European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0160OK00008.22W.0525.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.
Begründung:
[1] Mit Antrag vom 14. 7. 2021 beantragte die Bundeswettbewerbsbehörde die Verhängung einer Geldbuße von 45,37 Mio EUR über die Antragsgegnerinnen wegen der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen § 1 Abs 1 KartG und Art 101 Abs 1 AEUV in Form von kartellrechtswidrigen Preisabsprachen, Marktaufteilungen und Informationsaustausch mit Mitbewerbern in Bezug auf Ausschreibungen im Bereich Hoch- und Tiefbau in Österreich im Zeitraum von zumindest Juli 2002 bis Oktober 2017. Zur Höhe der beantragten Geldbuße führte die Antragstellerin aus, dass als Ausgangspunkt bei der Bemessung der erzielte Umsatz der Antragsgegnerinnen im Geschäftsbereich Straßenbau von rund 371 Mio EUR herangezogen worden sei. Ausgehend von einem Grundbetrag, der die regionale und zeitliche Ausprägung sowie persönliche Involvierung auf Unternehmensebene an der Gesamtzuwiderhandlung widerspiegle und unter Anwendung eines Multiplikators für die Dauer der Zuwiderhandlung von 2002 bis 2017 ergebe sich ein Betrag von 245,3 Mio EUR. Die Bundeswettbewerbsbehörde habe im Rahmen der Bemessung der von ihr beantragten Geldbuße sodann folgende Abzüge berücksichtigt: Ein substantieller Nachlass sei wegen der außerordentlich umfangreichen Kooperation als Kronzeuge gewährt worden. Für die einvernehmliche Verfahrensbeendigung sei ebenfalls ein Abschlag gewährt worden. In diesem Zusammenhang hätten die Antragsgegnerinnen ein umfassendes Anerkenntnis abgegeben. Ebenfalls mildernd eingeflossen sei die Einführung eines zertifizierten Compliance-Systems in Verbindung mit einem neuartigen Monitoring-System.
[2] Der Bundeskartellanwalt schloss sich dem Vorbringen und dem Antrag der Bundeswettbewerbsbehörde an.
[3] Mit Beschluss vom 21. 10. 2021 verhängte das Erstgerichtantragsgemäß über die Antragsgegnerinnen wegen Zuwiderhandlung gegen § 1 Abs 1 KartG und Art 101 Abs 1 AEUV, nämlich wegen einheitlicher und fortgesetzter kartellrechtswidriger Preisabsprachen, Marktaufteilungen und Informationsaustausch mit Mitbewerbern in Bezug auf öffentliche und private Ausschreibungen im Bereich Hoch- und Tiefbau in Österreich im Zeitraum von Juli 2002 bis Oktober 2017, gemäß § 29 Z 1 lit a und d KartG eine Geldbuße von 45,37 Mio EUR. Zur Höhe der Geldbuße gab das Kartellgericht zunächst die oben genannten Ausführungen der Bundeswettbewerbsbehörde wieder. Ob eine höhere als die von der Antragstellerin beantragte Geldbuße in Frage komme, sei im Hinblick darauf, dass das Kartellgericht nach § 36 Abs 2 letzter Satz KartG keine höhere Geldbuße verhängen dürfe als beantragt, nicht zu prüfen. Eine niedrigere Geldbuße als die von der Bundeswettbewerbsbehörde beantragte Summe, die bei einem weltweiten Umsatz des [Erstantragsgegnerin‑]Konzerns im vorangegangenen Geschäftsjahr von 14,75 Mrd EUR rund 3,076 % des Höchstbetrags nach § 29 Z 1 KartG entspreche, komme angesichts der Schwere und Dauer des Verstoßes, der durch die Rechtsverletzung zwangsläufig erzielten Bereicherung, des vorsätzlichen Handelns und der erheblichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Antragsgegnerinnen aus spezial- und generalpräventiven Erwägungen jedenfalls nicht in Betracht.
[4] Dieser Beschluss erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
[5] Mit dem hier gegenständlichen Antrag vom 22. 7. 2022 beantragte die Bundeswettbewerbsbehörde die Abänderung des Beschlusses des Erstgerichts vom 21. 10. 2021 gemäß §§ 72 ff AußStrG dahin, dass über die Antragsgegnerinnen wegen Zuwiderhandlungen gegen § 1 Abs 1 KartG und Art 101 Abs 1 AEUV, nämlich wegen einheitlichen und fortgesetzten kartellrechtswidrigen Preisabsprachen, Marktaufteilungen und Informationsaustausch mit Mitbewerbern in Bezug auf öffentliche und private Ausschreibungen im Bereich Hoch- und Tiefbau in Österreich im Zeitraum von Juli 2002 bis Oktober 2017 gemäß § 29 Z 1 lit a und d KartG eine angemessene Geldbuße verhängt werde. Hilfsweise beantragt sie die Abänderung des Beschlusses gemäß §§ 72 ff AußStrG dahin, dass für die beschriebenen Zuwiderhandlungen eine Geldbuße von 181,51 Mio EUR verhängt werde.
[6] Sie bringt vor, im Rahmen des von ihr geführten Ermittlungsverfahrens habe die Erstantragsgegnerin vermittelt, im Sinn der Kronzeugenregelung des § 11b WettbG vollumfänglich mit ihr zu kooperieren. Die Erstantragsgegnerin habe ein Anerkenntnis abgegeben, den von der Antragstellerin vorgebrachten Sachverhalt außer Streit gestellt und anerkannt, dass das beschriebene Verhalten als Verstoß gegen Kartellrecht zu werten sei; sie sei auch der von der Antragstellerin in Aussicht gestellten Geldbuße nicht entgegen getreten. Ihre Außerstreitstellung erfasse auch die Vorgaben, entsprechend § 11b Abs 1 Z 2 WettbG „wahrheitsgetreu, uneingeschränkt und zügig mit der [Antragstellerin] zwecks vollständiger Aufklärung des Sachverhalts zusammen[zu]arbeiten“.
[7] Im Zuge von durch die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) geführten strafrechtlichen Ermittlungen im Bereich der Bauwirtschaft seien der Antragstellerin im Weg der Amtshilfe am 28. 6. 2022 Unterlagen übermittelt worden. Aus diesen ergebe sich, dass es zumindest bei drei konkret bezeichneten Bauvorhaben zu im Einzelnen beschriebenen kartellrechtlichen Zuwiderhandlungen gekommen sei, die die Erstantragsgegnerin der Antragstellerin nicht offengelegt habe, obwohl sie davon umfassende Kenntnis gehabt habe. Zum zeitlichen Ablauf wird vorgebracht, die Erstantragsgegnerin habe am 2. 7. 2019 die Setzung eines Markers beantragt. Die kartellrechtswidrigen Verhaltensweisen hätten in den Jahren 2007, 2008 und 2010 stattgefunden. Die Kenntnis der Erstantragsgegnerin davon ergebe sich aus näher bezeichneten Berichten und Notizen, unter anderem einer Besprechungsnotiz vom 25. 4. 2019, in der die „Wahrscheinlichkeit […] dass die Projekte hochkommen“ quantifiziert worden sei. Ein interner Aktenvermerk vom 5. 8. 2019 nenne die drei Bauvorhaben als Projekte, die bei internen Nachforschungen im Rahmen des laufenden Straf- und Kartellverfahrens als kritisch identifiziert worden seien. Im November 2019 habe die Erstantragsgegnerin wegen der kartellrechtswidrigen Verhaltensweisen im Zuge eines der genannten Bauvorhaben eine Zahlung als „Schadenswiedergutmachung“ an eine bestimmte Bauherrin geleistet. Die Erstantragsgegnerin habe dadurch ihre Kooperationsverpflichtung gemäß § 11b WettbG verletzt.
[8] Rechtlich begründete die Antragstellerin den Abänderungsantrag damit, dass sie die Wirkung des rechtskräftigen Beschlusses nicht durch ein anderes Verfahren beseitigen könne. Sie sei durch die Entscheidung des Kartellgerichts vom 21. 10. 2021 beschwert, weil die Sanktionsprivilegierung des § 11b Abs 2 WettbG nur bei Einhaltung der gesetzlich statuierten Kooperationspflicht gewährt werden könne. Der Abänderungsantrag sei notwendig, um Wettbewerbsverzerrungen und ‑beschränkungen vollumfänglich entgegenzutreten und das öffentliche Interesse am Bestehen eines funktionierenden Kronzeugenprogramms und eine alle Tatsachen berücksichtigende Geldbußenentscheidung zu wahren.
[9] Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 73 Abs 1 Z 6 AußStrG seien erfüllt. Darüber hinaus könne auch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 73 Abs 1 Z 4 AußStrG nicht ausgeschlossen werden. So führe die WKStA Ermittlungen wegen des Verdachts der Geldwäsche, des schweren gewerbsmäßigen Betrugs sowie wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Vergabeverfahren.
[10] Bei der Beurteilung der Beschwer seien die Besonderheiten des kartellgerichtlichen Verfahrens und der öffentliche Auftrag der Bundeswettbewerbsbehörde zu berücksichtigen. Unter Zugrundelegung der nun vorliegenden Erkenntnisse hätte die Antragstellerin eine höhere Geldbuße beantragen müssen, weil nur noch der Abschlag für eine allfällige einvernehmliche Verfahrensbeendigung bzw bloß für eine Kooperation außerhalb des Kronzeugenprogramms geldbußenmindernd gewesen wären. Ließe man einen Abänderungsantrag nicht zu, hätte dies eine gravierende Rechtsschutzlücke sowie falsche Anreize an Unternehmen zur Folge. Die unionsrechtlich gebotene Effektivität des Kronzeugenprogramms wäre dadurch beeinträchtigt.
[11] Der Bundeskartellanwalt regte in seiner Stellungnahme an, die im Abänderungsantrag beantragten Beweise aufzunehmen und über den Antrag abzusprechen. Die Beschwer einer Amtspartei sei an ihren gesetzlichen Aufgaben zu messen. Ausgehend davon sei die materielle Beschwer der Bundeswettbewerbsbehörde gegeben. Fragen der formellen Beschwer stellten sich nicht, weil der Geldbußenantrag des Staats nicht disponibel sei.
[12] Die Antragsgegnerinnen beantragten, den Abänderungsantrag zurückzuweisen, hilfsweise, ihn abzuweisen. Sie brachten vor, die Erstantragsgegnerin habe umfangreich mit der Antragstellerin kooperiert und keine Umstände bewusst verheimlicht. Der Abänderungsantrag sei aus folgenden Gründen nicht zulässig: Das Erstgericht sei für die Überprüfung der Anwendung des Kronzeugenprogramms nicht zuständig; die Antragstellerin sei mangels formeller und materieller Beschwer nicht antragslegitimiert; die Antragstellung sei verfristet, weil die Antragstellerin bereits am 8. 6. 2022 telefonisch über die dem Antrag zugrunde liegenden Ergebnisse der Hausdurchsuchungen informiert worden sei; die Voraussetzungen der §§ 73 Abs 1 Z 4 und 6 AußStrG lägen nicht vor; eine Abänderung widerspreche den strafrechtlichen Garantien der Art 6, 7 EMRK und Art 49 Abs 3 GRC. Darüber hinaus habe die Erstantragsgegnerin ihre Kooperationsverpflichtung nicht verletzt; es habe nicht aufgeklärt werden können, ob die drei Projekte von kartellrechtswidrigen Verhaltensweisen betroffen gewesen seien.
[13] Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht den Antrag zurück.
[14] Rechtlich kam es zusammengefasst zum Ergebnis, ein Abänderungsantrag könne nicht darauf gegründet werden, dass die Bundeswettbewerbsbehörde in Kenntnis der mangelnden Kooperation eines Kronzeugen einen anderen verfahrenseinleitenden Antrag gestellt hätte. Im einzelnen stellte es folgende Erwägungen an:
[15] Der Abänderungsgrund des § 73 Abs 1 Z 4 AußStrG sei wegen der mangelnden Strafbarkeit des behaupteten Verhaltens (bewusstes Verschweigen) der Kronzeugin nicht erfüllt.
[16] Im Hinblick auf den Abänderungsgrund des § 73 Abs 1 Z 6 AußStrG könne das Vorbringen zu neuen Tatsachen nichts an der Bindung des Kartellgerichts an die Höhe der beantragten Geldbuße ändern, weil sich die neu hervorgekommenen Tatsachen nicht auf eine Änderung des verfahrenseinleitenden Antrags „beziehen“ könnten.
[17] Wegen seiner rechtsmittelähnlichen Funktion setze der Abänderungsantrag gemäß § 73 AußStrG zudem voraus, dass der Antragsteller durch die Entscheidung des Vorverfahrens beschwert sei. Da hier dem Sachantrag zur Gänze stattgegeben worden sei, fehle es bereits an der formellen Beschwer. Die materielle Beschwer reiche nur in Fällen aus, in denen die Entscheidung der Parteiendisposition entzogen und von Amts wegen zu treffen sei, was auf Geldbußenverfahren nicht zutreffe.
[18] Die Zulässigkeit des Abänderungsantrags (gemeint offenbar: über die von §§ 72 ff AußStrG geregelten Fälle hinaus) könne weder aus den Besonderheiten des kartellrechtlichen Geldbußenverfahrens noch aus der gebotenen Effektivität des Kronzeugenprogramms abgeleitet werden. Für die Effizienz des Kronzeugenprogramms sei es „nachvollziehbar“, die bindende Einigung auf eine maximale Geldbuße als erforderlich anzusehen. Der vergleichende Blick auf das Kartellstrafverfahren ergebe, dass dort – anders als im kartellrechtlichen Geldbußenverfahren – eine vorläufige Verfahrenseinstellung möglich, eine Wiederaufnahme im Hinblick auf die Strafbemessung jedoch ausgeschlossen sei. Hingegen müsse im kartellrechtlichen Geldbußenverfahren endgültig von einem Antrag auf Verhängung einer Geldbuße abgesehen werden. Daraus sei der Größenschluss zu ziehen, dass eine „Wiederaufnahme“ des Geldbußenverfahrens wegen der Beantragung einer zu niedrigen Geldbuße ausscheide. Schließlich folge aus der grundrechtlichen Absicherung der Rechtskraft von Entscheidungen und aus dem Doppelbestrafungsverbot, dass eine Wiederaufnahme des kartellrechtlichen Geldbußenverfahrens ohne gesetzliche Grundlage (gemeint offenbar: außerhalb der Voraussetzungen der §§ 72 ff AußStrG) ausscheide. Auch eine an der ECN+‑Richtlinie orientierte unionsrechtskonforme Auslegung des österreichischen Rechts könne keine außergesetzliche Abänderung zulasten des betroffenen Unternehmens begründen.
[19] Dagegen richten sich die von den Antragsgegnerinnen beantworteten Rekurse der Antragstellerin und des Bundeskartellanwalts, mit denen sie beantragen, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und dem Erstgericht die Einleitung des Verfahrens aufzutragen; hilfsweise, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und über die Zulässigkeit des Abänderungsantrags abzusprechen.
[20] Sie rügen zusammengefasst, die Antragstellerin sei durch die ergangene Entscheidung beschwert, der Abänderungsantrag beruhe auf einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung und sei die einzige rechtliche Möglichkeit der Beseitigung der Wirkungen des Beschlusses vom 21. 10. 2021, der Herstellung eines rechtskonformen Zustands und der Gewährleistung der Effektivität des Unionsrechts.
Rechtliche Beurteilung
[21] Der Rekurs ist berechtigt.
1. Zum Abänderungsantrag nach §§ 72 ff AußStrG
[22] 1.1. Der Abänderungsantrag gemäß §§ 72 ff AußStrG vereint die Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsklage der ZPO und ist diesen Rechtsbehelfen nachgebildet (ErläutRV 224 BlgNR 22. GP 56; G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG² [2019] § 72 Rz 5; Fucik/Kloiber, AußStrG [2005] § 72 Rz 1; Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka, AußStrG³ [2021] § 72 Rz 1; 1 Ob 208/18x; 9 Ob 65/11s EF-Z 2013/31, 40 [Beck] = EvBl 2012/92, 660 [Posani]). Der Gesetzgeber hat mit der Schaffung des Abänderungsverfahrens in den §§ 72 ff AußStrG ein eigenständiges Verfahren zur Beseitigung von mit besonders schwerwiegenden Mängeln behafteten – rechtskräftigen (G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG² § 72 Rz 6) – Beschlüssen im Verfahren außer Streitsachen geschaffen (9 Ob 65/11s).
[23] Die §§ 72 ff AußStrG sind neben den Spezialregeln für das Kartellverfahren in § 12 Abs 3, § 16 KartG auch im Kartellverfahren anzuwenden (G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG² § 72 Rz 14).
[24] 1.2. Nach § 72 AußStrG kann die Abänderung eines Beschlusses nach den im 6. Abschnitt des AußStrG normierten Bedingungen begehrt werden, wenn die Wirkungen des Beschlusses nicht durch die Einleitung eines anderen gerichtlichen Verfahrens beseitigt werden können. Nach § 73 Abs 1 AußStrG kann nach dem Eintritt der Rechtskraft eines Beschlusses, mit dem über die Sache entschieden wurde, dessen Abänderung beantragt werden, wenn (Z 4) die Voraussetzungen nach § 530 Abs 1 Z 1 bis 5 ZPO vorliegen, sowie (Z 6) die Partei in Kenntnis von neuen Tatsachen gelangt oder Beweismittel auffindet oder zu benützen in den Stand gesetzt wird, deren Vorbringen und Benützung im früheren Verfahren eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt hätte.
2. Zum erforderlichen Rechtsschutzinteresse
[25] 2.1. Der Abänderungsantrag setzt wegen seiner rechtsmittelähnlichen Funktion voraus, dass der Antragsteller durch die Entscheidung des Vorverfahrens beschwert ist. Bei der Ermittlung, wann eine Beschwer vorliegt und bei der Bestimmung der Rechtsfolgen ihres Mangels ist grundsätzlich die Übereinstimmung mit den Auslegungsergebnissen zum Rechtsmittelverfahren zu wahren (G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG² § 73 Rz 20; Jelinek in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze³ [2019] § 530 Rz 23).
[26] 2.2. Beschwer ist das in höherer Instanz vorausgesetzte Rechtsschutzbedürfnis des Rechtsmittel-werbers (16 Ok 1/07 [ErwGr 1.2.] ÖBl 2007/42, 184 [Hoffer/Innerhofer]; vgl RS0006598). Bei der Beschwer unterscheidet man die formelle Beschwer, die dann vorliegt, wenn die Entscheidung von dem ihr zugrunde liegenden Sachantrag des Rechtsmittelwerbers zu dessen Nachteil abweicht, und die materielle Beschwer, die vorliegt, wenn die (materielle oder prozessuale) Rechtsstellung des Rechtsmittelwerbers durch die Entscheidung beeinträchtigt wird, diese also für ihn ungünstig ausfällt (RS0041868).
[27] 2.3. Das Erfordernis der Beschwer beruht auf dem Gedanken, dass es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen ist, rein theoretische Fragen zu entscheiden (RS0006598 [T36]). Daher setzt jedes zulässige Rechtsmittel – auch im Außerstreitverfahren – voraus, dass der Rechtsmittelwerber (formell oder materiell) beschwert ist (RS0041868 [T19]; 6 Ob 45/09z; vgl RS0006598).
[28] 2.4. In aller Regel fehlt bei antragsgemäßen Entscheidungen dem Antragsteller die Beschwer für die Bekämpfung der Entscheidung (vgl die in RS0006471 indizierte Rechtsprechung). Anderes gilt für Beschlüsse im außerstreitigen Verfahren, wenn die Entscheidung der Parteiendisposition entzogen ist (RS0006587 [T3]; 3 Ob 130/07z EF-Z 2008/8, 24 [Nademleinsky] zur Anerkennung einer ordre-public-widrigen ausländischen Scheidung; G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG³ § 45 Rz 53). Durch Parteienantrag dürfen nämlich nicht gegen zwingendes Recht verstoßende Gerichtsentscheidungen herbeigeführt werden (3 Ob 130/07z). Auch in amtswegig eingeleiteten Verfahren genügt die materielle Beschwer; in Verfahren, die auf Parteienantrag eingeleitet werden, müssen die Antragsteller formell, andere durch die Entscheidung betroffene Personen materiell beschwert sein (G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG³ § 45 Rz 50).
[29] 2.5. Das Erfordernis eines Rechtsschutzbedürfnisses gilt auch für Rekurse der Amtsparteien im Kartellverfahren (16 Ok 1/07 [ErwGr 1.2.] mwN). Dabei hat der Oberste Gerichtshof im Zusammenhang mit der Beschwer der Bundeswettbewerbsbehörde bereits ausdrücklich auf deren gesetzlichen Auftrag hingewiesen:
[30] Den Amtsparteien des Kartellverfahrens obliegt es nach dem Gesetz (§ 1 Abs 1 WettbG für die Bundeswettbewerbsbehörde, § 75 Abs 1 KartG für den Bundeskartellanwalt), funktionierenden Wettbewerb sicherzustellen und das öffentliche Interesse in Angelegenheiten des Wettbewerbsrechts zu vertreten. Werden durch eine kartellgerichtliche Entscheidung öffentliche Interessen in Angelegenheiten des Wettbewerbsrechts berührt, sind die Amtsparteien daher grundsätzlich befugt, diese Entscheidung mit Rekurs zu bekämpfen, sofern ihnen nicht ausnahmsweise das Rechtsschutzbedürfnis fehlt (16 Ok 1/07 [ErwGr 1.4.]).
[31] 2.6. Ein Rechtsschutzbedürfnis einer Amtspartei wurde etwa hinsichtlich der Zurückweisung vorgelegter Urkunden verneint, nachdem das Verfahren bereits aufgrund der Zurücknahme der Prüfungsanträge der Amtspartei eingestellt war (16 Ok 6/06 ecolex 2006/328, 770 [Tremmel]).
[32] Hingegen wurde das Rechtsschutzbedürfnis der Bundeswettbewerbsbehörde in einem Fall bejaht, in dem das Kartellgericht über einen nicht von einer Amtspartei stammenden Prüfungsantrag abzusprechen hatte und sich in seiner rechtlichen Beurteilung der im Verfahren geäußerten Rechtsansicht der Bundeswettbewerbsbehörde angeschlossen hatte (16 Ok 1/07). Dies deshalb, weil mit der Entscheidung festgeschrieben wurde, dass der Sachverhalt der Kartellkontrolle entzogen sei, was die Bundeswettbewerbsbehörde in Wahrnehmung ihres gesetzlichen Auftrags bekämpfen darf.
[33] 2.7. Wie ausgeführt, ist bei der Ermittlung, wann Beschwer vorliegt, grundsätzlich die Übereinstimmung mit den Auslegungsergebnissen zum Rechtsmittelverfahren zu wahren (G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG² § 73 Rz 20; Jelinek in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze³ § 530 Rz 23). Da der Abänderungsantrag gemäß §§ 72 ff AußStrG bzw die Wiederaufnahmsklage gemäß §§ 530 ff ZPO zwar eine rechtsmittelähnliche Funktion erfüllen, aber von einem Rechtsmittel verschiedene Institute sind, kann mit einer undifferenzierten Übertragung der Erwägungen zur Beschwer im Rechtsmittelverfahren allerdings nicht für alle Fallkonstellationen, die sich bei der Beurteilung des rechtlichen Interesses im Zusammenhang mit einem Abänderungsantrag nach §§ 72 ff AußStrG oder einer Wiederaufnahmsklage gemäß §§ 530 ff ZPO stellen, das Auslangen gefunden werden.
[34] 2.8. Im Gleichlauf mit dem Rechtsmittelverfahren kann ein Abänderungsantrag jedenfalls von demjenigen erhoben werden, der durch die angefochtene Entscheidung des Vorprozesses formell beschwert ist (G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG² § 73 Rz 21; Jelinek in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze³ § 530 Rz 24). Hingegen wird in jenen Fällen, in denen der Antragsteller mit seinem ursprünglichen Begehren zur Gänze obsiegte, im Regelfall mangels formeller Beschwer und wegen der Möglichkeit einer neuen Antragstellung kein Abänderungsantrag zur Verfügung stehen (G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG² § 73 Rz 21).
[35] Ebenfalls parallel zum Rechtsmittelverfahren wird in jenen Fällen, in denen die materielle Beschwer zur Erhebung eines Rechtsmittels ausreicht, diese auch für die Einbringung eines Abänderungsantrags nach §§ 72 ff AußStrG genügen (vgl G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG² § 73 Rz 23).
[36] 2.9. Ein Gleichlauf mit dem Rechtsmittelverfahren besteht allerdings nicht in allen Fallkonstellationen: So lässt die Rechtsprechung eine Wiederaufnahmsklage gemäß § 530 Abs 1 Z 7 ZPO auch in Fällen der unterbliebenen Streiteinlassung des Beklagten zu, also in Konstellationen, in denen dieser gar keine Sachanträge stellte. Die Wiederaufnahmsklage ist unter bestimmten Voraussetzungen also ohne ein Abweichen von einem Sachantrag (im Sinn formeller Beschwer) zulässig.
[37] So ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die Wiederaufnahme eines mit Versäumungsurteil geschlossenen Verfahrens nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO bewilligt werden kann, wenn der Wiederaufnahmekläger behauptet und beweist, dass seine seinerzeitige prozessuale Untätigkeit dadurch bestimmt war, dass er nach der damaligen Lage eine Einlassung in den Rechtsstreit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als aussichtslos ansehen musste, und dass sich diese Lage durch das Auffinden neuer Beweismittel zu seinen Gunsten geändert hat (10 Ob 67/07m; 10 Ob 1635/95; 7 Ob 575/77 RZ 1978/52, 113; RS0041113; vgl RS0044472). In solchen Fällen ist der Grundsatz, dass eine Wiederaufnahme wegen neu aufgefundener Beweismittel nur dort in Frage kommt, wo im Hauptprozess eine bestimmte Tatsache zwar behauptet wurde, aber nicht bewiesen werden konnte, und die neu aufgefundenen Beweismittel eben den Beweis dieser Tatsache erbringen sollen (RS0040999), durchbrochen. Die Wiederaufnahmsklage ist zulässig, obwohl der nunmehrige Wiederaufnahmekläger im Vorprozess keine Sachanträge stellte.
[38] 2.10. Die Wertung, dass die Wiederaufnahme gemäß § 530 Abs 1 Z 7 ZPO auch in Fällen zulässig ist, in denen der spätere Wiederaufnahmekläger erst aufgrund neuer Tatsachen und Beweismittel in die Lage versetzt wird, nicht von vornherein aussichtslose Sachanträge zu stellen, wurde vom Obersten Gerichtshof jüngst bestätigt und gleichermaßen auf einen mangels Erhebung des Einspruchs in Rechtskraft erwachsenen Zahlungsbefehl angewendet (6 Ob 194/22f).
[39] 2.11. Darüber hinaus ist die Wiederaufnahmsklage wegen neuer Tatsachen und Beweismittel auch gegen Anerkenntnis- und Verzichtsurteile zulässig (RS0044421), also in Fällen, in denen das Urteil auf einem Unterwerfungsakt der – später die Wiederaufnahme begehrenden – Partei beruht (6 Ob 30/09v). Es spielt nämlich keine Rolle, ob die Partei in unverschuldeter Unkenntnis der für ihren Standpunkt wesentlichen Tatsachen im Vorverfahren bloß ein unzureichendes oder aus Mangel erfolgversprechender Argumente überhaupt kein eigenes Bestreitungsvorbringen erstattet hat (6 Ob 30/09v).
[40] 2.12. Allerdings muss der behauptete Wiederaufnahmegrund nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO (bzw § 73 Abs 1 Z 6 AußStrG) in einem rechtlich beachtlichen Zusammenhang mit der angefochtenen Entscheidung stehen. Die Wiederaufnahmsklage bzw der Abänderungsantrag ist daher zurückzuweisen, wenn die geltend gemachten Umstände ersichtlich von vornherein keinerlei Einfluss auf die Entscheidung in der Hauptsache haben können (RS0044504 [T1, T7]).
[41] Die dargestellte Rechtsprechung, die eine Wiederaufnahmsklage des im Vorprozess unterlegenen Beklagten gegen ein Versäumungs- oder Anerkenntnisurteil oder einen Zahlungsbefehl trotz unterbliebener Urteilsgegenanträge gestattet, ist daher mit dem im Rechtsmittelverfahren geltenden Grundsatz, dass es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen ist, rein theoretische Fragen zu entscheiden (RS0006598 [T36]), unschwer in Einklang zu bringen.
3. Zum Rechtsschutzinteresse im vorliegenden Fall
[42] 3.1. Im vorliegenden Fall liegt eine der Säumnis, der unterbliebenen Erhebung des Einspruchs gegen einen bedingten Zahlungsbefehl oder des Anerkenntnisses wegen der unverschuldeten Unkenntnis von Tatsachen wertungsmäßig gleich zu haltende Konstellation vor:
[43] 3.2. Ebenso wie beim Zivilprozess handelt es sich beim kartellrechtlichen Geldbußenverfahren um ein nur auf Antrag eingeleitetes Verfahren (§ 36 Abs 1 KartG), sodass grundsätzlich ein Abweichen der gerichtlichen Entscheidung vom Antrag, allerdings nur durch Verhängung einer geringeren als der beantragten Geldbuße, stets möglich ist.
[44] § 36 KartG enthält zwar keine Verpflichtung, in einem Antrag auf Verhängung einer Geldbuße eine bestimmte Strafhöhe zu fordern (16 Ok 14/13 [ErwGr 5.2.] mwN, Follow-on-Klagen I, EvBl 2014/111, 774 [Brenn, Rittenauer]). Wenn die Bundeswettbewerbsbehörde eine Geldbuße in bestimmter Höhe beantragt, hat sie dies nach § 36 Abs 1a letzter Satz KartG zu begründen. Das Kartellgericht ist insofern an einen solchen Antrag gebunden, als es keine höhere Geldbuße verhängen darf als beantragt (§ 36 Abs 2 Satz 2 KartG).
[45] 3.3. Die Entscheidung der Bundeswettbewerbsbehörde, eine angemessene Geldbuße oder eine solche in bestimmter Höhe zu beantragen, sowie gegebenenfalls die Höhe der beantragten Geldbuße, hängen von den Ergebnissen des von der Bundeswettbewerbsbehörde geführten Verwaltungsverfahrens ab. Dazu gehört auch die Entscheidung, Unternehmer oder Unternehmervereinigungen als Kronzeugen zu behandeln.
[46] Die Regelungen betreffend Kronzeugen sind (seit dem KaWeRÄG 2017, BGBl I 2017/56) in § 11b WettbG normiert. Im vorliegenden Fall wurde der Geldbußenantrag am 14. 7. 2021 gestellt. Daher kommen § 11b Abs 2 und Abs 3 WettbG idF vor dem KaWeRÄG 2021 (BGBl I 2021/176) zur Anwendung (§ 21 Abs 10 vierter und fünfter Satz WettbG). Die folgenden Ausführungen beziehen sich (soweit nichts anderes angegeben) jeweils auf diese Fassung des § 11b WettbG.
[47] 3.4. Nach § 11b Abs 1 WettbG kann die Bundeswettbewerbsbehörde unter den dort normierten Voraussetzungen davon Abstand nehmen, die Verhängung einer Geldbuße gegen Unternehmer oder Unternehmervereinigungen zu beantragen. Nach § 11b Abs 2 Satz 1 WettbG kann sie bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 11b Abs 1 Z 2 bis 4 WettbG eine geminderte Geldbuße beantragen. Darüber hinaus verlangt § 11b Abs 2 WettbG, dass der Bundeswettbewerbsbehörde Informationen und Beweismittel für die vermutete Zuwiderhandlung vorgelegt werden, die gegenüber den bereits in ihrem Besitz befindlichen Informationen und Beweismitteln einen erheblichen Mehrwert darstellen, wobei bei der Bestimmung des Umfangs der jeweiligen Reduktion auf den Zeitpunkt der Abgabe der zusätzlichen Informationen und Beweismittel sowie das Ausmaß des Mehrwerts gegenüber der bereits bekannten Information abzustellen ist.
[48] 3.5. § 11b Abs 1 Z 3 WettbG, auf den § 11b Abs 2 Satz 1 WettbG verweist, verlangt, dass die Unternehmer oder die Unternehmervereinigungen „wahrheitsgemäß, uneingeschränkt und zügig mit der Bundeswettbewerbsbehörde zwecks vollständiger Aufklärung des Sachverhaltes zusammenarbeiten sowie sämtliche Beweismittel für die vermutete Zuwiderhandlung, die sich in ihrem Besitz befinden oder auf die sie Zugriff haben, vorlegen“.
[49] 3.6. Hat die Bundeswettbewerbsbehörde (nach § 11b Abs 4 WettbG) den Bundeskartellanwalt benachrichtigt, dass sie gegen einen Unternehmer oder eine Unternehmervereinigung im Sinn des § 11b Abs 1 und 2 WettbG vorgeht, dann entfällt die Berechtigung des Bundeskartellanwalts, wegen der gegenständlichen Zuwiderhandlung einen Antrag auf Verhängung einer Geldbuße zu stellen (§ 36 Abs 3 KartG). Mit dieser Beschränkung der Antragslegitimation des Bundeskartellanwalts und der Anordnung des § 36 Abs 2 KartG, dass das Kartellgericht keine höhere Geldbuße verhängen darf als beantragt, soll nach dem Willen des Gesetzgebers das Funktionieren der Kronzeugenregelung des WettbG sichergestellt werden (ErläutRV zum KartG 2005, BGBl I 2005/61, 926, BlgNR 22. GP 9).
[50] 3.7. Der Oberste Gerichtshof hat (zur Vorgängerberstimmung § 11 Abs 3 WettbG idF vor dem KaWeRÄG 2017) bereits klargestellt, dass keine unmittelbare Kompetenz des Kartellgerichts zur Überprüfung fehlerhafter Entscheidungen der Bundeswettbewerbsbehörde bei Anwendung der „Kronzeugenregelung“ besteht (16 Ok 5/10, Druckchemikalien [ErwGr 1.1.], EvBl 2011/29, 3 [Rittenauer] = RS0126215). § 11b Abs 1 und 2 WettbG determinieren vielmehr das von der Bundeswettbewerbsbehörde auszuübende Ermessen in Bezug auf Kronzeugen näher. Auf § 11b Abs 2 WettbG beruhende Entscheidungen der Bundeswettbewerbsbehörde setzen demnach zwar zufolge des kartellrechtlichen Antragsprinzips (§ 36 Abs 1 KartG) den rechtlichen Rahmen für die nachfolgende (autonome) Geldbußenentscheidung des Kartellgerichts fest, sie können aber mangels einschlägiger gesetzlicher Bestimmungen nicht per se Gegenstand der richterlichen Kontrolle sein (16 Ok 5/10, Druckchemikalien [Rz 1.3.]). Allerdings fließen die § 11b Abs 1 und 2 WettbG zugrunde liegenden Wertungen insofern mittelbar in die gerichtliche Entscheidung ein, als das Kartellgericht innerhalb des durch den Geldbußenantrag abgesteckten Rahmens die bestehenden Milderungs- oder Erschwerungsgründe originär gewichten kann (16 Ok 5/10, Druckchemikalien [Rz 1.6.]).
[51] 3.8. Im vorliegenden Fall strebt die Antragstellerin nicht die gerichtliche Überprüfung der Anwendung des § 11b Abs 2 WettbG, die ihrem Geldbußenantrag vom 14. 7. 2021 zugrunde lag, an. Ihr Antrag ist vielmehr auf die Abänderung der rechtskräftigen Entscheidung des Erstgerichts vom 21. 10. 2021 gerichtet, weil sie – nach dem Antragsvorbringen – aufgrund neuer Tatsachen einen über den Antrag vom 14. 7. 2021 hinausgehenden Geldbußenantrag (auf Verhängung einer angemessenen Geldbuße, hilfsweise einer Geldbuße in Höhe von 181,51 Mio EUR) stellt.
[52] 3.9. Konkret behauptet die Antragstellerin, am 28. 6. 2022 Beweismittel erhalten zu haben, aus denen sich bei drei Bauprojekten näher beschriebene kartellrechtliche Zuwiderhandlungen der Erstantragsgegnerin in den Jahren 2007, 2008 und 2010 ergäben, von denen die Erstantragsgegnerin zumindest seit dem Jahr 2019 sowie während der gesamten Zeit der Kooperation mit der Bundeswettbewerbsbehörde positive Kenntnis gehabt habe und die sie dennoch – entgegen ihrer Kooperationsverpflichtung – nicht offengelegt habe.
[53] 3.10. Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass die im Abänderungsantrag behaupteten neu hervorgekommenen Kartellrechtsverstöße von der Rechtskraftwirkung des am 21. 10. 2021 ergangenen Beschlusses, der eine Geldbuße für „einheitliche und fortgesetzte kartellrechtswidrige Preisabsprachen, Marktaufteilungen und Informationsaustausch mit Mitbewerbern in Bezug auf öffentliche und private Ausschreibungen im Bereich Hoch- und Tiefbau in Österreich im Zeitraum von Juli 2002 bis Oktober 2017“ verhängte, erfasst sind.
[54] Der Bundeswettbewerbsbehörde steht die „Einleitung eines anderen gerichtlichen Verfahrens“ (§ 72 AußStrG), also die Stellung eines neuen Geldbußenantrags im Hinblick auf die neu behaupteten Kartellrechtsverstöße daher nicht offen. Daraus folgt, dass die Voraussetzung des § 72 AußStrG erfüllt ist.
[55] 3.11. Es liegt darüber hinaus ein Fall vor, in dem die behaupteten neuen Tatsachen nur im Weg eines abgeänderten Geldbußenantrags, nicht aber ausgehend von dem am 14. 7. 2021 gestellten Antrag zu einer für die Bundeswettbewerbsbehörde günstigeren Entscheidung führen können.
[56] Diese Situation ist der prozessualen Lage vergleichbar, in der sich ein im Hauptprozess Beklagter befindet, der von der Stellung eines Urteilsgegenantrags absah und ein Versäumungsurteil gegen sich ergehen oder einen bedingten Zahlungsbefehl in Rechtskraft erwachsen ließ oder sich im Weg eines prozessualen Anerkenntnisses dem Klageantrag unterwarf. Strebt diese Partei wegen neuer Tatsachen und Beweismittel die Wiederaufnahme des Verfahrens an, kann diese nur dann zu einem für sie günstigeren Ergebnis führen, wenn ihr die erstmalige Stellung eines Urteilsgegenantrags im Weg der Wiederaufnahme des Verfahrens gestattet wird.
[57] 3.12. Wie ausgeführt, anerkennt die Rechtsprechung die Zulässigkeit einer Wiederaufnahmsklage nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO in derartigen Fällen dann, wenn der im Hauptprozess Beklagte bei objektiver Betrachtung eine Rechtsverteidigung als aussichtslos betrachten musste, und sich diese Lage in der Folge durch neue Tatsachen oder Beweismittel zu seinen Gunsten ändert. Diesfalls ist die Wiederaufnahmsklage gemäß § 530 Abs 1 Z 7 ZPO (bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen) ungeachtet des Umstands, dass die wiederaufzunehmende Entscheidung nicht im Sinn einer formellen Beschwer von einem vom Wiederaufnahmekläger im Vorverfahren gestellten Antrag abweicht, zuzulassen.
[58] 3.13. Nach den Antragsbehauptungen der Bundeswettbewerbsbehörde durfte sie zum Zeitpunkt der Stellung ihres Geldbußenantrags am 14. 7. 2021 von der wahrheitsgemäßen und uneingeschränkten Zusammenarbeit der Erstantragsgegnerin zum Zweck der vollständigen Aufklärung des Sachverhalts im Sinn des § 11b Abs 2 WettbG ausgehen, sodass sie das ihr zukommende Ermessen bei der Handhabung der „Kronzeugenregelung“ auf Grundlage dieses Kenntnisstandes ausübte.
[59] Ebenso, wie die Rechtsprechung einer Partei, der ein Bestreiten im Hauptprozess objektiv aussichtslos erscheinen musste, zubilligt, neu hervorgekommene Tatsachen und Beweismittel im Weg der erstmaligen Stellung eines Urteilsgegenantrags in das Verfahren einfließen zu lassen, steht es der Zulässigkeit eines Abänderungsantrags nach § 73 Abs 1 Z 6 AußStrG der Bundeswettbewerbsbehörde im kartellrechtlichen Geldbußenverfahren nicht entgegen, dass eine für sie „günstigere“ Entscheidung nur im Weg der Stellung eines abgeänderten Geldbußenantrags erreicht werden kann.
[60] 3.14. Daraus ergibt sich folgendes Zwischenergebnis: Im vorliegenden Fall scheitert die Zulässigkeit des Abänderungsantrags nicht an der fehlenden formellen Beschwer der Antragstellerin.
4. Zum behaupteten Abänderungsgrund
[61] 4.1. Im Außerstreitverfahren besteht keine strikte Trennung zwischen Vorprüfungsverfahren, Aufhebungsverfahren und Erneuerungsverfahren (G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG² § 73 Rz 50). Soweit die Antragsgegnerinnen in ihrer Stellungnahme vom 13. 9. 2022 den Rechtsstandpunkt vertraten, die von der Antragstellerin behaupteten Umstände seien nicht als neue Tatsachen in Bezug auf die Geldbußenentscheidung anzusehen, weil sie nicht zu einer abweichenden Geldbußenentscheidung führten, kann bereits abschließend zur Schlüssigkeit des Antrags Stellung genommen werden:
[62] 4.2. Der Abänderungsgrund des § 73 Abs 1 Z 6 AußStrG entspricht dem § 530 Abs 1 Z 7 ZPO. Die neuen Tatsachen müssen im vorangegangenen Verfahren bereits entstanden oder vorhanden gewesen sein. Bei den neuen Beweismitteln kommt es nicht darauf an, wann diese entstanden sind; sie müssen sich nur auf Tatsachen beziehen, die schon vor Verfahrensabschluss erster Instanz vorhanden waren (RS0044437; 10 Ob 12/09a iFamZ 2009/208, 301 [Deixler-Hübner]).
[63] 4.3. Nach den Angaben im Abänderungsantrag waren die behaupteten neuen Tatsachen, aus denen die Antragstellerin eine Verletzung der Kooperationspflicht der Erstantragsgegnerin ableitet, im Zeitpunkt des vorangegangenen Verfahrens, das mit dem Antrag vom 14. 7. 2019 eingeleitet wurde, bereits vorhanden. Es handelt sich daher um neue Tatsachen im Sinn des § 73 Abs 1 Z 6 AußStrG.
[64] 4.4. Diese Tatsachen erscheinen – sofern sie sich als richtig erweisen – jedenfalls abstrakt geeignet, eine Verletzung der Kooperationspflicht gemäß § 11b Abs 1 Z 2 WettbG zu belegen. Es handelt sich daher um Umstände, die zulässiger Weise in die Ausübung des der Bundeswettbewerbsbehörde bei Anwendung des § 11b Abs 2 WettbG eingeräumten Ermessens einfließen können.
[65] Die behaupteten neuen Tatsachen sind daher – entgegen dem Rechtsstandpunkt der Antragsgegnerinnen – auch nicht von vornherein ungeeignet, zu einer Aufhebung oder Abänderung der vorangegangenen Entscheidung zu führen (vgl RS0044504; RS0044510 [T16]; G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG² § 73 Rz 50).
[66] Klarzustellen ist, dass in dieser Beurteilung keine – dem Kartellgericht nicht zustehende (vgl 16 Ok 5/10, Druckchemikalien [ErwGr 1.1.]) – Überprüfung der Ermessensausübung der Bundeswettbewerbsbehörde bei Beantragung einer herabgesetzten Geldbuße liegt, sondern lediglich die Beurteilung der abstrakten Eignung der vorgebrachten neuen Tatsachen, eine für die Antragstellerin günstigere Entscheidung herbeizuführen.
[67] 4.5. Da die Amtsparteien materielle Treuhänder der von ihnen gesetzlich wahrzunehmenden Interessen sind (vgl RS0123282), ist eine der (behauptetermaßen nicht uneingeschränkten) tatsächlichen Kooperation entsprechende Geldbuße als eine für sie „günstigere“ Entscheidung anzusehen.
5. Grundrechtliche Bedenken
[68] 5.1. Die Antragsgegnerinnen rügten in ihrer Stellungnahme vom 13. 9. 2022, der Abänderungsantrag der Bundeswettbewerbsbehörde greife in ihre von Art 6 und 7 EMRK und Art 49 Abs 3 GRC verbrieften Rechte ein. Der bloße Verweis auf diese Verfahrensrechte und -grundsätze lässt allerdings nicht konkret erkennen, inwiefern sich die Antragsgegnerinnen in ihrem Recht auf ein faires Verfahren (Art 6 EMRK) beschnitten erachten oder worin der Verstoß gegen den Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ (Art 7 EMRK) liegen soll. Auch ein Verstoß gegen Art 49 Abs 3 GRC, nach dem das Strafmaß gegenüber der Strafe nicht unverhältnismäßig sein darf, kann in der Zielrichtung des Abänderungsantrags, die darin liegt, eine der tatsächlich stattgefundenen Kooperation angemessene Geldbuße zu erreichen, nicht erblickt werden. Eine rechtsstaatlich bedenkliche mangelnde Vorhersehbarkeit des Verwaltungshandelns kann darin, dass die Bundeswettbewerbsbehörde von einem gesetzlich normierten Rechtsbehelf (Abänderungsantrag nach §§ 72 ff AußStrG) Gebrauch macht, ebenfalls nicht erkannt werden.
[69] 5.2. Soweit das Kartellgericht grundrechtliche Bedenken gegen den Antrag der Bundeswettbewerbsbehörde hegte, beruhten diese auf der unrichtigen rechtlichen Annahme, der Antrag könne mangels Beschwer nicht als (zulässiger) Abänderungsantrag nach §§ 72 ff AußStrG qualifiziert werden, es handle sich sohin um einen Antrag ohne gesetzliche Grundlage.
[70] Dass diese rechtliche Prämisse nicht zutrifft, wurde bereits ausgeführt. Da der hier zu beurteilende Abänderungsantrag seine gesetzliche Grundlage in §§ 72 ff AußStrG findet, können die Überlegungen des Kartellgerichts, ob die Zulässigkeit des Antrags aus den Besonderheiten des kartellrechtlichen Geldbußenverfahrens, aus dem systematischen Vergleich mit der Kronzeugenregelung des § 209b StPO und der Wiederaufnahme des Verfahrens nach der Strafprozessordnung oder aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz abgeleitet werden kann, dahinstehen.
[71] 5.3. Soweit die Antragsgegnerinnen auf dem Standpunkt stehen, die Effektivität des – unionsrechtlich determinierten – Kronzeugenprogramms sei bei Zulassung des vorliegenden Abänderungsantrags beeinträchtigt, überzeugt das nicht. Es kann vielmehr der Effektivität des Kronzeugenprogramms nicht dienen, Unternehmer, denen aufgrund wissentlichen Verschweigens von Kartellrechtsverstößen der Kronzeugenstatus zuerkannt wurde, vor der Verhängung angemessener Geldbußen zu schützen, wenn sich nachträglich ergibt, dass die Bundeswettbewerbsbehörde davon unverschuldet keine Kenntnis hatte. Auf die Frage, ob und inwiefern eine allfällige fahrlässig unterbliebene Offenlegung dem betroffenen Unternehmer schaden darf (vgl dazu Rittenauer, Anmerkung zu 16 Ok 5/10, Druckchemikalien, EvBl 2011/29, 3), muss im vorliegenden Verfahrensstadium nicht eingegangen werden.
6. Ergebnis
[72] Die vom Kartellgericht ausgesprochene Zurückweisung erweist sich damit als rechtsunrichtig. Die Entscheidung ist daher aufzuheben und dem Kartellgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme von dem gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen.
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