AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:W114.2263816.1.00
Spruch:
schriftliche Ausfertigung des am 31.01.2023 mündlich verkündeten Erkenntnisses:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Bernhard DITZ über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Arabische Republik Syrien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien vom 18.10.2022, Zl. 1296114101/220410133, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 31.01.2023 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. XXXX , geboren am XXXX , (im Weiteren: Beschwerdeführer oder BF), ein Staatsbürger der Arabischen Republik Syrien, stellte nach illegaler Einreise nach Österreich am 04.03.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Nachweis seiner Identität legte der BF einen am 29.08.2012 abgelaufenen syrischen Reisepass vor.
2. In seiner Erstbefragung, die ebenfalls am 04.03.2022 stattfand, gab er unter anderem an, syrischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Kurden und Moslem zu sein. Neben seiner Muttersprache Kurdisch spreche er noch Arabisch, Russisch und Ukrainisch. Er stamme aus Ra’s al-Ain, einer Stadt im Gouvernement al-Hasaka in Syrien. Er habe 9 Jahre eine Grundschule besucht und sei Händler und Unternehmer. Seine Mutter, ein Bruder und eine Schwester würden in Syrien, ein Bruder und zwei Schwestern in der Türkei, ein Bruder in der Ukraine und eine Schwester im Irak leben. Ein weiterer Bruder lebe in Österreich und zwei weitere Schwestern in Deutschland und in Griechenland. Er habe im Jahr 2011 Syrien legal verlassen und sei in die Ukraine geflogen, wo er sich bis Ende Februar 2022 aufgehalten habe. Er habe in der Ukraine einen Antrag auf Gewährung eines Aufenthaltstitels gestellt; dieser Antrag sei dort aber abgelehnt worden.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass er nach Ausbruch des Krieges nicht mehr in der Ukraine habe bleiben können. Nach Syrien könne er nicht mehr zurück, weil er vor dem Militärdienst geflohen sei. Bei einer Rückkehr nach Syrien drohe ihm daher eine Haftstrafe und er würde schließlich im Bürgerkrieg getötet werden.
3. In seiner Einvernahme beim BFA am 24.08.2022 bestätigte der BF seine in der Erstbefragung gemachten Angaben und führte weiter aus, dass er ledig und kinderlos sei. Seine ukrainische Lebensgefährtin befinde sich weiterhin in Odessa.
Er habe in der Ukraine drei Mal die Bodybuildingmeisterschaft gewonnen und sei dort als Trainer tätig gewesen. Zudem habe er ein Bekleidungsgeschäft geführt und damit seinen Lebensunterhalt bestritten. Nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine sei er nach Österreich gekommen, weil sich ein Bruder des BF hier aufhalten würde. In seinen Geburtsort Ra’s al-Ain in Syrien könne er nicht mehr zurückkehren, weil dieser unter türkischer Kontrolle stehe und für ihn als Kurde ein Leben dort nicht möglich sei. Sämtliche Verwandte des BF seien in andere Teile von Syrien gezogen oder hätten Syrien verlassen.
Er habe zwar von 1999 bis 2001 den Militärdienst abgeleistet, befürchte aber bei einer Rückkehr nach Syrien, vom Assad-Regime oder einer anderen Konfliktpartei des Bürgerkriegs als Reservist zwangsrekrutiert zu werden, was er ablehne.
4. Mit Bescheid des BFA vom 18.10.2022, Zl. 1296114101/220410133, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer jedoch der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Arabische Republik Syrien zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde im Wesentlichsten zusammenfassend in dieser Entscheidung ausgeführt, dass der BF eine ihm mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgungsgefahr habe nicht glaubhaft machen können.
Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 09.11.2022 durch Hinterlegung zugestellt.
5. Gegen die abweisende Entscheidung hinsichtlich der Gewährung des Status eines Asylberechtigten erhob der BF, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, im Weiteren: BBU, mit Schriftsatz vom 05.12.2022, eingebracht am darauf folgenden Tag, fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).
Ergänzend führte der Beschwerdeführer aus, dass er einer Familie von Wehrdienstverweigerern und Regimekritikern entstamme. Sein in Österreich lebender Bruder verfüge über den Status eines Asylberechtigten, ebenso ein weiterer in der Ukraine wohnhafter Bruder; 4 Cousins väterlicherseits sowie 2 Neffen in Deutschland „seien ebenfalls asylberechtigt“. Bei einer Wiedereinreise nach Syrien würde dem BF nunmehr auch wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien eine politisch oppositionelle Gesinnung unterstellt werden.
In seiner Beschwerde führte er aus, dass er während seines Militärdienstes in Syrien eine Spezialausbildung hinsichtlich der Abwehr von Flugzeugen absolviert habe.
Mit seinem Beschwerdevorbringen beantragte der Beschwerdeführer auch die Anberaumung und Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG.
6. Die gegenständliche Beschwerde und die Unterlagen des Verwaltungsverfahrens wurden dem BVwG am 07.12.2022, mit Schreiben des BFA vom 06.12.2022, zur Entscheidung vorgelegt.
7. Im Vorfeld einer mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde auch dem Beschwerdeführer vom BVwG umfangreiches aktuellstes Informationsmaterial zu Syrien, insbesondere das aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 29.12.2022, der EASO – Leitfaden Syrien vom November 2021, der EUAA-Bericht „Syria Security situation“ vom September 2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien „Fragen des BVwG zur Bestrafung von Wehrdienstverweigerung und Desertion“ vom 16.09.2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien „Fragen des BVwG zu Rückkehrern nach Syrien“ vom 14.10.2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien „Fragen des BVwG zu syrischen Wehrdienstgesetzen“ vom 16.09.2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien „Fragen des BVwG zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung (ergänzende AFB)“ vom 14.10.2022 sowie eine Anfragebeantwortung von ACCORD zur Frage von Wehrdienstverweigerung und Desertion in Syrien vom 08.09.2022 zum Parteiengehör übermittelt.
Weder der Beschwerdeführer, noch die BBU haben zu diesem Informationsmaterial eine schriftliche Stellungnahme bzw. ein entgegnendes Vorbringen erstattet.
8. Am 31.01.2023 fand im BVwG eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, bei der der Beschwerdeführer ausführlich hinsichtlich der Plausibilität und Nachvollziehbarkeit seiner von ihm behaupteten Fluchtgründe und einer allenfalls daraus sich ergebenden Verfolgungsgefahr befragt wurde.
Der Beschwerdeführer selbst gab an, vom Assad-Regime verfolgt zu werden, weil er sich durch seine illegale Ausreise dem Reservedienst entzogen habe und ihm nun Landesverrat vorgeworfen werde. In der Folge behauptete er auch, ohne diese Behauptung nachvollziehbar durch die Vorlage von Berichten oder sonstige Unterlagen greifbar und glaubhaft zu machen, dass die Türken jeden Kurden töten würden bzw. die Freie Syrische Armee ihn ebenfalls töten würde, wenn er nicht auf deren Seite kämpfen würde. Dem aus dem aktuellen Informationsmaterial zu Syrien entnommenen Vorhalt, dass das Assad-Regime keine Zwangsrekrutierungen in der unter türkischer Kontrolle stehenden Heimat des BF vornehmen könne und die Kurden überhaupt nicht versuchen würden, Männer, die sich nicht freiwillig gemeldet hätten, zwangsweise zu verpflichten, stimmte der BF letztlich zu.
Im Anschluss an die durchgeführte mündliche Beschwerdeverhandlung wurde die Entscheidung in der gegenständlichen Angelegenheit mündlich verkündet und die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Die wesentlichen Entscheidungsgründe wurden dargelegt, sowie die Rechtsmittelbelehrung und die Belehrung gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG erteilt. Dem Beschwerdeführer wurde eine Ablichtung der Niederschrift ausgefolgt; eine Ablichtung einer Niederschrift wurde an das entschuldigt nicht erschienene BFA elektronisch noch am 31.01.2023 übermittelt.
9. Mit Schreiben vom 08.02.2023 beantragte der Beschwerdeführer die schriftliche Ausfertigung des am 31.01.2023 mündlich verkündeten Erkenntnisses.
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des verfahrensgegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz des BF vom 04.03.2022, der diesbezüglichen Erstbefragung am 04.03.2022 und der Einvernahme des BF vor dem BFA am 24.08.2022, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, einer Einsichtnahme in die Bezug habenden Verfahrensunterlagen des BFA, einer Berücksichtigung des EASO – Leitfadens Syrien vom November 2021, des EUAA-Berichtes „Syria Security situation“ vom September 2022, einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien „Fragen des BVwG zur Bestrafung von Wehrdienstverweigerung und Desertion“ vom 16.09.2022, einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien „Fragen des BVwG zu Rückkehrern nach Syrien“ vom 14.10.2022, einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien „Fragen des BVwG zu syrischen Wehrdienstgesetzen“ vom 16.09.2022, einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien „Fragen des BVwG zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung (ergänzende AFB)“ vom 14.10.2022 sowie einer Anfragebeantwortung von ACCORD zur Frage von Wehrdienstverweigerung und Desertion in Syrien vom 08.09.2022, des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Syrien vom 29.12.2022 (aus dem COI-CMS – Version 8), und den Ergebnissen der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG am 31.01.2023 werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Situation in Syrien:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.12.2022:
„COVID-19:
Letzte Änderung: 29.12.2022
Am 22.03.2020 wurde der erste Fall einer COVID-19 infizierten Person in Syrien bestätigt (ÖB 29.09.2020). Unbestätigte Berichte deuteten damals darauf hin, dass das Virus schon früher entdeckt worden war, dies aber vertuscht wurde (Reuters 23.03.2020). Es folgten weitreichende Maßnahmen (u. a. Ausgangssperren, Verkehrsbeschränkungen, Schließungen von Bildungseinrichtungen und Geschäften), die zwischenzeitig weitgehend aufgehoben wurden. Die Pandemie traf ein Land mit einem Gesundheitssystem, das durch den Konflikt schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dies trifft gerade auch auf die humanitären Brennpunkte mit hunderttausenden Binnenvertriebenen (IDPs) vor allem im Nordwesten zu (ÖB 01.10.2021).
Die Covid-19-Pandemie hat das syrische Gesundheitssystem besonders hart getroffen, und die ohnehin schon angespannte medizinische Versorgungslage zusätzlich verschärft. Die vierte Welle erreichte das Land im Sommer 2021. Die WHO stufte Syrien aufgrund nicht vorhandener Kapazitäten im Gesundheitsbereich bereits zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 als Hochrisikoland ein. Impfstofflieferungen im Rahmen von COVAX verzögerten sich zu Beginn jedoch stark und die Auslieferung in Oppositionsgebiete wurde zeitweise durch das Regime zurückgehalten. Aufgrund fehlender persönlicher Schutzausrüstung, völlig unzureichender Test-, Isolations-, Kontroll- und Versorgungskapazitäten und aktiver Vertuschung der Pandemie durch das Regime gingen Nichtregierungsorganisationen mit Stand November 2021 von über einer halben Million tatsächlicher Infektionen aus (AA 29.11.2021).
Die offiziell verlautbarten Zahlen (rund 70.000 Fälle und 3.300 Tote mit Stand Anfang Juli 2021) für die von der Regierung kontrollierten Landesteile sind sehr niedrig; detto die der Testungen (ÖB 01.10.2021). Eine britische Studie schätzt, dass nur 1,25 % der Infektionen gemeldet wurden. Aufgrund völlig unzureichender PCR-Testungen und der Vertuschung von Infektionen, insbesondere seitens des Regimes, ist von einer, um ein Vielfaches höheren Dunkelziffer in allen Gebieten auszugehen. Die Positivrate lag Ende September 2021 bei 50,8 %, und selbst in den offiziellen Zahlen des Regimes war ein Infektionsanstieg von 186 % gegenüber dem Vormonat zu verzeichnen (AA 29.11.2021). Zwischen Anfang 2020 und dem 31.10.2022 wurden landesweit 200.776 bestätigte Fälle der Coronavirus-Erkrankung (COVID-19) gemeldet. Bis zum 06.11.2022 hatten 15,5 % der Gesamtbevölkerung mindestens eine Dosis des Impfstoffs erhalten, und nur 10,5 % waren vollständig geimpft (UNSC 15.12.2022). Von den bis November 2021 in Syrien verabreichten 950.000 Impfdosen stammten mehr als 50 % aus dem COVAX-Programm, zwei Drittel der bisher Syrien zugewiesenen Impfdosen sind nicht in der EU anerkannt (AA 29.11.2021).
Die Regierung erhielt mit Stand März 2021 geschätzte 120.000 Testsets und andere Ausrüstung von unterschiedlichen Ländern und soll diese an private Labore verkauft haben, statt sie im öffentlichen Gesundheitssystem zu verteilen. Es gibt auch Anschuldigungen, dass die Regierung Lieferungen, die für oppositionelle Gebiete bestimmt waren, für ähnliche Zwecke beschlagnahmt hat, bzw. sich bemüht Hilfsgüter in die eigenen Gebiete zu lenken (COAR 10.03.2021).
Ende September 2021 stand Syrien Berichten zufolge vor einem neuen Anstieg der COVID-19-Infektionen sowohl in den vom Regime kontrollierten Gebieten als auch in den Gebieten der Opposition. Der Anstieg der Krankheits- und Todesfälle war im dicht besiedelten, von der Opposition gehaltenen Nordwesten des Landes in der Nähe der türkischen Grenze besonders alarmierend, wo über vier Millionen Menschen leben, darunter fast eine halbe Million allein in Notzelten. Der Anstieg ist auf die Delta-Variante zurückzuführen, für die eine Welle von Besuchern aus dem Ausland im Sommer verantwortlich gemacht wurde (Reuters 22.09.2021). Anfang Jänner 2022 wurde berichtet, dass die Omikron-Variante nun auch den Nahen Osten erreicht hat (NZZ 09.01.2022).
Die seit Juli 2020 gemeldete stetige Zunahme des betroffenen Gesundheitspersonals unterstreicht - angesichts des fragilen Gesundheitssystems Syriens mit einer ohnehin schon unzureichenden Zahl an qualifiziertem Gesundheitspersonal - das Potenzial einer weiteren Beeinträchtigung der überforderten Gesundheitskapazitäten. Humanitäre Akteure erhalten weiterhin Berichte, dass das Gesundheitspersonal in einigen Gebieten nicht über ausreichende persönliche Schutzausrüstung verfügt (UNOCHA/WHO 10.06.2021).
Unterdessen berichten die unterbesetzten medizinischen Fachkräfte, dass sie ihre Aufgaben unter der Aufsicht der mächtigen Sicherheitsdienste erfüllen müssen, welche die staatlichen Gesundheitseinrichtungen überwachen. Dies soll abschreckend auf Patienten wirken, die bereits zögern, sich in einem Land behandeln zu lassen, in dem die Angst vor dem Staatsapparat groß ist und jede kritische Diskussion über den Umgang mit der Pandemie als Bedrohung für eine Regierung angesehen werden könnte, die entschlossen ist, eine Botschaft der Kontrolle zu vermitteln (AJ 05.10.2020). Menschenrechtsaktivisten zufolge verhaftete das Regime Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs, die mit internationalen Medien über die COVID-19-Krise sprachen oder dem streng kontrollierten Narrativ über die Auswirkungen der Pandemie auf das Land widersprachen (USDOS 12.04.2022).
Währenddessen verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage Syriens weiter. In Verbindung mit dem plötzlichen Zusammenbruch des syrischen Pfunds hat COVID-19 die rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage Syriens im Sommer 2020 noch verschärft. Die aktuelle Wirtschaftslage, zusammen mit den durch die Explosion in Beirut am 04.08.2020 in Mitleidenschaft gezogenen Lieferketten (UNSC 30.09.2020) und dem Verlust von Arbeitsplätzen aufgrund der Auswirkungen von COVID-19, insbesondere bei Tagelöhnern oder der Saisonarbeit, in Verbindung mit dem Anstieg der Nahrungsmittelpreise (UNOCHA/WHO 29.09.2020) haben dazu geführt, dass jetzt geschätzte 12,4 Millionen Menschen in Syrien von Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Das ist ein Anstieg um 4,5 Millionen innerhalb eines Jahres (UNOCHA/WHO 10.06.2021).
Politische Lage:
Letzte Änderung: 29.12.2022
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.01.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 25.02.2019). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba’athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer anderer religiöser Minderheiten. In der Praxis hängt der politische Zugang nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten (FH 24.02.2022).
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen („Shabiha“). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018).
Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.08.2016). Ein Ende der Kampfhandlungen in Syrien ist nicht in Sicht. Der Konflikt ist eingefroren, das Land ist geteilt. Dank russischer Unterstützung hat Machthaber Bashar al-Assad seine Macht wieder gefestigt, auch wenn seine Truppen nur einen Teil des Landes – die Rede ist von rund zwei Dritteln – kontrollieren (DF 16.11.2022).
Die Verfassung schreibt die Vormachtstellung der Vertreter der Ba’ath-Partei in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft vor, und Assad und die Anführer der Ba’ath-Partei beherrschen als autoritäres Regime alle drei Regierungszweige. Die syrische Verfassung stellt auch sicher, dass die Ba’ath-Partei die Mehrheit in allen Regierungsgremien und Vereinigungen der Bevölkerung, wie Arbeiter- und Frauenorganisationen, hat (USDOS 12.04.2022). Mit dem Dekret von 2011 und den Verfassungsreformen von 2012 wurden die Regeln für die Beteiligung anderer Parteien formell gelockert. In der Praxis unterhält die Regierung einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat, um Oppositionsbewegungen zu überwachen und zu bestrafen, die Assads Herrschaft ernsthaft in Frage stellen könnten (FH 24.02.2022). Der Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und dabei kaum durch Verfassung und bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden, sondern v. a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich. Durch diese Entwicklungen der letzten Jahre sind die Schutzmöglichkeiten des Individuums vor staatlicher Gewalt und Willkür – welche immer schon begrenzt waren – weiterhin deutlich verringert worden (AA 29.11.2021).
Ausländische Akteure wie Iran, Russland und die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den vom Regime kontrollierten Gebieten aus. In anderen Gebieten ist die zivile Politik häufig den von der Türkei unterstützten bewaffneten Gruppen oder der Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) untergeordnet (FH 24.02.2022).
[…]
Gebietskontrolle:
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden. Diese jüngste Phase der Deeskalation ist jedoch von Natur aus unbeständig und konnte vor allem dank des fragilen russisch-türkischen Bündnisses im Nordwesten Syriens und der vorübergehenden, aber immer noch andauernden US-Präsenz im Nordosten Syriens aufrechterhalten werden. Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (IPS 20.05.2022). Vor allem Teile des Nordens, Nordwestens und Nordostens Syriens befinden sich weiterhin außerhalb der Kontrolle der Regierung (OHCHR 28.06.2022).
Am Syrienkonflikt ist eine Vielzahl von Akteure beteiligt (IL 12.08.2022). Die Präsenz ausländischer Streitkräfte, die ihren politischen Willen geltend machen, untergräbt weiterhin die staatliche Souveränität, und Zusammenstöße zwischen bewaffneten regimefreundlichen Gruppen deuten darauf hin, dass die Regierung nicht in der Lage ist, die Akteure vor Ort zu kontrollieren (BS 29.04.2020). Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) sind nicht in der Lage, Gebiete von der Türkei zurückzuerobern. Die Amerikaner, Russen, Israelis und Iraner akzeptieren die derzeitige Pattsituation (MEI 26.04.2022). Darüber hinaus hat eine aufstrebende Klasse wohlhabender Kriegsprofiteure begonnen, ihren wirtschaftlichen Einfluss und den Einfluss von ihnen finanzierter Milizen zu nutzen, und innerhalb der staatlichen Strukturen nach legitimen Positionen zu streben (BS 29.04.2020). Das Regime hat zwei Lehren aus dem Konflikt gezogen: Widerspruch mit allen Mitteln niederzuschlagen und verschiedene Akteure gegeneinander auszuspielen, um an der Macht zu bleiben. Aber diese Taktik bringt nicht wirkliche Stabilität oder Sicherheit. Ein permanenter Kampf um ein Minimum an Kontrolle inmitten eines sich verschlechternden sozioökonomischen Umfelds, in dem seine Souveränität von internen und externen Akteuren infrage gestellt wird, ist die Folge (BS 23.02.2022).
Die nordwestliche Ecke der Provinz Idlib, an der Grenze zur Türkei, ist die letzte Enklave der traditionellen Opposition gegen Assads Herrschaft. Sie beherbergt Dutzende von hauptsächlich islamischen bewaffneten Gruppen, von denen die Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) dominiert (MEI 26.04.2022). Die dortigen Lokalräte werden von bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen (BS 23.02.2022).
Der Islamische Staat (IS) wurde im März 2019 aus seinem Gebiet in Syrien zurückgedrängt, nachdem kurdische Kräfte seine letzte Hochburg erobert hatten (FH 04.03.2020). Im Nordosten aber auch in anderen Teilen des Landes verlegt sich der IS verstärkt auf Methoden der asymmetrischen Kriegsführung. Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 01.10.2021).
Nordost-Syrien:
2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) gründeten, gekommen sein. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine "zweite Front" in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba'ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrin, 'Ain al-'Arab (Kobane) und die Jazira von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017). Im März 2016 wurde in dem Gebiet, das zuvor unter dem Namen "Rojava" bekannt war, die Democratic Federation of Northern Syria ausgerufen, die sich über Teile der Provinzen Hassakah, Raqqa und Aleppo und auch über Afrin erstreckte (SWP 7.2018; vgl. KAS 04.12.2018). 2018 übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrin mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe (taz 15.10.2022).
Der militärische Arm der PYD, die YPG, ist die dominierende Kraft innerhalb des Militärbündnisses Syrian Democratic Forces (SDF). Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen den IS mit einem autonomen Gebiet "belohnt" zu werden, ist bisher ausgeblieben (KAS 04.12.2018a). Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen in diesem Gebiet an (USDOS 12.04.2022). Die Gespräche zwischen der kurdischen Selbstverwaltung (Syrian Democratic Council; politischer Arm der SDF) und der Regierung in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren. Die Zusammenarbeit auf technischer Ebene resp. der Güteraustausch (Raffinierung/Kauf von Erdöl; Aufkauf von Weizen) hat sich auch verkompliziert (ÖB 01.10.2021). Im Juni 2022 erklärte Präsident Erdoğan, dass eine neue türkische Militäroperation geplant sei, die sich gegen Gebiete an der syrisch-türkischen Grenze wie Kobane ('Ayn al-'Arab), Tal Rifa'at und Manbij richten würde, die von den kurdisch SDF kontrolliert werden (AJ 18.11.2022).
Das syrische Regime, die HTS und andere bewaffnete Gruppen in Idlib sowie die PYD in ihren Regionen haben autoritäre Systeme beibehalten oder aufgebaut. Dabei setzt das Regime am meisten und die PYD am wenigsten auf gewaltsame Unterdrückung zur Machterhaltung. Doch selbst im günstigsten Fall sind die Möglichkeiten der Bürger, ihren Interessen Gehör zu verschaffen, stark eingeschränkt (BS 23.02.2022). Die syrischen Kurden unter Führung der PYD beanspruchen in den Selbstverwaltungskantonen ein Gesellschaftsprojekt aufzubauen, das von basisdemokratischen Ideen, von Geschlechtergerechtigkeit, Ökologie und Inklusion von Minderheiten geleitet ist. Während Befürworter das syrisch-kurdische Gesellschaftsprojekt als Chance für eine künftige demokratische Struktur Syriens sehen, betrachten Kritiker es als realitätsfremd und autoritär (KAS 04.12.2018). Die kurdischen Führungskräfte der YPG erklären, ihr Ziel sei die regionale Autonomie innerhalb eines dezentralisierten Syriens, nicht die Unabhängigkeit (Reuters 14.11.2022). Die PYD ist weniger gewalttätig in ihrer Repression, übt aber eine strikte Kontrolle in ihrem Einflussbereich aus. Während die kurdische Verfassung demokratisch ist, trägt die Herrschaft der PYD starke autoritäre Züge; der politische Wettbewerb ist nicht offen, sondern wird sorgfältig kontrolliert (BS 23.02.2022). Zwischen den rivalisierenden Gruppierungen unter den Kurden gibt es einerseits Annäherungsbemühungen, andererseits kommt es im Nordosten aus politischen Gründen und wegen der schlechten Versorgungslage zunehmend auch zu innerkurdischen Spannungen zwischen dem sogenannten Kurdish National Council, der Masoud Barzanis KDP (Anm.: Kurdistan Democratic Party - Irak) nahesteht und dem ein Naheverhältnis zur Türkei nachgesagt wird, und der Democratic Union Party (PYD), welche die treibende Kraft hinter der kurdischen Selbstverwaltung ist, und die aus Sicht des Kurdish National Council der PKK zu nahe steht (ÖB 01.10.2021). Die Türkei betrachtet die YPG als syrischen Ableger der PKK. Obwohl die USA und die EU die PKK als Terrororganisation betrachten, betrachten sie die YPG als eine eigenständige Organisation und führen sie nicht auf ihren Terrorlisten (SWP 30.05.2022).
Sicherheitslage:
Letzte Änderung: 29.12.2022
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Es ist zu beachten, dass die durch die türkischen Offensiven im Nordosten ausgelöste Dynamik verlässliche grundsätzliche Aussagen und Trendeinschätzungen schwierig macht. Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB 01.10.2021).
Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien:
Quelle: CC 03.11.2022 mit Stand 30.09.2022
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Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 04.12.2018). Mitte des Jahres 2016 kontrollierte die syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der "wichtigsten" Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt (Reuters 13.04.2016). Militärisch kontrolliert das syrische Regime den Großteil des Landes mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die andauernde und massive militärische Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten des Irans bzw. durch von Iran unterstützte Milizen einschließlich Hizbollah, der bewaffnete oppositionelle Kräfte wenig entgegensetzen können. Die Streitkräfte des Regimes selbst sind mit Ausnahme einiger Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 29.11.2021). Das Wiederaufflammen der Kämpfe und die Rückkehr der Gewalt geben laut UNHRC (UN Human Rights Council) Anlass zur Sorge. Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.09.2021). Der Sondergesandte des Generalsekretärs für Syrien Geir O. Pedersen hat am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat vor den besorgniserregenden und gefährlichen Entwicklungen in Syrien gewarnt. Dabei wies er insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022).
Die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die Arabische Republik Syrien stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien, die sie als "Operation Claw-Sword" bezeichnet und die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielt, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße getroffen hat (HRW 07.12.2022). Die Türkei hat seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien gestartet (France24 20.11.2022). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 07.12.2022).
Im Nordwesten Syriens führte das Vordringen der Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen. Russland verstärkte seine Luftangriffe in Idlib, und die Türkei griff kurdische und Regimekräfte an. Russland setzte die Bombardierungen in der Provinz Idlib am 7., 11. und 17.10.2022 fort und belastete damit den Waffenstillstand vom März 2020 (ICG 10.2022).
Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:
Mittlerweile leben 66 % der Bevölkerung wieder in den von der Regierung kontrollierten Territorien (ÖB 01.10.2021). Mehr als zwei Drittel der im Land verbliebenen Bevölkerung leben in Gebieten unter Kontrolle des syrischen Regimes. Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte HTS sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und ihr nahestehender bewaffneter Gruppierungen in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten SDF und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes. Auch in formal vom Regime kontrollierten Gebieten sind die Machtverhältnisse mitunter komplex, die tatsächliche Kontrolle liegt häufig bei lokalen bewaffneten Akteuren (AA 29.11.2021).
Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen des Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.01.2022). Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).
In weiten Teilen des Landeseine besteht eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. Laut der COI gab es in Afrin und Ra's al-'Ayn zwischen Juli 2020 und Juni 2021 zahlreiche Sicherheitsvorfälle durch Sprengkörper und Sprengfallen (u.a. IEDs), die häufig an belebten Orten detonierten und bei denen mindestens 243 Zivilisten ums Leben kamen. Laut dem UN Humanitarian Needs Overview von 2020 sind in Syrien 11,5 Mio. Menschen der Gefahr durch Minen und Fundmunition ausgesetzt. 43 % der besiedelten Gebiete Syriens gelten als kontaminiert. Ca. 25 % der dokumentierten Opfer durch Minenexplosionen waren Kinder. UNMAS (United Nations Mine Action Service) hat insgesamt bislang mehr als 12.000 Opfer erfasst. Die Großstädte Aleppo, Raqqa, Homs, Dara‘a und Deir ez-Zor sowie zahlreiche Vororte von Damaskus sind hiervon nach wie vor besonders stark betroffen. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Trotz eines "Memorandum of Understanding" zwischen der zuständigen UNMAS und Syrien behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und -Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 29.11.2021).
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Türkische Militäroperationen in Nordsyrien
Letzte Änderung: 29.12.2022
"Operation Schutzschild Euphrat" (türk. "Fırat Kalkanı Harekâtı")
Am 24.08.2016 hat die Türkei die "Operation Euphrates Shield" (OES) in Syrien gestartet (MFATR o.D.; vgl. WINEP 26.03.2019). Die OES war die erste große Militäroperation der Türkei in Syrien (OR o.D.). In einer Pressemitteilung des Nationalen Sicherheitsrats (vom 30.11.2016) hieß es, die Ziele der Operation seien die Aufrechterhaltung der Grenzsicherheit und die Bekämpfung des Islamischen Staat (IS) im Rahmen der UN-Charta; außerdem wurde betont, dass die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) sowie die mit ihr verbundenen PYD/YPG keinen Korridor des Terrors vor den Toren der Türkei errichten dürfen (CE 19.01.2017). Obwohl die türkischen Behörden offiziell erklärten, dass die oberste Priorität der Kampf gegen den IS sei, betonen viele Kommentatoren und Analysten jedoch, dass das Ziel darin bestand, die Schaffung eines einzigen von den Kurden kontrollierten Gebiets in Nordsyrien zu verhindern (OR o.D.; vgl. WINEP 26.03.2019, SWP 30.05.2022). Die Türkei betrachtet die kurdische Volksverteidigungseinheit (Yekîneyên Parastina Gel - YPG) und ihren politischen Arm, die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat - PYD), als den syrischen Zweig der PKK und damit als direkte Bedrohung für die Sicherheit der Türkei (SWP 30.05.2022). Seit die türkischen Streitkräfte und die von ihnen unterstützten Gruppierungen nach der Militäroperation OES mehrere Gebiete in Aleppo eingenommen haben, haben sich die humanitären Krisen allmählich verschärft, es kommt fast täglich zu Übergriffen, Angriffen und Explosionen (SOHR 04.12.2022).
"Operation Olivenzweig" (türk. "Zeytin Dalı Harekâtı")
Im März 2018 nahmen Einheiten der türkischen Armee und der mit ihnen verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) im Rahmen der "Operation Olive Branch" (OOB) die zuvor kurdisch kontrollierte Stadt Afrin ein (Bellingcat 01.03.2019). Laut türkischem Außenministerium waren die Ziele der OOB die Gewährleistung der türkischen Grenzsicherheit, die Entmachtung der Terroristen in Afrin und die Befreiung der lokalen Bevölkerung von der Unterdrückung der Terroristen. Das türkische Außenministerium berichtete weiter, dass das Gebiet in weniger als zwei Monaten von PKK/YPG- und IS-Einheiten befreit wurde (MFATR o.D.). Diese Aussage impliziert, dass Ankara bei der Verfolgung der Grenzsicherheit und der regionalen Stabilität keinen Unterschied zwischen IS und YPG macht (WINEP 26.03.2019). Bis März 2018 hatte die türkische Offensive Berichten zufolge den Tod Dutzender Zivilisten und laut den Vereinten Nationen (UN) die Vertreibung Zehntausender zur Folge. Von der Türkei unterstützte bewaffnete Gruppierungen, die mit der FSA in Zusammenhang stehen, beschlagnahmten, zerstörten und plünderten das Eigentum kurdischer Zivilisten in Afrin (HRW 17.01.2019). Laut UN ist die Menschenrechtssituation in Orten wie Afrin, Ra's al-ʿAin und Tall Abyad schlecht - Gewalt und Kriminalität seien weit verbreitet (UN News 18.09.2020).
"Operation Friedensquelle" (türk. "Barış Pınarı Harekâtı")
Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 09.10.2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Im Zuge dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits wollte die Türkei mithilfe der Offensive die YPG und die von der YPG geführten Syrian Democratic Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits war das Ziel der Offensive einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in dem rund zwei der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, angesiedelt werden sollen (CNN 11.10.2019). Der UN zufolge wurden ebenfalls innerhalb einer Woche bis zu 160.000 Menschen durch die Offensive vertrieben und es kam zu vielen zivilen Todesopfern (UN News 14.10.2019). Es gab Befürchtungen, dass es aufgrund der Offensive zu einem Wiedererstarken des IS kommt (TWP 15.10.2019). Medienberichten zufolge sind in dem Gefangenenlager ʿAyn Issa 785 ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und geflohen (DS 13.10.2019). Nach dem Beginn der Operation kam es außerdem zu einem Angriff durch IS-Schläferzellen auf die Stadt Raqqa. Die geplante Eroberung des Hauptquartiers der syrisch-kurdischen Sicherheitskräfte gelang den Islamisten jedoch nicht (DZ 10.10.2019). Auch im Zuge der türkischen Militäroperation "Friedensquelle" kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB 01.10.2021).
Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am 14.10.2019 in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der "türkischen Aggression" entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichteten (DS 15.10.2019). Laut der Vereinbarung übernehmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein (TWP 15.10.2019). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021).
Nach Vereinbarungen zwischen der Türkei, den USA und Russland richtete die Türkei eine "Sicherheitszone" in dem Gebiet zwischen Tall Abyad und Ra's al-ʿAyn ein (SWP 01.01.2020; vgl. AA 19.05.2020), die 120 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit ist (AA 19.05.2020).
"Operation Frühlingsschild" (türk. "Bahar Kalkanı Harekâtı")
Ab Ende Februar 2020 rückten die Regierungstruppen auch im Osten Idlibs vor, und die Frontlinien verschoben sich rasch. Die Vereinten Nationen bezeichneten die Luftangriffe der Regierung und der regierungsnahen Kräfte im Nordwesten im Februar 2020 als "eines der höchsten Ausmaße seit Beginn des Konflikts [...] Zu den täglichen Zusammenstößen mit nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen gehörten gegenseitiger Artilleriebeschuss und Zusammenstöße am Boden mit einer hohen Zahl von Opfern" (UNSC 23.04.2020). Die Offensive führte zu direkten Kämpfen zwischen Kräften der syrischen Regierung und türkischen Streitkräften, und bei einem Luftangriff der Regierungskräfte und Russlands auf einen türkischen Konvoi im Februar 2020 wurden in Idlib 33 türkische Soldaten getötet. Dies veranlasste die Türkei, die "Operation Frühlingsschild" einzuleiten, um die Offensive der syrischen Regierung im Gouvernement Idlib zu stoppen (CC 17.02.2021). Der Auslöser für die türkische "Operation Frühlingsschild" im Norden Idlibs im Februar 2020 war die Verhinderung eines Übergreifens des syrischen Konflikts - insbesondere in Bezug auf Extremisten und Flüchtlingen - auf die Türkei als Folge einer neuen Regimeoffensive. Ein tieferer Beweggrund für die Operation war der Wunsch Ankaras, eine Grenze gegen weitere Vorstöße des Regimes zu ziehen, die die türkischen Gebietsgewinne in Nordsyrien gefährden könnten. Die Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) war ein wichtiger Profiteur der Operation (Clingendael 9.2021).
Das vorrangige Ziel Russlands und des syrischen Regimes ist es, den Druck auf HTS aufrechtzuerhalten. Die Türkei hat ihrerseits regelmäßig Drohnenaktivitäten über Idlib gezeigt. Das Hauptziel der Türkei besteht darin, eine Pufferzone zu den Kräften des syrischen Regimes aufrechtzuerhalten, deren Vorrücken - ohne vorherige Absprache oder Vereinbarung - die Sicherheit der türkischen Grenze gefährden würde (EPC 17.02.2022). Es kommt in den türkisch-besetzten Gebieten zu internen Kämpfen zwischen von der Türkei unterstützten bewaffneten Gruppen. Obwohl die Türkei versucht hat, die Ordnung innerhalb der von ihr unterstützten oppositionellen Syrian National Army (SNA) aufrechtzuerhalten, kommt es immer wieder zu Gewaltausbrüchen (TCC 18.02.2021). Die Kämpfe zwischen den Fraktionen der SNA haben zur allgemeinen Instabilität in den von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien beigetragen. Weder die von den USA unterstützten, kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) noch die HTS sind in ihren Reihen so konfliktreich wie die SNA (CC 3.2022). In den von der Türkei beherrschten Gebieten, vor allem im nördlichen Teil der Provinz Aleppo, kommt es vermehrt zu Anschlägen seitens der kurdischen YPG. Die sehr komplexe Gemengelage an (bewaffneten) Akteuren, u.a. YPG und Türkei-nahe Rebellengruppen, die sich auch untereinander bekämpfen, führt zu einer sehr konfliktgeladenen Situation in der Provinz Aleppo und vor allem in deren nördlichem Teil (ÖB 01.10.2021). Der jüngste Anstieg der Gewalt kam, als die Türkei nach dem Bombenanschlag vom 13.11.2022 in Istanbul, für den sie die YPG und die PKK verantwortlich machte, mit einer neuen Bodenoperation drohte (AJ 24.11.2022; vgl. VOA 27.11.2022; HRW 07.12.2022).
Die von Präsident Erdoğan ankündigte Militäroffensive der Türkei 2022
Im Mai 2022 erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die Türkei erwäge eine Militäroperation zur Ausweitung der türkisch kontrollierten Gebiete in Syrien, um dem Einfluss der YPG entgegenzuwirken (CRS 08.11.2022; vgl. HRW 17.08.2022). Erdogan hat wiederholt angekündigt, einen 30 Kilometer breiten Streifen an der syrischen Grenze vollständig einzunehmen, um eine sogenannte Sicherheitszone auf der syrischen Seite der Grenze zu errichten (MI 21.11.2022; vgl. RND 27.11.2022; vgl. HRW 17.08.2022). Zuletzt konzentrierte er seine Drohungen auf die Region um Kobanê und Manbij - also die westlichen Selbstverwaltungsgebiete (MI 21.11.2022). Kobanê als Symbol des Widerstandes des kurdischen Selbstverwaltungsgebiets (auch Rojava) steht im Fokus der türkischen Angriffe. Dörfer und das Zentrum von Kobanê werden immer wieder attackiert (ANF 29.11.2022).
Am 20.11.2022, eine Woche nach einem Bombenanschlag in Istanbul am 13.11.2022, bei dem sechs Menschen getötet und Dutzende verletzt wurden (OSES 29.11.2022; vgl. AW 30.11.2022, AJ 22.11.2022), startete die Türkei die sogenannte "Claw-Sword Air Operation". Die Regierung in Ankara macht die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die syrische Kurdenmiliz YPG für den Anschlag verantwortlich. Sowohl PKK als auch YPG und die Demokratischen Kräfte Syriens, die wichtigste Bodentruppe im Kampf gegen den IS im Nordosten Syriens, haben eine Beteiligung an dem Bombenanschlag in Istanbul bestritten (HRW 07.12.2022; vgl. DZ 20.11.2022; OSES 29.11.2022). Als Vergeltungsmaßnahme hat das türkische Militär eine Reihe von Luftangriffen auf mutmaßliche militante Ziele in Nordsyrien und im Irak geflogen (AW 30.11.2022; vgl. AJ 22.11.2022). Eine Bodenoffensive werde "zu gegebener Zeit" beginnen, so Erdoğan. Es wäre die vierte Militäroperation in Nordsyrien, wo die Türkei mit den Invasionen von 2016, 2018 und 2019 die YPG aus der Grenzregion zurückgedrängt hat und große Landstriche besetzt hält. Auf diese Weise will Ankara die YPG eindämmen. Zugleich erhofft sich die Türkei, syrische Kriegsflüchtlinge aus der Türkei in dieser Region anzusiedeln (RND 27.11.2022). Seit dem 19.11.2022 attackiert die türkische Armee das kurdische Selbstverwaltungsgebiet mit Kampfbombern, Artillerie und Drohnen. Dabei sind Dutzende Zivilisten und Mitglieder der Verteidigungs- und Sicherheitskräfte ums Leben gekommen. Außerdem wurden mehr als zwanzig Soldaten des Assad-Regimes getötet (ANF 29.11.2022). Die kurdische Miliz SDF teilten mit, türkische Flugzeuge hätten bei den Angriffen auch zwei Dörfer mit Binnenflüchtlingen in Nordsyrien unter Beschuss genommen. Die türkischen Angriffe hätten außerdem zivile Infrastruktur zerstört, darunter Getreidesilos, ein Kraftwerk und ein Krankenhaus. Türkischen Angaben hingegen zufolge handle es sich bei den zerstörten Zielen um Bunker, Tunnel und Munitionsdepots. Die SDF im Norden Syriens hat Vergeltung für türkische Luftangriffe auf ihre Stellungen angekündigt (DZ 20.11.2022). Am 23.11.2022 richteten sich die türkischen Angriffe auch gegen einen SDF-Posten im Gefangenenlager al-Hol, in dem mehr als 53 000 IS-Verdächtige und ihre Familienangehörigen festgehalten werden, die meisten von ihnen Frauen und Kinder aus etwa 60 Ländern (HRW 07.12.2022). Die verstärkten Militäraktionen in Teilen des Nordwestens und Nordostens Syriens haben die Angst vor einem weiteren Ausbruch des Konflikts geweckt, der sich auf bewohnte Zivilgebiete und überfüllte humanitäre Einrichtungen auswirken könnte. In ganz Nordsyrien wurden Berichten zufolge Zivilisten verletzt und wichtige zivile Infrastrukturen beschädigt, wodurch der Zugang der Menschen zu lebenswichtigen Gütern wie Strom und Wasser gefährdet ist (SIRF 01.12.2022; vgl. HRW 07.12.2022).
Die USA, Russland und Iran haben öffentlich vor einem weiteren türkischen Einmarsch in Nordostsyrien gewarnt (HRW 17.08.2022). Die USA haben zur "sofortigen Deeskalation" aufgerufen. Größte Sorge in Washington ist, dass eine türkische Offensive im Nordirak der Terrormiliz IS in die Hände spielt (RND 27.11.2022; vgl. USDOS 23.11.2022). Zellen des IS sind in Syrien immer noch aktiv. Die YPG ist ein wichtiger Verbündeter der USA im Kampf gegen den IS. Tausende ehemalige IS-Kämpfer sitzen in Gefängnissen, die von der Kurdenmiliz kontrolliert werden. Eine Schlüsselrolle für die türkische Syrien-Strategie spielt Russland. Präsident Wladimir Putin ist der wichtigste politische und militärische Verbündete des syrischen Machthabers Bashar al-Assad. Die russischen Streitkräfte haben die Lufthoheit über Syrien. Für eine Bodenoffensive braucht Erdoğan zumindest die Duldung Moskaus. Putins Syrien-Beauftragter Alexander Lawrentjew forderte die Türkei auf, "von exzessiver Gewaltanwendung auf syrischem Staatsgebiet abzusehen" (RND 27.11.2022). Am 30.11.2022 verlegte Russland Truppenverstärkungen in ein Gebiet in Nordsyrien, das von kurdischen Kämpfern und Regierungstruppen kontrolliert wird, wie Anwohner und ein Kriegsbeobachter sagten. Auch die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) erklärte, Russland verstärke seine Truppen auf einem von der Regierung kontrollierten Luftwaffenstützpunkt in der Nähe von Tal Rifa'at (AN 30.11.2022).
Nordost-Syrien
Letzte Änderung: 29.12.2022
Mit Stand Dezember 2022 befinden sich die Gouvernorate al-Hassakah und Ar-Raqqa sowie Teile von Deir Ez-Zor nördlich des Flusses Euphrat und Teile des Gouvernements Aleppo um Manbij und Kobanê sowie das Gebiet um Tal Rifa'at unter der Kontrolle der kurdisch geführten SDF [Anm.: Syrian Democratic Forces - Syrische Demokratischen Kräfte der selbsternannten Selbstverwaltungsregion, auch Autonomous Administration of North and East Syria - AANES] (Liveuamap Stand 02.12.2022).
Die folgende Karte zeigt die Machtverhältnisse in der Region mit Stand 02.12.2022:
Quelle: Liveuamap 02.12.2022
Der Rückzug der USA aus den Gebieten östlich des Euphrat im Oktober 2019 ermöglichte es der Türkei, sich in das Gebiet auszudehnen und ihre Grenze tiefer in Syrien zu verlegen, um eine Pufferzone gegen die SDF zu schaffen (CMEC 02.10.2020). Aufgrund der türkischen Vorstöße sahen sich die SDF dazu gezwungen, mehrere tausend syrische Regierungstruppen aufzufordern, in dem Gebiet Stellung zu beziehen, um die Türkei abzuschrecken, und den Kampf auf eine zwischenstaatliche Ebene zu verlagern (ICG 18.11.2021). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021). Entgegen früheren Ankündigungen bleiben die USA weiterhin militärisch präsent (ÖB 01.10.2021; vgl. AA 29.11.2021; JsF 09.09.2022). Am 04.09.2022 errichteten die US-Truppen einen neuen Militärstützpunkt im Dorf Naqara im Nordosten Syriens, der zu den drei Standorten der US-geführten internationalen Koalition in der Region Qamishli gehört. Der neue Militärstützpunkt kann dazu beitragen, die verstärkten Aktivitäten Russlands und Irans in der Region zu überwachen; insbesondere überblickt er direkt den von den russischen Streitkräften betriebenen Luftwaffenstützpunkt am Flughafen Qamishli. Er ist nur wenige Kilometer von den iranischen Militärstandorten südlich der Stadt entfernt (JsF 09.09.2022). Die kurdischen, sogenannten "Selbstverteidigungseinheiten" (Yekîneyên Parastina Gel - YPG) stellen einen wesentlichen Teil der Kämpfer und v. a. der Führungsebene der SDF, welche in Kooperation mit der internationalen Anti-IS-Koalition militärisch gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Syrien vorgehen. Die Türkei unterstellt sowohl den Streitkräften der YPG als auch der Democratic Union Party (PYD) Nähe zur von der EU als Terrororganisation gelisteten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und bezeichnet diese daher ebenfalls als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 29.11.2021).
Nach wie vor kommt es trotz der am 22.10.2019 in Sotschi zwischen Russland und der Türkei vereinbarten Waffenruhe immer wieder zu lokalen Auseinandersetzungen und Kampfhandlungen am Rande der türkisch kontrollierten Zone zwischen pro-türkischen Milizen und Einheiten der SDF, insbesondere an den Rändern der türkisch kontrollierten Zone im Raum um Tal Tamar rund 30 km südlich von Ra's al-'Ayn sowie südlich von Tal Abyad (AA 29.11.2021; vgl. USDOD 04.11.2021). Die "Deeskalationszone", die sich von den nordöstlichen Bergen von Latakia bis zu den nordwestlichen Vororten von Aleppo erstreckt und sowohl durch Hama als auch durch Idlib verläuft, wurde nach einem Treffen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan am 05.03.2020 mit einer Waffenruhe belegt. In der Region ist es jedoch zu einer spürbaren Eskalation der Militäroperationen durch russische und regimetreue Kräfte und den ihnen nahestehenden Milizen gekommen, einschließlich des täglichen Bombardements mit Dutzenden von Raketen und Artilleriegranaten und russischen Luftangriffen, die alle zu erheblichen menschlichen Verlusten und Sachschäden geführt haben (SOHR 02.12.2022).
Die Türkei stützte sich bei ihrer Militäroffensive im Oktober 2019 auch auf Rebellengruppen, die in der "Syrian National Army" (SNA) zusammengefasst sind; seitens dieser Gruppen kam es zu gewaltsamen Übergriffen, insbesondere auf die kurdische Zivilbevölkerung sowie Christen und Jesiden (Ermordungen, Plünderungen und Vertreibungen). Aufgrund des Einmarsches wuchs die Zahl der intern vertriebenen Menschen im Nordosten auf über eine halbe Million an (ÖB 01.10.2021). Seit Mai 2022 droht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit einer zusätzlichen militärischen Bodenoperation im Nordosten Syriens, welche die Städte Tel Rifa'at und Manbij im Gouvernement Aleppo zum Ziel hat (HRW 17.08.2022; vgl. CC 03.11.2022). Dieser geplante Einmarsch wäre ein weiterer in einer Serie seit 2016 (HRW 17.08.2022). Die von Präsident Erdoğan ankündigte Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien gegen das Selbstverwaltungsgebiet (auch Rojava) ist laut Einschätzung des IFK (Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement) "weiterhin möglich": "Im Gegensatz zu früheren Operationen (z.B. Afrin 2018) dürfte dieses Mal aber die Existenz „Rojavas“ auf dem Spiel stehen" (IFK 8.2022). Auch das Risiko terroristischer Anschläge, insbesondere, aber nicht ausschließlich durch Untergrundgruppen des IS bleibt in Nordostsyrien sehr hoch (AA 29.11.2021).
Auf folgender Karte ist das Konfliktgeschehen zwischen Türkei und SDF für den Zeitraum 01.07.2022 bis 30.09.2022 auf Basis von ACLED-Daten verortet:
Quelle: CC 03.11.2022 (Daten von The Carter Center und ACLED)
ACLED registrierte im dritten Quartal 2022 270 Konfliktfälle zwischen verschiedenen kurdischen bewaffneten Gruppen und türkischen Streitkräften oder von der Türkei unterstützten Oppositionsgruppen. Dies ist ein Rückgang um 30 % im Vergleich zum letzten Quartal. Der Rückgang erfolgte trotz der Rhetorik und der Besorgnis über einen neuen türkischen Einmarsch in Nordsyrien. Die Zahl der türkischen Drohnenangriffe ist weitgehend gleich geblieben (28 Ereignisse im zweiten Quartal und 29 im dritten Quartal). Die Angriffe beschränkten sich jedoch nicht mehr auf die Frontlinien, wo die überwiegende Mehrheit der Zusammenstöße und Beschussereignisse stattfinden; im Juli und August 2022 schlugen türkische Drohnen auf Ziele in den wichtigsten von den SDF kontrollierten städtischen Zentren und töteten Gegner (und Zivilisten) in Manbij, Kobani, Tell Abyad, Ar-Raqqa, Qamishli, Tell Tamer und al-Hassakah (CC 03.11.2022).
SDF, YPG und YPJ [Anm.: Frauenverteidigungseinheiten] sind nicht nur mit türkischen Streitkräften und verschiedenen islamistischen Extremistengruppen in der Region zusammengestoßen, sondern gelegentlich auch mit kurdischen bewaffneten Gruppen, den Streitkräften des Assad-Regimes, Rebellen der Freien Syrischen Armee und anderen Gruppierungen (AN 17.10.2021). Die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten Syriens umfassen auch den größten Teil des Gebiets, das zuvor unter der Kontrolle des IS in Syrien stand (ICG 11.10.2019; vgl. EUAA 9.2022). Ar-Raqqa war de facto die Hauptstadt des IS gewesen (PBS 22.02.2022), und die Region gilt als "Hauptschauplatz für den Aufstand des IS" (ICG 11.10.2019; vgl. EUAA 9.2022). Die Entwicklungen im Nordosten haben bis dato noch nicht zu dem befürchteten, großflächigen Wiedererstarken des IS geführt (ÖB 01.10.2021), allerdings führt der IS weiterhin militärische Operationen und Gegenangriffe durch und IS-Zellen sind nach wie vor in der Lage, ein Sicherheitsvakuum zu nutzen und Attentate zu verüben (SOHR 29.11.2022).
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Rechtsschutz / Justizwesen
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Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes unter HTS- oder SNA-Dominanz
Letzte Änderung: 29.12.2022
In Gebieten außerhalb der Kontrolle des syrischen Regimes ist die Lage von Justiz und Verwaltung von Region zu Region und je nach den örtlichen Herrschaftsverhältnissen verschieden (AA 29.11.2021; vgl. USDOS 12.04.2022). In von oppositionellen Gruppen kontrollierten Gebieten wurden unterschiedlich konstituierte Gerichte und Haftanstalten aufgebaut, mit starken Unterschieden bei der Organisationsstruktur und bei der Beachtung juristischer Normen (USDOS 11.03.2020; vgl. AA 04.12.2020, USDOS 12.05.2021). Manche Gruppen folgen dem (syrischen) Strafgesetzbuch, andere folgen dem Entwurf eines Strafgesetzbuches auf Grundlage der Scharia, der von der Arabischen Liga aus dem Jahr 1996 stammt, während wiederum andere eine Mischung aus Gewohnheitsrecht und Scharia anwenden. Erfahrung, Expertise und Qualifikation der Richter in diesen Gebieten sind oft sehr unterschiedlich und häufig sind diese dem Einfluss der dominanten bewaffneten Gruppierungen unterworfen (USDOS 11.03.2020). Auch die Härte des angewandten islamischen Rechts unterscheidet sich, sodass keine allgemeinen Aussagen getroffen werden können. Doch werden insbesondere jene religiösen Gerichte, welche in (vormals) vom Islamischen Staat (IS) und von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: HTS wird von den Vereinigten Staaten aufgrund ihrer Verbindungen zu Al Qaida als ausländische Terrororganisation eingestuft (CRS 08.11.2022)] kontrollierten Gebieten Recht sprechen, als nicht mit internationalen Standards im Einklang stehend charakterisiert (ÖB 01.10.2021). Urteile von Scharia-Räten der Opposition resultieren manchmal in öffentlichen Hinrichtungen, ohne dass Angeklagte Berufung einlegen oder Besuch von ihren Familien erhalten können (USDOS 12.04.2022).
In Afrin werden diese Dienstleistungen zum größten Teil durch von der Türkei eingesetzte Behörden übernommen (AA 29.11.2021). In Gebieten, die von bewaffneten Oppositionsgruppen oder der Syrian National Army (SNA) kontrolliert werden, finden Prozesse gegen Inhaftierte hauptsächlich vor Militärgerichten statt. In dieser Situation kann ein Häftling einen Anwalt hinzuziehen. Viele bewaffnete Oppositionsgruppen nehmen jedoch Verhaftungen ohne Haftbefehl vor; es gibt dann kein Gerichtsverfahren. Auf diese Weise werden Verhaftete verschwinden gelassen (NMFA 6.2021).
In Idlib übernehmen quasi-staatliche Strukturen der sogenannten „Errettungs-Regierung“ der Terrororganisation HTS Verwaltungsaufgaben (AA 29.11.2021). Die Verwaltung des von der HTS kontrollierten Gebiets verfügt auch über eine Justizbehörde. Die Gruppe unterhält auch geheime Gefängnisse. Die HTS unterwirft ihre Gefangenen geheimen Verfahren, den sogenannten "Scharia-Sitzungen". In diesen werden die Entscheidungen von den Scharia- und Sicherheitsbeamten (Geistliche in Führungspositionen der HTS, die befugt sind, Fatwas [Rechtsgutachten] und Urteile zu erlassen) getroffen. Die Gefangenen können keinen Anwalt zu ihrer Verteidigung hinzuziehen und sehen ihre Familien während ihrer Haft nicht (NMFA 6.2021). Die COI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) stellt in ihrem Bericht vom März 2021 fest, dass durch HTS und andere bewaffnete Gruppierungen eingesetzte, rechtlich nicht legitimierte Gerichte Urteile bis hin zur Todesstrafe aussprechen. Dies sei als Mord einzustufen und stelle insofern ein Kriegsverbrechen dar (AA 29.11.2021).
Für ganz Syrien gilt, dass nicht gewährleistet ist, dass justizielle Dienstleistungen allen Bewohnern und Bewohnerinnen in gleichem Umfang und ohne Diskriminierung zugutekommen (AA 29.11.2021).
Nordost-Syrien
Letzte Änderung: 29.12.2022
In Gebieten unter Kontrolle der sogenannten „Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ übernimmt diese quasi-staatliche Aufgaben wie Verwaltung und Personenstandswesen (AA 29.11.2021). In den Gebieten unter der Kontrolle der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (engl. Abk.: AANES) - auch kurd. "Rojava" genannt, setzten die Behörden einen Rechtskodex basierend auf einen "Gesellschaftsvertrag" ("social contract") durch. Diese besteht aus einer Mischung aus syrischem Straf- und Zivilrecht und Gesetzen, die sich in Bezug auf Scheidung, Eheschließung, Waffenbesitz und Steuerhinterziehung an EU-Recht orientieren. Allerdings fehlen gewisse europäische Standards für faire Verfahren, wie das Verbot willkürlicher Festnahmen, das Recht auf gerichtliche Überprüfung und das Recht auf einen Anwalt (USDOS 12.04.2022, vgl. NMFA 6.2021). Verfahren gegen politische Gefangene werden in der Regel vor Strafgerichten oder vor einem Gericht für Terrorismusbekämpfung verhandelt. In Ersteren können Inhaftierte einen Anwalt beauftragen, in zweiteren laut International Center for Transitional Justice (ICTJ) nicht (NMFA 6.2021).
Das Justizsystem in den kurdisch kontrollierten Gebieten besteht aus Gerichten, Rechtskomitees und Ermittlungsbehörden (USDOS 12.04.2022). Es wurde eine von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) geführte Verwaltung geschaffen, die neben diesen Rechtsinstitutionen auch eine eigene Polizei, Gefängnisse und Ministerien umfasst (AI 12.07.2017). Juristen, welche unter diesem Justizsystem agieren, werden von der syrischen Regierung beschuldigt, eine illegale Justiz geschaffen zu haben. Richter und Justizmitarbeiter sehen sich mit Haftbefehlen der syrischen Regierung konfrontiert, verfügen über keine Pässe und sind häufig Morddrohungen ausgesetzt (JS 28.10.2019).
Im März 2021 einigten sich Repräsentanten von kurdischen, jesidischen, arabischen und assyrischen Stämmen im Nordosten Syriens auf die Einrichtung eines Stammesgerichtssystems, bekannt als "Madbata", für die Klärung von intertribalen Streitigkeiten, Raubüberfällen, Rache und Plünderungen in der Jazira-Region in der Provinz Hassakah. Es besteht aus einer Reihe von Gesetzen und Bräuchen, die als Verfassung dienen, welche die Stammesbeziehungen regeln und die Anwendung dieser Gesetze überwachen, auf die sich eine Gruppe von Stammesältesten geeinigt hat. Aufgrund von schlechten Sicherheitsbedingungen und dem Fehlen einer effektiven und unparteiischen Justiz wurde wieder auf dieses traditionelle Rechtssystem zurückgegriffen (AM 04.04.2021).
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Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung: 29.12.2022
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Letzte Änderung: 29.12.2022
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB 29.09.2020). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.05.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.11.2021).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB 01.10.2021).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB 01.10.2021; vgl. EASO 4.2021).
Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 04.12.2020). Die im März 2020 und Mai 2021 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetzbuch, darunter Fahnenflucht; die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB 01.10.2021).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.11.2021).
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Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Rekrutierungskampagnen werden aus allen Gebieten unter Regimekontrolle gemeldet, besonders auch aus wiedereroberten Gebieten (EASO 11.2021). Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020).
Ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet (FIS 14.12.2018; vgl. ICG 09.05.2022). In Homs führt die Militärpolizei beispielsweise stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 03.06.2020). Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. EB 03.06.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht. Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) in der Lage ist, zu rekrutieren, jedoch nicht in allen Gebieten der AANES, in denen die kurdischen Gruppierungen vor Ort die Oberhand haben. Die syrische Regierung ist nach wie vor in einigen von der AANES kontrollierten Gebieten präsent und kann dort rekrutieren, wo sie im Sicherheitsdistrikt oder muraba'a amni im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie in Qamishli oder in Deir ez-Zor. In einigen Gebieten wie Afrin hat die syrische Regierung jedoch keine Kontrolle und kann dort keine Personen einberufen (Rechtsexperte 14.09.2022).
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die Syrische Arabische Armee eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.09.2022).
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich im Gouvernement Aleppo konzentriert, von der Türkei unterstützt wird und aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA) besteht. Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann dort keine Personen für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.09.2022).
Reservedienst
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden (TIMEP 22.8.2019; vgl. STDOK 8.2017). Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis zu einem Alter von 27 Jahren ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise angehoben und auch Männer bis zu einem Alter von 55 oder sogar 62 Jahren, abhängig vom Rang, eingezogen, bzw. konnten Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen (ÖB 29.09.2020; vgl. FIS 14.12.2018, vgl. NMFA 5.2020). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020).[…]
Nordost-Syrien
Letzte Änderung: 29.12.2022
Wehrpflichtsgesetz der „Demokratische Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“
Mit Stand Juni 2022 ist das Dekret Nr. 3 vom 04.09.2021 weiterhin in Kraft, welches Männer im Alter zwischen 18 und 24 Jahren (geboren 1998 oder später) zum "Wehrdienst" in der „Demokratische Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“ verpflichtet. Das Alter ist nun in allen betreffenden Gebieten dasselbe, während es zuvor je nach Gebiet variierte. Vor dem Dekret Nr. 3 war auch das Alterslimit höher - bis 40 Jahre. So kam es in der Vergangenheit zu Verwirrung, wer wehrpflichtig war (DIS 6.2022).
Die Aufrufe für die "Selbstverteidigungspflicht" erfolgen durch die Medien, wo verkündet wird, welche Altersgruppe von Männern eingezogen wird. Es gibt keine individuellen Verständigungen an die Wehrpflichtigen an ihrem Wohnsitz. Die Wehrpflichtigen erhalten dann beim Büro für Selbstverteidigungspflicht ein Buch, in welchem ihr Status bezüglich Ableistung des "Wehrdiensts" dokumentiert wird - z.B. die erfolgte Ableistung oder Ausnahme von der Ableistung. Es ist das einzige Dokument, das im Zusammenhang mit der Selbstverteidigungspflicht ausgestellt wird (DIS 6.2022).
Nach Protesten gab es auch ein temporäres Aussetzen der Wehrpflicht wie z.B. in Manbij im Juni 2021. Ob jemand aus Afrin, das sich nun nicht mehr unter Kontrolle der "Selbstverwaltung" befindet, wehrpflichtig wäre, ist aktuell unklar. Die "Wehrpflicht" gilt nicht für Personen außerhalb des "Selbstverwaltungsgebiets", außer der Betreffende hat mindestens fünf Jahre im "Selbstverwaltungsgebiet" gewohnt (DIS 6.2022).
Manche Ausnahmen vom "Wehrdienst" sind temporär und kostenpflichtig. Frühere Befreiungen für Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs und von NGOs sowie von Lehrern gelten nicht mehr (DIS 6.2022). Es wurden auch mehrere Fälle von willkürlichen Verhaftungen zum Zwecke der Rekrutierung dokumentiert, obwohl die Wehrpflicht aufgrund der Ausbildung aufgeschoben wurde oder einige Jugendliche aus medizinischen oder anderen Gründen vom Wehrdienst befreit wurden (EB 12.07.2019). Laut Medienberichten waren insbesondere Lehrer von Zwangsrekrutierungsmaßnahmen betroffen. Berichten zufolge kommt es auch zu Zwangsrekrutierungen von Burschen und Mädchen (AA 29.11.2021). Laut DIS beziehen sich die Berichte von Zwangsrekrutierungen manchmal eher auf den Selbstverteidigungsdienst oder auf andere Gruppen als die SDF (Syrian Democratic Forces) (DIS 6.2022).
Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Checkpoints und auch zu Ausforschungen (ÖB 29.09.2020). Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird dieses Gesetz auch mit Gewalt durchgesetzt (AA 29.11.2021), während das Danish Immigration Service nur davon berichtet, dass Wehrpflichtige, welche versuchen dem Militärdienst zu entgehen, laut dem Gesetz zur Selbstverteidigungspflicht durch die Verlängerung der "Wehrpflicht" um einen Monat bestraft würden - zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft "für eine Zeitspanne". Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für den Betreffenden zu finden (DIS 6.2022). Im Fall von Verweigerung aus Gewissensgründen oder im Fall einer Verhaftung wegen Wehrdienstverweigerung erhöht sich der Wehrdienst laut EASO [Anm.: inzwischen in European Union Asylum Agency, EUAA umbenannt] auf 15 Monate. Spät eintreffende Wehrdienstpflichtige müssen einen Monat länger Wehrdienst leisten (EASO 11.2021). Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur [Anm.: zur nicht näher spezifizierten] Verlängerung des Wehrdiensts (ÖB 29.09.2020). Hingegen dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB 29.09.2020).
Die Selbstverwaltung informiert einen sich dem "Wehrdienst" Entziehenden zweimal bezüglich der Einberufungspflicht durch ein Schreiben an seinen Wohnsitz, und wenn er sich nicht zur Ableistung einfindet, sucht ihn die "Militärpolizei" unter seiner Adresse. Die meisten sich der "Wehrpflicht" entziehenden Männer werden jedoch an Checkpoints ausfindig gemacht (DIS 6.2022).
Im Ausland (Ausnahme Türkei und Irak) lebende, unter die "Selbstverteidigungspflicht" fallende Männer können gegen eine Befreiungsgebühr für kurzfristige Besuche zurückkehren, ohne den "Wehrdienst" antreten zu müssen, wobei zusätzliche Bedingungen eine Rolle spielen, ob dies möglich ist (DIS 6.2022).
Ursprünglich betrug die Länge des "Wehrdiensts" sechs Monate, wurde aber im Jänner 2016 auf neun Monate verlängert. Aktuell beträgt die Dauer ein Jahr, und im Allgemeinen werden die Männer nach einem Jahr aus dem Dienst entlassen (DIS 6.2022). Einer anderen Quelle zufolge dauert der Wehrdienst sechs Monate mit Ausnahme des Zeitraums Mai 2018 bis Mai 2019, als dieser zwölf Monate umfasste (EASO 11.2021). In Situationen höherer Gewalt kann die Dauer des Wehrdiensts verlängert werden, was je Gebiet entschieden wird, z.B. die Verlängerung um einen Monat im Jahr 2018 wegen der Lage In Baghouz. In Afrin wurde der Wehrdienst zu drei Gelegenheiten in den Jahren 2016 und 2017 um je zwei Monate ausgeweitet. Auch nach Angaben der Vertretung der "Selbstverwaltung" gab es auch Fälle, in welchen Personen der Wehrdienst um einige Monate verlängert wurde (DIS 6.2022).
Die Einsätze der Rekruten im Rahmen der "Selbsverteidigungspflicht" erfolgen normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz (z.B. Bewachung von Gefängnissen wie auch jenes in al-Hassakah, wo es im Jänner 2022 zu dem IS-Befreiungsversuch mit Kampfhandlungen kam). Eine Versetzung an die Front erfolgt fallweise auf eigenen Wunsch, ansonsten werden die Rekruten bei Konfliktbedarf an die Front verlegt, wie z.B. bei den Kämpfen gegen den sogenannten Islamischen Staat von 2016-2017 in Raqqa (DIS 6.2022).
Nach dem abgeleisteten "Wehrdienst" gehören die Absolventen zur Reserve und können im Fall "höherer Gewalt" einberufen werden. Diese Entscheidung trifft der Militärrat des jeweiligen Gebiets. Derartige Einberufungen waren den vom DIS befragten Quellen nicht bekannt (DIS 6.2022).
Bei Deserteuren hängen die Konsequenzen abseits von einer Zurücksendung zur Einheit und einer eventuellen Haft von ein bis zwei Monaten von den näheren Umständen und eventuellem Schaden ab. Dann könnte es zu einem Prozess vor einem Kriegsgericht kommen (DIS 6.2022).
Proteste gegen die "Wehrpflicht"
Das Gesetz zur "Selbstverteidigungspflicht" stößt bei den Bürgern in den von den SDF kontrollierten Gebieten auf heftige Ablehnung, insbesondere bei vielen jungen Männern, welche die vom Regime kontrollierten Gebiete verlassen hatten, um dem Militärdienst zu entgehen (EB 12.07.2021). Im Jahr 2021 hat die Wehrpflicht besonders in den östlichen ländlichen Gouvernements Deir ez-Zour und Raqqa Proteste ausgelöst. Lehrer haben sich besonders gegen die Einberufungskampagnen der SDF gewehrt. Proteste im Mai 2021 richteten sich außerdem gegen die unzureichende Bereitstellung von Dienstleistungen und die Korruption oder Unfähigkeit der autonomen Verwaltungseinheiten. Sechs bis acht Menschen wurden am 01.06.2021 in Manbij (Menbij) bei einem Protest getötet, dessen Auslöser eine Reihe von Razzien der SDF auf der Suche nach wehrpflichtigen Männern war. Am 02.06.2021 einigten sich die SDF, der Militärrat von Manbij und der Zivilrat von Manbij mit Stammesvertretern und lokalen Persönlichkeiten auf eine deeskalierende Vereinbarung, die vorsieht, die Rekrutierungskampagne einzustellen, während der Proteste festgenommene Personen freizulassen und eine Untersuchungskommission zu bilden, um diejenigen, die auf Demonstranten geschossen hatten, zur Rechenschaft zu ziehen (COAR 07.06.2021).
Militärdienst von Frauen und Minderjährigen
Frauen können freiwilligen Militärdienst in den kurdischen Einheiten [YPJ - Frauenverteidigungseinheiten] (AA 29.11.2021; vgl. DIS 6.2022) oder in den Selbstverteidigungseinheiten leisten (DIS 6.2022). Es gibt Berichte von Zwangsrekrutierungen von Frauen (AA 29.11.2021; vgl. SNHR 26.01.2021) und minderjährigen Mädchen (Savelsberg 03.11.2017; vgl. HRW 11.10.2019, UNGASC 20.06.2019). Zu Anfang 2022 gab es noch einige Minderjährige in den SDF, trotz früherer Entlassungen von Minderjährigen und Bemühungen deren Aufnahme zu unterbinden. Wie es zu Rekrutierungen, bzw. möglichen Zwangsrekrutierungen, von Minderjährigen für die SDF kommt, gibt es verschiedene Erklärungen (DIS 6.2022).
Rekrutierung für den nationalen syrischen Wehrdienst
Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der Selbstverwaltung befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" (Al-Morabat Al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Am 14.04.2022 besetzten die SDF und die Asayish für einen Tag die Verwaltungseinrichtungen, was Berichten zufolge eine Reaktion auf die Belagerung des kurdischen Stadtteils Sheikh Maqsoud in Aleppo durch das Regime war (DIS 6.2022).
Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) in der Lage ist, zu rekrutieren, jedoch nicht in allen Gebieten. Die syrische Regierung ist nach wie vor in einigen von der AANES kontrollierten Gebieten präsent und kann dort rekrutieren, wo sie über eine Präsenz im Sicherheitsdistrikt oder muraba'a amni im Zentrum der Gouvernorate verfügt, wie in Qamishli oder in Deir ez-Zor. In einigen Gebieten wie Afrin hat die syrische Regierung jedoch keine Kontrolle und kann dort keine Personen einberufen. Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die Syrische Arabische Armee eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.09.2022). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022).
Exkurs: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation – Syrien – Fragen des BVwG zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung vom 14.10.2022:
Vom BVwG wurde die Staatendokumentation mit folgender Frage befasst:
1. Wie gestaltet sich aktuell die Wehrpflicht in den Territorien, welche sich nicht unter der Hoheit der syrischen Armee befinden? – Ersuchen um Aktualisierung der Berichte bzw.
1.1. Hat die syrische Armee aktuell einen konkreten Zugriff auf Personen, die sich auf dem Gebiet der YPG oder durch sonstige Gruppierungen befinden, um diese zum Wehrdienst einzuziehen?
Zusammenfassung:
Gemäß den nachfolgend zitierten Quellen kann die syrische Regierung die allgemeine Wehrpflicht in Gebieten, welche nicht unter ihrer Kontrolle stehen, nicht umsetzen. In Gebieten unter Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) ist sie gemäß einer Quelle eingeschränkt in der Lage, zu rekrutieren. Eine andere Quelle gibt dagegen an, dass die syrische Regierung in diesen Gebieten zwar Zugriff hat, aber dennoch keine Rekrutierungen durchführt.
Einzelquellen:
Ein befragter Militärexperte des österreichischen Verteidigungsministeriums berichtet:
[…] Wehrpflicht außerhalb von Regimegebieten
In Gebieten, die nicht unter der Kontrolle des Regimes stehen, ist eine Wehrpflicht de facto nicht umsetzbar – es fehlt der Zugriff auf die Administration und die davon betroffenen Personen. Es sei denn, eine Person würde aus dem Oppositionsgebiet ins Regimegebiet wechseln, allerdings müsste die Begründung für den Seitenwechsel und das bleibende Restrisiko, sich womöglich doch auf einer Fahndungsliste des Regimes zu befinden, wohl überlegt sein. […]
Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer „reguläre Armee" zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten „HTS-Wehrpflicht“ in ldlib liebäugelte, damit dem „Staatsvolk“ von ldlib eine „staatliche“ Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte.
Was die Kurdengebiete bzw. Gebiete unter Kontrolle der YPG anbelangt, so hat das Regime grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen, sieht sie aber ebenfalls als illoyal an und versucht gar nicht sie zu rekrutieren. Nur Kurden, die in den vom Regime kontrollierten Gebieten leben, unterliegen somit einer faktischen Wehrpflicht. […]
(BMLV – Bundesministerium für Landesverteidigung (12.10.2022): Antwortschreiben Version 2 (Stand 16.09.2022))
Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) in der Lage ist, zu rekrutieren, jedoch nicht in allen Gebieten der AANES, in denen die kurdischen Gruppierungen die Oberhand haben. Die syrische Regierung ist nach wie vor in einigen von der AANES kontrollierten Gebieten präsent und kann dort rekrutieren, wo sie im Sicherheitsdistrikt oder muraba'a amni im Zentrum der Gouvernorate präsent ist, wie in Qamishli oder in Deir-Ezzor. In einigen Gebieten wie Afrin hat die syrische Regierung jedoch keine Kontrolle und kann dort keine Personen einberufen.
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die Syrische Arabische Armee eingezogen zu werden.
Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) operiert hauptsächlich im Gouvernement Idlib und anderen Gebieten im Nordwesten Syriens (Grenzstädte zur Türkei). Das Gouvernement Idlib befindet sich vollständig außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann [gemäß der o.g. AFB der Staatendokumentation vom 17.03.2022 befindet sich ein kleiner Teil des Gouvernements unter Kontrolle der syrischen Regierung, Anm.]. Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen und sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der „Gesuchten“ zu setzen, was ihre Verhaftung zur Rekrutierung erleichtert, wenn sie das Gouvernement Idlib in Gebiete unter der Kontrolle der syrischen Regierung verlassen.
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich im Gouvernement Aleppo konzentriert, von der Türkei unterstützt wird und aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA) besteht. Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann dort keine Personen für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden.
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 29.12.2022
Die Menschenrechtslage in Syrien hat sich trotz eines messbaren Rückgangs der gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht verbessert (AA 29.11.2021). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 01.03.2011 und 31.03.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.06.2022). Laut UN-Menschenrechtsrat erlaubt die Situation in Syrien unter Einbeziehung der Menschenrechtslage keine nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen (UNHRC 13.08.2021). Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 08.02.2022 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht von z.B. Angriffen auf die Zivilbevölkerung über Folter bis hin zur Beschlagnahmung des Eigentums von Vertriebenen (UNHRC 08.02.2022). Human Rights Watch (HRW) bezeichnet einige Angriffe der russisch-syrischen Allianz als Kriegsverbrechen (HRW 13.01.2022).
Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich am Fehlen freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Bewaffnete Akteure aller Fraktionen, darunter auch die Regierung, versuchen ihre Herrschaft mit Gewalt durchzusetzen und zu legitimieren (BS 29.04.2020).
Es gibt erhebliche Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten mit einem in sich geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten (BS 29.4.2020). Konfessionelle und ethnische Zugehörigkeit, der Herkunftsort, der familiäre Hintergrund, etc. entscheiden über den Zugang zu Leistungen und Privilegien - oder deren Vorenthaltung. Dieser Umstand hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft, da es weniger Ressourcen zu verteilen gibt, und das Misstrauen der Bürger in den vom Regime kontrollierten Gebieten gestiegen ist (BS 23.02.2022).
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Kurden
Letzte Änderung: 29.12.2022
Im Jahr 2011, kurz vor Beginn des syrischen Bürgerkriegs, lebten in Syrien zwischen zwei und drei Millionen Kurden. Damit stellten sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Die Lebensumstände waren für die Kurden in Syrien lange Zeit noch kritischer als in der Türkei und im Iran (SWP 04.01.2019). Jegliche Bemühungen der Kurden, sich zu organisieren oder für ihre politischen und kulturellen Rechte einzutreten wurden unterdrückt. Die Behörden schränkten den Gebrauch der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, in Schulen und am Arbeitsplatz ein, verboten kurdischsprachige Publikationen und kurdische Feste (HRW 26.11.2009). Nach einer Volkszählung im Jahr 1962 wurde rund 120.000 Kurden die syrische Staatsangehörigkeit aberkannt [Anm.: Yeziden waren ebenso betroffen]. Sie und ihre Nachfahren galten den syrischen Behörden seither als geduldete Staatenlose. Die Zahl dieser Ausgebürgerten, die wiederum in registrierte (ajanib) und unregistrierte (maktumin) Staatenlose unterteilt wurden, dürfte 2011 bei über 300.000 gelegen haben (SWP 04.01.2019). Im Jahr 2011 verfügte Präsident Assad, dass staatenlose Kurden in Hassakah, die als "Ausländer" registriert waren, die Staatsbürgerschaft beantragen könnten. Es ist jedoch unklar, wie viele Kurden von dem Dekret profitierten. Laut UNHCR konnten etwa 40.000 dieser Kurden nach wie vor nicht die Staatsbürgerschaft erhalten. Ebenso erstreckte sich der Erlass nicht auf die etwa 160.000 unregistrierten, staatenlosen Kurden (USDOS 12.04.2022). Es gibt einige weitere Hindernisse für staatenlose Kurden, die die Staatsbürgerschaft erwerben wollen (DNIDC 16.01.2019).
Die kurdische Bevölkerung (mit oder ohne syrische Staatsbürgerschaft) sieht sich offizieller und gesellschaftlicher Diskriminierung, Repressionen sowie vom Regime gestützter Gewalt ausgesetzt. Die Regierung schränkt den Gebrauch und den Unterricht der kurdischen Sprache weiterhin ein. Es beschränkt auch die Veröffentlichung von Büchern und anderen Materialien in kurdischer Sprache, kulturelle Ausdrucksformen und manchmal auch die Feier kurdischer Feste. Einheiten des Regimes und mit ihm verbündete Kräfte sowie der sogenannte Islamische Staat und bewaffnete Oppositionskräfte, wie die von der Türkei unterstützte Syrian National Army, haben während des Jahres 2020 zahlreiche kurdische Aktivisten und Einzelpersonen sowie Mitglieder der Syrian Democratic Forces (SDF) verhaftet, festgehalten, gefoltert, getötet und anderweitig misshandelt (USDOS 12.04.2022).
Lage von Kurden in Nordostsyrien
Die fehlende Präsenz der syrischen Regierung in den kurdischen Gebieten in den Anfangsjahren des Konfliktes verlieh den Kurden mehr Freiheiten, wodurch zum Beispiel die kurdische Sprache an Schulen unterrichtet werden konnte. Die syrische Regierung erkennt die Legitimität der föderalen kurdischen Gebiete jedoch nicht an (MRG 3.2018). Mit Machtübernahme der kurdischen PYD in Nord- und Nordostsyrien hat sich diese bis dahin bestehende staatliche Diskriminierung von Kurden und Kurdinnen faktisch entspannt, weil die kurdische sog. „Selbstverwaltung“ keine rechtliche Unterscheidung zwischen Maktumin und Ajanib vornimmt. Zugleich wird jedoch weiterhin von Menschenrechtsverletzungen der PYD und ihrem bewaffneten Arm, der YPG, in den kurdischen „Selbstverwaltungsgebieten“ berichtet. In der Gesamtbetrachtung stellt sich die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten jedoch als insgesamt erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 29.11.2021).
Für die Türkei hat es Priorität, die kurdisch-geprägte Autonomie zu beenden. Die syrische Regierung möchte hingegen ihre Autorität wieder bis zur türkischen Grenze ausdehnen (CMC 20.12.2022).
Kurden in türkisch besetzten bzw. von pro-türkischen Gruppen kontrollierten Gebieten
Im Zuge der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam und kommt es Berichten zufolge zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der – mit den türkischen Truppen affiliierten – Milizen der SNA sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen (ÖB 01.10.2021). Seit den türkischen Offensiven im Nordosten Syriens ab 2018 werden Menschenrechtsverletzungen z.B. Morde, Plünderungen, Vergewaltigungen und Enteignungen durch mit der Türkei verbündeten Gruppen vor allem gegen Kurden - einschließlich Jeziden und deren religiöse Stätten - berichtet (USDOS 02.06.2022; vgl. USDOS 12.04.2022).
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Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens
Letzte Änderung: 09.08.2022
Die Regierung, Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und andere bewaffnete Gruppen beschränken die Bewegungsfreiheit in Syrien und richteten Checkpoints zur Überwachung der Reisebewegungen in den von ihnen kontrollierten Gebieten ein (USDOS 12.04.2022). Landesweit wurden zahlreiche Checkpoints eingerichtet. Überlandstraßen und Autobahnen werden zeitweise gesperrt (BMEIA 05.04.2022). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land (AA 05.04.2022). Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile von einander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara'a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021).
Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte "Versöhnungskarte" vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Listen. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, wenn sie aus oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder dort wohnen, oder auch wenn sie Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensgleichheit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Checkpoints führen (DIS/DRC 2.2019).
Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich (DIS 9.2019), bzw. ziemlich willkürlich, sein. Die fehlende Rechtssicherheit und die in Syrien im Verlauf des Konfliktes generell gestiegene Willkür verursacht auch Probleme an Checkpoints (FIS 14.12.2018). In den Gebieten des Regimes verlangen die Mitarbeiter der Sicherheitsdienste für eine sichere Passage durch ihre Checkpoints Bestechungsgeld. So werden z.B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara'a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben. Die ungefähr fünf Kontrollpunkte werden von verschiedenen Teilen des Sicherheitsapparats betrieben. Rückkehrende aus dem Libanon bezahlen Schmuggler, um die Checkpoints zu umgehen (HRW 20.10.2021).
Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2018 befinden sich weit weniger Gebiete unter Belagerung, nachdem die Regierung und sie unterstützende ausländische Einheiten die meisten Gebiete im Süden und Zentrum des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben (SHRC 24.01.2019). Vom 24.06. bis zum 09.09.2021 wurde Dara'a al-Balad von der syrischen Regierung und russischen Streitkräften belagert. Die Hauptverbindungsstraßen zwischen Dara'a al-Balad, dem Teil von Dara'a, der noch unter der teilweisen Kontrolle der versöhnten Oppositionellen stand, und anderen Teilen der Stadt sowie zu den Außenbezirken waren abgeschnitten (COAR 05.07.2021).
Die vorherrschende Gewalt und starke kulturelle Zwänge schränken die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten stark ein. In Gebieten, die von bewaffneten Oppositionsgruppen und terroristischen Gruppen wie der islamistischen Miliz Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert werden, schränken diese ebenfalls die Bewegungsfreiheit ein. Die HTS greift systematisch in die Bewegungsfreiheit von Frauen ein und schreibt ihnen die Begleitung durch einen "mahram", einem nahen männlichen Verwandten, in der Öffentlichkeit vor (USDOS 12.04.2022).
Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen
Letzte Änderung: 09.08.2022
Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet, verweigern. Die Kosten für einen Reisepass von 800 bis 2.000 USD macht diesen für viele unerschwinglich. Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer (USDOS 12.04.2022). Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt: Insbesondere in den Gouvernements Aleppo und Idlib ist die Lage weiterhin fragil, und es kommt nach wie vor zu teils intensiven Kampfhandlungen. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 31.03.2022).
Anmerkung: Gemäß einer Auskunft der Staatendokumentation vom 14.10.2022 ist der Grenzübergang Peshkhabour (PK-BCP) die einzige offizielle Ausreisestelle auf dem Landweg aus dem Irak für Flüchtlinge, die über einen regulären Grenzübergang nach Syrien zurückkehren wollen. Dieser Grenzübergang ist aktuell ganztägig geöffnet und ermöglicht – ohne dabei von syrischen Regimetruppen des ASSAD-Regimes kontrolliert zu werden - für Syrienrückkehrer auch eine Rückkehr in ihr Land.
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen „black lists“ betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Seit 01.08.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt (ÖB 01.10.2021). Das stellt ein weiteres Hindernis für eine Rückkehr dar. Fälle, bei denen Rückkehrende am Grenzübergang Nasib nicht den Betrag in syrischen Pfund ausgehändigt bekamen, sind von Human Rights Watch dokumentiert. Anfang April 2021 wurden Vertriebene von der Zahlung ausgenommen (HRW 20.10.2021).
Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen das Reisen zu verbieten (USDOS 12.04.2022).
Einige in Syrien aufhältige Palästinenser brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017).
Infolge der COVID-19-Pandemie verfügte Maßnahmen wurden bereits wieder sowohl für Reisen in das Ausland, als auch bei der Einreise nach Syrien gelockert. Der Flugbetrieb am internationalen Flughafen in Damaskus wurde wieder aufgenommen (BMEIA 19.08.2020), ist aber weiterhin reduziert (BMEIA 05.04.2022). Der Flughafen Damaskus und Grenzübergänge werden regelmäßig unter Angabe drohender Gewalt als Begründung geschlossen (USDOS 12.04.2022).
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Infrastruktur
Unterschiedlichen Schätzungen zufolge könnten die Kosten des Wiederaufbaus bei 250 bis 400 Milliarden oder sogar einer Billion US-Dollar liegen (SWP 20.07.2020). Im Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen ist Syriens Infrastruktur weitgehend zerstört worden. Dies betrifft vor allem den Energiesektor inklusive Öl- und Gasförderung sowie Elektrizitätswerke, Straßen und Transportwege sowie Wasser- und Abwasserversorgung. Zu massiven Schäden kam es ebenso beim Wohnungsbestand, bei Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie in der Landwirtschaft. Dabei sind die Kriegsschäden sehr ungleich verteilt. Schwere Zerstörungen gibt es vor allem in jenen Gebieten, die teils jahrelang umkämpft waren, und die durch das Regime und seine Verbündeten von den Rebellen oder dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert wurden. Insbesondere gilt das für die östlichen Vororte von Damaskus, für Yarmouk, ein Flüchtlingscamp am Südrand der Hauptstadt, ebenso für Ost-Aleppo, Raqqa, Homs und Hama. Vor allem in den (vormals) umkämpften Orten ist die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen, Schulbildung, Trinkwasser und Elektrizität erheblich eingeschränkt (SWP 07.04.2020).
Die syrische Regierung bemüht sich, den Wiederaufbau voranzutreiben, doch kann dieser im Hinblick auf die Dimension der Zerstörung im Land im Moment nur als sehr eingeschränkt und sehr punktuell bezeichnet werden. Die Ankündigung von Projekten dient eher der internen Propaganda, bzw. dem Versuch, vor allem in Gebieten, in denen die syrische Regierung erst seit Kurzem wieder die Kontrolle erlangt hat, ein politisches Signal zu senden, und die Präsenz des Staates zu bekräftigen (WKO 10.2019). Erhebliche Teile bestimmter Städte wurden durch den Konflikt teils stark zerstört und sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar, wie z.B. Teile von Homs, Ost-Aleppo, Raqqa, die Vororte von Damaskus, Deir ez-Zour, Dara‘a und Idlib. Im vom sogenannten IS befreiten Raqqa ist das Ausmaß der Zerstörung sehr hoch, hinzukommt die immense Kontaminierung durch nicht explodierte Munition und IS-Sprengfallen. Am wenigsten vom Konflikt betroffen sind neben dem Stadtzentrum der Hauptstadt Damaskus die Hafenstädte Tartus und Lattakia (AA 04.12.2020). Die Stadt Damaskus erstreckt sich über eine große Fläche, und der Beschädigungsgrad variiert stark. Es gibt Stadtteile, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, andere weisen klare Spuren des Krieges auf und wiederum andere sehen mit Ausnahme der Checkpoints und der starken Militärpräsenz so aus wie vor dem Krieg (WKO 11.2018). Vor allem im westlichen Teil des Landes ist aufgrund der weiterhin vorhandenen Strukturen und neu angesiedelter Industriebetriebe eine stärkere wirtschaftliche Entwicklung zu beobachten. Von einer Normalisierung der Wirtschaft ist man nach wie vor jedoch weit entfernt (WKO 10.2019).
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Rückkehr
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Rückkehr an den Herkunftsort
Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Für Personen aus bestimmten Gebieten Syriens lässt die Regierung derzeit keinen Wohnsitzwechsel zu. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die Rückkehrer von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 04.12.2020).
Syrer, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen. Die Einrichtung eines Wohnsitzes ist nur mit Genehmigung der Behörden möglich (ÖB 21.08.2019). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann. Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass Syrer aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen dürfen. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB 29.09.2020). Auch Jahre nach der Rückeroberung von Homs durch die Regierung benötigen die Bewohner immer noch eine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr und den Wiederaufbau ihrer Häuser (TE 28.06.2018; vgl. CMEC 15.05.2020).
Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen und von Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) sowie Betroffenen zufolge finden Verstöße gegen Wohn,- Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property – HLP) seitens des Regimes fortgesetzt statt. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Seit 2011 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, die die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen. Die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen verweigern den Vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte (AA 29.11.2021). Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara'a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie ISIS-Angriffen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.02.2020). Eine Reihe von Stadtvierteln in Damaskus sind nach wie vor teilweise oder vollständig gesperrt, selbst für Zivilisten, die kurz nach ihren ehemaligen Häusern sehen wollen (SD 19.11.2018). So durften die Bewohner des palästinensischen Camps Yarmouk in Damaskus auch nach der Wiedererlangung der Kontrolle durch das Regime weitgehend nicht zurückkehren (EB 08.07.2020; vgl. AI 9.2021). Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können und eine Sicherheitsfreigabe besteht. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten rund 1.2 Millionen Menschen in Yarmouk, davon 160.000 Palästinenser) (TOI 17.11.2022). Nach Angaben von Aktivisten durften bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 06.05.2020). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen nicht zurück, oder, da sie keine Häuser mehr haben, in die sie zurückkehren könnten. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem "Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur" (TOI 17.11.2022).
Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (WB 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (MOFANL 7.2019). So berichtet UNHCR von einer "sehr begrenzten" und "abnehmenden" Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94% um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022).
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Exkurs: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation – Syrien – Fragen des BVwG zu Rückkehrern nach Syrien vom 14.10.2022:
Vom BVwG wurden an die Staatendokumentation folgende Fragen gestellt:
1. Wie viele Personen, insbesondere auch solche im wehrdienstfähigen Alter, so unterscheidbar, sind in den letzten Jahren bzw. bis dato wieder selbstorganisiert nach Syrien zurückgekehrt?
2. Ist in Anbetracht der anzunehmend hohen Anzahl von auch sich im wehrdienstpflichtigen Alter befindlichen rückkehrenden Personen eine durchgehend systematische Verfolgung einfacher Militärdienstentzieher (nicht Deserteure) in aktuellen Berichten dokumentiert bzw. welche konkreten Berichte, in welcher Anzahl gibt es hierzu?
Zusammenfassung:
Anzahl der Rückkehrer:
Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass UNHCR im Zeitraum 2016-30.6.2022 die selbstorganisierte Rückkehr von 325.551 syrischen Flüchtlingen aus der Türkei, dem Libanon, Jordanien, dem Irak, Ägypten und anderen nordafrikanischen Ländern nach Syrien dokumentiert hat [eine Aufschlüsselung nach unterschiedlichen Variablen und weitere Details können den Einzelquellen entnommen werden, Anm.]. Die Gesamtzahl der Rückkehrer aus Ländern in der Region könnte jedoch wesentlich höher sein.
Die verfügbaren Informationen zur Anzahl der Rückkehrer aus Europa nach Syrien sind begrenzt. Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück, im selben Jahr suchten zehn Syrer bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr aus den Niederlanden nach Syrien an. Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 Syrer mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück.
Das für Rückkehrer zuständige Ministerium der Syrischen Arabischen Republik gibt an, dass insgesamt [seit Beginn des Konflikts 2011] eine Million ins Ausland vertriebene Syrer nach Syrien zurückgekehrt sei. Diese Zahl kann nicht unabhängig überprüft werden und Angehörige der Opposition werfen der Regierung vor, sie aus politischen Gründen zu hoch anzusetzen.
Ein befragter Experte gibt an, dass keine bzw. nur schwache Rückkehr von wehrpflichtigen Flüchtlingen in die Regimegebiete erfolgt. Die Datenlage zum Alter der Rückkehrer ist jedoch begrenzt. Laut Angaben von UNHCR befand sich 2021 etwas weniger als ein Drittel der rund 3.400 freiwilligen Rückkehrer aus dem Irak nach Syrien, die sich bei UNHCR registriert haben, im Alter zwischen 18 und 59 Jahren. Die Mehrheit der Rückkehrer aus dem Irak kehrte in die Gouvernorate al-Hasakah und Aleppo zurück, die größtenteils von den Syrischen Demokratischen Kräften (Syrian Democratic Forces, SDF) kontrolliert werden. Gemäß einer Studie zu Rückkehrern, welche Daten von Beginn des Konflikts bis Mitte 2018 berücksichtigt hat, kehrten Rückkehrer aus dem Nahen Osten und Nordafrika [d.h. jene Personen, welche von UNHCR registriert werden, Anm.] mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zurück, wenn sie über 44 Jahre alt waren, als jene aus der Altersgruppe der 15-44-Jährigen. Gemäß der Studie bestand bei der Rückkehrwahrscheinlichkeit nur ein kleiner, statistisch signifikanter Unterschied zwischen Gebieten mit hoher und niedriger Konfliktintensität. Ein möglicher Erklärungsansatz ist, dass das Risiko, eingezogen zu werden, im ganzen Land [unter Kontrolle der syrischen Regierung, Anm.] besteht.
Behandlung von Rückkehrern:
Auch hinsichtlich der Behandlung von Rückkehrern in Syrien berichten Quellen von einer eingeschränkten Informationslage. So müssen Syrer die Rückkehrentscheidung mitunter auf Basis von unvollständigen Informationen treffen. Ein Rückkehrer berichtete, dass er Bewohner seines Dorfes vor der Rückkehr zur Sicherheitslage dort befragte, jedoch keine ehrliche Antwort erhielt, weil die DorfbewohnerInnen die Überwachung durch einen Nachrichtendienst fürchteten.
Keine Organisation konnte bisher systematische Nachforschungen durchführen, um zu erfassen, was mit den Rückkehrern nach der Rückkehr geschieht – auch UNHCR war dazu nicht in der Lage. Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet Verstöße gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster für die Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen in dieser Hinsicht zu beobachten sind.
Unter anderem gehören Personen, die keinen Wehrdienst abgeleistet haben, zu jener Gruppe von Rückkehrern, die in Gefahr laufen, bei ihrer Ankunft in Syrien festgenommen, (vorübergehend) eingesperrt, verhört, gefoltert und/oder vor Terrorismusgerichten gestellt zu werden. Den Einzelquellen können anekdotische Berichte zu Wehrdienstverweigerern entnommen werden, die nach ihrer Rückkehr nach Syrien inhaftiert und u.U. gefoltert wurden [wie schon erwähnt, existieren keine systematischen Erhebungen über die Behandlung von Rückkehrern, Anm.].
Die in Frage 2 implizierte Annahme, dass eine systematische Verfolgung von Wehrdienstverweigerern durch die syrischen Behörden angesichts einer hohen Anzahl an Wehrdienstverweigerern und Deserteuren aus Zeit- und Ressourcengründen nicht möglich wäre, konnte in ähnlicher Form in einem Bericht des Danish Immigration Service (DIS) vom Mai 2022 gefunden werden. Eine nicht namentlich genannte syrische Menschenrechtsorganisation, welche vom DIS im April 2022 befragt wurde, tätigt darin die Aussage, dass die Familien von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren früher von den Behörden schikaniert wurden, heute jedoch nur mehr ein- oder zweimal nach dem Verbleib des Wehrdienstverweigerers befragt werden und somit keine Probleme mit den Behörden mehr haben. Es folgt die Aussage, wonach man auch bedenken sollte, dass es zu viele Wehrdienstverweigerer und Deserteure gibt, als dass die Behörden Zeit und Ressourcen für solche Fälle aufwenden könnten. Wehrdienstverweigerer und Deserteure selbst werden gemäß dieser Quelle nach einer kurzen Inhaftierung (einige Tage oder Wochen) zum Militärdienst geschickt, sofern sie nicht an oppositionellen Aktivitäten beteiligt waren [den Einzelquellen kann das gesamte vom DIS veröffentlichte Gesprächsprotokoll entnommen werden, Anm.].
Es gibt laut dieser Quelle keine Berichte darüber, dass diejenigen, die die Wehrdienstbefreiungsgebühr von 8.000 USD bezahlt haben, bei ihrer Rückkehr Probleme hatten. Andere Quellen berichten, dass unter anderem auch Rückkehrer bei ihrer Ankunft von den syrischen Behörden verhaftet, inhaftiert und gefoltert worden seien, die eine Statusbereinigung vorgenommen hatten. Eine erteilte positive Sicherheitsüberprüfung stellt keinesfalls eine Garantie für eine sichere Rückkehr nach Syrien dar. Einzelne Betroffene berichten, dass sie durch die Teilnahme an „Versöhnungsprozessen“ [betrifft Männer aus ehemals aufständischen Gebieten, Anm.] einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden.
Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine zu große Abschreckung, um beispielsweise nach Aleppo zurückzukehren. Die Militärpolizei stellt dort regelmäßig Kontrollpunkte an wichtigen Kreuzungen auf und führt Hausdurchsuchungen durch, um Männer zu finden, die zum Wehrdienst eingezogen werden sollen. Sogar Jugendliche ohne weitergehende Ausbildung, die keine Verbindungen zur Opposition haben, scheuen sich aufgrund der drohenden Einberufung, in der Stadt zu arbeiten.
Die oben erwähnte syrische Menschenrechtsorganisation, welche vom DIS im April 2022 befragt wurde, betonte, dass die Behandlung von Rückkehrern in einem Kontext zu sehen ist, in dem der zuständige Beamte am Grenzübergang die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen: Ein Beamter kann einer Person Probleme bereiten, die eigentlich keine offenen Angelegenheiten mit dem syrischen Staat hat, und dagegen andere passieren lassen, bei denen dies sehr wohl der Fall ist. Dies kann auch zum Zweck der Erpressung von Rückkehrern durch die Sicherheitskräfte an Kontrollpunkten geschehen. Ein weiterer Faktor, der die Behandlung von Rückkehrern beeinflusst, ist die starke Fragmentierung des syrischen Sicherheitsapparats. Verschiedenen Quellen zufolge kann dies dazu führen, dass Personen, darunter auch Rückkehrer, von einem dieser Geheimdienste eine positive Sicherheitsüberprüfung erhalten und gleichzeitig von einem anderen der Geheimdienste zur Fahndung ausgeschrieben sind.
Flüchtlinge
Es wird geschätzt, dass sich 23.600 nicht-palästinensische Flüchtlinge in Syrien aufhalten. Das syrische Gesetz bietet die Möglichkeit, den Flüchtlingsstatus zu gewähren. Das Gesetz garantiert Flüchtlingen nicht explizit das Recht auf Arbeit, außer Palästinensern mit einem bestimmten rechtlichen Status. Die Regierung gewährt Nicht-Palästinensern selten Arbeitsgenehmigungen, und viele Geflüchtete finden im informellen Sektor Arbeit, z.B. als Wachpersonal, Bauarbeiter, Straßenhändler oder in anderen manuellen Berufen (USDOS 12.04.2022).
Die Regierung gewährt irakischen Flüchtlingen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, wie Gesundheitsversorgung und Bildung, doch Aufenthaltsgenehmigungen sind nur für jene erhältlich, die legal einreisen, und über einen gültigen Pass verfügen. Diese Kriterien erfüllen nicht alle Flüchtlinge. Sie sind mit wachsenden Risiken und verstärkten Sicherheitsmaßnahmen bei Checkpoints konfrontiert (USDOS 12.04.2022).
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Gemäß UNHCR kehrten im Zeitraum 2016-30.06.2022 insgesamt 325.551 syrische Flüchtlinge selbstorganisiert aus der Türkei, dem Libanon, Jordanien, dem Irak, Ägypten und anderen nordafrikanischen Ländern nach Syrien zurück. Bei den gemeldeten Zahlen handelt es sich nur um die vom UNHCR überprüften oder überwachten Zahlen, die nicht die Gesamtzahl der Rückkehrer widerspiegeln, die wesentlich höher sein könnte. Nachstehend können graphische Darstellungen zur Verteilung der Anzahl an Rückkehrern im zeitlichen Verlauf sowie nach Ausgangsland entnommen werden (Aktualisierungsstand 30.06.2022):
Einer Information von UNHCR zu Syrern, welche im Jahr 2021 aus dem Irak nach Syrien zurückgekehrt sind, ist zu entnehmen, dass mit Stand 31.12.2021 96 % der 254.561 syrischen Flüchtlinge und Asylsuchenden im Irak in der Kurdischen Region des Irak (KR-I) leben. Die Anzahl der spontanen Rückkehrer hat seit Beginn des Jahres 2020 abgenommen, was vor allem mit der Verschlechterung der Sicherheits- und Versorgungslage in Syrien, COVID-19-Beschränkungen und vollständigen (seit März 2020) oder teilweisen Grenzschließungen zu tun hat.
Daten über spontane Rückkehrbewegungen werden von UNHCR-Mitarbeitern durch Haushaltsbefragungen im 10 km von der Grenze entfernten Derabon-Zentrum erhoben, wo die Flüchtlinge UNHCR und den Behörden ihre Rückkehrabsicht mitteilen und ihre aufenthaltsbezogenen Dokumente aushändigen, die ihnen den Aufenthalt als Flüchtling in KR-I ermöglichen, bevor sie zum Grenzübergang Peshkhabour (PK-BCP) weiterreisen. Die Daten sind repräsentativ für das Profil der syrischen Flüchtlinge und Asylbewerber, die spontan über Derabon zurückkehren, und sich bei UNHCR melden. Obwohl die Rückkehr über andere informelle Grenzübergänge begrenzt ist, könnten einige spontane Rückkehrer dem UNHCR unbekannt sein.
Diese Analyse wird auch durch zusätzliche Daten aus anderen Erhebungen ergänzt, die 2021 und 2022 im Irak durchgeführt wurden.
Gemäß den Erhebungen von UNHCR waren 27,24 % der Rückkehrer und 28,3 % der Rückkehrerinnen, welche von UNHCR erfasst wurden, zwischen 18 und 59 Jahren alt, wobei UNHCR insgesamt 3.403 freiwillige Rückkehrer zählte [s. graphische Darstellung in der Originalquelle, Anm.].
Der Grenzübergang Peshkhabour (PK-BCP) ist die einzige offizielle Ausreisestelle auf dem Landweg aus dem Irak für Flüchtlinge, die über einen regulären Grenzübergang nach Syrien zurückkehren wollen. Berichten zufolge sind Grenzübertritte an informellen Grenzübergängen aufgrund der hohen Risiken im Zusammenhang mit der Unsicherheit, den Kosten von Schmugglern und dem für viele zugänglichen Verfahren am PK-BCP selten.
Die Wehrpflicht, einschließlich der Zwangsrekrutierung durch bewaffnete Gruppen, sowie das Risiko der Schikane und Verhaftung von Personen, die als Mitglieder rivalisierender politischer Parteien wahrgenommen werden, sind nach wie vor die Hauptgründe, die von einer Rückkehr nach Syrien abhalten, zusammen mit der Sorge um die Sicherheit aufgrund der allgemeinen Gewalt, der Präsenz bewaffneter Kräfte/Gruppen und der sporadischen Drohungen und Fälle von Militäroperationen/ Angriffen.
Mehr als 97 % der Flüchtlinge, die 2021 aus dem Irak nach Syrien zurückkehrten, lebten in KR-I, wo die meisten Flüchtlinge, vor allem kurdischer Abstammung, ansässig sind. Die Mehrheit kehrte in die Gouvernements Al-Hasaka (65 %) und Aleppo (28 %) zurück, Gebiete, die weitgehend von den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) in Nordostsyrien kontrolliert werden. So berichten diese Rückkehrer kurdischer Volkszugehörigkeit von weniger Schutzbedenken auf der Reise von der KR-I zu ihrem Rückkehrort innerhalb der Autonomen Administration Nordostsyrien (AANES) als in anderen Gebieten Syriens.
1.2. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in der Stadt Ra’s al-Ain, die im Norden des syrischen Gouvernements al-Hasaka an der Grenze zur Türkei liegt, geboren. Er ist syrischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Kurden und sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Kurdisch, er spricht auch Arabisch, Russisch und Ukrainisch.
Er besuchte in Syrien 9 Jahre eine Schule. Er war Bodybuilding-Trainer und führte zuletzt in der Ukraine auch ein Bekleidungsgeschäft.
Ra’s al-Ain fiel im Jahr 1923 im Rahmen eines Völkerbundmandats an Syrien. Seit dem Oktober 2016 wird Ra’s al-Ain von den Türken besetzt gehalten. Das türkische Militär kontrolliert die Stadt als auch die Umgebung von Ra’s al-Ain.
Der BF hat Syrien im Jahr 2011 endgültig verlassen und sich bis Ende Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten. Er stellte nach illegaler Einreise am 04.03.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer hat in den Jahren 1999 bis 2001 seinen Militärdienst in Syrien abgeleistet. Der Beschwerdeführer hat keinen Einberufungsbefehl der syrischen Armee zum Reservedienst erhalten. Der Beschwerdeführer wurde auch von kurdischen Kräften bzw. kurdischen Milizen niemals konkret aufgefordert, einen Wehrdienst abzuleisten bzw. sich ihnen anzuschließen.
Bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet in Syrien besteht für den Beschwerdeführer nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, zum Reservedienst in der syrischen Armee oder zum Wehrdienst bei kurdischen Milizen eingezogen zu werden.
Es kann vom erkennenden Gericht auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer, weil er Syrien verlassen hat und weil er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, oder weil mehrere Familienmitglieder des BF ihren Militärdienst verweigert haben, bei einer allfälligen Rückkehr nach Ra’s al-Ain in Syrien, das aktuell unter türkischer Kontrolle steht, von Personen des Assad-Regimes oder von Kurden oder sonstigen Personen in Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus politischen Gründen oder aus einem sonstigen in der GFK genannten Konventionsgrund verfolgt werden würde.
2. Beweiswürdigung:
Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Inhalt der dem BVwG vom BFA vorgelegten Unterlagen im gegenständlichen Beschwerdeverfahren.
Die Länderfeststellungen beruhen auf den ins Beschwerdeverfahren vom BVwG eingebrachten Länderberichten, hinsichtlich derer auch im Vorfeld der beim BVwG abgehaltenen mündlichen Verhandlung das Parteiengehör durchgeführt wurde. Das Länderinformationsblatt und die Anfragebeantwortungen durch die Staatendokumentation basiert auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger unbedenklicher Quellen von staatlichen Stellen, als auch von renommierten Nichtregierungsorganisationen und gewährleistet einen in den Kernaussagen schlüssigen Überblick über die aktuelle Lage in Syrien. Für das BVwG bestand kein Grund, an der Richtigkeit der Länderberichte bzw. den ins Beschwerdeverfahren eingebachten Anfragebeantwortungen zu zweifeln. Sofern der Beschwerdeführer sich insbesondere in seiner Beschwerde auf frühere vom BVwG erlassene Entscheidungen beruft, wird vom erkennenden Gericht darauf hingewiesen, dass diesen Entscheidungen eine andere Berichtslage hinsichtlich der Situation in Syrien zugrunde liegt.
Wenn der Beschwerdeführer zu den durch entsprechende Länderberichte bzw. Anfragebeantwortungen untermauerten Feststellungen abweichende Behauptungen aufstellt und dazu auch konträr behauptet, dass die Türken keinen einzigen Kurden lieben und die Freie Syrische Armee Zwangsrekrutierungen vornehmen würden, sind der Beschwerdeführer und die BBU selbst jeden nachvollziehbaren Nachweis schuldig geblieben, der im Hinblick auf eine durch den Beschwerdeführer anzustellende Glaubhaftmachung vom erkennenden Gericht hätte berücksichtigt werden können. Die in das Beschwerdeverfahren vom BVwG eingebrachten Länderberichte zu Syrien berichten von willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der – mit den türkischen Truppen alliierten – Milizen der SNA sowie von Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen und beziehen sich dabei auf einen Bericht der österreichischen Botschaft in Damaskus vom 01.10.2021. Diese Länderberichte weisen auch auf willkürliche Menschenrechtsverletzungen z.B. Morde, Plünderungen, Vergewaltigungen und Enteignungen durch mit der Türkei verbündete Gruppen vor allem gegen Kurden - einschließlich Jesiden und deren religiöse Stätten hin, stellen jedoch diese willkürlichen Menschenrechtsverletzungen nicht als so dramatisch dar, dass daraus ableitend das erkennende Gericht zur Auffassung gelangt, dass gleichsam jeder Kurde, der in den von der Türkei annektierten Teil Nordsyriens einreist, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine asylrelevante Verfolgungssituation aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit als Kurde geraten würde.
Bekannt ist, dass das türkische Erdoğan-Regime aufgrund eines befürchteten Gebiets- und Machtverlustes alle Bestrebungen der kurdischen Nation zu vereiteln versucht, dass sich aus ihrem über mehrere Nationalstaaten verteilten Siedlungsgebiet ein eigener Nationalstaat – Kurdistan - bildet. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass es zwischen Türken und Kurden im türkisch-syrischen Grenzgebiet seit vielen Jahrzehnten immer wieder zu teilweise menschenrechtswidrigen Auseinandersetzungen kommt, wobei beide Seiten nichtakzeptable Mittel einsetzen. Nach Auffassung des erkennenden Gerichtes haben diese Auseinandersetzungen aktuell jedoch nicht jenes Ausmaß erreicht, dass jeder Kurde, der in den von der Türkei besetzten Teil Nordsyriens einreist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit bereits von einer asylrelevanten Verfolgung durch das türkische Militär, durch türkische Behörden oder durch Personen, die mit dem türkischen Staat verbündet sind, verfolgt werden würden, außer es handelt sich um Kurden, die bereits aufgrund ihres nach außen erkennbaren Auftretens als militante kurdische Nationalisten erkannt werden und dieses Gedankengut auch in einer nach außen gerichteten und erkennbaren Art darlegen.
Der Beschwerdeführer selbst hinterlässt jedoch keinesfalls einen derartigen Eindruck. Das BVwG hat den Beschwerdeführer viel mehr als einen Menschen kennengelernt, der sich nur deswegen in Österreich befindet, weil die Ukraine, die der BF selbst als jenes Land auserkoren hat, wo er bis zur russischen Invasion auch leben wollte, Opfer dieser russischen Invasion geworden ist und nicht klar ist, wie sich dieser Konflikt weiterentwickelt. Wäre die Sicherheitslage in der Ukraine nach wie vor friedlich und auch berechenbar, würde sich der BF immer noch in der Ukraine aufhalten. Der BF hat sich nicht als stolzer und überzeugter Kurde, dem Kurdistan am Herzen liegt, zu erkennen gegeben. Er hat sich als ruhiger, politisch uninteressierter Mensch gezeigt, der ein sicheres, wirtschaftlich abgesichertes Leben führen will, der aufbauend auf seinen Erfolgen als ukrainischer Bodybuildingmeister weiterhin auch wirtschaftlich tätig sein will und dabei aber auch ein Land mit entsprechenden wirtschaftlichen Voraussetzungen benötigt, wo er dieses Leben weiterführen kann. Syrien bzw. Kurdistan interessieren ihn genauso wenig, wie politische Gegebenheiten in Syrien oder im Hauptsiedlungsgebiet der Kurden in den Nationalstaaten Syrien, Türkei, Irak und dem Iran.
Zudem ergibt sich aus der Berichtslage zu Syrien nicht, dass im Gegensatz zur Verfolgung von Angehörigen der Volksgruppe der Armenier durch die Osmanische Regierung in den Jahren 1915 bis 1923, als zwischen 600.000 und 1, 5 Mio. Armenier umgebracht wurden, aktuell ein Kurden-Genozid durch die Erdoğan-Administration, bei dem alle Angehörigen der Volksgruppe der Kurden von einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr betroffen sind, nicht gegeben ist.
Unstrittig sind die vom Beschwerdeführer gemachten Angaben, dass er als syrischer Staatsbürger in Ra’s al-Ain geboren wurde und dort auch aufhältig war, volljährig, Sunnit, Kurde und ledig ist. Auch das erkennende Gericht hat keine Veranlassung, den Angaben, dass seine Muttersprache Kurdisch ist und er auch Arabisch, Russisch und Ukrainisch spricht, dass er gesund und arbeitsfähig ist, dass er neun Jahre lang eine Schule besucht hat, als Bodybuilding-Trainer tätig war, keinen Glauben zu schenken. Die Angaben des BF, dass er Syrien endgültig im Jahr 2011 verlassen hat, dort auch bereits vor dem Bürgerkrieg seinen Militärdienst abgeleistet hat, und dass er sich nach seiner Ausreise aus Syrien in der Ukraine aufgehalten hat, werden dem BF ebenfalls geglaubt.
Die Feststellung zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ergibt sich aus seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung (vgl. Niederschrift vom 24.01.2023, Seite 5). Seine Arbeitsfähigkeit folgt aus seinem Alter, seinem Gesundheitszustand, den Eindruck, den er in der Beschwerdeverhandlung hinterlassen hat, und seiner bisherigen Erwerbstätigkeit in der Ukraine.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es auch am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Das Asylverfahren bietet, wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.
Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (vgl. VwGH 29.05.2006, Zl. 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.
Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss – unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten –genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen; diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.
Betreffend eine Einziehung zum Wehrdienst in der syrischen Armee ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers – die syrische Stadt Ra’s al-Ain - in welcher er zuletzt lebte, nicht unter Kontrolle der syrischen Regierung, sondern des türkischen Militärs steht. In diesem Zusammenhang ergibt sich aus einer aktuellen Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 14.10.2022 betreffend „Fragen des BVwG zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung (ergänzende AFB)“ zusammengefasst, dass die syrische Regierung (Assad-Regime) die allgemeine Wehrpflicht in Gebieten, welche nicht unter ihrer Kontrolle stehen, nicht umsetzen kann.
Konkret berichtet in der Anfragebeantwortung ein Rechtsexperte der österreichischen Botschaft, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltungsregion in der Lage sei, zu rekrutieren, jedoch nicht in allen Gebieten. Die Regierung könne dort rekrutieren, wo sie im Sicherheitsdistrikt im Zentrum der Gouvernements präsent sei, wie in Qamishli oder in Deir ez-Zor.
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) sei die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich im Gouvernement Aleppo konzentriere, von der Türkei unterstützt werde und aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (FSA) bestehe. Sie spiele nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, werde aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA habe die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Dscharabulus) in Syrien und werde von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhalte keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und könne dort keine Personen für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kämen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (vgl. S. 5).
Ähnlich heißt es im aktuellen EUAA-Bericht „Syria: Targeting of Individuals“ vom September 2022, dass die syrische Regierung im Allgemeinen nicht in der Lage ist, Wehrpflichtige in SDF-kontrollierten Gebieten zu rekrutieren. Einige Quellen berichten, dass in den von der Regierung kontrollierten Sicherheitsquadrate in Hasaka und Qamishli Zwangsrekrutierung in die syrische Armee durchgeführt wird, während andere dagegen nicht erwarten, dass Personen, die diese Sicherheitsquadrate betreten, eingezogen werden würden (vgl. S. 40).
Daraus ergibt sich für den Fall des Beschwerdeführers zum einen, dass für sein Herkunftsgebiet in Ra’s al-Ain eine Zugriffsmöglichkeit der syrischen Behörden auf Wehrpflichtige derzeit gänzlich ausgeschlossen werden kann. Es bestehen keine Hinweise darauf, dass Rekrutierungen durch das syrische Assad-Regime dort auch tatsächlich durchgeführt werden. Der Beschwerdeführer, der bereits seine Wehrpflicht in der arabischen Republik Syrien erfüllt hat, hat zumindest bis im Jahr 2011 in seinem Heimatort gelebt, ohne jemals einen Einberufungsbefehl erhalten zu haben. Er wurde auch von der syrischen Armee oder syrischen Behörden wegen seines Reservedienstes nicht kontaktiert.
Der Beschwerdeführer ist mittlerweile 42 Jahre alt und verfügt über keine nennenswerten militärischen Kenntnisse oder Fähigkeiten. Wenn er in der Beschwerde erstmals vorbringt, eine Spezialausbildung bei der Abwehr von Flugzeugen absolviert zu haben und in der mündlichen Verhandlung weiter vorbringt, er sei in einer Spezialabteilung tätig gewesen, die vom Boden aus Flugzeuge als auch Panzer und andere Einheiten bekämpft habe, so ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass das syrische Assad-Regime in Ra’s al-Ain auf dort befindliche Personen nicht zugreifen kann und dort befindliche Personen von Verfolgungshandlungen durch das Assad-Regime nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit betroffen sind.
Betreffend eine vom Beschwerdeführer vermeintlich ebenfalls befürchtete Einziehung zum Wehrdienst zu kurdischen Milizen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Wehrpflicht in der kurdisch kontrollierten Selbstverwaltungsregion gemäß Dekret Nr. 3 vom 04.09.2021 nur Männer im Alter von 18 bis 24 Jahren betrifft. Da dieses Dekret erst lange nach der Ausreise des Beschwerdeführers erlassen wurde, entsprechen seine eigenen Vorstellungen zur kurdischen Rekrutierungspraxis nicht mehr der aktuellen Situation. Vor diesem Dekret konnte das Alterslimit je nach Gebiet bis zu 40 Jahre betragen.
Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass kurdische Milizen den mit einem Alter von 42 Jahren nun nicht mehr wehrpflichtigen, nicht nennenswert militärisch ausgebildeten Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet nunmehr zum Wehrdienst einziehen würden.
Der Vollständigkeit wegen ist anzumerken, dass die Gefahr einer Rekrutierung des Beschwerdeführers aufgrund des nach den Länderberichten teils willkürlichen Vorgehens der syrischen Regierung wie auch anderer Gruppen in Einzelfällen nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes genügt die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung jedoch nicht. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100 und 0101). Dies ist gegenständlich - wie dargelegt - nicht der Fall.
Der Beschwerdeführer gestand zwar am Ende des Verfahrens ein, dass weder das Assad-Regime noch die Kurden ihn derzeit in seinem Heimatgebiet erreichen könnten, er aber dennoch Angst vor bewaffneten Gruppierungen in seiner Heimat habe. Eine glaubhafte und plausible Erklärung dafür fand er – nach entsprechender Rückfrage durch das erkennende Gericht - jedoch nicht. Der Beschwerdeführer verwies lediglich auf seinen Bruder, der ca. vier Monate vor ihm nach Österreich gekommen sei und vom BFA den Status des Asylberechtigten zuerkannt bekommen habe. Er verstehe nicht, warum ihm nur subsidiärer Schutz gewährt worden sei. Dazu wird vom erkennenden Gericht angemerkt, dass die Gewährung von Asyl letztlich immer die Folge einer Einzelfallprüfung ist und es offensichtlich Unterschiede zwischen den beiden Brüdern gibt, die bei dem einen zum Status des Asylberechtigten und beim BF zum Status des subsidiär Schutzberechtigten geführt haben. Zudem ist auch nicht auszuschließen, dass seinem Bruder in einem Beschwerdeverfahren vor dem BVwG ebenfalls der Status eines Asylberechtigten nicht erteilt werden würde.
Ebenfalls nicht von Belang bei einem Aufenthalt im unter türkischer Kontrolle befindlichen Ra’s al-Ain in Syrien ist, dass der BF behauptete, er habe mehrere Familienmitglieder, die ihren Militärdienst verweigert und Syrien verlassen hätten, zumal noch einmal darauf hingewiesen wird, dass das Assad-Regime auf in Ra’s al-Ain befindliche Personen keinen Zugriff hat. Es war daher nicht festzustellen, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr wegen seines Antrags auf internationalen Schutz oder wegen der Wehrdienstverweigerung von einigen Familienangehörigen eine Verfolgung durch die syrische Regierung oder kurdische Kräfte droht.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:
3.1.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
…“
3.1.2. Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
3.1.3. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates oder wegen Schutzes in einem EWR-Staat oder in der Schweiz zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).
3.1.4. Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) – deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben – ist ein Flüchtling, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."
3.1.5. Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist somit die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.).
3.1.6. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
3.1.7. Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht gemäß § 3 AsylG 2005 setzt positiv getroffene Feststellungen der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, 95/01/0627). Nach ständiger Rechtsprechung stellt im Asylverfahren das Vorbringen des Asylwerbers die zentrale Entscheidungsgrundlage dar. Dabei genügen aber nicht bloße Behauptungen, sondern bedarf es, um eine Anerkennung als Flüchtling zu erwirken, hierfür einer entsprechenden Glaubhaftmachung durch den Asylwerber (vgl. VwGH 04.11.1992, 92/01/0560). Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.
3.1.8. Im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erscheint es nicht unschlüssig, wenn den ersten Angaben, die ein Asylwerber nach seiner Ankunft in Österreich macht, gegenüber späteren Steigerungen erhöhte Bedeutung beigemessen wird (vgl. VwGH 08.07.1993, 92/01/1000; VwGH 30.11.1992, 92/01/0832; VwGH 20.05.1992, 92/01/0407; VwGH 19.09.1990, 90/01/0133). Der Umstand, dass ein Asylwerber bei der Erstbefragung gravierende Angriffe gegen seine Person unerwähnt gelassen hat spricht gegen seine Glaubwürdigkeit (VwGH 16.09.1992, 92/01/0181). Auch unbestrittenen Divergenzen zwischen den Angaben eines Asylwerbers bei seiner niederschriftlichen Vernehmung und dem Inhalt seines schriftlichen Asylantrages sind bei schlüssigen Argumenten der Behörde, gegen die in der Beschwerde nichts Entscheidendes vorgebracht wird, geeignet, dem Vorbringen des Asylwerbers die Glaubwürdigkeit zu versagen (Vgl. VwGH 21.06.1994, 94/20/0140). Eine Falschangabe zu einem für die Entscheidung nicht unmittelbar relevanten Thema (vgl. VwGH 30.09.2004, 2001/20/0006, zum Abstreiten eines früheren Einreiseversuchs) bzw. Widersprüche in nicht maßgeblichen Detailaspekten (vgl. VwGH 23.01.1997, 95/20/0303 zu Widersprüchen bei einer mehr als vier Jahre nach der Flucht erfolgten Einvernahme hinsichtlich der Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers in seinem Heimatdorf nach seiner Haftentlassung) können für sich allein nicht ausreichen, um daraus nach Art einer Beweisregel über die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers die Tatsachenwidrigkeit aller Angaben über die aktuellen Fluchtgründe abzuleiten (vgl. dazu auch VwGH 26.11.2003, 2001/20/0457).
3.1.9. Für eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung ist es zudem nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; VwGH 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr – Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung – bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; VwGH 16.02.2000, 99/01/0097), sondern erfordert eine Prognose. Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können jedoch im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (VwGH 09.03.1999, 98/01/0318).
3.1.10. Einzelfallrelevant kann aber immer nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233). Die Verfolgungsgefahr muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
3.1.11. Die Verfolgungsgefahr muss ferner dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (VwGH 27.01.2000, 99/20/0519). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; VwGH 23.07.1999, 99/20/0208; VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; VwGH 17.09.2003, 2001/20/0177; VwGH 28.10.2009, 2006/01/0793) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).
3.1.12. Im Asylverfahren ist lediglich die Glaubhaftmachung der Fluchtgründe und nicht ein strikter Beweis erforderlich. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit.
Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, Zl. 2005/17/0252). Es genügt, wenn der Betreffende die Behörde von der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Vorliegens, der zu bescheinigenden Tatsache überzeugt (VwGH 11.11.1991, Zl. 91/19/0143; Hengstschläger/Leeb, AVG II [2005] § 45 Rz 3 mwN). Nach der Judikatur ist die Wahrscheinlichkeit dann gegeben, wenn die für den ursächlichen Zusammenhang sprechenden Erscheinungen, wenn auch noch so geringfügig, gegenüber den im entgegengesetzten Sinn verwertbaren Erscheinungen überwiegen (Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht10 Rz 324 mwN).
Es entspricht der ständigen Judikatur des VwGH, wenn Gründe, die zum Verlassen des Heimatlandes bzw. Herkunftsstaates geführt haben, im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens – niederschriftlichen Einvernahmen –unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen, oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, 95/20/0650).
3.1.13. Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt zusammenfassend dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
3.1.14. Wie sich aus den obigen Feststellungen und der zugehörigen Beweiswürdigung ergibt, ist es dem Beschwerdeführer weder im vorangegangenen Asylverfahren vor dem BFA noch im gegenständlichen Beschwerdeverfahren vor dem BVwG gelungen, eine aktuelle, konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete Verfolgungsgefahr maßgeblicher Intensität und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund eines Konventionsgrundes im Sinne der GFK ausgehend von staatlicher Seite (Assad-Regime) beziehungsweise von den Kurden oder der YPG oder von anderen Personen oder Personengruppen für den Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in die Herkunftsregion des Beschwerdeführers in Syrien darzutun bzw. glaubhaft zu machen.
3.2.1. Wie festgestellt hat der Beschwerdeführer seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee bereits abgeleistet und keinen Einberufungsbefehl als Reservist der syrischen Armee erhalten. Der Beschwerdeführer wurde auch von kurdischen Milizen niemals konkret aufgefordert, einen Wehrdienst abzuleisten bzw. sich ihnen anzuschließen. Insgesamt konnte auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer, der am XXXX geboren wurde und daher bereits 42 Jahre alt ist, jemals bis zu seiner Ausreise aus seinem Heimatort Ra’s al-Ain jemals von einer konkreten gegen ihn selbst gerichteten Verfolgungshandlung betroffen war oder einer solchen ausgesetzt gewesen ist.
Da die vom Beschwerdeführer behauptete Verfolgung sich nicht ereignet hat, droht dem Beschwerdeführer aus diesem Grund auch keine Gefahr bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsort Ra’s al-Ain nach Syrien, zumal sich in diesem Ort die tatsächlichen Macht- und Kontrollverhältnisse seit seiner Ausreise aus Syrien insofern verändert haben, als dieser Ort nun nicht mehr unter der Kontrolle des Assad-Regime oder der Kurden befindet, sondern unter der Kontrolle des türkischen Militärs.
3.2.2. Auch unabhängig von konkreten Rekrutierungsversuchen besteht in seinem Fall nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, zum Reservedienst bei der syrischen Armee oder zum Wehrdienst bei kurdischen Milizen eingezogen zu werden. Zudem wird vom erkennenden Gericht darauf hingewiesen, dass es bei der Frage der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten auf eine sichere Erreichbarkeit des Herkunftsortes nicht ankommt (VwGH 03.01.2023, Ra 2022/01/0328). Es liegt beim Beschwerdeführer keine Verfolgungsgefahr aus einem Konventionsgrund vor.
3.2.3. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet in Syrien auch nicht allein wegen seines Antrags auf internationalen Schutz oder der Wehrdienstverweigerung von mehreren Familienangehörigen ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch kurdische Kräfte oder die syrische Regierung, da weder das Assad-Regime, noch kurdische Milizen in seinem Herkunftsort auf den BF zugreifen könnten.
3.2.4. Die Durchsicht der aktuellen Länderberichte zur Herkunftsregion des Beschwerdeführers erlaubt es auch nicht anzunehmen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für die Befürchtung einer entsprechenden Verfolgungsgefahr vorliegen.
3.2.5. Im Ergebnis droht dem Beschwerdeführer aus den von ihm ins Treffen geführten oder sonstigen Gründen in seiner Herkunftsregion keine asylrelevante Verfolgung.
Auch aus der aktuellen allgemeinen Lage in Syrien lässt sich für den Beschwerdeführer eine Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nicht herleiten: Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation stellen nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keinen hinreichenden Grund für eine Asylgewährung dar (vgl. etwa VwGH 17.06.1993, 92/01/1081; VwGH 14.03.1995, 94/20/0798). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; VwGH 30.04.1997, 95/01/0529; VwGH 08.09.1999, 98/01/0614). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist eine Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung – zusammenhängt, was im vorliegenden Fall zu verneinen ist.
Insgesamt liegen sohin keine Umstände vor, wonach es ausreichend wahrscheinlich wäre, dass der Beschwerdeführer in seiner Heimat in asylrelevanter Weise bedroht wäre. Daher war die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten durch die belangte Behörde im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des BVwG auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
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