OGH 2Ob198/23s

OGH2Ob198/23s21.11.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Hon.‑Prof. PD. Dr. Rassi, MMag. Sloboda, Dr. Kikinger und die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. mj V*, 2. M* und 3. D*, alle vertreten durch MMag. Dr. Peter Kaser, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei B*, vertreten durch CHG Czernich Haidlen Gast & Partner Rechtsanwälte GmbH in Innsbruck, wegen 50.050 EUR sA und Feststellung (Erstklägerin), 29.389 EUR sA und Feststellung (Zweitklägerin) sowie Feststellung (Drittkläger), über die Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 29. Juni 2023, GZ 1 R 31/23b‑103, mit dem das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 12. Dezember 2022, GZ 12 Cg 130/20b‑93, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00198.23S.1121.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neue Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Als sich die Erst- und Zweitklägerin am 3. 1. 2018 auf dem von der Beklagten betriebenen Sessellift befanden, entschied der diensthabende Betriebsleiter während einer Kontrollfahrt im Hinblick auf stärker werdenden Wind, diesen leer zu fahren. Aufgrund plötzlicher Wetterverschlechterung mit starken Sturmböen kam es kurz darauf zu einem etwa zehnminütigen Stillstand, während dem der Sessel nach links und rechts pendelte sowie nach oben und unten schaukelte. Die Sicht war schlecht und die Erst- und Zweitklägerin begannen sich zu fürchten. Nach dem Stillstand bewegte sich der Sessellift im Stop-and-Go-Betrieb weiter, bis sich die Klägerinnen im Bereich zwischen der letzten Stütze und der schon windschattenspendenden Bergstation befanden. Dort stoppte der Lift erneut, weil sich in der Bergstation aufgrund eines heftigen Windstoßes ein „Zwilling“ gebildet hatte, bei dem zwei Sessel einander zu nahe gekommen waren. Plötzlich und unvorhersehbar bildete sich an Seilbahnbestandteilen innerhalb der Station Blitzeis, das zunächst mit Bunsenbrennern entfernt werden musste, um den „Zwilling“ auflösen zu können. Nach einer etwa einstündigen Betriebsunterbrechung erreichten die Klägerinnen die Bergstation, wo sie in einen warmen Raum gebracht und mit Tee versorgt wurden. Mitarbeiter der Beklagten fragten, ob sie ärztliche Hilfe benötigten. Die Klägerinnen verneinten.

[2] Das Ausmaß der Pendelbewegungen des Sessels der Klägerinnen ist nicht feststellbar. Ihre (körperliche) Sicherheit war nie in Gefahr. Der Drittkläger ist der Vater der Erstklägerin und Ehemann der Zweitklägerin. Alle hatten von der Beklagten Liftkarten erworben.

[3] Die Erst- und Zweitklägerinnen begehren gestützt auf die Verletzung beförderungsvertraglicher Schutzpflichten sowie EKHG die Zahlung von Schadenersatz und die Feststellung der Haftung der Beklagten für zukünftige, aus dem „Liftereignis“ resultierende Schäden. Der Drittkläger (die Zweitklägerin eventualiter) begehrt, die Haftung der Beklagten für aufgrund des „Liftereignisses“ vermehrte gesetzliche Unterhaltsleistungen, die anstelle der Beklagten zu leisten sein würden, festzustellen. Sie bringen zusammengefasst vor, bei der Beklagten Skipässe erworben zu haben. Aufgrund eines – im Hinblick auf die Wetterprognose – vorhersehbaren Sturms sei es zu Vereisungen bei der Sesselbahn und einem beinahe zweistündigen Stillstand der Seilbahn gekommen. Die Klägerinnen hätten unter widrigsten Wetterbedingungen und extremen Schaukelbewegungen ausharren müssen. Es habe sich daher eine außergewöhnliche Betriebsgefahr verwirklicht. Neben Erfrierungen habe das Liftereignis zu einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt.

[4] Die Beklagte wendet im Wesentlichen das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses ein. Die heftigen Windböen seien nicht vorhersehbar gewesen. Sowohl die Windwarneinrichtung als auch die Zonenüberwachung des Lifts hätten ordnungsgemäß funktioniert. Die Blitzeisbildung und der (nur) daraus resultierende längere Stillstand seien nicht vorhersehbar oder vermeidbar gewesen. Die Klägerinnen hätten sich nie in Gefahr befunden. Eine außergewöhnliche Betriebsgefahr habe nicht bestanden.

[5] Das Erstgericht wies die Klage ab. Es verneinte eine schuldhafte Verletzung von Pflichten aus dem Beförderungsvertrag und das Vorliegen eines Unfalls im Sinn des § 1 EKHG.

[6] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Vertragliche Schutz- und Sorgfaltspflichten habe die Beklagte nicht verletzt. Nur aufgrund der – wenn auch schlechten – Wetterprognose habe keine Veranlassung bestanden, den Betrieb erst gar nicht zu starten oder früher einzustellen. Auf den plötzlich stärker werdenden Wind sowie das nicht vorhersehbar aufgetretene Blitzeis habe die Beklagte umgehend reagiert. Auch eine Haftung nach dem EKHG bestehe nicht. Zwar liege ein die Gefährdungshaftung eröffnendes Unfallereignis (der auf den plötzlichen Temperaturabfall und die Blitzeisbildung zurückzuführende längere Stillstand der Sesselbahn) vor. Allerdings scheide die Haftung aufgrund eines unabwendbaren Ereignisses aus. Weder sei die Beschaffenheit der Sesselbahn fehlerhaft gewesen noch hätten die Verrichtungen versagt. Sämtliche Warn- und Sicherheitseinrichtungen hätten funktioniert. Die Mitarbeiter der Beklagten hätten auch die nach den Umständen gebotene Sorgfalt beachtet. Das bloße, durch den Wind verstärkte Pendeln des Sessellifts begründe auch bei schlechter Witterung aufgrund der Beherrschbarkeit der Situation keine außergewöhnliche Betriebsgefahr. Die Revision sei zulässig, weil die Abgrenzungsfrage der gewöhnlichen zur außergewöhnlichen Betriebsgefahr im Zusammenhang mit Seilbahnunfällen ein Rechtsproblem darstelle, das auch andere Personen in vergleichbaren Fällen berühren könnte.

[7] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Kläger mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revision ist zulässig, weil dem Berufungsgericht eine aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen ist; sie ist im Sinn einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen auch berechtigt.

1. Anwendbares Recht

[10] Die deutschen Kläger behaupten die Anwendbarkeit österreichischen Rechts. Die Beklagte ist dem nicht entgegengetreten, sondern geht ihrerseits von der Anwendung österreichischen Sachrechts aus, sodass sowohl in Bezug auf die vertragliche (Art 3 Rom I‑VO) als auch die deliktische Haftung (Art 14 Rom II‑VO) eine beachtliche Rechtswahl vorliegt (RS0040169). Die Prozessführung der Minderjährigen bedarf nach dem insoweit anzuwendenden deutschen Recht keiner pflegschaftsgerichtlichen Genehmigung

2. Verschuldenshaftung

[11] 2.1 Bei einem – hier unstrittig abgeschlossenen – Beförderungsvertrag gilt die Verpflichtung, das körperliche Wohlbefinden des Beförderten nicht zu verletzen, als vertragliche Nebenverpflichtung (RS0021735). Der konkrete Inhalt einer vertraglichen Schutzpflicht hängt stets von den Umständen des Einzelfalls ab. Es kommt darauf an, welche Maßnahmen zur Vermeidung einer Gefahr in der konkreten Situation geboten und zumutbar sind (7 Ob 80/23z Rz 6).

[12] 2.2 Die Revision setzt der eine schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung verneinenden Beurteilung des Berufungsgerichts nichts Stichhältiges entgegen, sondern beschränkt sich auf die Wiederholung ihres Standpunkts, die Beklagte hätte die Sesselbahn aufgrund der Wetterprognose gar nicht in Betrieb nehmen dürfen oder wesentlich früher leerfahren müssen. Dabei lässt sie aber außer Acht, dass sich nach den Feststellungen der Unfallsort in abgeschirmter, inneralpiner Lage befindet, auch die von den Klägerinnen benutzte Sesselbahn in einer abgeschirmten Lage im Lee gelegen ist und die Mitarbeiter der Beklagten im Hinblick auf den Wetterbericht ohnehin Kontrollfahrten durchgeführt, auf das Auftreten stärker werdenden Windes unverzüglich reagiert und das Leerfahren der – überdies über funktionierende Windwarneinrichtungen verfügenden – Sesselbahn angeordnet haben. Der Oberste Gerichtshof teilt daher die Rechtsansicht der Vorinstanzen, nach der der Beklagten keine schuldhafte Verletzung beförderungsvertraglicher Schutz- und Sorgfaltspflichten anzulasten ist.

3. EKHG

3.1 Unfall

[13] 3.1.1 Grundlegender Anknüpfungspunkt für eine Haftung der Beklagten nach dem EKHG ist das Vorliegen eines für den Schaden ursächlichen Unfalls beim Betrieb der Sesselbahn. Beweispflichtig für das Vorliegen der haftungsbegründenden Tatbestandsmerkmale ist der Geschädigte. Verbleibende Unklarheiten in diesem Zusammenhang gehen zu seinen Lasten (Neumayr in Schwimann/Neumayr 5 § 1 EKHG Rz 23; Schauer in Schwimann/Kodek 5 § 1 EKHG Rz 53).

[14] 3.1.2 Der Unfallbegriff des § 1 EKHG ist – trotz mancher Ähnlichkeiten – nicht mit der in den AVB privater Unfallversicherungen enthaltenen Definition gleichzusetzen, weil diese einer anderen Zielsetzung, nämlich der Umschreibung des versicherten Risikos, dient (Schauer in Schwimann/Kodek 5 § 1 EKHG Rz 2; vgl auch Koziol/Apathy/Koch, Haftpflichtrecht III³ A 2 Rz 2). Der in Versicherungsbedingungen enthaltene Unfallbegriff ist nach den Grundsätzen der §§ 914 ff ABGB, orientiert am Maßstab eines durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks objektiv auszulegen (7 Ob 103/23g Rz 5 mwN). In der Unfallversicherung liegt bei einem Ereignis, das vom Versicherten bewusst und gewollt begonnen und beherrscht wurde, ein Unfall nur dann vor, wenn es sich dieser Beherrschung durch einen unerwarteten Ablauf entzogen und dann schädigend auf den Versicherten eingewirkt hat (RS0082008). Zur Plötzlichkeit des Unfalls in der Unfallversicherung gehört das Moment des Unerwarteten und Unentrinnbaren (RS0082022). Auch allmählich eintretende Ereignisse (Verschlechterung der Witterungsbedingungen) können unter Umständen unter den Begriff fallen, wenn sie für den Versicherungsnehmer objektiv unerwartet und unvorhergesehen waren (RS0131133).

[15] Im Gefährdungshaftungsrecht stellt beispielsweise das Moment des Unerwarteten oder Unentrinnbaren des Ereignisses kein Merkmal des Unfallbegriffs dar. Dass ein Ereignis unbeabsichtigt oder eine Abweichung vom beabsichtigten Betrieb ist, ist nicht entscheidend. Der Unfallbegriff ist vielmehr objektiv zu verstehen (2 Ob 183/22h Rz 13 f).

[16] Die vom Berufungsgericht herangezogene, zum Unfallbegriff privater Unfallversicherungen ergangene Rechtsprechung ist daher nicht einschlägig. Dennoch liegt im Ergebnis ein Unfall beim Betrieb der Sesselbahn vor.

[17] 3.1.3 Unter einem Unfall wird im Gefährdungshaftungsrecht ganz allgemein ein von außen her plötzlich einwirkendes schädigendes Ereignis verstanden (RS0058130 [T2]; 2 Ob 183/22h Rz 13 [mit „mechanischer Gewalt“ einwirkendes Ereignis]), wobei eine (der Einwirkung vorangehende) physische Berührung mit dem Fahrzeug (der Sesselbahn) nicht erforderlich ist (Danzl, EKHG10 § 1 Anm 1b; 2 Ob 75/02x [Scheuen eines Pferds und Sturz der Reiterin aufgrund eines auf Fehlzündungen zurückzuführenden Knalls]; überholt insoweit RS0058130 [T1]).

[18] 3.1.4 Zwar wird zu RS0058130 der Unfallbegriff als ein von außen her plötzlich mit „mechanischer Gewalt“ einwirkendes schädigendes Ereignis definiert. Die zu diesem Rechtssatz referenzierten Entscheidungen tragen das Erfordernis einer „mechanischen Einwirkung“ aber im Ergebnis nicht.

[19] Lediglich zu 5 Ob 291/64 (= ZVR 1965/200) wurde ein Unfall als haftungsbegründendes Ereignis bei bloßen Schäden an einer Mauer durch Erschütterungen vorbeifahrender LKW mangels mechanischer Einwirkung („Anfahren“) verneint.

[20] Zu 1 Ob 23/92 hatte der Oberste Gerichtshof den Ersatz eines durch Lärm und Luftbewegungen verursachten Schadens bei einem Überflug eines Lasthubschraubers zu beurteilen. Er hielt zum insoweit vergleichbaren § 19 LFG (in der dort anzuwendenden Fassung der Bekanntmachung vom 21. 8. 1936 dRGBl.I 653) fest, dass unter einem Unfall im Gefährdungshaftungsrecht ganz allgemein ein von außen her plötzlich einwirkendes schädigendes Ereignis verstanden wird und die Einwirkung nicht „mechanischer Art“ sein muss.

[21] In der zu 1 Ob 173/97s ergangenen Entscheidung hinterfragte der Oberste Gerichtshof im Zusammenhang mit einem Ölaustritt lediglich dessen Plötzlichkeit als Voraussetzung des Unfallbegriffs.

[22] Zu 2 Ob 75/02x war ein auf ein lautes Knallgeräusch eines Motorrads zurückzuführendes Scheuen eines Pferdes, das zum Sturz der reitenden Klägerin geführt hatte, zu beurteilen. Der Oberste Gerichtshof führte erneut – ohne eine mechanische Gewalteinwirkung zu fordern – aus, ein Unfall sei ein von außen her plötzlich einwirkendes schädigendes Ereignis und bejahte das Vorliegen eines Unfalls.

[23] Die weiteren Entscheidungen (7 Ob 78/16w, 7 Ob 213/16y, 7 Ob 57/17h und 7 Ob 32/17g) betrafen den in AVB privater Unfallversicherungen enthaltenen Unfallbegriff und sind daher schon deshalb nicht (unmittelbar) einschlägig.

[24] Der zu 2 Ob 183/22h entschiedene Sachverhalt betraf eine (ohnehin mechanische) Beschädigung eines Anhängers bei Beladung mit Deponiematerial, sodass jedenfalls von einem Unfall auszugehen war.

[25] Nach Schauer (in Schwimann/Kodek 5 § 1 EKHG Rz 5 f) ist lediglich eine Einwirkung von außen, nicht aber mechanische Gewalt erforderlich, weil der Gesetzgeber den Unfallbegriff möglichst weit verstanden wissen wollte. Auch Koziol/Apathy/Koch (Haftpflichtrecht III³ A 2 Rz 2) verneinen das Erfordernis mechanischer Gewalteinwirkung und weisen darauf hin, dass eine physische Berührung mit dem Kraftfahrzeug nicht erforderlich ist.

[26] Aus den Materialien (JA 572 BlgNR 8. GP  1) lässt sich das Erfordernis mechanischer Einwirkung nicht ableiten, wird darin der Unfall doch allgemein als „ein [...] von außen einwirkendes schädigendes Ereignis, das durch die Eigenschaft der Plötzlichkeit gekennzeichnet ist“, beschrieben.

Es ist daher klarstellend Folgendes festzuhalten:

[27] Unter einem Unfall im Gefährdungshaftungsrecht wird ganz allgemein ein von außen her plötzlich einwirkendes schädigendes Ereignis verstanden. Eine physische Berührung mit dem Kraftfahrzeug (Eisenbahn) oder eine (sonstige) mechanische Gewalteinwirkung (beispielsweise Aufprall) ist nicht erforderlich.

[28] Dass die Klägerinnen keinen auf eine Berührung mit der Seilbahn oder eine sonstige mechanische Gewalteinwirkung zurückzuführenden Schaden behaupten, steht der Annahme eines Unfalls iSd § 1 EKHG daher nicht entgegen.

[29] 3.1.5 Im Gefährdungshaftungsrecht schließt das Erfordernis der Plötzlichkeit es zwar aus, dass langandauernde, allmähliche oder solche Einwirkungen, die erst durch ihre mehrfache Wiederholung zu einem Schadenseintritt führen, den Unfalltatbestand verwirklichen (Schauer in Schwimann/Kodek 5, ABGB § 1 EKHG Rz 3; Neumayr in Schwimann/Neumayr 5 § 1 EKHG Rz 6; Danzl, EKHG10 § 1 Anm 1; Koziol/Apathy/Koch, Haftpflichtrecht III³ A 2 Rz 2). Nach den Gesetzesmaterialien (JA 572 BlgNR 8. GP 1) liegt daher kein Unfall vor, wenn ein Reisender, der regelmäßig die Eisenbahn benützt, durch das Rütteln ein Nervenleiden bekommt. Die Rechtsprechung hat das Vorliegen eines Unfalls verneint, wenn Erschütterungen durch Vorbeifahrten mit schweren Lastfuhrwerken eine Beschädigung einer Mauer auslösen (5 Ob 291/61 = ZVR 1965/200), wenn durch sich wiederholende, mit dem Betrieb gewöhnlich zusammenhängende schädliche Einwirkungen (Abgase, Lärm, Erschütterungen) Bienenvölker absterben (1 Ob 8/88 = RS0058310 = ZVR 1989/94), wenn durch den „schleichenden“ Verlust von flüssigem Ladegut eine Gewässerverunreinigung eintritt (1 Ob 173/97s) oder wenn durch wiederholtes Anpressen eines Schnee- und Eiswalls durch Räumfahrzeuge eine Garagenmauer beschädigt wird (2 Ob 67/84 [zahlreiche sich wiederholende Einwirkungen]).

[30] 3.1.6 Das Ereignis, aus dem die Kläger eine Gefährdungshaftung der Beklagten für die behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Erfrierungen und psychische Beeinträchtigungen) ableiten wollen, ist der auf den plötzlichen Temperaturabfall und die Blitzeisbildung zurückzuführende Stillstand der Seilbahn während eines Sturms und die wiederholten – in ihrer Intensität nicht näher feststellbaren – Schaukelbewegungen.

[31] Diese Umstände begründen nicht nur ein unmittelbar von außen her einwirkendes, sondern auch ein plötzliches Ereignis, das nicht mit den oben dargestellten, langandauernden bzw allmählichen, mit dem Betrieb gewöhnlich verbundenen Einwirkungen, die ein Unfallereignis ausschließen würden, gleichzusetzen ist.

[32] Das Berufungsgericht hat daher das „Liftereignis“ im Ergebnis zutreffend als – auch innerhalb des Gefahrenzusammenhangs (vgl dazu 2 Ob 188/16k Pkt 1.2. mwN; 2 Ob 183/22h Rz 16) liegendes, adäquat ursächliches – Unfallereignis iSd § 1 EKHG qualifiziert.

3.2 Unabwendbares Ereignis

[33] 3.2.1 Nach § 9 EKHG ist die Ersatzpflicht ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit noch auf einem Versagen der Verrichtungen der Seilbahn beruhte und der Halter sowie die mit seinem Willen beim Betrieb Tätigen jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet haben. Die beklagte Seilbahnhalterin kann sich von ihrer Haftung daher nur dann befreien, wenn sie unter Beweis stellt, dass ein unabwendbares Ereignis vorliegt, wobei Zweifel stets zu ihren Lasten gehen (RS0058926).

[34] 3.2.2 Fehler in der Beschaffenheit und ein Versagen der Verrichtungen schließen die Haftpflicht des Halters auch dann nicht aus, wenn der Halter oder die mit seinem Willen beim Betrieb des Kraftfahrzeugs tätigen Personen die äußerste, nach den Umständen gebotene Sorgfalt beachtet haben (RS0058244). Die „risikoerhöhenden Umstände“ (von einem Tier oder einem betriebsfremden Dritten ausgelöste außergewöhnliche Betriebsgefahr; Fehler in der Beschaffenheit; Versagen der Verrichtungen) beruhen auf der Wertung des § 9 EKHG, nach der diese Risiken jedenfalls der Betriebsunternehmer oder Halter zu tragen hat, ohne dass ihm ein Entlastungsbeweis offen steht (RS0120591 [T2]). Worauf der Fehler in der Beschaffenheit oder das Versagen der Verrichtungen zurückzuführen ist, ist unerheblich (RS0058255).

[35] 3.2.3 Die Begriffe „Fehler in der Beschaffenheit“ und „Versagen der Verrichtungen“ umfassen im Wesentlichen technische Defekte (RS0114049).

[36] Fehler in der Beschaffenheit betreffen die Verkehrssicherheit des Fahrzeugs (hier: Seilbahn) an sich. Dazu zählen zum Beispiel Konstruktions- und Materialfehler (RS0124493). Ein Fehler in der Beschaffenheit liegt nicht schon dann vor, wenn die Seilbahn nicht in jeder Hinsicht „ideal“ ist. Grundsätzlich genügt die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften. Allerdings schließt dies die Annahme mangelhafter Beschaffenheit, insbesondere bei erkennbarer Gefährlichkeit nicht aus (vgl 2 Ob 116/17y Pkt 2.).

[37] Ein Versagen der Verrichtungen des Fahrzeugs (hier: Seilbahn) liegt vor, wenn nicht die Wirkungen eintreten, die normal mit der Handhabung verbunden sind und deren Eintritt vorausgesetzt wird, oder wenn ein Fahrzeugteil die Funktion, die ihm im Betrieb im Zusammenwirken aller Teile zukommt, nicht oder nicht ordnungsgemäß erfüllt (RS0058252).

[38] 3.2.4 Die Revision weist zutreffend darauf hin, dass der längere Stillstand darauf zurückzuführen ist, dass die Förderräder vereist waren und daher ihre Funktion nicht mehr gewährleistet war. Mag daher die Zonenüberwachung auch funktioniert haben, stellt das auf die Bildung von Blitzeis zurückzuführende Einfrieren der Räder, das den langen Stillstand bewirkt hat, ein Versagen der Verrichtung dar.

[39] Der Beklagten ist daher die Berufung auf ein unabwendbares Ereignis verwehrt, ohne dass es noch auf die Einhaltung der nach § 9 Abs 2 EKHG erforderlichen Sorgfalt oder das Vorliegen außergewöhnlicher Betriebsgefahr (vgl 2 Ob 215/07t [übliche Pendelbewegungen keine außergewöhnliche Betriebsgefahr]) ankäme.

[40] 4. Das Erstgericht wird das Verfahren zur Anspruchshöhe und (auch) in Bezug auf den Drittkläger fortzusetzen haben, dessen Aktivlegitimation bei unfallbedingtem Unterhaltsmehraufwand zu bejahen wäre. Es handelt sich dabei freilich nicht um einen eigenen Schaden des ersatzberechtigten Elternteils, sondern um einen Fall der Schadensüberwälzung. Der Anspruch geht analog § 1358 ABGB aufgrund der Leistung in deren Umfang auf den bloß formell haftenden Unterhaltsschuldner über (RS0132110 = 2 Ob 18/18p). Ein solcher Ersatzanspruch kann in Bezug auf künftig nicht auszuschließende Leistungspflichten des Unterhaltsschuldners, für die materiell aber der Schädiger haftet, nach § 228 ZPO auch festgestellt werden (RS0132110 [T1]).

[41] 5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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