfalls im Bundesgebiet aufhältig ist, zwangsverheiratet werden sollte. Dies aber nur äußerst widersprüchlich, unkonkret und spekulativ vorbrachte, sodass dies vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht als glaubhaft erachtet wurde (vgl. Verfahren XXXX ua, Seite 15-18 des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.04.2020). Eine drohende Zwangsehe der mj. BF wurde auch im gegenständlichen Verfahren weder von den BF, noch im Beschwerdeschriftsatz oder auch von der Ehefrau und Mutter als Zeugin in der mündlichen Verhandlung vorgebracht noch von der damals drohenden Zwangsheirat der älteren Tochter berichtet (Verfahren XXXX , Seite 16-17 des Verhandlungsprotokolls vom 11.03.2020).

Es zeigt sich, dass die BF 2 und 3 eine starke Verwurzelung in ihrem Herkunftsstaat haben, dort noch immer Freunde mit denen sie Kontakt haben und aufgrund des kurzen Aufenthaltes in Österreich, ca. 1 Jahr, die Verwurzelung im Herkunftsstaat viel höher ist als in Österreich und daher im Sinne des Kindeswohls, die Rückkehr in den Herkunftsstaat überwiegt, zumal sie mit dem Vater aber auch mit der Mutter zurückkehren können. Sprache, gesellschaftliches Leben, Ausbildung, Freundschaften, Verwandtschaft (Tante, welche fallweise auf die Kinder aufpasste, Großeltern) sind im Herkunftsstaat für die beiden Kinder näher und intensiver als in Österreich.

2.2.4. Eine aktuelle Verfolgung aus religiösen Gründen brachten die BF nicht vor. Sie sind Angehörige des Islams, der in der Russischen Föderation die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft ist. In der Russischen Föderation leben rund 20 Millionen Muslime. Eine aktuelle Verfolgung aus diesem Grund ist den Länderberichten mit Blick auf die BF nicht zu entnehmen.

Eine Verfolgung der BF aus ethnischen Gründen kann nicht erkannt werden, weil tschetschenische oder auch awarische Volksangehörige in der Russischen Föderation weit verbreitet und nicht grundsätzlicher Benachteiligung oder Übergriffen ausgesetzt sind. Eine solche brachten die BF ebenfalls nicht vor.

2.2.5. Dass die BF im Falle der Rückkehr wegen ihres Aufenthalts in Österreich oder der Antragstellung auf internationalen Schutz keiner Gefährdung ausgesetzt sind, ergibt sich ebenfalls aus den Länderberichten, denen zufolge Rückkehrer gewöhnlich mit keinerlei Diskriminierung seitens der Behörden konfrontiert sind.

Die BF reisten nach Österreich, um die fremdenrechtlichen Familiennachzugsregelungen zu umgehen und sich hier gemeinsam mit der hier auf Dauer aufenthaltsberechtigten Ehefrau/Mutter und Tochter/Schwester ein besseres Leben aufzubauen. Die BF waren und sind keiner konkreten und individuell gegen sie gerichteten Verfolgung oder Bedrohung in ihrem Herkunftsstaat ausgesetzt. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation droht den BF weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch russische Behörden oder durch andere Personen.

Den BF war bewusst, dass ihr Aufenthalt in Österreich unsicher ist, zumal ihnen bewusst war, dass sie illegal einreisten und ein Familiennachzug nicht gewährt worden war. Wenngleich die BF 3 erst 12 Jahre alt ist, so ist ihr sicherlich aufgrund der langen Trennung und der bis 2022 nicht erfolgten Zusammenkunft mit ihrer Mutter und der älteren Schwester, der Antragsstellung und des Verfahrens in Österreich bekannt, dass ihr Aufenthalt in einer unsicheren Lage ist.

2.3. Zu den Feststellungen zu einer möglichen Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat:

2.3.1. Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat ergeben sich aus den o.a. Länderberichten zur Russischen Föderation und aus den Feststellungen zu ihren persönlichen Umständen. Die Sicherheitslage in der Russischen Föderation ist insbesondere für gewöhnliche Bürger stabil.

2.3.2. Aufgrund der Länderfeststellungen zur Grundversorgung und der Feststellungen zur Person der BF steht fest, dass diese nicht Gefahr laufen, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft im Falle einer Rückkehr nicht befriedigen zu können. Der BF1 verfügt über eine schulische und berufliche Ausbildung (Grundschule und Technikum), welche er in seinem Herkunftsstaat abgeschlossen hat. Der BF1 verfügt auch über Arbeitserfahrung im Baubereich im Herkunftsstaat und sorgte auch vor seiner Ausreise für den Lebensunterhalt der minderjährigen BF. Der BF1 ist gesund und gibt es keinen Grund an der Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit des BF1 zu zweifeln. Es ist den BF daher auch möglich, sich an einem anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Dagestans wie zB St. Petersburg, Moskau oder auch in der Teilrepublik Kalmikiya, wo der BF1 geboren wurde, ein neues Leben aufzubauen und können sie unterstützend die verfügbaren Sozialleistungen, zB betreffend die Schaffung von Wohnraum oder der Arbeitslosenunterstützung, in Anspruch nehmen. Wobei der BF1 selbst angab in seinem Herkunftsort eine eigene Eigentumswohnung zu besitzen (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls) sowie dass unweit davon auch seine Eltern und weitere Geschwister leben, die ein Einkommen (Pension oder erwerbstätig) haben und es ihnen daher sicherlich möglich ist vorübergehend auch bei den Familienangehörigen Unterkunft zu beziehen oder finanzielle Unterstützung zu erhalten.

Aber auch kinderspezifische Gefahren für die BF2 oder BF3 sind in der Russischen Föderation nicht gegeben. Wenngleich die Russische Föderation im Krieg gegen die Ukraine befindet, sind keine Gefahren für die russischen Bürger oder Kinder in der Russischen Föderation gegeben. Die BF2 und BF3 reisen gemeinsam im Familienverbund mit ihrem Vater zurück, dem die alleinige Obsorge seiner Töchter von der Mutter bereits 2016 übertragen wurde und sind in der Obhut ihres Vaters, mit dem sie auch zuvor seit der Ausreise ihrer Mutter 2016, im gemeinsamen Haushalt lebten. Sie können in der Russischen Föderation die Schule besuchen, mit ihrem Vater eine Unterkunft beziehen oder wieder in der Eigentumswohnung des Vaters, wie auch vor der Ausreise wohnen und mit Unterstützung ihres Vaters oder auch ihrer Mutter von Österreich aus ihren Lebensunterhalt finanzieren. Weiters gibt es auch für Familien soziale Unterstützung, an welchen sie als russische Staatsbürger Anspruch haben. Die BF2 und BF3 können in weiterer Folge die Schulbildung oder ein Studium fortsetzten sowie später auch eine Berufsausbildung absolvieren bzw. einen Beruf ausüben. Die medizinische Versorgung ist in der Russischen Föderation gewährleistet und kostenlos. Auch für die BF2 und BF3 sind keine frauen- bzw. mädchenspezifische Gefahren gegeben. Sie kehren mit ihrem Vater zurück und leben bzw. wachsen weiterhin im geschützten Familienverband auf. Hinweise über eine drohende Zwangsheirat haben sich im gesamten Verfahren nicht ergeben und auch nicht eine drohende Gefahr von körperlicher Gewalt.

Dass die BF mit der Lebensart und Kultur Dagestan vertraut sind, steht auf Grund des persönlichen Eindrucks, den sie in der hg. mündlichen Verhandlung vermittelten, fest und mit den Feststellungen, dass sie ihr gesamtes Leben bis zur Ausreise im Jahr 2022 in Dagestan lebten, dort sozialisiert wurden und im Familienverband aufgewachsen sind, in Einklang. Die BF verfügen zudem über familiäre Anknüpfungspunkte ((Groß-)Eltern, Geschwister, Tanten, Onkel, Cousins etc.) in der Russischen Föderation sowie auch über zahlreiche Freunde, zu denen sie auch weiterhin Kontakt halten.

Dass die BF im Falle einer Rückkehr auch nicht in ihrem Recht auf Leben gefährdet sind oder gefährdet sind, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder zu einer Todesstrafe verurteilt zu werden, geht aus dem Länderinformationen zur Russischen Föderation hervor; dies wurde von den BF im Grunde auch gar nicht behauptet. Der BF1 brachte nur unsubstantiiert dar, dass er womöglich zwangsweise zum Wehrdienst einberufen und im Ukrainekrieg eingesetzt werde. Laut den Länderfeststellungen besteht keine allgemeine Gefährdung für die körperliche Unversehrtheit von Rückkehrern. Die BF1 hat nie aktiv gegen das Regime opponiert, war weder exilpolitisch noch journalistisch tätig oder auch nicht regimekritisch in den sozialen Medien tätig noch engagierte er sich sonst in irgendeinerweise politisch.

2.3.3. Auch auf Grund des jeweiligen Gesundheitszustandes der BF haben sich keine Anhaltspunkte ergeben, die eine Rückkehr in die Russische Föderation iSd Art. 3 EMRK unzulässig machen würden. Laut den Länderberichten wird die medizinische Versorgung in der Russischen Föderation von staatlichen und privaten Einrichtungen zu Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung und ist davon auch die kostenlose Medikamentenabgabe hinsichtlich einer Vielzahl an Erkrankungen umfasst. Jeder russische Staatsangehörige, egal ob er einer Arbeit nachgeht oder nicht, ist von der Pflichtversicherung erfasst und können medizinische Leistungen ohne unzumutbaren Aufwand regionsunabhängig in Anspruch genommen werden. Die BF leiden an keinen schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen Krankheiten und haben dies auch nicht behauptet. Es wurden keine gesundheitlichen Probleme vom BF1 oder auch für die minderjährigen BF angeführt.

2.4. Zu den Feststellungen zur Situation der BF in Österreich:

2.4.1. Die Feststellungen zur Einreise, zur vorangegangenen Einreise 2011, der Einreise der Ehefrau und Tochter des BF1 und dem Verfahrensgang ergeben sich aus dem unstrittigen Akteninhalt, insbesondere auch aus den Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.04.2022, XXXX sowie auch aus dem eingeholten Fremdenregisterauszug der BF.

Die Art des Aufenthaltstitels der Ehefrau und Tochter im Bundesgebiet basiert auf einen eingeholten Fremdenregisterauszug.

2.4.2. Die Feststellungen zu den Lebensumständen der BF in Österreich (Wohnsitz, Lebensunterhalt) gründen auf den Auszügen aus dem GVS betreffend keinen Erhalt von Sozialleistungen, Auszüge aus dem ZMR betreffend ihre Wohnsitze in Österreich; daraus ergibt sich auch, dass die BF alle ihren Hauptwohnsitz an derselben Adresse gemeldet haben und entsprechend ihren Angaben auch in einem gemeinsamen Haushalt auch mit ihrer Ehefrau bzw. Mutter leben, die als Unterkunftgeberin angeführt wird.

2.4.3. Familiäre oder verwandtschaftliche Bindungen im Bundesgebiet wurden von den BF bis auf eine Schwester der Ehefrau des BF1 und Mutter der BF2 und BF3 nicht angeführt. Ein enger Kontakt oder ein Abhängigkeitsverhältnis zu der Schwägerin des BF1 bzw. Tante der mj. BF wurde zu keinem Zeitpunkt dargetan. Da die BF keine Leistungen aus der Grundversorgung beziehen, der BF1 zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht erwerbstätig war, sind die Angaben der BF in der Beschwerdeergänzung sowie in der mündlichen Verhandlung, wonach die Ehefrau bzw. Kindsmutter mit ihrem Einkommen für den Lebensunterhalt der BF aufkommt, schlüssig und glaubhaft (OZ, Seite 4 der Beschwerdeergänzung; Seite 19-21 des Verhandlungsprotokolls). Nunmehr ist auch der BF1 gemäß übermittelter Stellungnahme sowie vorgelegten Unterlagen vom 30.08.2023 (OZ 8: Dienstzettel XXXX , Bescheid AMS XXXX ) seit 16.08.2023 als Produktionsarbeiter erwerbstätig, verfügt über eine Beschäftigungsbewilligung vom 16.08.2023 bis 15.08.2024 für eine Ganztagsbeschäftigung im Ausmaß von 40 Stunden pro Woche und mit einem monatlichen Entgelt von € 1.670,- und sorgt somit ebenso für den Familienunterhalt.

2.4.4. Die weiteren Feststellungen zu den Lebensumständen der BF in Österreich, zu ihren Deutschkenntnissen, sozialen Bindungen, Schulbesuch, Freizeit, basieren insbesondere auf den aktuellen Angaben der BF in der mündlichen Verhandlung sowie den vorgelegten Integrationsunterlagen (OZ 6: Schulnachricht, Schulbesuchsbestätigung, Schreiben Klassenvorstand, Urkunden der BF3, Teilnahmebestätigung A1 (nicht bestanden) BF2 und BF1, Führerschein BF1, Schreiben AMS der BF2; Seite 15-16, 18-21 des Verhandlungsprotokolls; Beilage mündliche Verhandlung: Antrag auf Beschäftigungsbewilligung; OZ 8: Dienstzettel und erteilte Beschäftigungsbewilligung AMS). Es ergaben sich keine Hinweise an deren Angaben zu zweifeln. Die BF haben seit ihrer Einreise in Österreich erste Integrationsmaßnahmen gesetzt und versuchen sich glaubhaft insbesondere sprachlich und der BF1 auch beruflich zu integrieren, aber konnten vor dem Hintergrund der erst sehr kurzen Aufenthaltsdauer von ca. einem Jahr der BF, bis auf den Schulbesuch der BF3 und geringen bis anfänglichen Deutschkenntnisse der BF, der Besuch eines Deutschkurses und der seit kurzem erfolgten Erwerbsarbeit des BF1 keine außergewöhnlichen Integrationsmaßnahmen der BF festgestellt werden.

Dass der BF1 das alleinige Obsorgerecht für die minderjährige BF2 und BF3 hat, gründet auf die vorgelegte russische Willenserklärung. Die Kindsmutter hat demnach dem BF1 – „die Verantwortung für das Leben und die Gesundheit ihrer minderjährigen Kinder und Entscheidungsbefugnis zum Schutz der Rechte und berechtigten Interessen auch in Bezug auf medizinische Eingriffe“ – auf den BF1 gemäß vorgelegten russischer Willenseinigung (notariell beglaubigt) übertragen (AS 143-147). Daraus kann geschlossen werden, dass der BF1 wie er auch selbst angibt allein obsorgeberechtigt für die minderjährige BF2 und BF3 ist, weil gegenteilige schriftliche Vereinbarungen oder Änderungen wurden nicht vorgelegt, auch keine gegenteilige Gerichtsentscheidung von Russland oder Österreich. Sohin wird weiterhin von der Gültigkeit der russischen Willenserklärung ausgegangen, wonach der BF1 das alleinige Obsorgerecht für die BF2 und BF3 hat (Seite 5 des Einvernahmeprotokolls des BF1; Seite 5 des Verhandlungsprotokolls:

„RI: Wer vertritt die BF2 und BF3? Haben Sie noch immer das alleinige Sorgerecht?

BF1: Momentan meine Frau.

RI: Warum nicht Sie?

BF1: In meinem Heimatland habe ich das Obsorgerecht gehabt. In Österreich habe ich keine Arbeitsbewilligung. Deswegen hat sie das Sorgerecht übernommen.

RI: Sie haben aber einen Gerichtsbescheid/Willenserklärung vorgelegt, dass Sie das Sorgerecht haben und es gibt keine gegenteilige Gerichtsentscheidung.

BF1: Ich habe schon das alleinige Obsorgerecht, aber ich kann sie finanziell nicht unterstützen, weil ich zurzeit kein Geld verdiene. Eine andere Gerichtsentscheidung/Willenseinigung gibt es zurzeit nicht.“).

2.4.5. Dass der Aufenthalt der BF nie geduldet war, steht auf Grund des IZR-Auszuges fest und wurde von diesen auch nicht Gegenteiliges behauptet. Auch wurde von den BF nie vorgebracht, dass sie Zeugen oder Opfer von strafbaren Handlungen oder Opfer von sonstiger Gewalt waren.

2.5. Zu den Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation:

2.5.1. Die Parteien traten den Länderfeststellungen zu Grunde liegenden Berichten bzw. ihren Quellen, zu denen das Bundesverwaltungsgericht Parteiengehör in der mündlichen Verhandlung einräumte, nicht entgegen.

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichten aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben und wurde die aktuellste Version 12 vom Juli 2023 der Länderinformationen der Staatendokumentation, die auch umfangreich Bezug auf den Ukraine-Krieg nimmt bereits ins Verfahren eingebracht.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zulässigkeit und Verfahren:

Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da im vorliegenden Verfahren keine Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, liegt gegenständlich Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung, des Agrarverfahrensgesetzes und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Zu A)

3.2. Entscheidung über die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.):

3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen gefürchtet hätte (VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074). Die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung muss zudem in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen stehen (VwGH 22.03.2017, Ra 2016/19/0350).

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185; VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz dann zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010).

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd Zivilprozessordnung (ZPO) zu verstehen. Es genüge daher, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG § 45, Rz 3). Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht setztet positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der „hierzu geeigneten Beweismittel“, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (VwGH 19.03.1997, 95/01/0466).

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt ist die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben ist (§ 11 Abs. 1 AsylG 2005).

3.2.2. Aus den in der Beweiswürdigung dargelegten Gründen brachten die BF mit der vorgebrachten Familienzusammenführung keine asylrelevante Verfolgung vor oder eine drohende Zwangsrekrutierung bzw. Einsatz im Krieg gegen die Ukraine glaubhaft. Der BF1 war auch nie Mitglied in einer politischen Partei oder sonstigen politischen Gruppierung, war weder öffentlich journalistisch oder sonst öffentlich und auf seine Person rückverfolgbar regimekritisch tätig, und konnte daher auch nicht nachvollziehbar darlegen, weshalb ein Interesse der russischen Behörden an ihnen bestehen sollte, zumal die BF vor ihrer Ausreise mit den staatlichen Behörden nicht in Konflikt geraten waren und wurde für die BF2 und BF3 auch ein russischer Reisepass im Jahr 2022 ausgestellt. Auch aus dem Vorbringen hinsichtlich einer möglichen Einberufung zum Wehrdienst bzw. einer Zwangsrekrutierung konnte aus den in der Beweiswürdigung angeführten Gründen keine konkrete und individuelle Verfolgung bezüglich des BF1 glaubhaft gemacht werden. Die Angaben, dass die Polizei den BF1 ihn bereits zu Hause aufgesucht hat, waren nicht glaubhaft. Der BF 1 blieb grob und vage in seinen Angaben und konnte durch die widersprüchlichen und vor den Hintergrund der Länderberichten nicht plausiblen Ausführungen eine drohende Einberufung zum Reservedienst und Einsatz im Ukrainekrieg nicht glaubhaft darlegen. Auch aus den eingebrachten Berichten ist nicht ableitbar, dass nunmehr jeder in den Krieg in die Ukraine einberufen werden, zumal auch die Teilmobilisierung beendet ist, wenngleich nicht formell, aber der BF1 mit seinem Alter und nicht vorhandenen Spezialkenntnissen nicht in den Fokus der Behörden geraten ist und er seinen Grundwehrdienst bereits vor über 20 Jahren geleistet hat und nicht mehr im wehrfähigen Alter ist. Eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit der Einziehung des BF 1 in den Krieg gegen die Ukraine ist nicht gegeben. Darüber hinaus wurden bis auf ein gewünschtes Zusammenleben mit der Ehefrau und Kindsmutter in Österreich sowie wirtschaftliche Überlegungen, keine anderen Verfolgungs- oder Bedrohungsgründe im Herkunftsstaat zu keinem Zeitpunkt im Verfahren vorgebracht. Die BF2 und BF3 haben keine eigenen Fluchtgründe bzw. konnten hinsichtlich der minderjährigen BF kinderspezifische Gründe einer Bedrohung oder Verfolgung nicht festgestellt werden.

Es kann auch keine konkrete und individuelle Verfolgung aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit des festgestellt werden.

Ebenso wenig kann von einer Verfolgung der BF2 oder BF3 wegen ihrer Eigenschaft als Frau oder Mädchen oder Kind festgestellt werden und es droht ihnen auch keine Zwangsheirat.

Die BF waren und sind keiner konkreten und individuell gegen sie gerichteten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt.

3.2.3. In Ermangelung von den BF individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt im Lichte der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu prüfen, ob sie im Herkunftsstaat aufgrund generalisierender Merkmale – etwa wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Awaren/Tschetschenen oder zur Religionsgruppe des Islams – unabhängig von individuellen Aspekten einer über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehenden „Gruppenverfolgung“ ausgesetzt wäre. Für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung ist zwar nicht entscheidend, dass sich die Verfolgung gezielt gegen Angehörige nur einer bestimmten Gruppe und nicht auch gezielt gegen andere Gruppen richtet (VwGH 17.12.2015, Ra 2015/20/0048, mit Verweis auf VfGH 18.09.2015, E 736/2014).

Muslimen droht als Angehörigen der zweitgrößten Glaubensgemeinschaft und einer der traditionellen Hauptreligionen Russlands keine Verfolgung. Aus den Länderberichten geht auch hervor, dass in der Russischen Föderation rund 20 Millionen Muslime leben. Lediglich Dschihadisten und radikalere, aus dem Nahen und Mittleren Osten beeinflussten Gruppen, drohen strenge Strafen und stehen diese insbesondere im Nordkaukasus unter scharfer Beobachtung der Behörden; dass die BF zu diesen Gruppen gehören, haben sie nicht behauptet und ist auch nicht ersichtlich.

Es kann auf Grund der Länderberichte auch keine ethnische Gruppenverfolgung von Awaren oder Tschetschenen festgestellt werden: Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert für alle ethnischen Gruppen gleiche Rechte und Freiheiten. Der Vielvölkerstaat Russland umfasst mehr als 190 ethnische Minderheiten. Awaren und Tschetschenen leben überall in der Russischen Föderation. Es ist sohin nicht erkennbar, dass die BF in der Russischen Föderation grundsätzlich benachteiligt bzw. Übergriffen ausgesetzt sind und wurde dies auch von den BF selbst nie vorgebracht.

3.2.4. Den BF droht aus den in der Beweiswürdigung dargelegten Gründen bei ihrer Wiedereinreise in die Russischen Föderation daher keine Gefahr. Zurückkehrende werden wegen der Stellung eines Asylantrages im Ausland oder ihrem Aufenthalt im Ausland nicht verfolgt.

3.2.5. Da keiner der BF Familienangehöriger eines Asylberechtigten ist, kommt auch eine Asylgewährung im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 3 AsylG 2005 nicht in Frage. Die Ehefrau/Kindsmutter sowie Tochter/Schwester der BF sind mit der „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ auf Dauer im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigt.

3.2.6. Das Vorbringen der BF zu den Fluchtgründen ist nicht glaubhaft (siehe Beweiswürdigung); es bestehen daher keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass das Leben oder die Freiheit der BF im Falle ihrer Rückkehr aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten bedroht ist.

 

3.2.6. Aufgrund der getroffenen Feststellungen und der durchgeführten Beweiswürdigung ist die Entscheidung der belangten Behörde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten zu bestätigen und waren die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. abzuweisen.

3.3. Entscheidung über die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.):

3.3.1. Wird ein Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen, so ist dem Fremden gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß Art. 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

Unter realer Gefahr ist eine ausreichend echte, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (vgl. VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573). Es müssen stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre. Weiters müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die betroffene Person einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus.

Die Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen, die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu gelangen.

Gemäß der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erfordert die Beurteilung des Vorliegens eines tatsächlichen Risikos eine ganzheitliche Bewertung der Gefahr an dem für die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK auch sonst gültigen Maßstab des „real risk“, wobei sich die Gefahrenprognose auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582; 31.05.2005, 2005/20/0095).

Es obliegt grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde. Es reicht für den Asylwerber nicht aus, sich bloß auf eine allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage zu berufen (VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016; VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307; VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134).

Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137; VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016).

3.3.2. Es sind keine Umstände amtsbekannt, dass in der Russischen Föderation aktuell eine solche extreme Gefährdungslage besteht, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, einer Gefährdung im Sinne des Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt ist. Wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt, ist die Situation in der Russischen Föderation auch nicht dergestalt, dass eine Rückkehr der BF für sie als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde; in der Russischen Föderation ist eine Zivilperson aktuell nicht alleine aufgrund ihrer Anwesenheit einer solchen Bedrohung ausgesetzt. Auch Kinder sind keiner spezifischen Gefahr ausgesetzt die eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit befürchten lassen. Die BF2 und BF3 können gemeinsam mit ihrem allein obsorgeberechtigten Vater zurückkehren, eine Schule und eine Universität besuchen, eine Ausbildung absolvieren und später einen Beruf nachgehen. Der Unterhalt kann Vater finanziert werden und bei Bedarf gibt es soziale Unterstützung, welche zwar seit dem Beginn des Krieges vermindert ist jedoch noch ausreichend oder können die BF auch anfänglich durch die (Groß-)Eltern oder auch Geschwister des BF1 finanziell unterstützt werden, wenngleich dies zur Erhaltung des Lebensunterhaltes nicht notwendig ist. Die BF können auch wieder in die Eigentumswohnung des BF1 zurückkehren und wie vor ihrer Ausreise im gemeinsamen Haushalt leben. Der Mutter der BF 2 und 3 ist es ebenfalls möglich einen finanziellen Beitrag zu leisten, zumal sie berufstätig ist und die Finanzierung ihres Wohnraumes mit ihrer berufstätigen volljährigen Tochter teilt. Die Mutter kann jedoch auch bei Rückkehr in die Russische Föderation einer Arbeit nachgehen und damit die Familie finanziell unterstützen. Auch die BF 2 ist im erwerbstätigen Alter und kann einen Beitrag zur Finanzierung des Haushaltes leisten.

3.3.3. Vor dem Hintergrund der genannten Erkenntnisquellen und den darauf basierenden Feststellungen finden sich weder Anhaltspunkte dafür, dass die BF bei einer Rückkehr bzw. Einreise in ihren Herkunftsstaat mit der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer Gefährdungssituation im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ausgesetzt sind, noch das „außergewöhnliche Umstände“ der Rückkehr bzw. Einreise der BF in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen. Es steht fest, dass den BF in der Russischen Föderation die notdürftigste Lebensgrundlage nicht fehlt, zumal ihnen als Staatsangehörige der Russischen Föderation der Zugang zum staatlichen Sozial- und Krankenversicherungssystem offensteht. Entsprechend ihrer bisherigen Ausbildung und Arbeitserfahrung kann der BF1 eine Beschäftigung ausüben und somit den Lebensunterhalt auch für die mj. BF bestreiten. Den BF ist es somit möglich, ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Sie können wieder in ihrer Herkunftsprovinz Dagestan Fuß fassen und in der Eigentumswohnung des BF1 wohnen, aber auch außerhalb des Nordkaukasus oder auch bei den Familienangehörigen (Eltern, Geschwister BF1) in Dagestan Unterkunft erlangen. Weiters haben die BF familiäre Anknüpfungspunkte, welche ihnen bei der Arbeitssuche oder anderen anfänglichen Schwierigkeiten unterstützen können. Die BF3 kann ihre Schulbildung und die BF2 eine aufbauende Hochschulbildung fortsetzen oder auch eine Berufsausbildung machen sowie wieder ihre Freunde treffen können.

3.3.5. Die BF sind gesund und steht aufgrund der Länderberichte fest, dass eine allgemeine medizinische Versorgung sowohl in Dagestan, als auch in anderen Teilen der Russischen Föderation gewährleistet ist. Exzeptionelle Umstände wurden nicht behauptet und leiden die BF weder an akuten noch an lebensbedrohlichen Erkrankungen, welche in der Russischen Föderation nicht behandelbar sind und im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat allenfalls zu einer Überschreitung der hohen Eingriffsschwelle des Art. 3 EMRK führen würden, sodass auch ihre gesundheitliche Verfassung einer Abschiebung nicht entgegensteht (zur Judikatur hinsichtlich der Abschiebung kranker Fremder vgl. VfSlg. 18.407/2008).

Unter Berücksichtigung der Länderberichte und der persönlichen Situation der BF steht in einer Gesamtbetrachtung fest, dass sie im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation nicht in eine ausweglose Lebenssituation geraten und real Gefahr laufen werden, eine Verletzung ihrer durch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden. Es liegen keine exzeptionellen Gründe vor, die einer Rückkehr in die Russische Föderation entgegenstehen. Die Prüfung der maßgeblichen Kriterien führt im konkreten Fall zu dem Ergebnis, dass den BF eine Rückkehr möglich und auch zumutbar ist. Auf Grund der Länderberichte steht auch fest, dass sich die BF nicht nur in Dagestan, sondern auch an jedem anderen Ort in der Russischen Föderation (zB Inguschetien, Moskau oder St. Petersburg) niederlassen und registrieren lassen können.

3.3.6. Auch unter Berücksichtigung des von Russland geführten Ukraine-Kriegs ergeben sich keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne des Art. 3 EMRK. Russland setzt im Krieg in der Ukraine Berufssoldaten ein und wurde keine Generalmobilmachung verkündet, sodass auf Grund des fortgeschrittenen Alters des BF1 und fehlenden speziellen militärischen Ausbildung, nicht Gefahr läuft, zwangsweise im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt zu werden.

3.3.7. Da kein „real risk“ besteht, dass die Rückführung der BF in ihren Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK führen wird und keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die gegen eine Abschiebung in die Russische Föderation sprechen, vorliegen, ist den BF der Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen.

Auch kommt eine Gewährung subsidiären Schutzes im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 3 AsylG 2005 nicht in Betracht, da keiner der BF Familienangehöriger eines subsidiär Schutzberechtigten ist. Die Ehefrau/Kindsmutter sowie Tochter/Schwester der BF sind mit der „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ auf Dauer im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigt.

Das Bundesamt hat daher den BF den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu Recht nicht zuerkannt und waren die Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide daher abzuweisen.

3.4. Entscheidung über eine Rückkehrentscheidung und damit in Zusammenhang stehende Absprüche (Spruchpunkt III.-VI.):

3.4.1. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht zu erteilen ist.

3.4.2. Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen, wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt (Z 1), wenn dies zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel notwendig ist (Z 2) oder wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist (Z 3).

Die BF befinden sich seit September 2022 im Bundesgebiet. Der Aufenthalt der BF ist im Bundesgebiet nicht im Sinne der soeben dargelegten Bestimmung geduldet bzw. zur Gewährleistung einer Strafverfolgung erforderlich. Sie sind aktuell weder Zeugen oder Opfer von strafbaren Handlungen noch Opfer von Gewalt in einem laufenden Verfahren. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies weder im verwaltungsbehördlichen, noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren behauptet wurde.

3.4.3. Gemäß § 52 Abs. 2 FPG iVm § 10 AsylG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

Die BF sind als Staatsangehörige der Russischen Föderation keine begünstigten Drittstaatsangehörigen und es kommt ihnen kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu, weil mit der erfolgten Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz das Aufenthaltsrecht nach § 13 AsylG 2005 mit der Erlassung dieser Entscheidung endet.

Daher liegen die Voraussetzungen für die Prüfung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 FPG vor.

3.4.4. Das Bundesamt hat gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG rechtskräftig auf Dauer für unzulässig erklärt wurde.

Ob eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, ergibt sich aus § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG: Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist nach § 9 Abs. 1 BFA-VG die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen: die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet war (Z 9).

Gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruhen, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff. NAG) verfügten, unzulässig wäre.

Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn darf eine Ausweisung nicht erlassen werden, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden schwerer wiegen, als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes, gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.

Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wurde – die oben genannten Kriterien zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 18.224/2007; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; 26.01.2006, 2002/20/0423).

3.4.4.1. Vom Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, Appl. 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, Appl. 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, welche miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Art. 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig. Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus; die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammenleben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind (vgl. etwa VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423; 08.06.2006, 2003/01/0600; 26.01.2006, 2002/20/0235, worin der Verwaltungsgerichtshof feststellt, dass das Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern nicht automatisch mit Erreichen der Volljährigkeit beendet wird, wenn das Kind weiter bei den Eltern lebt).

Der BF1 ist mit der im Bundesgebiet auf Dauer aufenthaltsberechtigten XXXX verheiratet und die volljährige ebenfalls im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigte XXXX sowie die mj. BF2 und BF3 sind ihre gemeinsamen Kinder. Die BF leben mit ihrer Ehefrau/Mutter und Tochter/Schwester zusammen in einem Haushalt, der BF1 ist alleine obsorgeberechtigt für ihre minderjährigen Kinder. Die Beziehung der BF zueinander und mit der Ehefrau/Kindsmutter und Tochter/Schwester fällt sohin als schützenswertes Familienleben in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK. Der Eingriff in das Familienleben der BF, einerseits des BF1 mit seiner Frau und Tochter und andererseits der mj. BF mit ihrer Mutter und Schwester ist jedoch verhältnismäßig: so hat die Kindsmutter dem BF1 die alleinige Obsorge über die minderjährigen BF übertragen und lebt seit 2016 gemeinsam mit der mittlerweile volljährigen Tochter in Österreich. Der BF1 lebte sohin von 2016 bis 2022 (ca. 6 Jahre) mit der BF2 und BF3 in einem gemeinsamen Haushalt und kümmerte sich um die mj. BF. In dieser Zeit wurde auch der Kontakt zur Kindsmutter von Russland aus durchgehend aufrecht gehalten und auch vom BF1 nicht unterbunden. Sohin ist es der Kindsmutter möglich und zumutbar den Kontakt zu ihren minderjährigen Kindern weiterhin wie auch zwischen 2016-2022 über regelmäßige Telefonate oder auch durch Besuche in Dagestan beizubehalten, wie dies auch vor der Ausreise der Fall war. Die Kindsmutter reiste auch in der Vergangenheit mehrmals auf Besuch in die Russische Föderation und wäre ihr dies, so auch der volljährigen Tochter des BF1 möglich und zumutbar, zumal ihnen in der Russischen Föderation keine Verfolgung oder Bedrohung noch eine Gefährdung droht.

Der Eingriff in das Familienleben der BF ist zudem verhältnismäßig, weil die BF und seine Frau/die Kindsmutter von Anfang an beabsichtigten, die Regelungen über eine geordnete Zuwanderung und den „Familiennachzug“ zu umgehen (VwGH 21.05.2019 Ra 2018/19/0500; 25.04.2019, Ra 2019/19/0114; 23.01.2019, Ra 2018/19/0683). Der Verfassungsgerichtshof misst in ständiger Rechtsprechung dem Umstand im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK wesentliche Bedeutung bei, ob die Aufenthaltsverfestigung des Asylwerbers überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgt, weil der Asylwerber über keine, über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung verfügt. Die BF sind von der Ehefrau/Mutter nicht abhängig, der BF1 verfügt über eine Beschäftigungsbewilligung und ist erwerbstätig und sie könnten auch Grundversorgung beziehen und hat der BF1 vor der Ausreise seinen Lebensunterhalt und den der mj. BF gesichert und könnte dies auch nach der Rückkehr wieder tun. Eine andere Abhängigkeit des BF1 von seiner Frau und den mj.BF von ihrer Mutter wurde nicht behauptet und konnte nicht festgestellt werden. Hinzu kommt, dass die Ehefrau/Mutter und Tochter/Schwester auch russische Staatsangehörige sind und keine asylrelevante Gefährdung besteht. Sie können daher das Familienleben mit den BF auch in der Russischen Föderation fortführen (vgl. EGMR 12.06.2012, Fall Bajsultanov, Appl. 54.131/10, Z 89 ff.). Weiters können die BF auch in die Russische Föderation ziehen und von dort aus legal die Familienzusammenführung mit ihrer Ehefrau/Mutter sowie Tochter/Schwester beantragen, diese können wie bereits erwähnt die BF auch in der Zwischenzeit wie bisher in der Russischen Föderation besuchen. Die Beantragung der Familienzusammenführung ist den BF möglich und zumutbar (Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige von Zusammenführenden sind, ist gemäß § 47 Abs. 2 NAG ein Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen. Zusammenführende im Sinne des § 47 Abs. 2 NAG sind u.a. Österreicher, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und nicht ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben; einen derartigen Sachverhalt der die Gattin des BF1 nicht behauptet. Familienangehöriger ist gemäß § 2 Abs. Z 9 NAG u.a., wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie); dies gilt weiters auch für eingetragene Partner; Ehegatten und eingetragene Partner müssen das 21. Lebensjahr zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits vollendet haben; lebt im Fall einer Mehrfachehe bereits ein Ehegatte gemeinsam mit dem Zusammenführenden im Bundesgebiet, so sind die weiteren Ehegatten keine anspruchsberechtigten Familienangehörigen zur Erlangung eines Aufenthaltstitels. Da die Ehefrau des BF1 nur mit ihm verheiratet ist und sowohl sie als auch der BF1 über 40 Jahre alt sind, kann der BF1 nach dieser Bestimmung den Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ beantragen. Ebenso wäre auch § 11 Abs. 1 NAG zu prüfen. Denn Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden gemäß § 11 Abs. 1 NAG nicht erteilt werden, wenn gegen ihn ein aufrechtes Einreiseverbot gemäß § 53 FPG oder ein aufrechtes Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG besteht (Z 1); gegen ihn eine Rückführungsentscheidung eines anderen EWR-Staates oder der Schweiz besteht (Z 2); gegen ihn eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung erlassen wurde und seit seiner Ausreise nicht bereits achtzehn Monate vergangen sind, sofern er nicht einen Antrag gemäß § 21 Abs. 1 eingebracht hat, nachdem er seiner Ausreiseverpflichtung freiwillig nachgekommen ist (Z 3); eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§ 30 Abs. 1 oder 2) vorliegt (Z 4); eine Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalts im Zusammenhang mit § 21 Abs. 6 vorliegt (Z 5) oder er in den letzten zwölf Monaten wegen Umgehung der Grenzkontrolle oder nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet rechtskräftig bestraft wurde (Z 6). Da die BF nicht wegen der Umgehung der Grenzkontrolle oder nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet nicht bestraft wurden und ihr nachfolgender Aufenthalt im Rahmen des Asylverfahrens zu beurteilen war und es im Hinblick auf § 11 Abs. 1 Z 3 NAG den BF obliegt, freiwillig auszureisen, den Erstantrag gemäß § 21 Abs. 1 NAG vor der (Wieder-)Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen und die Entscheidung im Ausland abzuwarten, stehen nach dem von den BF und seiner Ehefrau als Zeugin vorgebrachten bzw. festgestellten Sachverhalt die Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 NAG der Erteilung eines Aufenthaltstitels an die BF nicht entgegen. Zudem dürfen Aufenthaltstitel gemäß § 11 Abs. 2 NAG einem Fremden nur erteilt werden, wenn der Aufenthalt des Fremden nicht öffentlichen Interessen widerstreitet (Z 1); dazu näher Abs. 4 leg.cit .); der Fremde einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird (Z 2); der Fremde über einen alle Risiken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und diese Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist (Z 3); der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte (Z 4); dazu näher Abs. 5 leg.cit .); durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels die Beziehungen der Republik Österreich zu einem anderen Staat oder einem anderen Völkerrechtssubjekt nicht wesentlich beeinträchtigt werden (Z 5); der Fremde im Fall eines Verlängerungsantrages (§ 24) das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG, rechtzeitig erfüllt hat (Z 6), und in den Fällen der §§ 58 und 58a seit der Ausreise in einen Drittstaat gemäß § 58 Abs. 5 mehr als vier Monate vergangen sind (Z 7). Die BF leben aktuell mit ihren Familienangehörigen im Bundesgebiet zusammen, nicht vorgebracht wurde, dass die Wohnung nicht ortsüblich sei, die BF bei ihrer Gattin/Mutter sich mitversichern können, diese auch aktuell ihren Lebensunterhalt bestreitet, haben der BF1 und seine Ehefrau als Zeugin nichts vorgebracht, was der Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ an die BF entgegenstehen soll. Der Nachweis einer aktuellen Deutschprüfung auf dem Niveau A1, sohin dem niedrigsten Anfängerniveau, ist den BF zumutbar, ebenso die nötigen Dokumente, ggf ein Gesundheitszeugnis etc. zu erbringen.).

Zusammengefasst greift die Erlassung einer Rückkehrentscheidung daher nicht unzulässig in das Familienleben der BF mit ihrer Ehefrau/Mutter sowie Tochter/Schwester ein, weil dieses in Bewusstsein der Umgehung der Bestimmungen für die Familienzusammenführung gegründet wurde, die BF auch im Herkunftsstaat das Familienleben mit ihrer Ehefrau/Mutter fortsetzten können oder auch der Kontakt auch wie zwischen 2016 und 2022 durch Telefonate sowie Besuche aufrecht gehalten werden kann und schließlich wenn die BF das Familienleben in Österreich fortsetzen möchten, können sie vom Ausland die Erlangung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ abwarten, welcher möglich und zumutbar ist.

Wenngleich die BF 2 und 3 aufgrund des Verhaltens der Eltern in diese Situation geraten sind, so haben sie sich deren Verhalten zwar nicht vollends zuzurechnen, aber auch unter Berücksichtigung des Kindeswohles, ergibt sich keine andere Situation.

Es wurde jedoch festgestellt und beweiswürdigend dargelegt, dass auch im Sinne des Kindeswohls eine Rückkehr in die Russische Föderation gegeben ist, zumal sie dort aufwuchsen, die Sprache beherrschen, Freunde und Familie haben, eine Schulausbildung absolvieren können bzw. konnten, sich weiterbilden oder einen Beruf erlernen und ausüben. Es gibt keine kinderspezifische Gefahren. Die Trennung von den Eltern ist dahingehend relativierend, da wie dargestellt, der Vater mitzurückkehrt, welcher auch in den letzten 7 Jahren für die BF 2 und 3 verantwortlich war und von der Mutter die Obsorge übertragen erhielt. Aber auch die Mutter kann in den Herkunftsstaat zurückkehren, es ist ihr möglich und zumutbar, zumal sie tief in der Russischen Föderation verwurzelt ist. Sie ist dort aufgewachsen, kennt die gesellschaftlichen Gegebenheiten, hat Verwandte, eine Unterkunft und könnte einer Arbeit nachgehen. Sie wäre mit ihren minderjährigen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt und muss nicht mehr die Obsorge über ihre volljährige Tochter ausüben, wenn diese in Österreich verbleibt. Der Kontakt mit dieser Tochter, wäre über Besuche und sozialen Medien möglich. Die Mutter zeigte auch, dass sie ohne Gefahren in die Russische Föderation einreisen und leben konnte. Es wird nicht übersehen, dass sie sich in Österreich integriert hat und sich selbst versorgen kann – erwerbstätig – Freunde hat und eine Wohnmöglichkeit. Sie spricht die deutsche Sprache. Aber im Sinne der starken Verwurzelung und des geordneten Fremden – und Asylwesens, aber auch unter Bedachtnahme der Angaben in ihrem eigenen Verfahren – wäre es zumutbar mit ihren Kindern und ihrem Ehemann zurückzukehren. Sie hatte immer Kontakt mit ihrer Familie und kehrte auch mehrmals in die Russische Föderation zurück, sobald es ihr möglich war.

3.4.4.2. Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. EGMR 16.06.2005, Fall Sisojeva ua., Appl. 60654/00, EuGRZ 2006, 554).

Bei der Beurteilung der Frage, ob der BF in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügt, spielt die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle, da – abseits familiärer Umstände – eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541). Einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zu (VwGH 15.03.2016, Ra 2016/19/0031; VwGH 23.06.2015, Ra 2015/22/0026). Im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG ist es jedoch maßgeblich relativierend, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitprunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthalts bewusst sein musste (vgl. VwGH 09.03.2022, Ra 2022/14/0044-0047, mwN).

Die BF befinden sich nunmehr seit September 2022, sohin seit knapp einem Jahr im Bundesgebiet und kommt demnach ihrem kurzen Inlandsaufenthalt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung zu. Auch wenn man davon ausginge, dass die BF über geschütztes Privatleben iSd Art. 8 EMRK in Österreich verfügen, wäre der Eingriff verhältnismäßig:

Die BF reisten nicht rechtmäßig nach Österreich ein und stellten einen Antrag auf internationalen Schutz zur Umgehung der Bestimmungen über die Niederlassungs- und Aufenthaltsbestimmungen zum Familiennachzug. Der Aufenthalt der BF gründet seither auf ihrem – von Anfang an unbegründeten – Asylantrag; ihr Aufenthalt war während des Asylverfahrens rechtmäßig. Das Verfahren über den – einzigen – Asylantrag der BF dauerte nur ca. ein Jahr; die BF haben das Verfahren nicht verzögert und sie sind unbescholten.

Im Vergleich zu den noch stark ausgeprägten Bindungen zum Herkunftsstaat sind die Bindungen der BF zu Österreich noch zu gering:

Die BF setzten erste Integrationsschritte: Der BF1 und die mj. BF2 (16 Jahre) besuchten einen Deutschkurs auf Anfängerniveau A1; die Integrationsprüfung Deutsch A1 haben sie noch nicht bestanden. Der BF1 hat in Österreich den Führerschein erhalten. Der BF1 und die mj. BF2 sind nicht Mitglied in einem Verein, nicht ehrenamtlich tätig, absolvierten keine sonstige Aus- oder Weiterbildung und leben im Familienverband der Kernfamilie; sie verfügen darüber hinaus über keine sonstigen engen sozialen Bindungen oder Beziehungen im Bundesgebiet. Der BF1 ist seit 16.08.2023 erwerbstätig und verfügt über eine Beschäftigungsbewilligung; er ist selbsterhaltungsfähig. Die BF2 macht keine schulische noch eine berufliche Ausbildung im Bundesgebiet.

Die mj. BF3 hat sich bereits erste Deutschkenntnisse angeeignet und besuchte im Bundesgebiet die 6. Schulstufe der Mittelschule für ein Jahr als außerordentliche Schülerin. Zum Entscheidungszeitpunkt startet das nächste Schuljahr. Die BF3 ist ebenfalls nicht Mitglied in einem Verein, aber nahm bei verschiedenen Schulveranstaltungen teil, wo sie sportliche Erfolge erzielte und erste Freundschaften zu anderen Schülerinnen knüpfte. Der Lebensunterhalt der mj. BF wird von den Eltern (BF1 und Kindsmutter) finanziert.

Im Gegensatz dazu verfügen die BF über starke private Bindungen zur Russischen Föderation, wo sie bis zu ihrer bereits vorangegangen Ausreise 2010 durchgehend lebten. Der BF1 lebte sohin sein gesamtes Leben, bis auf den kurzen Auslandsaufenthalt im Jahr 2010 in der Russischen Föderation in Dagestan, wo er die Grundschule sowie ein Technikum absolvierte, heiratete, eine Familie gründete, über eine Eigentumswohnung sowie mit seinen Eltern und Geschwistern über Familienangehörigen verfügt und erwerbstätig war, die Landessprachen Russisch, Awarisch und Tschetschenisch fließend spricht und auch von Österreich aus Kontakt zu seinen Familienangehörigen, Verwandten und Freunden hat.

Die 16-jährige BF2 verbrachte ebenfalls ihre gesamte Kindheit und Jugend bis zur Ausreise 2022 und ausgenommen dem kurzen Auslandsaufenthalt 2010 in der Russischen Föderation und wuchs dort im Familienverband (bis 2016 mit ihren Eltern und zwei Schwestern und danach mit ihrem Vater und jüngeren Schwester) auf und wurde dort sozialisiert. Die BF2 schloss in Dagestan die Grundschule ab und begann im Anschluss ein College mit Fachrichtung Jus. Sie spricht mit Russisch, Tschetschenisch und Awarisch die Landessprachen der Russischen Föderation. Sie verfügt mit ihren Großeltern, Tanten/Onkeln und Freunde über Familienangehörige und soziale Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation, mit denen sie auch von Österreich Kontakt hat.

Die 11-jährige BF3 lebte ebenfalls bis zu ihrem 11. Lebensjahr durchgehend im Familienverband in der Russischen Föderation und verbrachte dort ihre Kindheit und besuchte zumindest 4 Jahre die Grundschule. Sie spricht mit Russisch, Tschetschenisch und bisschen Awarisch ebenfalls die Landessprachen in der Russischen Föderation und verfügt mit ihren Großeltern, Tanten/Onkeln und Freunde auch über ein soziales Netz in ihrem Herkunftsort, zu denen sie regelmäßig von Österreich aus telefonisch in Kontakt steht.

Alle BF sind in der Russischen Föderation geboren und aufgewachsen sowie sozialisiert worden (die Minderjährigen bis zu ihrem 16. und 10./11. Lebensjahr) und damit mit den kulturellen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten in der Russischen Föderation sowie in Dagestan auch nach der in Relation erst kurzen Aufenthaltsdauer, von knapp einem Jahr im Bundesgebiet, weiterhin vertraut.

Dass der Fremde strafrechtlich unbescholten ist, vermag weder sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich zu verstärken noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen (zB VwGH 25.2.2010, 2009/21/0070; 13.10.2011, 2009/22/0273; 19.4.2012, 2011/18/0253).

Das Interesse der BF an der Aufrechterhaltung ihres Privatlebens in Österreich ist noch zusätzlich dadurch geschwächt, dass sie sich bei allen Integrationsschritten ihres unsicheren Aufenthalts und damit auch der Vorläufigkeit ihrer Integrationsschritte bewusst sein mussten. Die BF durften sich hier bisher nur auf Grund ihres Antrags auf internationalen Schutz aufhalten, der zu keinem Zeitpunkt berechtigt war (vgl. zB VwGH 20.2.2004, 2003/18/0347; 26.2.2004, 2004/21/0027; 27.4.2004, 2000/18/0257; sowie EGMR 08.04.2008, Fall Nnyanzi, Appl. 21.878/06, wonach ein vom Fremden in einem Zeitraum, in dem er sich bloß aufgrund eines Asylantrages im Aufnahmestaat aufhalten durfte, begründetes Privatleben per se nicht geeignet war, die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffes zu begründen). Auch der Verfassungsgerichtshof misst in ständiger Rechtsprechung dem Umstand im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK wesentliche Bedeutung bei, ob die Aufenthaltsverfestigung des Asylwerbers überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgte, weil der Asylwerber über keine, über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung verfügte. In diesem Fall muss sich der Beschwerdeführer bei allen Integrationsschritten im Aufenthaltsstaat seines unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte bewusst sein (VfSlg. 18.224/2007, 18.382/2008, 19.086/2010, 19.752/2013). Wenngleich minderjährigen Kindern der unsichere Aufenthaltsstatus nicht vorzuwerfen ist, muss das Bewusstsein der Eltern über die Unsicherheit ihres Aufenthalts auch auf die Kinder durchschlagen, wobei diesem Umstand allerdings bei ihnen im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zukommt (VwGH 28.02.2020, Ra 2019/14/0545; VwGH 07.03.2019, Ra 2019/21/004; VfGH 10.03.2011, B1565/10).

Vor diesem Hintergrund wiegt in Anbetracht der erst sehr kurzen Aufenthaltsdauer (knapp 12 Monate) und ersten Integrationsbemühungen der BF und bei von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regeln über den Familiennachzug (vgl. VwGH vom 21.02.2022, Ra 2021/14/00335, mwN) dennoch im Vergleich zu den stark ausgeprägten Bindungen im Herkunftsstaat das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung schwerer als ihr Interesse an der Aufrechterhaltung ihres Privatlebens in Österreich.

3.4.4.3. Gemäß § 9 Abs. 1 und 2 BFA-VG sind bei einer Rückkehrentscheidung, von welcher Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, die bestehenden Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt hinsichtlich der Beurteilung des Kriteriums der Bindungen zum Heimatstaat nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 10.09.2021, Ra 2021/18/0158 bis 0163; mwN).

Das „Kindeswohl“ ist ein Rechtsbegriff, der letztlich von den Behörden und Gerichten zu beurteilen ist. § 138 ABGB enthält eine nicht abschließende Aufzählung von für das Wohl des Kindes bedeutenden Aspekten, um in allen das minderjährige Kind betreffenden Angelegenheiten unter anderem den Behörden und Gerichten Anhaltspunkte für die Beurteilung dieses Rechtsbegriffs zu bieten (vgl. VwGH 15.05.2019, Ra 2018/01/0076).

§ 138 ABGB dient auch im Bereich verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in denen auf das Kindeswohl Rücksicht zu nehmen ist, als Orientierungsmaßstab (vgl. VwGH 29.09.2021, Ra 2021/01/0294 bis 0295; 14.12.2020, Ra 2020/20/0408; 23.09.2020, Ra 2020/14/0175; 30.04.2020, Ra 2019/21/0362 bis 0365; 24.09.2019, Ra 2019/20/0274). Insbesondere ist der Frage der angemessenen Versorgung und sorgfältigen Erziehung der Kinder (Z 1), der Förderung ihrer Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten (Z 4) sowie allgemein um die Frage ihrer Lebensverhältnisse (Z 12) nachzugehen. Aus der genannten Bestimmung ergibt sich überdies, dass auch die Meinung der Kinder zu berücksichtigen ist (Z 5) und dass Beeinträchtigungen zu vermeiden sind, die Kinder durch die Um- und Durchsetzung einer Maßnahme gegen ihren Willen erleiden könnten (Z 6). Ein weiteres Kriterium ist die Aufrechterhaltung von verlässlichen Kontakten zu wichtigen Bezugspersonen und von sicheren Bindungen zu diesen Personen (Z 9) (vgl. VwGH 30.04.2020, Ra 2019/21/0362 bis 0365). Die Berücksichtigung des Kindeswohls stellt im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen lediglich einen Aspekt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung dar; das Kindeswohl ist daher bei der Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen von Fremden nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium. Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung bzw. Interessenabwägung hängt vielmehr von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab (vgl. VwGH 29.09.2021, Ra 2021/01/0294 bis 0295; 08.09.2021, Ra 2021/20/0166 bis 0170).

Die BF2 war 15 Jahre und die BF3 knapp 11 Jahre zum Zeitpunkt der Einreise ins Bundesgebiet alt. Zunächst zeigt sich sohin, dass die minderjährigen BF in Relation zur Gesamtlebensdauer viel länger in der russischen Föderation lebten als nunmehr mit dem knappen Jahr in Österreich. Sowohl die BF2 als auch die BF3 verbrachten ihre Kindheit, die BF2 auch ihre ersten Jugendjahre in der Russischen Föderation und wurden dort eingeschult und hat die BF2 in ihrem Herkunftsstaat die Grund- bzw. Pflichtschule bereits abgeschlossen und eine weiterführende juristische Ausbildung begonnen. Im Bundesgebiet besuchte die BF2 einen Deutschkurs auf Anfängerniveau, wobei sie die Deutschprüfung noch nicht bestanden hat und kaum Deutschkenntnisse hat. Eine sonstige weiterführende Ausbildung oder Berufsausbildung, hat die BF2 im Bundesgebiet bis zum Entscheidungszeitpunkt nicht begonnen und auch keine konkreten Zukunfts-und Ausbildungspläne vorgebracht. Im Unterschied schloss die BF2 die Pflichtschule in der Russischen Föderation ab und hat danach bereits eine weiterführende Ausbildung, ein College für Jus begonnen. Die BF2 verfügt über einen Freundeskreis in der Russischen Föderation und hält den Kontakt mit ihren Freunden von Österreich aus telefonisch oder über soziale Medien aufrecht. Sohin steht einer Rückkehr in den Herkunftsstaat, wo die BF2 bereits eine weiterführende Ausbildung begonnen hat, die Landessprachen spricht und ihre Freunde leben, ihr Lebensunterhalt durch ihren Vater gesichert wurde und sie wieder wie vor der Ausreise im Familienverband mit ihrem Vater und ihrer jüngeren Schwester leben kann, sie mit ihren Großeltern und Tanten/Onkeln in der selben Stadt auch über weitere nahe Familienangehörigen verfügt, das Kindeswohl nicht entgegen.

Die 11-jährige BF3 hat sich aufgrund des Schulbesuchs für ein Jahr in Österreich zweifelsfrei sogar etwas mehr als ihre ältere Schwester integriert, dadurch sich auch erste Deutschkenntnisse angeeignet und soziale Kontakte durch die Teilnahme an Schulveranstaltungen geknüpft. Wobei die BF3 auch weiterhin mit ihren Freunden in der Russischen Föderation telefonisch in Kontakt ist, im Herkunftsstaat bereits zumindest vier Jahre die Grundschule besuchte und sohin ihren Pflichtschulbesuch im Falle einer Rückkehr auch ohne sprachliche oder soziale, kulturelle Grenzen fortsetzen könnte. Der Lebensunterhalt kann wie auch zuvor durch ihren Vater finanziert werden und leben im Herkunftsstaat auch die Großeltern der BF3 sowie auch Onkel und Tanten, die in der Vergangenheit auch bei der Aufsicht- und Obsorge der minderjährigen BF den BF1 unterstützten und in der Nähe wohnen. Die BF3 spricht mit Russisch, Tschetschenisch und bisschen Awarisch auch drei Landessprachen der Russischen Föderation. Sie ist sohin ebenso, wie auch ihre ältere Schwester weiterhin in der Russischen Föderation mit sprachlichen, sozialen und familiären Bindungen verwurzelt und sind weder für die BF2 noch für die BF3 vor diesem Hintergrund Schwierigkeiten in ihrer Entwicklung bei der Rückkehr zu erwarten, weil sie insbesondere vor dem Hintergrund des erst kurzen Aufenthaltes in Österreich (seit September 2022) an ihrer Bildung und sozialen Netzwerk anbinden können und die Schule oder ein College fortsetzen können (vgl. VwGH 14.01.2022, Ra 2021/19/009 mwN) und steht eine Rückkehr sohin auch dem Kindeswohl der BF3 nicht entgegen.

Dem ist zwar zu entgegnen, dass ihre Mutter im Bundesgebiet aufhältig ist, wobei dies aber bereits seit 2016 der Fall ist und der BF1 von der Mutter für die minderjährigen BF2 und BF3 die alleinige Obsorge übertragen erhalten hat und die Beziehung zur Mutter von 2016 bis 2022 durch regelmäßigen (täglichen) telefonischen Kontakt und später auch durch Besuche der Mutter in Dagestan aufrecht erhalten wurde. Die Rückkehrentscheidung gegen die BF führt sohin zu einer Trennung der BF2 und BF3 von ihrer Mutter, aber ist vor dem Hintergrund zu den Feststellungen der vorangegangenen Betreuung durch den Vater, der übertragenen Obsorge auf den Vater seit 2016 sowie die Beziehung zur Mutter über 6 Jahre (2016 bis 2022) über Besuche und Telefonate aufrecht gehalten wurde und wäre der Mutter auch eine Rückkehr in die Russische Föderation möglich und zumutbar, um dort das Familienleben mit ihrem Ehemann und den minderjährigen BF fortzusetzen (vgl. VfGH 24.11.2022, E3806/2019). Hinzukommt auch, dass eine Trennung idR zulässig bei sehr großem öffentlichen Interesse ist, insbesondere wie im gegenständlichen Fall, weil von Anfang die Intention der Antragstellung auf internationalen Schutz, die beabsichtigte Umgehung der Regeln über den Familiennachzug war (VwGH 13.09.2021, Ra 2021/18/0112; VfGH 12.06.2010, U614/10). So stellt nach der Rechtsprechung des VwGH die Berücksichtigung des Kindeswohls im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen lediglich einen Aspekt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung das; das Kindeswohl ist daher bei der Abwägung des öffentlichen Interesses von Fremden nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium. Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab (vgl. VwGH 09.03.2023, Ra 2022/20/0382; 09.03.2022, Ra 2022/14/0044). Es entspricht aber auch der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass eine Trennung von Familienangehörigen, mit denen ein gemeinsames Familienleben im Herkunftsland nicht zumutbar ist, der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes jedenfalls dann für gerechtfertigt erachtet wird, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie dies insbesondere bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regeln über den Familiennachzug der Fall ist (vgl. VwGH 14.08.2023, Ra 2023/14/0041; VwGH 21.02.2022, Ra 2021/14/0335, mwN). Vor diesem Hintergrund wiegt demnach schwer, dass mit der Einreise und Asylantragstellung der BF von Anfang an die Umgehung der Regeln über den Familiennachzug beabsichtigt wurde und kommt hinzu, dass es der Kindsmutter außerdem zumutbar und möglich ist in die Russische Föderation zurückzukehren und kann ein gemeinsames Familienleben auch im Herkunftsstaat geführt werden. Mit dem BF1 bleibt auch eine wichtige Bezugsperson der minderjährigen BF erhalten, der sich auch vor der Ausreise die letzten 6 Jahre fürsorglich um die minderjährigen BF kümmerte.

Kinderspezifische Gefahren sind für die BF2 und die BF3, welche in einer behüteten Familie aufwachsen nicht vorhanden. Der Krieg gegen die Ukraine bringt keine Gefahren für die minderjährigen BF aus derzeitiger Sicht.

Zusammengefasst ist daher davon auszugehen, dass eine neuerliche Anpassung der BF2 und BF3 in Hinblick auf die Sprache, die Fortsetzung begonnener Ausbildungen (Schule, Universität/Berufsausbildung) und Fortsetzung der auch von Österreich aufrecht erhaltenen freundschaftlichen Kontakte im Herkunftsstaat zumutbar ist. Selbst Schwierigkeiten der (Re)Integration sind in Fällen der gemeinsamen Ausreise mit den Eltern und wie hier im gegenständlichen Fall mit ihrem alleinobsorgeberechtigten Vater nach der ständigen Rechtsprechung im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen in Kauf zu nehmen (vgl. VwGH 05.07.2011, 2008/21/0282).

Die Bindungen der BF zur Russischen Föderation sind daher auch unter Berücksichtigung des Kindeswohls in der Gesamtheit stärker als ihre Bindungen zu Österreich und steht das Kindeswohl einer Rückkehr der minderjährigen BF in den Herkunftsstaat gemeinsam mit dem BF1 nicht entgegen.

3.4.5. In einer Gesamtabwägung überwiegen daher das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens die Interessen der BF an der Aufrechterhaltung ihres Familien- und Privatlebens in Österreich auch vor dem Hintergrund des Kindeswohles (vgl. VwGH 14.08.2023, Ra 2023/14/0041; VwGH vom 09.03.2022, Ra 2022/14/0044). Den Beschwerden waren daher auch in Bezug auf die Rückkehrentscheidung als unbegründet abzuweisen.

Nicht übersehen wird, dass bei einer Rückkehr der BF und einer erfolgten Genehmigung des Familiennachzuges, die gleiche Situation eintreten würde, sodass die BF in Österreich eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten würden, die Kinder jedoch die Strapazen der Rückkehr erspart bleiben würde. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass gerade im gegeben Fall ein solches Verfahren zwar geführt und teilweise vollendet wurde, ein Rechtsmittel gegen eine negative Entscheidung nicht erhoben wurde, aber wissentlich trotz Kenntnis der Rechtslage die BF in Zusammenarbeit mit der Mutter/Ehefrau die Umgehung des geordneten Familiennachzuges angestrebt wurde, um so vollendete Tatsachen zu schaffen. Dies stellt jedoch einen gravierenden Verstoß gegen die öffentlichen Interessen dar und muss daher das familiäre und private Interesse hintanstehen.

3.4.6. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.

Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

Nach § 50 Abs. 2 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 GFK), es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).

Nach § 50 Abs. 3 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

Eine derartige Empfehlung besteht für die Russische Föderation nicht.

Die Abschiebung der BF in ihren Herkunftsstaat ist zulässig, weil bei der Nichtgewährung des Status des Asylberechtigten der BF und der Nichtgewährung von subsidiärem Schutz zugrundeliegenden Feststellungen zufolge keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergibt.

3.4.7. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides. Dies, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, jene Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen. Derartige Gründe wurden im Verfahren nicht vorgebracht und es liegen keine Anhaltspunkte vor, die eine längere Frist erforderlich machen würden.

Da somit alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung und die gesetzte Frist für die freiwillige Ausreise vorliegen, ist die Beschwerde der BF als unbegründet abzuweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen – im Rahmen der rechtlichen Beurteilung bereits wiedergegebenen – Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

Im gegenständlichen Fall war die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz bereits aufgrund der mangelnden Glaubhaftigkeit des individuellen Fluchtvorbringens des BF und aktueller Länderberichte zu treffen. Auch verfahrensrechtlich wurden keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen.

Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen, auch der Abwägung des Privat- und Familienlebens sowie Kindeswohls, auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung zu Fragen des Art. 8 EMRK wurde bei den Erwägungen II.3.4. wiedergegeben. Insoweit die dort angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

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