BVwG L508 2256065-1

BVwGL508 2256065-130.8.2023

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:L508.2256065.1.00

 

Spruch:

 

L508 2256065-1/3E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr.in HERZOG als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX Staatsangehörigkeit: Staatenlos (Libanon), vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.05.2022, Zl. XXXX zu Recht erkannt:

 

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gem. § 3 Abs. 1 Asylgesetz der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

 

1. Der Beschwerdeführer (nachfolgend: BF), ein palästinensischer Staatenloser aus dem Libanon und der arabischen Volksgruppe sowie der islamischen Religionsgemeinschaft sunnitischer Prägung zugehörig, stellte nach nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 22.02.2021 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdiensts einen Antrag auf internationalen Schutz (Aktenseite des Verwaltungsverfahrensakts [im Folgenden: AS] 11).

 

2. Der BF legte im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdiensts am Tag der Antragstellung (AS 19 - 31) dar, sein Land verlassen zu haben, weil er als Staatenloser keine Rechte habe, in Syrien Krieg sei und es keine Sicherheit gebe.

 

3. In weiterer Folge wurde der BF am 13.01.2022 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, RD Kärnten - Außenstelle Klagenfurt (nachfolgend: BFA) niederschriftlich einvernommen (AS 145 ff). Der BF gab sodann an, in einem Dorf in der Nähe der Stadt XXXX im Libanon geboren worden zu sein. Sein Vater habe nichts vor dessen Tod unternommen damit er die libanesische Staatsbürgerschaft erhalte. Er sei zwar registriert gewesen, habe aber keine Dokumente gehabt. Er würde denken, dass seine Mutter versucht habe, für ihn die syrische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Aufgrund seiner Geburt im Libanon habe er sie nicht erhalten. Er verfüge über keinen Aufenthaltstitel für den Libanon. Daran habe sich auch durch die Eheschließung mit einer Libanesin nichts geändert. Er habe von den libanesischen Behörden - abgesehen von seiner Geburtsurkunde und der Bestätigung seiner Personaldaten - nichts erhalten. Er habe es des Öfteren versucht, aber nichts bekommen. Ebenso wenig habe er für seine Kinder, deren Mutter Libanesin sei, die Staatsbürgerschaft erlangen können. Weder habe er, noch könnten seine Kinder die Schule besuchen. Er sei im Krankenhaus abgewiesen worden und habe auch sonst nichts erhalten. Er sei mit ca. acht Jahren - nach dem Tod seines Vaters - mit seiner Familie zu seinem Onkel nach Syrien gereist. Bei Beginn der Unruhen im Jahr 2011 seien sie wieder in den Libanon zurückgekehrt, wo er dann bis zu seiner Ausreise verblieben sei. Seine Mutter habe sich - im Gegensatz zu ihm - bei UNHCR registrieren lassen, um Unterstützung zu erhalten.

 

Zu seinen Ausreisegründen befragt, schilderte der BF, dass es extrem psychisch belastend sei, ohne Zugehörigkeit zu einem Land illegal mit seiner Familie zu leben/ überleben. Aufgrund seiner bzw. der Staatenlosigkeit seiner Kinder könnten sie nicht die Schule besuchen, würden keine medizinische Versorgung oder Hilfeleistungen erhalten und müssten in Armut leben. Er könne weder in Syrien noch im Libanon legal einer Arbeit nachgehen, um seine Familie zu ernähren. Im Jahr 2014 seien er und ein Arbeitskollege am Weg zur Arbeit von der Hisbollah zwecks Kontrolle aufgehalten worden. Man habe von ihm einen Ausweis verlangt und auf seiner Geburtsurkunde gesehen, dass er staatenlos sei. Sie seien dann geschlagen und das Fahrzeug demoliert worden. Des Weiteren sei er Ende 2019 von der libanesischen Polizei kontrolliert worden. Diese hätten gesehen, dass er als staatenlos geführt werde, woraufhin er festgenommen worden sei. Er sei ca. einen Monat in Haft gewesen. Erst nachdem sie herausgefunden hätten, dass er von keinem Staat gesucht werden würde, seine Geburtsurkunde als Original gewertet worden sei und sein Dorfältester seinen Wohnort im Zuge eines Anrufs bestätigt habe, sei er freigelassen worden.

Des Weiteren wurden dem BF die von der belangten Behörde herangezogenen Länderinformationsquellen zum Libanon zur Kenntnis gebracht. Er verzichtete auf die Möglichkeit einer Stellungnahme (AS 154).

Im Zuge der Einvernahme vor dem BFA am 13.01.2022 brachte der BF eine Heiratsurkunde, eine Bestätigung bezüglich der Heirat, Geburtsurkunden bezüglich seiner Person und seiner Kinder, einen Auszug aus dem Personenstandsregister bezüglich seiner libanesischen Ehegattin und eine Namensbestätigung - jeweils in Kopie - (AS 157 ff) in Vorlage.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 10.05.2022 (AS 237 - 310) wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und diesem gemäß § 8 Abs. 4 leg. cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.

Im Rahmen der Beweiswürdigung wurde das Fluchtvorbringen des BF bezüglich eines gewaltsamen Übergriffs durch Angehörige der Hisbollah im Jahr 2014, einer einmonatigen Inhaftierung durch die libanesische Polizei Ende 2019 und einer - aussichtslosen - wirtschaftlichen Notlage aufgrund seines Status als palästinensischer Staatenloser als glaubwürdig, jedoch nicht asylrelevant erachtet (AS 301 ff). In der rechtlichen Beurteilung wurde begründend dargelegt, warum der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG biete und warum dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt sowie diesem gemäß § 8 Abs. 4 leg. cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt wurde.

5. Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.05.2022 (AS 231 f) wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

 

6. Gegen Spruchpunkt I. des oa. Bescheides des BFA erhob der Beschwerdeführer fristgerecht mit am 30.06.2022 eingebrachtem Schriftsatz (AS 319 ff) Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Hinsichtlich des genauen Inhalts der Beschwerde wird auf den Akteninhalt (VwGH 16.12. 1999, 99/20/0524) verwiesen.

 

7. Hinsichtlich des Verfahrenshergangs und des Parteivorbringens im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

 

1. Verfahrensbestimmungen

1.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

 

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

 

Gegenständlich liegt somit mangels anderslautender gesetzlicher Anordnung in den anzuwendenden Gesetzen Einzelrichterzuständigkeit vor.

 

1.2. Anzuwendendes Verfahrensrecht

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

 

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

 

§ 1 BFA-VG (Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden, BFA-Verfahrensgesetz, BFA-VG), BGBl I 87/2012 idF BGBl I 144/2013 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.

 

Gem. §§ 16 Abs. 6, 18 Abs. 7 BFA-VG sind für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden.

 

1.3. Prüfungsumfang

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

 

Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

 

Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

 

Gemäß § 28 Absatz 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

 

2. Zur Entscheidungsbegründung:

Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers sowie der von ihm vorgelegten Bescheinigungsmittel, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes, durch Einsichtnahme in die aktuelle Version des erstinstanzlich vom BFA bereits als Beweisquelle herangezogenen Länderinformationsblatts der Staatendokumentation sowie durch die Einholung von Auskünften des Zentralen Melderegisters, des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister, des Strafregisters und des Grundversorgungsdatensystems.

 

2.1. Auf der Grundlage dieses Beweisverfahrens gelangt das BVwG nach Maßgabe unten dargelegter Erwägungen zu folgenden entscheidungsrelevanten Feststellungen:

 

2.1.1. Zur Person und den Fluchtgründen des Beschwerdeführers wird festgestellt:

1.1. Der Beschwerdeführer ist staatenloser Palästinenser aus dem Libanon, gehört der arabischen Volksgruppe an und ist moslemischen Glaubens sunnitischer Prägung.

 

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und ist am XXXX geboren.

 

Der BF ist traditionell verheiratet und Vater einer minderjährigen Tochter und eines minderjährigen Sohnes.

 

Der BF ist im Libanon geboren und verbrachte dort etwa die ersten acht Lebensjahre. Nach dem Tod seines Vaters zog der BF mit seiner Familie bis etwa 2011 zu seinem Onkel in Syrien. Nach dem Beginn der Unruhen in Syrien kehrte der BF wieder in den Libanon zurück, wo er sich bis zu seiner Ausreise im Oktober 2020 aufhielt.

 

Der BF besuchte im Libanon keine Schule und ist Analphabet. Er ging dort mehrere Jahre einer illegalen Beschäftigung als Fliesenleger nach.

 

Der BF reiste ca. im Oktober 2020 illegal auf dem Landweg aus dem Libanon nach Syrien und im Anschluss in die Türkei aus. Nach einem zwischenzeitlichen mehrmonatigen Aufenthalt in Serbien reiste er in weiterer Folge illegal nach Österreich ein, wo er am 22.02.2021 seinen Antrag auf internationalen Schutz stellte und sich seither aufhält.

 

Im Libanon leben noch die Ehegattin, die minderjährige Tochter, der minderjährige Sohn, die Mutter, ein Bruder und vier Schwestern des BF. Der Beschwerdeführer spricht Arabisch als Muttersprache. Der BF steht mit seiner Familie ca. zweimal pro Woche in Kontakt.

 

Der BF ist bis dato strafgerichtlich unbescholten. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt aktuell durch den Bezug von Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber.

 

2.1.2. Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 2014 im Zuge einer Kontrolle aufgrund seiner Staatenlosigkeit von Personen der Hisbollah geschlagen und ein von ihm genutztes Fahrzeug beschädigt. Ferner wurde er Ende 2019 von der libanesischen Polizei kontrolliert und aufgrund seiner Staatenlosigkeit festgenommen und in der Folge für einen Monat angehalten.

 

Dem Beschwerdeführer stehen keine realistischen Möglichkeiten zu, die Staatsangehörigkeit seines Geburts- und Herkunftsstaates Libanon oder ein dortiges Aufenthaltsrecht zu erwerben, da sein Vater staatenloser Palästinenser war und es sich bei seiner Mutter um eine syrische Staatsangehörige handelt, zumal Kinder laut Gesetz die libanesische Staatsbürgerschaft von ihrem Vater erhalten. Frauen können die libanesische Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder oder ausländischen Ehemänner weitergeben, was dazu führt, dass der BF weder von seiner syrischen Mutter noch von seiner libanesischen Ehegattin die libanesische Staatsangehörigkeit erwerben kann. Politiker befürchten, dass eine entsprechende Gesetzesänderung das Land destabilisieren könnte, indem es das demographische und religiöse Gleichgewicht stört.

 

Die libanesischen Behörden sträuben sich seit Mai 2018 den staatenlosen palästinensischen Flüchtlingen aus dem Libanon (PRLs), die sich im Ausland aufhalten, die Rückkehr in den Libanon zu gestatten, wenn sie keine Aufenthaltsgenehmigung in dem Land haben, in dem sie sich derzeit aufhalten. Dies gilt unabhängig davon, ob die Rückkehr freiwillig oder zwangsweise erfolgen soll. Anträge für neue oder zu verlängernde palästinensische Reisedokumente sowie die Ausstellung von Laissez-passer für PRLs werden vom libanesischen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und Emigranten auf Eis gelegt.

 

Die Lage der „undokumentierten“ Palästinenser ist besonders schwierig. Sie laufen Gefahr, wegen illegalen Aufenthalts verhaftet zu werden, sobald sie die Lager verlassen. Politische und wirtschaftliche Rechte werden ihnen verwehrt. Sie dürfen, anders als andere Ausländer, im Libanon seit 2001 keinen Grund und Boden mehr erwerben. Auch wenn einige Berufe den Palästinensern zugänglich gemacht wurden, bestehen rechtliche Hindernisse und gesellschaftliche Diskriminierung. So wird von Palästinensern stets eine Arbeitserlaubnis verlangt; freie Berufe (Arzt, Rechtsanwalt etc.) können nicht ausgeübt werden. Der Besuch staatlicher Schulen ist ihnen untersagt. Für ihre Schulbildung und gesundheitliche Versorgung hängt die Lagerbevölkerung ausschließlich vom UNRWA-Hilfswerk bzw. Hilfeleistungen anderer NGOs (z.B. des Palästinensischen Roten Halbmondes) ab, wovon der BF wiederum ausgeschlossen ist, da dieser nicht bei UNRWA registriert ist.

 

Aufgrund des Ermittlungsverfahrens kann nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass dem Beschwerdeführer mangels libanesischer Staatsangehörigkeit eine Rückkehr möglich und zumutbar ist.

 

2.1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Libanon war insbesondere unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer - seitens der belangten Behörde am 13.01.2022 (AS 154) - offengelegten Quellen festzustellen:

 

Politische Lage

Der Libanon ist eine parlamentarische Demokratie nach konfessionellem Proporzsystem. Das politische System basiert auf der Verfassung von 1926, dem ungeschriebenen Nationalpakt von 1943 und dem im Gefolge der Taif-Verhandlungen am 30.9.1989 verabschiedeten „Dokument der Nationalen Versöhnung“ (AA 4.1.2021). In diesem sogenannten Taif-Abkommen wurde festgelegt, dass die drei wichtigsten Ämter im Land auf die drei größten Konfessionen verteilt werden:

• Das Staatsoberhaupt muss maronitischer Christ sein

• Der Parlamentspräsident muss schiitischer Muslim sein

• Der Regierungschef muss sunnitischer Muslim sein (GIZ 3.2020)

Der Konfessionsproporz bestimmt die gesamte Verwaltung und macht auch vor der Legislative nicht halt. Das Parlament mit seinen 128 Mitgliedern setzt sich nach dem Grundsatz der konfessionellen Parität wie folgt zusammen: 34 Maroniten, 27 Schiiten, 27 Sunniten, 14 griechischorthodoxe Christen, acht Drusen, acht melikitische/griechisch-katholische Christen, fünf orthodoxe Armenier, zwei Alawiten, ein armenischer Katholik, ein Protestant und ein Vertreter einer Minderheit (GIZ 3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Die konfessionelle Fragmentierung des Landes bewirkt eine äußere Abhängigkeit von den jeweiligen Schutzmächten der konfessionellen Gruppen. Dies reduziert die Souveränität des Staates (GIZ 3.2020).

Bei der im Abkommen von Taif vorgesehenen allmählichen Entkonfessionalisierung des politischen Systems gibt es kaum Fortschritte. Das libanesische System wird von der Zusammenarbeit der verschiedenen religiösen Gruppen getragen; daneben spielen Familien- und regionale Interessen eine große Rolle. Die destabilisierenden regionalen politischen und konfessionellen Spannungen haben infolge der Krise in Syrien seit Anfang 2011 deutlich zugenommen (AA 4.1.2021). Das Abkommen zur Machtaufteilung, das den Bürgerkrieg beendete brachte ein konfessionelles politisches System, das den Staat ausplündert und seine Institutionen aushöhlt. Der Libanon wurde durch eine Handvoll Politiker in den Bankrott getrieben, viele von ihnen frühere Warlords [Anm.: in der Zeit des Bürgerkriegs 1975-1990] (NYT 28.10.2021).

Das Parlament des Libanon ist konfessionsübergreifend in zwei politische Blöcke gespalten, die einander unversöhnlich gegenüberstehen:

• die von der schiitisch geprägten und vom Iran beeinflussten Hizbollah angeführte 8. MärzKoalition und

• die eher westlich orientierte, sunnitisch geprägte und von Saad Hariri (Future Movement; arab.: (al-)Mustaqbal) angeführte 14. März-Bewegung (GIZ 3.2020).

Die traditionelle Feindschaft zwischen diesen beiden Blöcken wurde durch den Konflikt im benachbarten Syrien zusätzlich vertieft. Die Polarisierung zwischen den beiden Lagern lähmt das Land politisch und ökonomisch und verstärkt konfessionelle Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten (GIZ 3.2020).

Am 31.10.2016 wurde schließlich nach zweieinhalb Jahren und 45 gescheiterten Versuchen ein neuer Präsident gewählt (GIZ 3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Am 6.5.2018 fanden nach jahrelanger Pattstellung erstmals seit 2009 erneut Parlamentswahlen statt. 77 Listen mit insgesamt 597 Kandidaten waren für die Wahl um 128 Parlamentssitze in 26 Distrikten registriert. Die Anzahl der weiblichen Kandidaten nahm gegenüber der letzten Wahl auf 86 zu und betrug somit nun 14,4 %. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei 49,2 %. Die offiziellen Ergebnisse weisen die Sitze wie folgt zu: Future Movement [Anm.: arab. - (al-)Mustaqbal] 21; Free Patriotic Movement 20; Amal 17; Lebanese Forces 15; Hizbollah 12; Progressive Socialist Party 8; die „Determination (Azem)" Bewegung des ehemaligen Premierministers Mikati 4; Marada, die Syrian Social Nationalist Party, Kataeb und Tashnaq jeweils 3 Sitze. Zum ersten Mal gewann ein Kandidat der Zivilgesellschaft einen Sitz durch die Wahlliste „Koulouna Watani" in Beirut. Die Zahl der gewählten Frauen im Parlament stieg von vier auf sechs (UNSC 13.7.2018). Die Hizbollah und ihre politischen Verbündeten - darunter auch das „Free Patriotic Movement“ (FPM), eine christliche Partei unter der Führung von Präsident Michel Aoun, die knapp zwanzig Sitze erringen konnte (AA 24.1.2020), besetzen nach dieser Wahl knapp die Hälfte der 128 Sitze im Parlament, während der vom Westen unterstützte sunnitische Saad al-Hariri [Premierminister bis Oktober 2019, Anm.] mit 21 Parlamentsmitgliedern immer noch Führer des größten politischen Blocks ist (RFE 7.5.2018; vgl.

ICG 9.6.2018).

Im Oktober 2019 trat Saad Hariri als Premierminister zurück und Hassan Diab folgte mit einer neuen Regierung. Nach der verheerenden Explosion vom 4.8.2020 mit über 200 Toten und mehr als 6.500 Verletzten musste Diab nach einer weiteren Protestwelle zurücktreten (USDOS 30.3.2021) Am 10.9.2021 gab Najib Mikati sein neues Kabinett bekannt (DW 10.9.2021). Die nunmehrige Regierung ist durch den Streit über die Ermittlungen zur Hafenexplosion gelähmt und aktuell wird aufgrund eines Eklats im Bereich Außenpolitik (Saudi-Arabien) ein eventueller Zerfall der Regierung diskutiert (L’Orient 30.10.2021). Neue Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sind für Mai 2022 angesetzt (TAZ 10.9.2021).

Das Land ist von Krisen betroffen: der Finanz- und Wirtschaftskrise, die politische Lähmung und die Explosion vom 4.8.2020 (NYT 28.10.2021). Aufgrund der zunehmend prekären wirtschaftlichen

Situation kam es schon Mitte Oktober 2019 zu massiven Protesten gegen Korruption und Misswirtschaft (Standard 12.2.2020; vgl. FAZ 24.1.2020).

Bezüglich der Untersuchung der Verantwortung von früheren Ministern für die Explosion im Hafen von Beirut ist die Einberufung eines speziellen Gerichts aus Parlamentsabgeordneten und Richtern geplant. Der eigentlich zuständige Richter Tarek Bitar darf weiterhin gegen die niederrangigeren Amtsträger ermitteln. Bitar hatte versucht, Spitzenfunktionäre einschließlich ehemaliger Minister von den Parteien Amal und Marada Bewegung – beide Verbündete der Hizbollah, anzuklagen. Daraufhin wurde er in einer Schmierkampagne beschuldigt, die Ermittlungen zu politisieren, und es wurde auch seine Absetzung gefordert (Haaretz 26.10.2021). Am 14.10.2021 waren inmitten politischer Spannungen sieben Anhänger der Hizbollah und Amal während eines Protests der Parteien gegen Bitar erschossen worden. Die beiden Parteien beschuldigen die christliche Partei Forces Libanaises hinter dem Angriff zu stehen (Haaretz 26.10.2021; vgl. BBC 28.10.2021). Deren Parteichef hatte die Ermittlungen unterstützt und leugnet eine Involvierung in das Gefecht (Haaretz 26.10.2021).

 

Die Hizbollah, die „Partei Gottes“, ist - wie auch jetzt – seit Jahrzehnten immer wieder Teil der libanesischen Regierung. Sie tritt dabei jedoch nicht nur als politische Partei, sondern häufig auch als soziale Organisation auf, die mit ihrem Angebot an sozialen und medizinischen Hilfsleistungen ärmeren Menschen in Not hilft. Der bewaffnete Arm der Hizbollah kämpft in Syrien an der Seite der Truppen des Regimes von Präsident Baschar al-Assad. Gleichzeitig stellt die Organisation das Existenzrecht Israels offen in Frage. Immer wieder kommt es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Hizbollah und Israel (DF 30.4.2020). Die Hisbollah macht gleichzeitig Geschäfte gegen und mit dem Gesetz, schmuggelt Drogen und kontrolliert die Zollstationen am Hafen von Beirut. Dabei hilft ihr ein weltweites Netzwerk von Unterstützern in der Diaspora (Zeit 6.5.2020).

Die Hizbollah wird von den Vereinigten Staaten als terroristische Gruppe eingestuft. In der EU stand bislang nur der militärische Arm der Hizbollah auf der Terrorliste, bis Deutschland den Kurs nun verschärft und auch den politischen Arm der Hizbollah als terroristische Vereinigung bewertet und ein Betätigungsverbot der Organisation in Deutschland verfügt hat (Spiegel 30.4.2020; vgl. Spiegel 5.5.2020, TDS 6.11.2019). Anfang Februar 2021 wurde der prominente schiitische Kritiker der Hizbollah, Lokman Slim, ermordet. Er hatte bereits Ende 2019 Morddrohungen erhalten, welche er der Hizbollah und ihren Verbündeten zugeschrieben hatte. Damals war er in der Protestbewegung gegen die damalige Regierung aktiv gewesen. Die großen Menschenmassen hatten eine komplette Reform des politischen Systems gefordert, nachdem ein Wirtschaftskollaps zu Inflation im dreistelligen Bereich sowie massenhaften Verlusten von Arbeitsplätzen geführt hatte und die Hälfte der Bevölkerung bei Anfang Februar 2021 unter die Armutsgrenze gerutscht war. Die Pandemie und die Explosion im Hafen von Beirut mit 200 Toten haben die Lage weiter verschärft (BBC 4.2.2021). Auch die Journalistin Mariam Seif Eddine, welche in ihren Berichten die Hizbollah kritisiert, berichtete über Drohungen und Übergriffe gegen sie und ihre Familie durch Hizbollah-Mitglieder Anfang Dezember 2020. Sie und ihre Familie wohnten [Anm.: wie Lokman Slim] in einem von der Hizbollah kontrollierten Wohngebiet im Süden Beiruts (UDSOS 30.3.2021).

Ethnische Minderheiten

Die Bevölkerung des Libanon von geschätzten 5.261.372 Menschen besteht zu 95 % aus Arabern, 4 % Armeniern und 1 % sonstiger Ethnien (CIA o.D). Es besteht keine ethnisch oder religiös diskriminierende Gesetzgebung für libanesische Staatsangehörige. Allerdings unterliegen palästinensische und syrische Flüchtlinge gravierenden rechtlichen und tatsächlichen Einschränkungen (AA 4.1.2021) [Anm.: Siehe Kapitel 20.1. Syrische Flüchtlinge und 20.2. Palästinensische Flüchtlinge].

Es gibt ebenso keine Anhaltspunkte für gezielte staatliche Repressionen gegen bestimmte Personengruppen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, wiederum ausgenommen palästinensische und syrische Flüchtlinge. Die ca. 100.000 Personen umfassende kurdischstämmige Bevölkerung türkischen oder irakischen Ursprungs wird nicht als Minderheit anerkannt, unterliegt aber auch keiner Repression. Nach wie vor ist ein kleiner Teil dieser Bevölkerungsgruppe (ca. 1.000-1.500 Personen) staatenlos und hat damit keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, insbesondere zu staatlichen Schulen und zum Gesundheitssystem (AA 4.1.2021).

Bewegungsfreiheit

Das Gesetz gewährt Bewegungsfreiheit in Bezug auf Auslandsreisen, Emigration und Wiedereinbürgerung, und die Regierung respektierte grundsätzlich diese Rechte. Einschränkungen gibt es nur für Flüchtlinge und Asylsuchende, von denen die meisten aus Palästina, Syrien und dem Irak stammen [Für detaillierte Informationen wird auf den entsprechenden Abschnitt "IDPs und Flüchtlinge" verwiesen; Anm.] (USDOS 30.3.2021).

Aufgrund von Übergriffen des sogenannten Islamischen Staates (IS), terroristischen Anschlägen und Waffenschmuggel nach Syrien hält der Libanon die Grenzen zu Syrien nur für den eingeschränkten Personenverkehr offen (GIZ 3.2020). Die libanesischen Behörden behalten bestimmte COVID-19-Einschränkungen sowie die internationalen Einreisebeschränkungen mit Stand Ende Oktober bei – mutmaßlich bis 30.11.2021. Während die meisten Einschränkungen in den letzten Wochen aufgehoben wurden, wird weiterhin eine Erlaubnis von der IMPACT-Website der Regierung benötigt, um Aktivitäten an stark frequentierten Orten nachzugehen, z.B. der Besuch von Supermärkten oder Banken (GW 27.10.2021).

Kontrollpunkte sind im Libanon weit verbreitet (AA 4.1.2021). Innerhalb des Landes behinderten oder verhinderten bewaffnete nichtstaatliche Akteure die Bewegung in den von ihnen kontrollierten Gebieten. Bewaffnete Mitglieder der Hizbollah kontrollierten den Zugang zu einigen Gebieten unter ihrer Kontrolle, und die Palästinensische Front für die Befreiung Palästinas (PFLP) verhinderten den Zugang zu einem Grenzgebiet unter ihrer Kontrolle (USDOS 30.3.2021).

Innerhalb der Familien üben die Männer manchmal eine beträchtliche Kontrolle über die weiblichen Verwandten aus, indem sie ihre Aktivitäten außerhalb des Hauses oder ihren Kontakt zu Freunden und Verwandten einschränken (USDOS 30.3.2021). Verheiratete Frauen benötigen für die Ausstellung eines Reisepasses die Zustimmung des Ehemannes (AA 4.1.2021).

IDPs und Flüchtlinge

Das Gesetz sieht weder die Gewährung von Asyl noch die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus vor (USDOS 30.3.2021). Die Regierung hat aber durch ein „Memorandum of Understanding“ in Absprache mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) seit September 2003 ein faktisches und verlängerbares Bleiberecht von höchstens einem Jahr für Flüchtlinge geschaffen, das allerdings nicht für Altfälle gilt. Ferner duldet die Regierung den vorübergehenden Aufenthalt von Asylsuchenden – bei Betreuung durch UNHCR - bis zu einer Dauer von sechs Monaten (AA 4.1.2021).

Der Libanon beheimatet pro Kopf die meisten Flüchtlinge weltweit (KAS 20.2.2019). Es leben bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von etwa 5,8 Millionen nach Schätzungen des UNHCR und anderer Organisationen 1,3 Millionen Flüchtlinge im Land (USDOS 30.3.2021; vgl. GIZ 6.2020a). 880.414 Personen davon sind beim UNHCR registrierte syrische Flüchtlinge. Der UNHCR musste auf Anordnung der libanesischen Regierung Anfang 2015 die Registrierung von Flüchtlingen aus Syrien einstellen. Später im Libanon eintreffende SyrerInnen sind somit nicht in der Zahl erfasst (USDOS 30.3.2021) [Anm.: Näheres zu syrischen Flüchtlingen entnehmen Sie bitte dem Unterkapitel 20.1. Syrische Flüchtlinge]. Hinzukommen palästinensische Flüchtlinge. Diese sind in den meisten Fällen überwiegend sunnitische, aber auch christliche Nachkommen von Flüchtlingen, die in den 1940er und 1950er Jahren ins Land kamen (USDOS 12.5.2020). Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) schätzte Anfang 2019, dass von den insgesamt über 470.000 registrierten palästinensischen Flüchtlingen tatsächlich etwa 180.000 im Libanon aufhältig waren (UNRWA o.D.; vgl. KAS 20.2.2019) [Anm.: Näheres zu palästinensischen Flüchtlingen siehe Unterkapitel 20.2. Palästinensische Flüchtlinge].

Außerdem sind bei UNHCR etwa 14.000 irakische Flüchtlinge registriert. Die Flüchtlinge und ausländischen Migranten aus dem Irak sind vor allem sunnitische Kurden, sunnitische und schiitische Muslime sowie Chaldäer. Es gab auch koptische Christen aus Ägypten und dem Sudan. Nach Angaben der NGO Syriac League, die sich für die assyrischen Christen im Land einsetzt, leben etwa 10.000 irakische Christen aller Konfessionen und 3.000 bis 4.000 koptische Christen im Land. Derselben NGO zufolge ist die Mehrheit der irakischen christlichen Flüchtlinge nicht beim UNHCR registriert und wird daher nicht in ihre Zählung einbezogen. Die Zahl der Christen aus dem Iraq ging aufgrund der Wirtschaftskrise im Libanon seit 2019 um 60 % durch Emigration zurück (USDOS 12.5.2021). Zudem gibt es mit Stand 31.7.2020 2.282 bei UNHCR registrierte Flüchtlinge und Asylsuchende aus dem Sudan sowie weitere andere Flüchtlinge (USDOS 30.3.2021).

Um Flüchtlinge dazu zu bewegen, sich um einen Aufenthaltsstatus zu beantragen, bzw. diesen zu verlängern, werden seit 2017 keine diesbezüglichen Gebühren für jene Flüchtlinge verlangt, die sich vor 2015 bei UNHCR registriert hatten. Diese Regelung schließt Flüchtlinge aus, die nicht registriert sind. Die Anwendung dieser Regelung ist jedoch inkonsistent und der Anteil der Flüchtlinge mit legalem Aufenthaltsstatus hat sich trotzdem nur minimal verbessert. Nach Angaben der UNO hatten im Juli 2020 nur 28 % der Flüchtlingsbevölkerung einen legalen Aufenthaltsstatus. Die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge konnte ihre Rechtsdokumente nicht erneuern, was deren Bewegungsfreiheit wegen der Möglichkeit von Festnahmen an Kontrollpunkten, insbesondere für erwachsene Männer erheblich beeinträchtigte (USDOS 30.3.2021).

Einige Kinder unter den Flüchtlingen leben und arbeiten auf der Straße. Angesichts des schlechten wirtschaftlichen Umfelds, der eingeschränkten Bewegungsfreiheit und der geringen Möglichkeiten für Erwachsene, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, verlassen sich viele syrische Flüchtlingsfamilien oft auf Kinder, um Geld für die Familie zu verdienen, unter anderem durch Betteln oder den Verkauf kleiner Gegenstände auf der Straße. Diese Kinder sind in Bezug auf Ausbeutung, geschlechtsspezifische Gewalt und Kinderarbeit einem größeren Risiko ausgesetzt als libanesische Kinder, da sie im Vergleich zu ihren Eltern, die oft keine Aufenthaltsgenehmigung besitzen, eine größere Bewegungsfreiheit haben (USDOS 30.3.2021).

 

Syrische Flüchtlinge

Der Libanon nahm von allen benachbarten Ländern die größte Zahl an syrischen Flüchtlingen auf. Diese machen mit über einer Million Menschen ungefähr 25 % der Gesamtbevölkerung aus (KAS 20.2.2019; vgl. GIZ 3.2020). Die hohe Zahl an Flüchtlingen hat zu einer enormen Belastung der staatlichen Strukturen geführt. Verarmungstendenzen der lokalen Bevölkerung, Übergriffe auf Flüchtlinge und eine erhöhte Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung sind die Folge (GIZ 3.2020). Es kommt vereinzelt zu Übergriffen von Libanesen auf syrische Flüchtlinge (z.B. Inbrandsetzung von Zelten, nächtliche „Ausgangssperren“ durch Bürgerwehren, vereinzelt auch „Lynchjustiz“) (AA 4.1.2021). Aufgrund von Ängsten und Erfahrungen mit palästinensischen Flüchtlingscamps wurden bis dato keine Flüchtlingslager für Syrer offiziell genehmigt (AA 4.1.2021; vgl. GIZ 3.2020).

Lebensbedingungen

Die meisten syrischen Flüchtlinge wohnen in städtischen Gebieten, häufig in unfertigen und minderwertigen Gebäuden. Laut einer Einschätzung der UNO leben etwa 20 % in informellen Zeltsiedlungen. Oft nehmen Flüchtlinge Kredite auf, um selbst ihre grundlegendsten Bedürfnisse wie Miete, Lebensmittel und Gesundheitsversorgung decken zu können. In der Folge waren fast 90 % der Flüchtlinge verschuldet und von Ernährungsunsicherheit betroffen (USDOS 30.3.2021).

73 % der Syrer leben unterhalb der nationalen Armutsgrenze und somit von weniger als 3,84 USDollar pro Person und Tag (GIZ 3.2020). Laut den Vereinten Nationen stehen der Hälfte der syrischen Flüchtlingshaushalte sogar weniger als 2,9 US-Dollar pro Person und Tag zur Verfügung (AA 24.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Im April 2019 fand eine Sitzung des Hohen

Verteidigungsrats zum Umgang mit syrischen Flüchtlingen statt, die u.a. Vorgaben zu Flüchtlingsunterkünften sowie zur Abschiebung und zu Arbeitsmöglichkeiten verschärfte. In der Folge kam es zu Abrissen von semi-permanenten Strukturen von Flüchtlingen, da laut libanesischem Recht nur temporäre Strukturen (z.B. Zelte ohne Holzverstärkung) erlaubt sind (AA

4.1.2021). Tausende Flüchtlingsunterkünfte wurden zerstört. Im Jahr 2020 wurden zwar keine weiteren „harten“ Unterkünfte zerstört, aber mehr als 470 weitere Personen waren in der ersten Jahreshälfte von Delogierungen aufgrund von Umweltbedenken betroffen (USDOS 30.3.2021).

Flüchtlinge dürfen weiterhin nur in Bereichen Landwirtschaft, Bausektor und Müllentsorgung arbeiten, benötigen dafür aber eine Arbeitsgenehmigung, die so gut wie nie erteilt wird. In der Folge werden Flüchtlinge in irreguläre Arbeitsverhältnisse gedrängt. Die Sicherheitsbehörden führen regelmäßig Razzien gegen im informellen Sektor tätige Flüchtlinge durch. Flüchtlinge haben nur bedingt Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung (AA 4.1.2021). Der UNHCR schätzt die Zahl der im Libanon als Flüchtlinge registrierte syrischen Kinder im Schulalter (3 bis 14 Jahre) auf fast 512.000. Sie haben kein Recht, zu regulären Zeiten am Unterricht in öffentlichen Schulen teilzunehmen, dürfen diesen aber in einer gesonderten zweiten Schicht besuchen (USDOS 30.3.2021). Oftmals werden diese Kinder bei der Anmeldung an Schulen dennoch abgewiesen. Zudem steigen mit der Armut unter Flüchtlingen auch Kinderarbeit und Ausbeutung von Jugendlichen, was einen Schulbesuch verhindert. Mehr als die Hälfte der syrischen Kinder geht nicht in die Schule (AA 4.1.2021). Der Anteil von syrischen Kindern, die Unterricht hatten, fiel auf 25 % und 30 % haben nie eine Schule besucht (HRW 11.10.2021).

Mehrere Nichtregierungs- und UN-Organisationen berichteten über sexuelle Belästigung und Ausbeutung von Flüchtlingen durch Arbeitgeber und Vermieter, darunter die Bezahlung von Arbeitnehmern unter dem Mindestlohn, überlange Arbeitszeiten, Schuldknechtschaft und das Drängen von Familien, ihre Töchter früh zu verheiraten, um wirtschaftliche Not zu lindern (USDOS 30.3.2021).

Syrische Flüchtlinge haben Zugang zu vielen gemeinnützigen und privaten Gesundheitszentren und örtlichen Kliniken für die medizinische Grundversorgung, und UN-Organisationen und NGOs finanzierten den Großteil der damit verbundenen Kosten mit internationaler Spenderunterstützung. Syrische Flüchtlinge haben weiters Zugang zu einer begrenzten Anzahl von Krankenhäusern, die von UNHCR unter Vertrag genommen wurden und lebensrettende Versorgung und Geburtenhilfe bieten (USDOS 11.3.2020).

Bei der Explosion im Hafen von Beirut am 4.8.2020 starben 23 syrische und zwei palästinensische Flüchtlinge, 504 syrische und mehrere palästinensische Flüchtlinge wurden verletzt und drei syrische Flüchtlinge wurden als vermisst gemeldet. Auch Wohngebäude von Flüchtlingen wurden teilweise zerstört (AA 4.1.2021).

Die finanziellen Herausforderungen, denen sich viele syrische Flüchtlinge durch die aktuelle Wirtschaftskrise derzeit gegenüber sehen, werden durch ihren rechtlichen Status im Land noch verschärft, da viele keine Arbeitserlaubnis erhalten können und daher ihren Lebensunterhalt unter der Hand und ohne Verträge verdienen müssen. Während die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter nach wie vor mit ihrem alten Lohn zum offiziellen Wechselkurs bezahlt werden - wenn sie überhaupt ihren Lohn erhalten - sind die Preise gestiegen, und Vermieter, Gläubiger und andere verlangen häufig Zahlungen in Dollar oder zum Schwarzmarktkurs (TNH 9.1.2020).

 

Rückkehr

Sofern die Flüchtlinge über keine libanesische Aufenthaltsgenehmigung verfügen, erhalten sie im Rahmen von Personenkontrollen regelmäßig schriftliche Aufforderungen zur Ausreise. Diese werden nun zunehmend auch vollstreckt, insbesondere bei Syrern, die nach April 2019 irregulär eingereist sind. Derzeit betont die Regierung, dass man nur die freiwillige Ausreise unterstütze. Hierfür seien landesweit 18 Informationsbüros eingerichtet worden, in denen rückkehrwillige Flüchtlinge Unterstützung einholen können. Der UNHCR berichtet von 7.535 verifizierten Rückkehrenden aus dem Libanon nach Syrien im Jahr 2020 (Stand: Ende September 2020) (AA 4.1.2021). Die libanesische Regierung hat ihre zunehmende Frustration darüber zum Ausdruck gebracht, dass die internationale Gemeinschaft es zulässt, dass der Libanon mit der höchsten proKopf-Flüchtlingszahl der Welt eine unverhältnismäßig hohe Verantwortung für die syrischen Flüchtlinge übernimmt (ECRE 5.9.2019). Sie drängt auf internationale Unterstützung bei der Rückführung dieser Flüchtlinge. Große Teile der libanesischen Regierung sehen unter Verweis auf die sukzessive Rückerlangung der Territorialkontrolle durch das syrische Regime die Bedingungen für eine sichere und freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien nunmehr als gegeben an. Der UNHCR widerspricht dieser Einschätzung (AA 24.1.2020).

Der Libanon hat sich zwar wiederholt zum Prinzip des Non-Refoulement [Anm.: Ein im Völkerrecht verankerter Grundsatz, die Rückführung von Personen in Staaten, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, zu unterlassen] bekannt, rechtliche Garantien gibt es jedoch weiterhin keine. 2019 kam es zu mehreren Abschiebungen von syrischen Flüchtlingen nach Syrien ohne rechtsstaatliches Verfahren. Dabei wurden die Flüchtlinge direkt an staatliche syrische Behörden übergeben und nicht nur an die Grenze verbracht. Aufgrund dieser Rechtsunsicherheit ist jeder Flüchtling oder jeder sich illegal im Land aufhaltende Ausländer von Abschiebehaft und Abschiebung bedroht - ausgenommen Palästinenser. Der Libanon führt mitunter aus Syrien einreisende Personen an die syrische Grenze zurück, wenn sich im Laufe ihres Aufenthalts im Land herausstellt, dass die Einreise in den Libanon mit gefälschten Dokumenten erfolgte. Außerdem werden über den internationalen Flughafen Beirut einreisende Syrer in der Regel an den Ausgangsflughafen zurückgeschickt, wenn sie nicht über einen Aufenthaltstitel für den Libanon verfügen (AA 4.1.2021).

Die General Security (GS) koordinierte sich mit syrischen Regierungsbeamten, um die freiwillige Rückkehr von etwa 21.000 Flüchtlingen von April 2018 bis August zu ermöglichen. Der UNHCR organisierte diese Gruppenrückkehr zwar nicht, war aber an den Ausreiseorten anwesend und fand keine Hinweise darauf, dass die Rückkehr der befragten Flüchtlinge unfreiwillig oder unter Zwang erfolgte. Menschenrechtsgruppen wie etwa Amnesty International stellten die Behauptungen der Regierung, die Rückkehr der Flüchtlinge sei völlig freiwillig gewesen, in Frage, sprachen von „Unterdrucksetzen“, und führten ein glaubwürdiges Risiko der Verfolgung oder anderer Menschenrechtsverletzungen bei der Rückkehr in vom syrischen Regime kontrollierte Gebiete an (USDOS 30.3.2021).

Am 14.7.2020 genehmigte die Regierung eine Rückkehrpolitik für Flüchtlinge, welche dem Wunsch einer Rückkehr der syrischen Flüchtlinge nach Syrien Ausdruck gab. Diese Politik soll Hindernisse für eine Rückkehr im Libanon abschaffen, und die Ausreise ermöglichen, z.B. durch Erlass von Gebühren, welche Flüchtlinge sonst bei der Ausreise als Vorbedingung zahlen müssen. Die Politik spielt die Schutzrisiken und das Fehlen von Basisleistungen für RückkehrerInnen in Syrien herunter. Es wird dabei auch gefordert, einen Zensus aller Flüchtlinge durchzuführen und Personen, die sich nicht von sich aus melden mit Geldstrafen oder potentiell mit Haft zu belegen. Eine Datenbank mit biometrischen Daten der Flüchtlinge ist auch geplant. Diese schürt bei den Flüchtlingen Ängste vor Refoulement [Anm.: Non-Refoulement - ein im Völkerrecht verankerter Grundsatz, die Rückführung von Personen in Staaten, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, zu unterlassen]. Die Umsetzung scheiterte jedoch im Jahr 2020 noch an dem bedeutenden Ressourcenaufwand (USDOS 30.3.2021).

Seit April 2019 verlangt eine Entscheidung des Higher Defense Council (HDC) die Abschiebung aller Personen, die nach dem 24.4.2019 festgenommen und deren Einreise ins Land für illegal befunden wurde (USDOS 11.3.2020). Die Behörden berichteten, dass bis September 2019 2.731 Personen auf der Grundlage dieser Anordnung abgeschoben worden wären. Weitere Abschiebungen folgten bis März 2020, als die Grenzen wegen der COVID-19-Pandemie geschlossen wurden. Humanitäre Organisationen sahen in der neuen Abschiebepolitik der Regierung ein hohes Refoulement-Risiko, da es kein formelles Überprüfungsverfahren zur Beurteilung der glaubwürdigen Furcht vor Verfolgung oder Folter gibt. Es gab mehrere Einzelberichte von internationalen Beobachtern über Misshandlungen von syrischen Flüchtlingen in Haft, einschließlich eines Todesfalls im Juli 2020, nach ihrer Übergabe an die syrischen Behörden. Libanesische Regierungsbeamte beharrten darauf, dass diese Politik nur für illegale Migranten und nicht für Flüchtlinge gelte, obwohl es anscheinend kein ausreichendes ordentliches Verfahren gibt, um dies festzustellen (USDOS 30.3.2021).

Die von verschiedenen Seiten genannten Zahlen zu RückkehrerInnen nach Syrien divergieren stark. Laut libanesischer Regierung seien im Jahr 2019 rund 120.000 SyrerInnen freiwillig nach Syrien zurückgekehrt. Der UNHCR nennt dagegen deutlich niedrigere Zahlen (rund 18.000 in 2019, Stand Oktober). Der UNHCR erhält innerhalb Syriens bislang so gut wie keinen Zugang zu Rückkehrern (AA 24.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Für das Jahr 2020 berichtet der UNHCR von 7.535 verifizierten Rückkehrenden aus dem Libanon nach Syrien seit Jahresbeginn (Stand: Ende September 2020) (AA 4.1.2021).

 

Palästinensische Flüchtlinge

Die palästinensischen Flüchtlinge sind meist Nachkommen jener Flüchtlinge, die in den 1940er und 1950er Jahren ins Land kamen. Sie sind meist sunnitische Muslime, manchmal aber auch Christen (USDOS 10.6.2020). Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) schätzt mit Stand vom 1.1.2019, dass von insgesamt über 470.000 registrierten Flüchtlingen etwa 180.000 tatsächlich im Libanon aufhältig sind, wovon wiederum etwa 45 % in und um zwölf Flüchtlingslager leben (UNRWA o.D.a). Eine gemeinsame Zählung der libanesischen und palästinensischen Statistikämter 2017 hat ergeben, dass sich die Zahl der Palästinenser im Libanon auf 174.000 Personen beläuft (PCBS 21.12.2017; vgl. Spiegel 29.7.2019).

 

UNRWA

Die humanitären Dienste der UNRWA umfassen die Grund- und Berufsausbildung, die medizinische Grundversorgung, Hilfs- und Sozialdienste, die Verbesserung der Infrastruktur und der Lager, Mikrofinanzierung und Notfallmaßnahmen, auch in Situationen bewaffneter Konflikte (UNRWA o.D.b).

Rechtliche Lage der palästinensischen Flüchtlinge

Die meisten Palästinenser im Libanon sind staatenlos, mit Ausnahme von etwa 30.000 Christen, die 1948 ankamen, und die libanesische Staatsbürgerschaft erhielten (UNHCR 2.2016). UNRWAregistrierte palästinensische Flüchtlinge werden von Gesetzes wegen als AusländerInnen gesehen (USDOS 30.3.2021). Palästinensische Flüchtlinge können nicht die Staatsbürgerschaft erhalten mit Ausnahme von palästinensischen Ehefrauen von libanesischen Staatsbürgern nach einem Jahr Ehe (USDOS 30.3.2021). Doch werden ihnen häufig gesetzlich nicht vorgesehene administrative Hürden in den Weg gelegt (z.B. Einbürgerung erst nach Geburt eines Sohnes) (AA 4.1.2021).

Von den staatenlosen Palästinensern hat der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) vier Unterkategorien identifiziert (UNHCR 2.2016): [Anm.: Für Informationen zu Staatenlosigkeit siehe auch Abschnitt 19.3.]

 

• „Registrierte" Flüchtlinge („Palästina-Flüchtlinge") – vormals ca. 470.000 Personen

Diese Flüchtlinge sind bei UNRWA und den libanesischen Behörden registriert, wobei sich die Zahl der tatsächlich im Land aufhältigen registrierten Palästina-Flüchtlinge laut UNRWA nunmehr auf etwa 180.000 Personen belaufen dürfte (UNRWA o.D.a.) Es handelt sich hierbei vor allem um palästinensische Flüchtlinge, die in der Zeit vom 1.7.1946 bis 15.5.1948 ihren gewöhnlichen Wohnsitz in Palästina hatten und durch den Konflikt von 1948 sowohl ihre Heimat als auch ihre Lebensgrundlage verloren haben (UNHCR 2.2016; vgl. UNRWA o.D.c).

 

• Nicht bei UNRWA registrierte palästinensische Flüchtlinge - 35.000-40.000 Personen

Diese sind nicht beim UNRWA, sondern bei den libanesischen Behörden registriert und besitzen ebenfalls den vom Directorate General of Political and Refugees Affairs (DPRA) ausgestellten „Ausweis für Palästina-Flüchtlinge", erhalten jedoch ein anderes Reisedokument (Laissez Passer) (UNHCR 2.2016).

• "Non-ID-Palestinians" - 3.000 – 5.000 Personen

Die meisten dieser Flüchtlinge zogen nach der Vertreibung der Palestine Liberation Organization (PLO) aus Jordanien 1971 in den Libanon. Sie sind weder beim UNRWA noch bei den libanesischen Behörden registriert und daher auch als „undokumentierte Palästinenser“ bekannt (UNHCR 2.2016; vgl. UK 6.2018). Auch wenn undokumentierte Palästinenser nicht unmittelbar Anspruch darauf haben, bot das UNRWA doch in den meisten Fällen medizinische Grundversorgung, Bildung und Berufsausbildung an. Die Mehrheit der undokumentierten Palästinenser waren Männer, viele von ihnen verheiratet mit UNRWA-registrierten Flüchtlingen oder libanesischen Bürgerinnen, die den Flüchtlingsstatus oder die Staatsbürgerschaft nicht auf ihre Ehemänner oder Kinder übertragen konnten (USDOS 30.1.2021). Die Lage der „undokumentierten“ PalästinenserInnen ist besonders schwierig. Sie laufen Gefahr, wegen illegalen Aufenthalts verhaftet zu werden, sobald sie die Lager verlassen. Auch wenn auf Drängen (nicht zuletzt der EU) bisher ca. 1.000 Identitätsnachweise ausgestellt wurden, bleibt die Rechtsstellung der betroffenen Personen unverändert prekär (AA 4.1.2021).

 

• Palästinensische Flüchtlinge aus Syrien (PRS) – ca. 30.000 Personen (UNRWA o.D.d)

Einreisevisa werden seit 2014 an der Grenze nur für PRS mit einem verifizierten Botschaftstermin im Land oder einem Flugticket und Visum in ein Drittland ausgestellt. Die UNRWA schätzt, dass nach 2016 nur 12 % der PRS in das Land gekommen sind. Eine offizielle Beschränkung der Bewegungsfreiheit für PRS gibt es nicht; allerdings droht ohne legalen Status eine Verhaftung an Kontrollpunkten (USDOS 30.3.2016). Die Behörden erlaubten den Kindern von palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien, sich in UNRWA-Schulen einzuschreiben und Zugang zu UNRWAGesundheitskliniken zu erhalten. Weiters werden die PRS von UNRWA auch finanziell unterstützt (USDOS 30.3.2021). PRS-Familien erhalten jedes Monat eine Mehrzweck-Barzuwendung in Libanesischen Pfund im Wert von umgerechnet 100 US-Dollar pro Familie. Für jedes Familienmitglied erhöht sich der Zuschuss um umgerechnet 27 US-Dollar zur Deckung der Nahrungsmittelkosten (UNRWA o.D.d). Die Kaufkraft der umgerechnet 27 US-Dollar ist mit Stand Juni 2021 auf ca. 7 Dollar gefallen (R 17.6.2021). [Anm.: siehe auch Abschnitt 20 Grundversorgung]. Auch Bargeld für die Überwinterung wird bereitgestellt, vorbehaltlich einer gesicherten Finanzierung. Darüber hinaus setzt sich UNRWA bei den libanesischen Behörden für die PRS auch in Fragen von Arbeitsmöglichkeiten, Lebensbedingungen und des Rechtsstatus sowie hinsichtlich der Registrierung durch den libanesischen Staat ein (UNRWA o.D.d).

 

Lebensbedingungen

Auch wenn Repressionen allein aufgrund der palästinensischen Volkszugehörigkeit nicht bekannt sind, ist die Lage der palästinensischen Flüchtlinge prekär. Politische und wirtschaftliche Rechte werden ihnen verwehrt. Sie dürfen, anders als andere AusländerInnen, im Libanon seit 2001 keinen Grund und Boden mehr erwerben. Auch wenn einige Berufe den PalästinenserInnen zugänglich gemacht wurden, bestehen rechtliche Hindernisse und gesellschaftliche Diskriminierung. So wird von PalästinenserInnen stets eine Arbeitserlaubnis verlangt; freie Berufe (Arzt, Rechtsanwalt etc.) können nicht ausgeübt werden. Der Besuch staatlicher Schulen ist ihnen untersagt. Für ihre Schulbildung und gesundheitliche Versorgung hängt die Lagerbevölkerung ausschließlich vom UNRWA-Hilfswerk bzw. Hilfeleistungen anderer NGOs (z.B. des Palästinensischen Roten Halbmondes) ab. Die in den Lagern lebenden PalästinenserInnen benötigen keine spezielle Erlaubnis, um diese zu verlassen. Die General Security (GS) stellt registrierten palästinensischen Flüchtlingen Reisedokumente (Documents de Voyage) aus (AA 4.1.2020).

Zahlreiche diskriminierende Maßnahmen werden nicht zuletzt deshalb gesetzt, weil die libanesische Regierung fürchtet, dass die Integration der - meist sunnitischen - Palästinenser das konfessionelle Gleichgewicht des Landes gefährden könnte. Im Sommer 2019 startete die Regierung eine Kampagne gegen „illegale ausländische Arbeitskräfte", die sich zum einen gegen die Hunderttausenden syrischen Kriegsflüchtlinge und zum anderen gegen die Palästinenser richtete. Unternehmen erhielten einen Monat lang Zeit, Arbeitsgenehmigungen für ausländische Angestellte zu beantragen. Nach Ablauf der Frist schlossen die Behörden erste Geschäfte, die Palästinenser ohne gültige Arbeitserlaubnis beschäftigten (Spiegel 29.7.2019).

 

Flüchtlingslager

Knapp über die Hälfte der Palästina-Flüchtlinge lebt in den folgenden zwölf anerkannten PalästinaFlüchtlingslagern: in der Nähe von Beirut (Mar Elias, Burj el-Barajneh, Bbayeh, Shatila), von Tripoli (Nahr el-Bared, Beddawi), von Sidon (Saïda) (Ein el-Hilweh), Mieh Mieh), von Sur (Tyros) (ElBuss, Rashidieh, Burj el-Shemali) und von Baalbek (Wavell) (UNRWA o.D.a; vgl. GIZ 6.2020a). [Anm.: Auf andere in den Lagern aufhältige Personen wie z.B. verarmte LibanesInnen, syrische Flüchtlinge u.a. wird in diesem Abschnitt nicht näher eingegangen.]

Die UNRWA-Verantwortlichkeiten in den Lagern beschränken sich auf Leistungen und Verwaltung ihrer Anlagen. UNRWA besitzt weder die Lager noch verwaltet sie diese. Sie ist auch nicht als Polizei aktiv. Das ist die Aufgabe der Gaststaaten. Das Land, auf dem die offiziellen Flüchtlingslager stehen wurde meist vom Gaststaat von lokalen Landbesitzern gepachtet. Die Flüchtlinge „besitzen“ das Land nicht, haben aber das Nutzungsrecht für das Grundstück für eine Wohnunterkunft (UNRWA o.D.c).

Die zwölf über das ganze Land verteilten palästinensischen Flüchtlingslager sind der Kontrolle durch staatliche Gewalt weitgehend entzogen. Die Sicherheit innerhalb der Lager wird teilweise durch palästinensische bewaffnete Ordnungskräfte und Volkskomitees gewährleistet, die von der jeweils politisch bestimmenden Fraktion gestellt werden. Ausnahme stellt das Lager Nahr El Bared dar, das unter libanesischer Kontrolle steht. Die libanesische Armee beschränkt sich auf Zugangskontrollen und die Sicherung der Umgebung (AA 4.1.2021). Terroristische Gruppen wie die Hamas, die Volksfront für die Befreiung Palästinas, das Generalkommando der Volksfront für die Befreiung Palästinas, Asbat al-Ansar, Fatah al-Islam, Fatah al-Intifada, Jund al-Sham, der Palästinensische Islamische Dschihad und die Abdullah-Azzam-Brigaden operierten weiterhin in Gebieten mit begrenzter Regierungskontrolle, vor allem in den zwölf palästinensischen Flüchtlingslagern. Diese Lager werden als sichere Zufluchtsorte genutzt und sie dienen als Waffenverstecke (USDOS 24.6.2020a).

Die Bedingungen in den Lagern sind sehr schlecht und durch Überbelegung, schlechte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, Armut und mangelnden Zugang zur Justiz gekennzeichnet (UNRWA o.D.a). Die Lager sind der staatlichen Kontrolle weitgehend entzogen. Deren Sicherheit wird teilweise durch palästinensische bewaffnete Ordnungskräfte und Volkskomitees gewährleistet, die von der jeweils politisch bestimmenden Fraktion gestellt werden. Eine Ausnahme stellt das Lager Nahr el-Bared dar, das unter libanesischer Kontrolle steht. Die libanesische Armee beschränkt sich hierbei jedoch auf Zugangskontrollen und die Sicherung der Umgebung (AA 24.1.2020). Sporadische bewaffnete Zusammenstöße unterbrachen Bildungs- und Gesundheitsdienste und führten zur vorübergehenden Schließung von Schulen und Krankenhäusern. Sicherheitsbedenken schränkten auch die Tätigkeit humanitärer Akteure ein (UNGA 9.6.2020). Es kommt immer wieder zu teils schweren Auseinandersetzungen in den Palästinenser-Lagern bzw. Ansiedelungen, z.T. mit Todesopfern (u. a. in den Lagern Ain El-Hilweh sowie Mieh-Mieh). Terroristische Gruppen, die die Lager als Rückzugsraum nutzen, stehen unter hohem Verfolgungsdruck der Sicherheitskräfte (AA 4.1.2021). Die Fläche, die den zwölf offiziellen palästinensischen Flüchtlingslagern im Land zugeteilt wurde, hat sich seit 1948 trotz einer Vervierfachung der Bevölkerung nur geringfügig verändert. Folglich leben die meisten palästinensischen Flüchtlinge in übervölkerten Lagern, von denen einige zudem während der vergangenen Konflikte schwer beschädigt wurden (USDOS 30.3.2021).

Alle Lager sind von Hilfeleistungen der chronisch unterfinanzierten UNRWA abhängig, deren Lage sich seit Mitte 2018 durch die massive Kürzung der zuvor substanziellen US-Unterstützung noch weiter zugespitzt hat. Immer wieder kommt es speziell in den Lagern Mieh-Mieh und Ain el-Hilweh zu schweren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen extremistischen Gruppierungen (Jund al-Scham, Abdullah-Azzam-Brigaden, Ansar Allah etc.). Die libanesischen Sicherheitskräfte greifen in diese Auseinandersetzungen entgegen der bisherigen, per Abkommen geregelten Praxis immer häufiger ein, weil die eigentlich zuständigen palästinensischen Sicherheitsbehörden zunehmend überfordert scheinen (AA 4.1.2021).

Grundversorgung und Wirtschaft

Vor dem Bürgerkrieg 1975 zählte der Libanon zu den bedeutendsten Finanzzentren im Nahen Osten. Im Zuge des Bürgerkriegs [1975-1990] überschuldete sich der Staat maßlos. Die Verschuldung beläuft sich nunmehr auf über 150 % des BIP. 40 % des Haushalts fließen somit in den Zinsendienst, seine eigentlichen Aufgaben kann der Staat kaum noch erfüllen (SZ 17.2.2020; vgl. DailyStar 6.11.2019). 69 % des BIP wird durch den Dienstleistungssektor erwirtschaftet, 8 % durch den Agrarsektor und 23 % durch den Industriesektor. Dabei erzielt das Land seit Jahren hohe Handelsbilanzdefizite. Insbesondere gut ausgebildete Ingenieure, Ärzte und Betriebswirte verlassen das Land. Notwendige Investitionen bleiben aus (GIZ 6.2020b).

 

Am 17.10.2020 jährte sich der Ausbruch von Protesten und Demonstrationen, die ein Ende von Korruption und klientelistischer Misswirtschaft forderten. Dahinter stand jedoch jahrelang aufgestaute Frustration über den von den politischen Eliten zu verantwortenden wirtschaftlichen Niedergang Libanons. Dieser hatte sich mit dem Ausbruch des bewaffneten Konfliktes in Syrien seit 2012 stetig verschärft. Die Proteste, die weitestgehend friedlich abliefen, und durch die Verwendung nationaler Symbole gekennzeichnet waren, führten schließlich zum Rücktritt des damaligen Premierministers Saad Hariri. Die Proteste hatten aber auch einen weiteren Effekt: sie haben die sich bereits anbahnende Wirtschaftskrise des Libanon verschärft. Das libanesische Finanzwesen hatte sich in den vergangenen Jahren durch sog. „financial engineering" der Zentralbank zu einem letztlich betrügerischen Pyramidensystem entwickelt. Im Ergebnis wurden rund 2,5 Mio. Konten von Sparern und Anlegern ohne gesetzliche Grundlage „eingefroren". Dieser Zustand hält - mangels gesetzlicher Kapitalverkehrskontrollen - bis heute an. Maßnahmen der Regierung im Zuge der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie haben die wirtschaftliche Notlage weiter verschärft (AA 4.1.2021). Die Währung hat mehr als 90 % ihres Werts verloren. Die LibanesInnen sind nun mit einer der weltweit ärgsten Wirtschaftskrisen der letzten 150 Jahre konfrontiert, welche die Weltbank als „absichtliche Depression“ verursacht durch die Regierenden bezeichnet (NYT 28.10.2021). Laut ESCWA befindet sich bereits 82 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Die Gehälter von Staatsangestellten haben nur noch etwa ein Zehntel ihres früheren Werts [Anm.: vor Oktober 2019] (ÖB 1.9.2021). Die Hyperinflation liegt im dreistelligen Bereich, und die Lebensmittelpreise stiegen seit 2019 um 550 %. Die Arbeitslosigkeit steigt, Firmen schließen und zehntausende Menschen emigrieren. (NYT 28.10.2021).

 

Es bestehen Engpässe bei der Versorgung mit Medikamenten, elektrischem Strom, Treibstoff, Trinkwasser und anderen Gütern. In den Warteschlangen an den Tankstellen kann es zu Aggressionen kommen, die einen Einsatz der Polizei oder der Armee erfordern (EDA 15.10.2021). Wenn sich der Trend in Bezug auf Treibstoffknappheit fortsetzt, laufen zwei Drittel der Bevölkerung in Gefahr, ohne Wasserversorgung zu sein (ÖB 1.9.2021). Die Stromausfälle können nämlich Tage dauern (NYT 28.10.2021). Der Währungsverlust und die steigenden Preise verringern den Zugang zu Lebensmitteln, Obdach und Gesundheitsversorgung (HRW 2021).

Die Pandemie verschärfte die Armut weiter und traf disproportional marginalisierte Gruppen, darunter Familien mit geringem Einkommen, Menschen mit Behinderungen, Migranten, Flüchtlinge sowie sexuelle Minderheiten [Anm.: siehe auch Abschnitt 17.3 LGBTI-Menschen]. Die Regierung entwickelte kein zeitnahes und koordiniertes Hilfsprogramm (HRW 2021).

Am 4.8.2020 ereignete sich im Hafen von Beirut eine verheerende Explosion. 218 Menschen starben und rund 7,000 wurden verletzt. Etwa 77.000 Wohnungen wurden beschädigt, wodurch über 300.000 Personen vertrieben wurden. Erhebliche Schäden entstanden an der Infrastruktur, einschließlich des Verkehrs, der Energieversorgung, der Wasserversorgung und der Abwasserentsorgung sowie an den kommunalen Diensten (in Höhe von 390 bis 475 Millionen USDollar). Nach Angaben der Weltbank verursachte die Explosion Sachschäden in Höhe von schätzungsweise 3,8 bis 4,6 Milliarden US-Dollar (HRW 3.8.2021). Tausende zogen in der Folge zu Protesten auf die Straßen und forderten eine umfassendere Aufklärung der Hintergründe der Explosion. Die Regierung von Ministerpräsident Hassan Diab trat zurück (Standard 17.8.2020). Dieser hatte selbst die endemische Korruption für die verheerende Explosion verantwortlich gemacht (AJ 10.8.2020). Das Vertrauen in den Staat und die wirtschaftliche Basis für eine Wohlstandsentwicklung sind nachhaltig zerstört. Diese Explosionskatastrophe ist für viele Libanesinnen und Libanesen das letzte Signal gewesen, dem Land endgültig den Rücken zu kehren (AA 4.1.2021).

Es existiert weder eine allgemeine Arbeitslosen- noch eine Rentenversicherung (nur eine arbeitsrechtliche Austrittsprämie, die mit Blick auf die Arbeitsjahre berechnet wird). Wesentliches Element sozialer Sicherung ist die Familie, daneben karitative und religiöse Einrichtungen (immer nur für die jeweilige Religionsgruppe) (AA 4.1.2020).

Das UN-Hilfsprogramm für den Libanon LOUISE vom WFP (World Food Program), dem UNFlüchtlingshochkommissariat UNHCR und dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF sowie allgemein das WFP und das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge UNRWA verloren durch die ungünstige Umtauschrate zwischen US-Dollar und Libanesischem Pfund durch libanesische Banken zwischen 2019 und 2021 mindestens 250 Millionen US-Dollar. Der Druck der Organisationen auf die Banken führte zu einem besseren Wechselkurs, aber eine Diskrepanz zum Marktkurs blieb (R 17.6.2021).

Vor der Krise [Anm.: ab Oktober 2019] erhielten Flüchtlinge und arme LibanesInnen eine monatliche Auszahlung in Libanesischen Pfund im Wert von 27 US-Dollar vom UNWelternährungsprogramm WFP. Im Juni 2021 war dieser Zuschuss de facto nur mehr etwa 7 USDollar wert (R 17.6.2021).

Die libanesischen Behörden wehren sich gegen eine Abwicklung von Geldhilfen in US-Dollar, weil sie die Kontrolle über eine der wenigen verbliebenen Quellen für harte Währung behalten wollen (R 17.6.2021). Mittlerweile kündigte jedoch der Libanon selbst u.a. die Auszahlung einer monatlichne Geldhilfe von 25 US-Dollar pro Person für maximal sechs Personen je bedürftiger Familie von für ca. 500.000 Familien [Anm.: die maximale Zahl der potentiellen BezieherInnen divergiert je nach Quelle]. Alle Libanesischen StaatsbürgerInnen können einen Antrag stellen. Einer der Ausschlussgründe für den Erhalt der Geldhilfe ist ein Auslandsaufenthalt von mehr als 90 Tagen im Jahr (TNA 10.9.2021). Die Auszahlungsprogramm ist für drei Jahre geplant (BP 12.2.2021). Der Beginn der Auszahlung war für Oktober 2021 angekündigt. Gleichzeitig sollen die Subventionen für Treibstoff und einige Medikamente fallen, weshalb Preissteigerungen für die meisten Produkte erwartet werden (TNA 10.9.2021). Am 15.10.2021 erfolgte die Bekanntgabe der Verschiebung des Beginns der Auszahlung um maximal 2 Wochen (TNA 15.10.2021). [Anm.: Abseits der Frage intendierter oder bereits erfolgender Auszahlungen von Hilfsgeldern in USDollars durch Hilfsorganisationen (die Quellenlage dazu ist unübersichtlich) an Bedürftige kommt es zur Barauszahlung von Gehältern in US-Dollars durch einige Hilfsorganisationen und Firmen.]

 

Medizinische Versorgung

- Versicherungstechnisches

Nur ein kleiner Teil der Libanesen ist Mitglied der Nationalen Sozialversicherungskasse (Caisse nationale de la sécurité sociale, CNSS). Das Gesundheitsministerium wendet 80 % seines Budgets für die Bezahlung privater Krankenhäuser auf, um die Kosten der medizinischen Betreuung von Patienten abzudecken, die nicht sozial- bzw. privatversichert sind und ihre Krankenhausrechnung nicht bezahlen können. Damit ist der Anteil der Bevölkerung mit Zugang zu Gesundheitsdiensten insgesamt sehr hoch. Das nationale Gesundheitsprogramm erstreckt sich jedoch nur auf Personen, die seit mehr als zehn Jahren libanesische Staatsbürger sind und nicht vom Nationalen Sicherheitsplan oder anderen staatlichen Versicherungen abgedeckt werden. Daher fallen große Teile der im Libanon lebenden Menschen aus dem Versorgungssystem heraus, darunter besonders die palästinensischen Flüchtlinge (GIZ 6.2020a). Diese werden vom Gesundheitsdienst des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) versorgt, doch deckt dieser Leistungen der Nachsorge (qualifizierte Krankenhausversorgung) nur unzureichend ab. Andere Flüchtlinge und Ausländer haben ebenfalls keinen Zugang zur staatlichen Krankenversorgung und müssen ihre Behandlungskosten selbst tragen oder eine private Krankenversicherung abschließen (AA 4.1.2021) Andernfalls sind sie auf sozial-karitative Organisationen angewiesen (GIZ 6.2020a). Auch Rückkehrende können grundsätzlich eine – allerdings kostspielige – private Krankenversicherung abschließen. Für ältere Personen oder solchen mit Vorerkrankungen kann es ausgeschlossen oder exorbitant teuer sein, eine private Krankenversicherung abzuschließen (AA 4.1.2021). Krankenhäuser verlangen vor Behandlungen meistens eine Vorschusszahlung (EDA 15.10.2021).

 

- Die aktuelle Gesundheitsversorgung

Der ausgerufene medizinische Notstand wurde von den Behörden bis zum 31.12.2021 verlängert (GW 27.10.2021). Die medizinische Grundversorgung ist wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise nicht mehr immer und überall gewährleistet (EDA 15.10.2021), denn sie ist in mehrfacher Hinsicht von der Finanzkrise betroffen. Vielen kleineren Spitälern und Gesundheitszentren droht der Bankrott. Die größeren, tertiären Zentren mussten harte Maßnahmen für ihr finanzielles Überleben ergreifen und entließen zum Beispiel eine bedeutende Anzahl an MitarbeiterInnen und schlossen einige Spitalsabteilungen (MedCOI 20.8.2021). Einige private Krankenhäuser haben die Behandlungspreise verdoppelt. Neben Entlassungen kommt es auch zu einer Abwanderung von Ärzten und Pflegekräften (AA 4.1.2021).

Weniger als ein Jahr nach Beginn des Wirtschaftskollaps verschärfte die Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 zusätzlich zur Pandemie die Lage im Gesundheitsbereich weiter, denn die Detonation zerstörte mehrere Spitäler und das Warenhaus des Gesundheitsministeriums, in dem die nationalen Medikamentenvorräte lagerten. Laut Weltbank waren 36 % der

Gesundheitseinrichtungen vom sprunghaften Anstieg an PatientInnen [Anm.: rund 7.000 Verletzte] aufgrund der Explosion betroffen (MedCOI 20.8.2021). Außerdem waren in Beirut die Hälfte der Gesundheitszentren aufgrund von durch die Explosion verursachte Schäden nicht mehr funktionsfähig (HRW 3.8.2021). Der Libanon als wichtige Anlaufstelle für Tertiärversorgung im Nahen Osten sank auf das Niveau von Primärversorgung (MedCOI 20.8.2021). Im Sommer 2020 gab es Berichte, dass Krankenhäuser keine weiteren Schwerkranken mehr aufnehmen konnten (Zeit 31.8.2020). Auch private Spitäler, beispielsweise in Tripoli, waren bereits ausgelastet (Spiegel 17.7.2020). Dazu kommt, dass die Hyperinflation im dreistelligen Bereich, die Knappheit an Auslandswährungen und die mangelnden Importmöglichkeiten verminderten den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Elektrizität aufgrund von Engpässen bei Benzin und Diesel beeinträchtigen. Dies erschwert es den Krankenhäusern mit voller Kapazität zu arbeiten und die Wasser- und Stromversorgungaufrechtzuerhalten. Am 14.8.2021 warnte das American University of Beirut Medical Center – eines der prestigeträchtigsten Krankenhäuser des Libanon – vor seiner drohenden Schließung aufgrund von Treibstoffmangel. Zahlreiche weitere Privatspitäler warnten ebenfalls vor ihrer Schließung. Die chronisch unterfinanzierten öffentlichen Spitäler, welche den Kampf gegen die Pandemie anführen, fürchten, dass sie von PatientInnen überrannt werden (MedCOI 20.8.2021). Die Engpässe an Medikamenten sowie die Finanzkrise führen dazu, dass mehr PatientInnen Behandlung im einzigen funktionierenden öffentlichen Krankenhaus von Beirut, dem Rafiq al-Hariri Krankenhaus suchen. Aufgrund der beschränkten Verfügbarkeit von Strom aus dem öffentlichen Netz ist das Krankenhaus auf Generatoren angewiesen, wobei es jedoch schwierig ist, Treibstoff für diese zu erhalten. Es drohte bereits die Einstellung der Betriebs des Krankenhauses aufgrund von Treibstoffmangel, was durch eine Notlieferung abgewendet werden konnte. Es ist unklar, wie lange der Treibstoff für den Betrieb des größten öffentlichen Krankenhauses des Landes reichen wird (Vice 8.10.2021). Die Krankenhäuser haben Schwierigkeiten, dringende und notwendige lebensrettenden medizinische Versorgung zu bieten (HRW 13.1.2021). Ernsthafte Erkrankungen und Verletzungen müssen im Ausland behandelt werden (EDA 15.10.2021). MedCOI-Quellen schildern die Lage als „Kollaps des öffentlichen Gesundheitssystems und das komplette Fehlen von Medikamenten, Infrastruktur und essentieller Ausstattung sowie von Labortests, welcher essentielle und lebensrettende medizinische Eingriffe verhindert“ (MedCOI 20.8.2021).

Aufgrund des Wertverlusts des Libanesischen Pfunds auf 10 % seit Ende 2019 sind die Importe von essentiellen Medikamenten und medizinischer Ausstattung stark zurückgegangen, was dazu führt, dass privaten und öffentlichen Spitälern sowie Gesundheitszentren und Apotheken regelmäßig grundlegende Medikamente ausgehen. Etwa 800 Apotheken droht die Schließung. Die Hyperinflation macht die Medikamentenpreise volatil, so dass diese bis zu fünfmal mehr kosten als früher - ähnlich die Preise für medizinische Behandlungen (MedCOI 20.8.2021). Es bestehen auch Engpässe in der Versorgung mit anderen medizinischen Gütern (EDA 15.10.2021): Medizinische Bedarfsgüter wie Handschuhe und Masken sind Mangelware, und beeinträchtigen die Möglichkeiten des Libanon, die Pandemie zu bewältigen (HRW 13.1.2021). Die Covid-19Pandemie bringt die Krankenhäuser landesweit an ihre Belastungsgrenze – laut Bericht des Auswärtigen Amts vom 4.1.2021 waren zum Berichtszeitpunkt die Beatmungsbetten zu ca. 80 % belegt (AA 4.1.2021).

Der Libanon verzeichnete mit Stand 27.10.2021 527 neue COVID-19-Fälle innerhalb von 24 Stunden. Insgesamt starben bis dahin 8.465 Menschen und 638.581 bestätigte Infektionsfälle wurden registriert (WHO 27.10.2021). Einen Tag später mit Stand 28.10.2021 lag die Zahl der Todesfälle bei 8.471 Personen und die Zahl der Erkrankungen insgesamt bei 639.332 Menschen (JHU 28.10.2021).

Alleine im Monat Oktober 2021 gab es mit Stand 28.10.2021 15.723 Erkrankungen und 156 Todesopfer. Mit Stand Februar 2021 waren insgesamt 7.068 palästinensische und 3.626 syrische Flüchtlinge positiv auf COVID-19 getestet worden. Aber ihr Zugang zu Gesundheitsversorgung und Testmöglichkeiten war durch Ausgangssperren und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die nur für Flüchtlinge galten, beschränkt – ebenso wie die Möglichkeiten von kostenlosen Tests für Flüchtlinge mit Symptomen (CSR 21.4.2021). Mit Stand Anfang August 2021 waren ungefähr 26 % der Bevölkerung teilweise gegen COVID-19 geimpft (CRS 10.8.2021).

Aufgrund der aktuellen Situation der Gesundheitsversorgung im Libanon können bis auf Weiteres keine Auskünfte über die staatliche Gesundheitsversicherung sowie über Kosten medizinischer Behandlungen oder von Medikamenten erteilt werden (MedCOI 20.8.2021).

Rückkehr

Die Einreisekontrollen an den Grenzübergängen und am internationalen Flughafen Beirut sind strikt. Reise- und Dokumentendaten werden seit 1995 an allen Einreisestellen erfasst und sind durch die General Security zentral abrufbar. Es ist möglich, sich gegen eine geringe Gebühr die Ein- und Ausreisebewegungen aus dem Libanon bescheinigen zu lassen. Personen ohne gültige Dokumente werden erfasst und an der Einreise gehindert. Der Libanon erkennt keine von EU-Staaten für libanesische Staatsangehörige oder Staatenlose ausgestellten Heimreisepapiere an. Libanesische Staatsbürger können nicht ohne Vorlage eines Reisepasses bzw. eines von der zuständigen libanesischen Auslandsvertretung ausgestellten Heimreisedokuments (z. B. LaissezPasser) einreisen. Besteht bei der Einreise in den Libanon der Verdacht, dass ein Drittausländer vormals illegal nach Europa gelangt ist, verweigern libanesische Grenzbehörden die Einreise. Luftfahrtunternehmen sind dann in der Pflicht, den Passagier zurück zu befördern und pro Passagier wird ein Bußgeld in Höhe von derzeit 2.000 USD erhoben (AA 4.1.2021).

Es sind keine Fälle bekannt, in denen libanesische Staatsbürger, die aus Deutschland abgeschoben wurden, aus diesem Grund eine diskriminierende Behandlung in Libanon erfahren haben. Sie werden wie alle Einreisenden von den Sicherheitsbehörden überprüft. Ein besonderes staatliches Interesse an dieser Personengruppe ist nicht erkennbar. Bisher ist kein Fall bekannt, in dem die unfreiwillige Rückkehr eines abgelehnten Asylbewerbers staatliche Repressionsmaßnahmen ausgelöst hätte. In Abwesenheit verurteilte Personen werden bei der Einreise in Strafhaft genommen und verbüßen die verhängte Haftstrafe. Sie haben unmittelbar nach Haftantritt die Möglichkeit, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen. Das Verfahren wird vollständig neu durchgeführt, und es gilt das Verbot der „reformatio in peius“. In solchen Fällen sind keine Vorwürfe von Folter oder Misshandlung bekannt (AA 4.1.2021).

Laut Bericht des Danish Immigration Service (DIS) sträuben sich die libanesischen Behörden seit Mai 2018 den staatenlosen palästinensischen Flüchtlingen aus dem Libanon (PRLs), die sich im Ausland aufhalten, die Rückkehr in den Libanon zu gestatten, wenn sie keine Aufenthaltsgenehmigung in dem Land haben, in dem sie sich derzeit aufhalten. Dies gilt unabhängig davon, ob die Rückkehr freiwillig oder zwangsweise erfolgen soll. Die Zahl der erfolgreichen Rückführungen innerhalb dieses Zeitraums ist sehr begrenzt. Anträge für neue oder zu verlängernde palästinensische Reisedokumente sowie die Ausstellung von Laissez-passer für PRLs werden vom libanesischen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und Emigranten auf Eis gelegt. Es begründet dies damit, dass der Libanon bereits genug Flüchtlinge beherbergt und von der internationalen Gemeinschaft angesichts der großen Anzahl von Flüchtlingen im Libanon keine ausreichende Unterstützung erhält. Laut einer weiteren diplomatischen Quelle des DIS ist es unwahrscheinlich, dass sich die strikte Politik der libanesischen Regierung gegenüber den Flüchtlingen im Libanon, angesichts des derzeitigen politischen Klimas und der finanzpolitischen Herausforderungen, mit denen der Libanon derzeit konfrontiert ist, in absehbarer Zeit ändern wird (DIS 9.3.2020). Z.B. ist laut libanesischer Botschaft Berlin für die Ausstellung eines Reisedokuments sowohl ein Aufenthaltstitel in Deutschland (oder eine Zusicherung der deutschen Ausländerbehörde) als auch im Libanon nötig (BL 2021).

Über den internationalen Flughafen Beirut einreisende Syrer werden in der Regel an den Ausgangsflughafen zurückgeschickt, wenn sie nicht bereits über einen Aufenthaltstitel für den Libanon verfügen (AA 4.1.2021).

 

Anfragebeantwortung der Staatendokumentation

LIBANON

Weitergabe der libanesischen Staatsbürgerschaft

 

 

Sofern das Abstammungsprinzip Anwendung findet: Leitet sich die Staatsangehörigkeit im Libanon vom Vater oder von der Mutter ab? Sofern ein anderes Prinzip anzuwenden ist, darf um entsprechende Aufklärung gebeten werden.

Welche Staatsangehörigkeit hat ein in Österreich nachgeborenes Kind, wenn die Staatsangehörigkeit der Mutter ungeklärt bleiben muss und es sich beim Vater um einen libanesischen Staatsbürger handelt?

Zusammenfassung:

Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass Kinder laut Gesetz die libanesische Staatsbürgerschaft von ihrem Vater erhalten können. Frauen können die libanesische Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder oder ausländischen Ehemänner weitergeben. Einer Quelle zufolge können lediglich Witwen die Staatsbürgerschaft an ihre minderjährigen Kinder weitergeben.

Kinder, die im Libanon geboren sind und durch Geburt oder Zugehörigkeit keine andere Staatsbürgerschaft erhalten können, oder Kinder, deren Eltern unbekannt sind oder deren Eltern eine unbekannte Nationalität haben, können ebenfalls die libanesische Staatsbürgerschaft erhalten. Kindern mit libanesischen Müttern und ausländischen Vätern wird die Staatsbürgerschaft jedoch verweigert.

Einzelquellen:

Der deutsche Verlag für Standesamtswesen bietet in seiner Datenbank Bergmann Online zu den Staatsangehörigkeitsgesetzen des Libanon folgende Informationen:

 

B.Die gesetzlichen Bestimmungen

Verordnung Nr 15/S vom 19.1.1925 idF v 11.1.19601

Art 1.

Libanesen sind:

1. die von einem libanesischen Vater abstammenden Personen2;

2. die auf dem Gebiet des Groß- Libanon geborenen Personen, die nicht nachweisen, daß sie durch ihre Geburt eine fremde Staatsangehörigkeit durch Abstammung erworben haben;

3. die auf dem Gebiet des Groß- Libanon geborenen Personen, deren Eltern unbekannt oder von unbekannter Staatsangehörigkeit sind3.

 

1Dieses Gesetz enthält folgende Übergangsbestimmungen:

Art 4. Eine Libanesin, die vor der Veröffentlichung dieses Gesetzes ihre Staatsangehörigkeit durch Verheiratung mit einem Ausländer verloren hat, kann auf ihren Antrag wieder eingebürgert werden.

Art 5. Eine mit einem Ausländer verheiratete Libanesin kann für sich allein die libanesische Staatsangehörigkeit unter der Voraussetzung beantragen, daß ihr Ehemann dem Antrag zustimmt und daß ihr Aufenthalt auf libanesischem Gebiet für die ununterbrochene Dauer von fünf Jahren nachgewiesen ist.

Art 6. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit auf Grund dieses Gesetzes erzeugt keine Wirkung hinsichtlich der erworbenen Rechte, welche Gegenstand eines vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes angestrengten Prozesses sind.

2 lus sanguinis ist das Prinzip. Die Staatsangehörigkeit des Vaters ist die, die er zur Zeit der Geburt des Kindes hatte. Hier handelt es sich um die eheliche Abstammung.

3 Diese Bestimmung dient dazu, Fälle von Staatenlosigkeit zu vermeiden.

Verlag für Standesamtswesen (o.D): Bergmann Online – Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht – Libanon – II. Staatsangehörigkeit – B. Die gesetzlichen Bestimmungen, https://www.vfst.de/apps/elbib/IEK_LBN_II_B_GesetzlBest_vfst , Zugriff 13.5.2019

 

USDOS schreibt in einem jährlich erscheinenden Bericht zur Menschenrechtslage im Libanon für das Jahr 2018, dass die Staatsbürgerschaft im Libanon ausschließlich vom Vater herrührt. Dies führt für Kinder von Müttern mit libanesischer Staatsangehörigkeit und Vätern ohne libanesische Staatsbürgerschaft zu Staatenlosigkeit, wenn es nicht möglich ist, das Kind unter der Staatsbürgerschaft des Vaters zu registrieren. Diese Diskriminierung im Staatsbürgerschaftsgesetz betrifft vor allem Palästinenser und vermehrt auch Syrer von Haushalten ohne männlichen Haushaltsvorstand.

Die Geburt mancher Kinder libanesischer Väter wurde aufgrund administrativer Hindernisse oder aus Unwissenheit über die Gesetze nicht registriert. Dieses Problem verschärft sich durch den Umstand, dass die fehlende Staatsbürgerschaft bzw. die Staatenlosigkeit an Kinder vererbt wird.

Das Staatsangehörigkeitsgesetz diskriminiert zudem Frauen, da diese die Staatsbürgerschaft weder an ihre Ehepartner noch an ihre Kinder weitergeben können. Lediglich Witwen können die Staatsbürgerschaft an ihre minderjährigen Kinder weitergeben.

 

[…]

 

Das arabische Nachrichtenportal Al Jazeera schreibt in einem Artikel vom März 2019, dass laut einem Gesetz von 1925 libanesische Frauen, die mit einem Ausländer verheiratet sind, ihre Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder oder Ehepartner weitergeben können. Nur die Kinder libanesischer Männer können die libanesische Staatsbürgerschaft erhalten.

Kinder, die im Libanon geboren sind und durch Geburt oder Zugehörigkeit keine andere Staatsbürgerschaft erhalten können, oder Kinder, deren Eltern unbekannt sind oder deren Eltern eine unbekannte Nationalität haben, können die libanesische Staatsbürgerschaft erhalten. Kindern mit libanesischen Müttern und ausländischen Vätern wird die Staatsbürgerschaft jedoch verweigert. Kinder, denen die libanesische Staatsbürgerschaft verwehrt bleibt, können in bestimmten Bereichen nicht arbeiten und das öffentliche Gesundheitswesen nicht nutzen. Zudem benötigen sie eine Aufenthaltserlaubnis.

Bemühungen, die Staatsbürgerschaftsgesetze zu überarbeiten, haben bisher nicht gefruchtet, da Politiker befürchten, dass eine Gesetzesänderung das Land destabilisieren könnte, indem es das demographische und religiöse Gleichgewicht stört. Manche sind der Meinung, dass es das religiöse Gleichgewicht des Libanon stören und die Integration von palästinensischen und syrischen Flüchtlingen erlauben würde.

 

[…]

 

Das deutsche Auswärtige Amt schreibt in einem Bericht vom Februar 2019 Folgendes:

 

Libanesische Frauen, die mit einem Palästinenser (oder anderem Ausländer) verheiratet sind, können ihre Staatsangehörigkeit weder an ihren Ehemann, noch an ihre Kinder weitergeben.

[…] Kinder erwerben durch Geburt die libanesische Staatsangehörigkeit vom Vater, nicht aber von der Mutter.

AA – Deutsches Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458481/4598_1551701942_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-libanon-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf , Zugriff 13.5.2019

 

Human Rights Watch schreibt in einem jährlich erscheinenden Menschenrechtsbericht zum Libanon vom Januar 2019, dass Frauen, anders als Männer, ihre Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder oder ausländischen Ehepartner weitergeben können.

 

[…]

 

2.2. Das BVwG stützt sich im Hinblick auf diese Feststellungen auf folgende Erwägungen:

2.2.1. Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsakts des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des vorliegenden Gerichtsakts des Bundesverwaltungsgerichts.

 

2.2.2. Was die Feststellungen zur Identität und Staatenlosigkeit des Beschwerdeführers betrifft, so wird seitens des Bundesverwaltungsgerichts nicht verkannt, dass der Beschwerdeführer weder vor der belangten Behörde noch vor dem Bundesverwaltungsgericht Dokumente, die seine Identität zweifelsfrei belegen hätten können und mit seinen Identitätsangaben übereinstimmen würden, im Original vorlegte. Aufgrund seiner glaubhaften Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde sowie dem Bundesverwaltungsgericht in Zusammenschau mit den von der belangten Behörde sichtlich als für unbedenklich befundenen libanesischen Dokumenten in Kopie (vgl. etwa libanesische Heiratsurkunde, libanesische Geburtsurkunden des BF und seiner minderjährigen Kinder sowie libanesischer Auszug aus dem Personenstandsregister bezüglich seiner Ehegattin) stehen die Identität und Staatenlosigkeit des Beschwerdeführers im gegenständlichen Fall dennoch hinreichend fest.

 

Die Feststellungen zur Zugehörigkeit zur arabischen Ethnie, zur sunnitisch-moslemischen Religionsgemeinschaft, zum Familienstand, zur Vaterschaft des BF, zur fehlenden schulischen Ausbildung, zur illegalen Erwerbstätigkeit, zu den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen im Herkunftsstaat vor der Ausreise, zu seinem Aufenthalt in Syrien, zu den Reisebewegungen, zum Ausreisezeitpunkt, zur Antragstellung in Österreich und zu den arabischen Sprachkenntnissen waren auf Grundlage von stringenten und insoweit glaubhaften Angaben im behördlichen Verfahren, teils in Zusammenschau mit den seitens des BF vorgelegten und als unbedenklich erachteten Bescheinigungsmitteln, zu treffen.

 

Der Leistungsbezug im Rahmen der staatlichen Grundversorgung sowie die strafgerichtliche Unbescholtenheit ließ sich anhand der entsprechenden Datenbankauszüge feststellen.

 

2.2.3. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaats:

2.2.3.1. Dass der Beschwerdeführer - jeweils wegen seiner Staatenlosigkeit - im Libanon im Jahr 2014 im Zuge einer Kontrolle von Personen der Hisbollah geschlagen und ein von ihm genutztes Fahrzeug beschädigt und er Ende 2019 von der libanesischen Polizei kontrolliert, festgenommen und in der Folge für einen Monat angehalten wurde (AS 152 f), gab der Beschwerdeführer selbst an. Der Beschwerdeführer hat im Wesentlichen ein gleichbleibendes Fluchtvorbringen erstattet. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb diese Angaben nicht stimmen sollten. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sie daher - wie bereits das BFA - ohne weiteres den Feststellungen zugrunde legen.

 

Die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer die Staatsbürgerschaft seines Herkunftsstaats und/ oder ein dortiges Aufenthaltsrecht verweigert wird, ergibt sich zunächst aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers (AS 145 ff). Darüber hinaus deckt sich das Vorbringen mit den vom BFA und der erkennenden Richterin herangezogenen Länderfeststellungen, aus denen sich auch ergibt, dass ihm die Staatsbürgerschaft auch in Zukunft explizit wegen der Abstammung seines Vaters nicht gewährt wird, zumal Frauen die libanesische Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder oder ausländischen Ehemänner weitergeben können.

 

Die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat politische und wirtschaftliche Rechte verwehrt werden, ergibt sich aus den vom BFA und der erkennenden Richterin herangezogenen Länderfeststellungen. Die Feststellungen im Hinblick auf das fehlende Aufenthaltsrecht „undokumentierter“ Palästinenser, deren mangelnden Zugang zur Bildung und deren mangelnden medizinischen Versorgung in seinem Herkunftsstaat, ergeben sich ebenso aus den Angaben des Beschwerdeführers (AS 145 ff), welche von den vom BFA und der erkennenden Richterin herangezogenen Länderfeststellungen vollinhaltlich bestätigt wurden.

 

2.2.4. Die von der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht im gegenständlichen Verfahren getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den in das Verfahren eingebrachten und im Bescheid bzw. Erkenntnis angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen. Die belangte Behörde hat dabei Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. Diese Quellen liegen dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vor und decken sich im Wesentlichen mit dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichts, das sich aus der ständigen Beachtung der aktuellen Quellenlage (Einsicht in aktuelle Berichte zur Lage im Herkunftsstaat wie etwa insbesondere dem aktuellen LIB der Staatendokumentation vom 01.03.2023) ergibt.

 

Bei Berücksichtigung der soeben angeführten Überlegungen hinsichtlich des Inhalts der Quellen unter Berücksichtigung der Natur der Quelle und der Intention derer Verfasser handelt es sich nach Ansicht der erkennenden Richterin um ausreichend ausgewogenes Material.

 

Angesichts der im Mai 2022 ergangenen Entscheidung der belangten Behörde, weisen die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit auf. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Darüber hinaus ergibt sich aber auch aus dem aktuellen LIB der Staatendokumentation vom 01.03.2023 keine Änderung bzw. keine Verbesserung der Situation für staatenlose Personen.

 

Der BF trat den Quellen und deren Kernaussagen zu den herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Libanon weder im Zuge der Einvernahme noch in der Beschwerde entgegen (AS 154, 319 ff).

Es wurden somit im gesamten Verfahren keinerlei Gründe dargelegt, die an der Richtigkeit der Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Zweifel aufkommen ließen.

 

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Zuerkennung des Status des Asylberechtigten

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit, Schutz im EWR-Staat oder in der Schweiz oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1, Abschnitt A, Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974, ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

 

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung". Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0069; VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 15.03.2015, Ra 2015/01/0069; VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472.)

 

Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, Zl. 95/01/0454, wGH 19.10.2000, 98/20/0233), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH 18.04.1996, Zl. 95/20/0239; VwGH 16.02.2000, Zl. 99/01/0397), sondern erfordert eine Prognose (vgl. VwGH 22.01.2021, Ra 2021/01/0003).

 

Verfolgungshandlungen die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; jüngst VwGH 23.02.2021, Ra 2020/18/0500).

 

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 28.04.2015, Ra 2014/19/0177; VwGH 12.06.2020, Ra 2019/18/0440); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183, VwGH 08.06.2000, 99/20/0203).

 

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 18.11.2015; Ra 2015/18/0220; VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108).

 

Eine Verfolgung, d.h. ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen, kann weiters nur dann asylrelevant sein, wenn sie aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) erfolgt, und zwar sowohl bei einer unmittelbar von staatlichen Organen ausgehenden Verfolgung als auch bei einer solchen, die von Privatpersonen ausgeht (VwGH 08.06.2000, Zl. 99/20/0203, VwGH 21.09.2000, Zl. 2000/20/0291, VwGH 07.09.2000, Zl. 2000/01/0153, VwGH 20.05.2015, Ra 2015/20/0030; VwGH 29.01.2020, Ra 2019/18/0228, ua.).

 

3.1.2. Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:

Der Herkunftsstaat ist nach § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG 2005 jener Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Asylwerber besitzt oder – im Falle der Staatenlosigkeit – der Staat seines früheren gewöhnlichen Aufenthalts.

 

Herkunftsstaat ist somit primär jener Staat, zu dem ein formelles Band der Staatsbürgerschaft besteht; nur wenn ein solcher Staat nicht existiert, wird subsidiär auf sonstige feste Bindungen zu einem Staat in Form eines dauernden (gewöhnlichen) Aufenthalts zurückgegriffen (VwGH 10.12.2009, 2008/19/0977). Dabei kommt es auf den Staat des "früheren gewöhnlichen Aufenthalts" des Asylwerbers an; das ist jener Staat, in dem er sich zu Beginn der Flucht aufgehalten hat (vgl. VwGH 20.02.2009, 2007/19/0535).

 

Der Beschwerdeführer ist im Libanon geboren und hat lediglich von etwa 2006 bis 2011, sohin etwa fünf Jahre, zwischenzeitlich in Syrien gewohnt. Es ist daher der Libanon, wo er sich in der Folge bis zu seiner Ausreise im Oktober 2020 erneut aufgehalten hat, als sein Herkunftsstaat im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG 2005 zu bezeichnen.

 

Im Erkenntnis vom 17.09.2003, Zl. 2000/20/0535, stellte der Verwaltungsgerichtshof fest, dass die Erreichung asylrelevanten Ausmaßes von staatlichen Verfolgungsmaßnahmen mit Blick auf damit verbundene Folgen (etwa betreffend den aufenthalts- und arbeitsrechtlichen Status der Asylwerber im Herkunftsland) nicht ohne Weiteres ausgeschlossen werden kann, wenn einem Asylwerber die Staatsbürgerschaft wegen seiner Abstammung entzogen oder in Abrede gestellt wird.

 

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt zudem in ständiger Rechtsprechung, dass Benachteiligungen auf sozialem, wirtschaftlichem oder religiösem Gebiet, sofern sie aus asylrelevanten Motiven erfolgen, für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft dann ausreichend sind, wenn sie eine solche Intensität erreichen, die einen weiteren Verbleib des Asylwerbers in seinem Heimatland unerträglich machen, wobei bei der Beurteilung dieser Frage ein objektiver Maßstab anzulegen ist (vgl. VwGH 22.06.1994, 93/01/0443). Ein völliger Entzug der Lebensgrundlage stellt nach ständiger Rechtsprechung des VwGH eine solche Intensität dar, womit diesem Asylrelevanz zukommen kann (VwGH 24.03.1999, 98/01/0380; 13.05.1998, 97/01/0099). Daraus ergibt sich, dass ein wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Nachteil grundsätzlich als Verfolgung zu qualifizieren sein wird, wenn durch das Vorliegen des Nachteils die Lebensgrundlage massiv bedroht ist.

 

Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU zufolge können zwar „bloße“ Diskriminierungen in der Regel noch nicht als Verfolgung angesehen werden, da eine Handlung lediglich dann als Verfolgungshandlung anzusehen ist, wenn sie aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen vorliegt, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Allgemeine Benachteiligungen, wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, Schikanen, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit, sind hinzunehmen (vgl. VwGH 07.10.1995, 95/20/0080; 23.05.1995, 94/20/0808). Jedoch ist eben eine stetige und anhaltende Diskriminierung durch ihre Kumulierung in der Regel als Verfolgung zu werten. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Diskriminierungsmaßnahmen Konsequenzen mit sich bringen, welche den Betroffenen in hohem Maße benachteiligen würden, etwa die ernstliche Einschränkung des Rechts, den Lebensunterhalt zu verdienen oder die Verhinderung des Zugangs zu üblicherweise verfügbaren Bildungseinrichtungen (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, RN 54; UNHCR, Auslegung von Art. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, April 2001, S 5).

 

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass - wie vorangehend dargelegt - eine asylrelevante Verfolgung unter den sonstigen Voraussetzungen auch dann vorliegen kann, wenn es durch einzelne Maßnahmen in Summe zu einem Entzug der Lebensgrundlage des Betroffenen kommt (zB VwGH 17.09.2003, 2000/20/0535; 22.05.1996, 95/01/0305; 24.11.1999, 98/01/0652; 24.03.1999, 98/01/0380; 17.06.1992, 91/01/0207).

 

Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens ist ersichtlich, dass es dem Beschwerdeführer nicht möglich sein wird, in den Libanon zurückzukehren. Er ist staatenloser Palästinenser und wird ihm seitens des libanesischen Staates – wie sich aus den getroffenen Länderfeststellungen ergibt - sowohl die libanesische Staatsangehörigkeit als auch ein Aufenthaltsrecht verweigert.

 

Insofern hätte der Beschwerdeführer demnach Verfolgungshandlungen - und sei es die bloße Einschränkung der persönlichen Freiheit durch Festnahme mit nachfolgender Außerlandesschaffung - seitens des libanesischen Staates zu befürchten. Als Verfolgungshandlungen kommen vor allem auch - wie bereits erfolgt - gesetzliche, administrative, polizeiliche und/ oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierende Weise angewandt werden, in Betracht.

 

Ausgehend von der oben angeführten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs erscheint es dem Beschwerdeführer bereits aus diesem Grunde nicht zumutbar, in den Libanon zurückzukehren, zumal mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass ihm - sofern ihm die Einreise in den Libanon überhaupt gelingen sollte - weder ein aufenthaltsrechtlicher noch ein arbeitsrechtlicher Status verliehen werden wird.

 

Die Staatenlosigkeit hat daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit insbesondere weitreichende negative Konsequenzen für den Aufenthalt und die Beschäftigungsmöglichkeit auf dem libanesischen Arbeitsmarkt. Dem Beschwerdeführer wäre durch diese staatliche Maßnahme ein legaler Aufenthalt in seinem Herkunftsstaat nicht möglich und auch kein legaler Zugang zum Arbeitsmarkt. Eine Gefährdung seiner Lebensgrundlage wäre daher im Falle einer Rückkehr wahrscheinlich, wodurch diese Maßnahme hinreichende Verfolgungsintensität erreicht.

 

Angesichts des oben festgestellten Sachverhalts erleidet der Beschwerdeführer durch die Verweigerung der Staatsbürgerschaft durch seinen einzigen Herkunftsstaat jedenfalls eine Summe an Maßnahmen, welche von der bereits erfolgten Verweigerung des Zugangs zu Bildung, über die Notwendigkeit einer - bislang ebenfalls verweigerten - Arbeitserlaubnis zur Ausübung einer legalen Erwerbstätigkeit bis hin zur Verweigerung der Gesundheitsversorgung und des Erwerbs von Grund und Boden reicht und welche in Summe zweifellos zu einer derart schwerwiegenden Diskriminierung führen, welche letztlich im Entzug der Lebensgrundlage mündet, zumal der BF - Vater zweier minderjähriger Kinder - auch über keine UNRWA-Registrierung verfügt.

 

Die Anknüpfung administrativer Maßnahmen bzw. des staatlichen Entzugs der Lebensgrundlage an die ethnische Herkunft der (staatenlosen) Palästinenser liegt im gegenständlichen Fall auf der Hand. Diese Umstände, insbesondere die Verweigerung der Staatsbürgerschaft, stellen somit staatliche Maßnahmen dar, welche in ihren Auswirkungen wie dargestellt eine hinreichende Verfolgungsintensität erreichen und zum gegebenen Zeitpunkt auch immer noch aktuell sind (vgl. dazu insbesondere VwGH 17.09.2003, 2000/20/0535).

 

Es ist daher objektiv nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer aus Furcht vor ungerechtfertigten Eingriffen, von erheblicher Intensität aus einem der in Artikel 1 Abschnitt A 2 GFK genannten Gründe, nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes seines Herkunftsstaats zu bedienen.

Im Verfahren haben sich keine Hinweise auf das Vorliegen der in Artikel 1 Abschnitt C und F GFK genannten Endigungs- und Ausschlussgründe und der Ausschlussgründe nach § 6 AsylG 2005 ergeben.

Ebenso wenig besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative, wobei eine solche schon mangels Einreisemöglichkeit in den Libanon von vornherein nicht in Betracht kommt, zumal die asylrelevanten Diskriminierungsmaßnahmen vom Herkunftsstaat des Beschwerdeführers ausgehen.

 

Im vorliegenden Fall sind somit unter Berücksichtigung der zuvor zitierten Judikatur die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gegeben.

 

Dem Beschwerdeführer war daher konsequenterweise gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass der verfahrensgegenständliche Antrag auf internationalen Schutz am 22.02.2021 (vgl. AS 21 und OZ 2 [Auszug aus dem Informations-verbundsystem Zentrales Fremdenregister]), - und somit nach dem 15.11.2015 - gestellt wurde, wodurch insbesondere die §§ 2 Abs. 1 Z 15 und 3 Abs. 4 AsylG 2005 und 3 Abs. 4b AsylG idF BGBl. I 24/2016 ("Asyl auf Zeit") gemäß § 75 Abs. 24 AsylG im konkreten Fall zur Anwendung gelangen und dem Beschwerdeführer daher gemäß § 3 Abs. 4 AsylG eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zukommt (§ 75 Abs. 24 AsylG 2005).

 

4. Absehen von einer mündlichen Beschwerdeverhandlung

Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

Dem Antrag des BF wurde vollinhaltlich stattgegeben. Das belangte Bundesamt hat zwar nicht vorweg auf die Durchführung und Teilnahme an einer Verhandlung verzichtet. Ausführungen respektive eine Stellungnahme im Rahmen der Beschwerdevorlage erfolgten seitens der belangten Behörde allerdings ebenso wenig.

Der maßgebliche Sachverhalt ergibt sich gegenständlich bereits aus der Aktenlage und bedurfte die Erörterung der hier zu entscheidenden Rechtsfrage keiner Verhandlung.

Zu B) Zum Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab (vgl. die unter Punkt 2. bis 3. angeführten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes), noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

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