European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00204.23P.0125.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
In Ansehung der Abweisung des Feststellungsbegehrens werden die Entscheidungen der Vorinstanzen als Teilurteil bestätigt; die Entscheidung über die diesbezüglichen Verfahrenskosten bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Im Übrigen – in Ansehung des Ausspruchs, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 7.950 EUR samt 4 % Zinsen seit 7. Februar 2015 zu zahlen, sowie im Kostenpunkt – werden die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Rechtssache wird insofern zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen. Die diesbezüglichen Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
BegründungundEntscheidungsgründe:
[1] Der Kläger erwarb am 7. 2. 2015 von einem Händler in Österreich um 26.500 EUR einen am 1. 2. 2012 erstmals zum Verkehr zugelassenen Gebrauchtwagen der Marke A*, Type *, mit einem Kilometerstand von 145.610 km, den der Kläger weiterhin besitzt und benützt. In diesem Wagen ist ein 2,0 l‑Dieselmotor der – selbst Fahrzeuge der Marke V* herstellenden – Beklagten des Typs EA189 der Abgasklasse Euro 5 verbaut. Das Fahrzeug fällt unstrittig in den Anwendungsbereich der VO (EG) Nr 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. 6. 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl L 171/1 vom 29. 6. 2007; künftig: VO 715/2007/EG ).
[2] Vor dem Update war im Kraftfahrzeug eine sogenannte „Umschaltlogik“ verbaut, welche im NEFZ (Verfahren zur Ermittlung der Fahrzeugemissionen am Rollenprüfstand) in einen besonderen Modus umschaltete, in welchem die Wirksamkeit des Abgasrückführungssystems in Bezug auf NOx-Emissionen gegenüber dem normalen Fahrbetrieb verstärkt wurde.
[3] Am 26. 7. 2017 wurde ein Software-Update durchgeführt. Das Fahrzeug ist mit einem „Thermofenster“ versehen, welches außerhalb eines – in Österreich als tägliche Tiefstwerte nur selten im Jahr und als Höchstwerte nur etwa die Hälfte des Jahres vorliegenden – Temperaturbereichs von 15° C bis 33° C eine Korrektur der Abgasrückführungsrate über die Frischluftzufuhr vornimmt, wodurch ebenfalls die Wirksamkeit des Abgasrückführungssystems, das die NOx‑Emissionen mindern soll, verringert wird.
[4] Der Kläger begehrt von der Beklagten aus dem Titel des deliktischen Schadenersatzes, § 874 und § 1295 Abs 2 ABGB, den Minderwert des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs in Höhe von 7.950 EUR sA sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für jeden Schaden des Klägers aus dem Kauf des Fahrzeugs. Der Schaden liege darin, ein mit einem Mangel behaftetes Fahrzeug um 30 % überteuert erworben zu haben. Er habe darauf vertraut, ein den gesetzlichen Bestimmungen entsprechendes Fahrzeug zu erwerben. Durch das Software-Update sei der gesetzeskonforme Zustand nicht hergestellt worden, weil auch das „Thermofenster“ eine unzulässige Abschalteinrichtung sei.
[5] Die Beklagte bestritt die Ansprüche. Es lägen kein Wertverlust, kein Schaden, kein Vermögensnachteil, keine Täuschung und kein Irrtum vor; die „technische Maßnahme“ (das Software-Update) sei erfolgreich gewesen. Mit der Durchführung des Software-Updates sei ein allfälliger – bestrittener – Mangel beseitigt worden, weil das „Thermofenster“ von den zuständigen Behörden als rechtskonforme Maßnahme zum Bauteilschutz eingestuft worden sei. Der Kläger habe keinen Schaden erlitten, weil das Fahrzeug über eine aufrechte EG‑Typengenehmigung verfüge und im Straßenverkehr uneingeschränkt benutzbar sei. Das mängelfreie Fahrzeug habe dem vertraglich Geschuldeten entsprochen. Es fehlten auch der Kausalzusammenhang zwischen der behaupteten Täuschung und dem Vertragsabschluss sowie ein Verschulden der Beklagten. Der Kläger habe kein rechtliches Interesse am Feststellungsbegehren.
[6] Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren ab. Sie beurteilten die ursprüngliche „Umschaltlogik“, nicht aber das „Thermofenster“ als gemäß Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG verbotene Abschalteinrichtung. Nach der Durchführung des Software‑Updates befinde sich das Fahrzeug in dem normkonformen Zustand, dem es bereits bei Auslieferung entsprechen hätte müssen. Nach den Feststellungen habe das Software‑Update keinen Einfluss auf den Gebrauchtwagenwert gehabt.
[7] Das Berufungsgericht bewertete den Entscheidungsgegenstand als 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteigend und ließ die ordentliche Revision zur Frage zu, ob ein Schadenersatzanspruch auch dann bestehe, wenn eine Wertminderung bei Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz weggefallen sei.
[8] Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag auf Klagsstattgebung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[9] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[10] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und zum Teil im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
[11] 1.1. Nach Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, grundsätzlich unzulässig. Eine Abschalteinrichtung ist nach der Legaldefinition von Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.
[12] 1.2. Art 5 Abs 2 Satz 2 VO 715/2007/EG normiert nur drei Ausnahmetatbestände von diesem grundsätzlichen Verbot von Abschalteinrichtungen.
[13] Gemäß Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen dann nicht unzulässig, wenn die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Kraftfahrzeugs zu gewährleisten. Dabei ist eine Abschalteinrichtung nur dann „notwendig“ im Sinne von Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG , wenn zum Zeitpunkt der EG‑Typgenehmigung dieser Einrichtung oder des mit ihr ausgestatteten Fahrzeuges keine andere technische Lösung unmittelbare Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall, die beim Fahren eines Fahrzeugs eine konkrete Gefahr hervorrufen, abwenden kann (EuGH C‑145/20 , Porsche Inter Auto und Volkswagen, Rn 73; C‑128/20 , GSMB Invest, Rn 62; C‑134/20 , IR gegen Volkswagen, Rn 74; C‑873/19 , Deutsche Umwelthilfe, Rn 94 f, ÖJZ 2023/16 [Brenn]; 10 Ob 31/23s Rz 28; 2 Ob 5/23h Rz 26; 6 Ob 155/22w Rz 38 f; 10 Ob 2/23a vom 21. 2. 2023 Rz 59 f).
[14] Die Ausnahme nach Art 5 Abs 2 Satz 2 lit b VO 715/2007/EG (dass die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist) ist hier nicht einschlägig.
[15] Nach Art 5 Abs 2 Satz 2 lit c VO 715/2007/EG ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, (ausnahmsweise) nicht unzulässig, wenn „die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten sind“.
[16] 1.3. Eine Abschalteinrichtung, die unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeugs gewährleistet ist, fällt – ungeachtet des Vorliegens der in Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG normierten Voraussetzungen – nicht unter die Verbotsausnahme des Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG (vgl 10 Ob 31/23s Rz 31 mwN).
[17] Da die Ausnahme eng auszulegen ist, kann eine solche Abschalteinrichtung nur dann ausnahmsweise zulässig sein, wenn nachgewiesen ist, dass diese Einrichtung ausschließlich notwendig ist, um die durch eine Fehlfunktion eines Bauteils des Abgasrückführungssystems verursachten unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall zu vermeiden, wobei diese Risiken so schwer wiegen müssen, dass sie eine konkrete Gefahr beim Betrieb des mit dieser Einrichtung ausgestatteten Fahrzeugs bilden (vgl 10 Ob 31/23s Rz 27 f).
[18] 1.4. Grundsätzlich hat jede Partei die für ihren Rechtsstandpunkt günstigen Tatsachen zu behaupten und zu beweisen (RS0106638; RS0037797). Soweit sich die Beklagte auf eine Ausnahme vom Verbot des Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG stützen will, läge es daher an ihr, die für die Verbotsausnahme erforderlichen Voraussetzungen zu behaupten und zu beweisen (6 Ob 155/22w Rz 66; 1 Ob 149/22a Rz 46; 10 Ob 31/23s Rz 25).
[19] 2.1. Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass die auch beim gegenständlichen Fahrzeug zum Übergabezeitpunkt vorhandene „Umschaltlogik“ jedenfalls als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art 3 Z 10 und Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG zu qualifizieren ist (10 Ob 2/23a vom 21. 2. 2023 Rz 47 uva).
[20] 2.2. Darüber hinaus wurde auch ein im Kern denselben Temperaturbereich wie im vorliegenden Fall umfassendes „Thermofenster“ als Abschalteinrichtung im Sinne von Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG qualifiziert, die nicht nach dem – von der Beklagten in erster Instanz ins Treffen geführten – Ausnahmetatbestand des Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG zulässig ist (10 Ob 2/23a vom 21. 2. 2023 Rz 55 ff; 10 Ob 16/23k Rz 23 f).
[21] 2.3. Hier steht fest, dass unter den in Österreich herrschenden klimatischen Wetter- und Temperaturbedingungen bezogen auf einen täglichen Tiefstwert von 15° C nur selten im Jahr und bezogen auf einen täglichen Höchstwert von 33° C etwa die Hälfte des Jahres keine Reduktion der Abgasrückführung aktiv ist. Damit kann nicht – dem Regel-Ausnahme-Verhältnis entsprechend – davon ausgegangen werden, dass im überwiegenden Teil des Jahres keine Reduktion der Abgasrückführung stattfände.Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen ist somit zufolge des gebotenen engen Verständnisses der unionsrechtlichen Ausnahmeregelungen und dem Umstand, dass der Beklagten der ihr obliegende Beweis nicht gelungen ist, dass die Abschalteinrichtung nicht im überwiegenden Teil des Jahres ausschließlich deshalb funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt ist, auch das „Thermofenster“ als unzulässige Abschalteinrichtung zu qualifizieren.
[22] 3.1. Infolge der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C‑100/21 , QB gegen Mercedes-Benz Group AG, wurde weiters klargestellt, dass der Schutzzweck von (unter anderem) Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG auch die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs umfasst (10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 Rz 10 ff; 10 Ob 16/23k Rz 25 ff). Ein Verstoß gegen Art 5 VO 715/2007/EG kann den Hersteller daher auch dann ersatzpflichtig machen, wenn er in keinem Vertragsverhältnis mit dem Käufer steht (10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 Rz 18; 10 Ob 16/23k Rz 33).
[23] 3.2. Ein Schaden, der darin besteht, dass die Nutzungsmöglichkeit des Fahrzeugs eingeschränkt ist und sich das Vermögen des Erwerbers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs infolge einer unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung nicht entsprechend den objektiv berechtigten Verkehrserwartungen oder einem von diesen Verkehrserwartungen konkret abweichenden Willen des Erwerbers zusammensetzt (vgl 10 Ob 16/23k Rz 25; 10 Ob 27/23b Rz 15), steht im Rechtswidrigkeitszusammenhang mit den Schutzgesetzen der Art 18 Abs 1, Art 26 Abs 1, Art 46 „Rahmen‑RL“ 2007/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. 9. 2007 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge (künftig: RL 2007/46/EG ) in Verbindung mit Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG (10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 Rz 29; RS0031143 [T39] = RS0008775 [T21]).
[24] 4. Zur Frage der Verletzung der soeben erörterten Schutzgesetze hat jüngst der Senat in Übereinstimmung mit anderen Senaten des Obersten Gerichtshofs bereits ausführlich Stellung genommen (4 Ob 150/22w Rz 21 ff; vgl 10 Ob 31/23s Rz 48; 6 Ob 161/22b; vgl auch 4 Ob 178/23i):
[25] 4.1. Der EuGH hat in der Entscheidung C‑100/21 , QB gegen Mercedes-Benz Group AG, den Schutz der Einzelinteressen des Käufers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Kraftfahrzeugs gegenüber dem Hersteller des Fahrzeugs bejaht.
[26] „Hersteller“ ist nach der Legaldefinition von Art 3 Z 27 RL 2007/46/EG die Person oder Stelle, die gegenüber der Typengenehmigungsbehörde für alle Belange des Typengenehmigungs- oder Autorisierungsverfahrens sowie für die Sicherstellung der Übereinstimmung der Produktion verantwortlich ist; diese Person oder Stelle muss nicht notwendigerweise an allen Stufen der Herstellung des Fahrzeugs, des Systems, des Bauteils oder der selbständigen technischen Einheit, das bzw die Gegenstand des Genehmigungsverfahrens ist, unmittelbar beteiligt sein.
[27] „Übereinstimmungsbescheinigung“ ist nach Art 3 Z 36 RL 2007/46/EG das in Anhang IX wiedergegebene, vom Hersteller ausgestellte Dokument, mit dem bescheinigt wird, dass ein Fahrzeug aus der Baureihe eines nach dieser Richtlinie genehmigten Typs zum Zeitpunkt seiner Herstellung allen Rechtsakten entspreche (vgl die korrespondierende Bestimmung in Anhang IX Abschnitt 0 RL 2007/46/EG ).
[28] Nach Art 18 Abs 1 RL 2007/46/EG hat der Hersteller „in seiner Eigenschaft als Inhaber der EG‑Typengenehmigung“ jedem Fahrzeug, das in Übereinstimmung mit dem genehmigten Typ hergestellt worden ist, eine Übereinstimmungsbescheinigung beizulegen. Diese ist nach Art 26 Abs 1 RL 2007/46/EG für die Zulassung, den Verkauf oder die Inbetriebnahme von Fahrzeugen zwingend vorgeschrieben.
[29] 4.2. Der EuGH leitet den Schutz von Einzelinteressen des individuellen Käufers durch Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG maßgeblich aus den genannten Vorschriften über die Übereinstimmungsbescheinigung ab, weil ein Käufer aus dem Inhalt der Übereinstimmungsbescheinigung vernünftiger Weise erwarten könne, dass die unionsrechtlichen Vorschriften bei diesen Fahrzeugen eingehalten würden (C‑100/21 , QB gegen Mercedes-Benz Group AG, Rn 78–81).
[30] Da der Hersteller eines Fahrzeugs bei der Aushändigung der Übereinstimmungsbescheinigung an den individuellen Käufer des Fahrzeugs für die Zulassung, den Verkauf oder die Inbetriebnahme dieses Fahrzeugs die sich aus Art 5 VO 715/2007/EG ergebenden Anforderungen beachten muss, ermöglicht diese Bescheinigung insbesondere, den Käufer davor zu schützen, dass der Hersteller seine Pflicht nicht einhält, im Einklang mit dieser Bestimmung stehende Fahrzeuge auf den Markt zu bringen (C‑100/21 , QB gegen Mercedes-Benz Group AG, Rn 82).
[31] 4.3. Daraus folgt, dass ein individueller Fahrzeugkäufer nur die Person oder Stelle für einen deliktischen Schadenersatzanspruch aus der (bloß schuldhaften) Verletzung des als Schutzgesetz zu qualifizierenden Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG in Anspruch nehmen kann, die im Typengenehmigungsverfahren als Herstellerin des Fahrzeugs aufgetreten ist und die Übereinstimmungsbescheinigung ausgestellt hat (vgl 3 Ob 40/23p Rz 32 ff; vgl auch BGH VIa ZR 1119/22).
[32] 5. Diese rechtlichen Überlegungen gelten auch hier:
[33] 5.1. Der vom Kläger selbst vorgelegte und von der Beklagten nicht substanziiert bestrittene Datenauszug (Blg ./W) weist nicht die Beklagte, sondern eine andere Gesellschaft, die A* AG, als Herstellerin des gegenständlichen Fahrzeugs aus.
[34] 5.2. Da demnach davon auszugehen ist, dass die Beklagte nicht Fahrzeugherstellerin im oben dargelegten Sinne ist, kann der Kläger seinen Schadenersatzanspruch gegen die Beklagte nicht auf Schutzgesetzverletzung stützen (vgl 10 Ob 31/23s Rz 48 f mit derselben Sachlage [Beklagte ebenfalls wegen des gleichen Autotyps A* in Anspruch genommen]).
[35] 6. Der Kläger hat seine Ansprüche auch auf § 874 ABGB und eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung nach § 1295 Abs 2 ABGB gestützt.
[36] 6.1. Ebenso wie in den jeweiligen erstinstanzlichen Verfahren zu 6 Ob 161/22b und 4 Ob 150/22w brachte der Kläger hier dazu vor, die Beklagte hafte als nicht am Vertrag beteiligte Dritte, weil sie die vorsätzlich vorgenommenen Manipulationen am Fahrzeug vorsätzlich verschwiegen und in der Werbung, in den Verkaufsunterlagen und durch den Verkäufer bewusst unrichtige Angaben gemacht habe, um sich Vorteile, nämlich den gesteigerten Absatz ihrer Fahrzeuge, zu verschaffen. Die (namentlich genannten) Leiter der Aggregate‑Entwicklung der Beklagten hätten bewusst die Entscheidung getroffen, die Abschalteinrichtung zu verbauen. Diese Personen sowie der (ebenfalls namentlich genannte) Leiter der Motorenentwicklung der Beklagten hätten bei der Entwicklung des streitgegenständlichen Motors führende Rollen eingenommen und seien der Beklagten als Repräsentanten zuzurechnen (hier ON 5).
[37] 6.2. Die Beklagte hielt dem entgegen, sie habe mit dem Verkauf des Fahrzeugs nichts zu tun gehabt; es träfen sie keine Aufklärungspflichten gegenüber dem Kläger.
[38] 7. Zu diesen Aspekten hat der Oberste Gerichtshof zusammengefasst bereits das Folgende festgehalten (6 Ob 161/22b; 4 Ob 150/22w Rz 36 ff; 10 Ob 31/23s Rz 50 ff):
[39] 7.1. Die Schadenersatzpflicht nach § 874 ABGB greift auch dann Platz, wenn die arglistige Irreführung nicht durch den Vertragspartner, sondern durch einen Dritten erfolgt ist (RS0016298; 6 Ob 186/21b Rz 60).
[40] 7.2. List im Sinne des § 870 ABGB ist rechtswidrige, vorsätzliche Täuschung (RS0014821), wobei dolus eventualis ausreicht (6 Ob 186/21b Rz 62; 6 Ob 244/17a; RS0014837). Das Verhalten des Täuschenden und damit der Irrtum muss für den Vertragsabschluss kausal sein (RS0014790; RS0014821 [T3]): Der Vertragsschließende wird durch die Vorspiegelung falscher Tatsachen in Irrtum geführt oder durch Unterdrückung wahrer Tatsachen in seinem Irrtum belassen oder bestärkt und dadurch zum Vertragsabschluss bestimmt (6 Ob 186/21b Rz 62; RS0014827 [T4, T5]).
[41] 7.3. Nach § 1295 Abs 2 ABGB ist schadenersatzpflichtig, wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise absichtlich Schaden zufügt. Auch dafür genügt bedingter Vorsatz (6 Ob 61/21w Rz 37; RS0026603).
8. Auch hier folgt daraus:
[42] 8.1. Der Kläger hat konkretes Vorbringen zu einem solchen der Beklagten zuzurechnenden arglistigen und sittenwidrigen Verhalten, nämlich der Entwicklung eines – offenkundig für den Markt bestimmten – „manipulierten“ Motors mit verbotener Abschalteinrichtung erstattet.
[43] Darin kann eine für den Vertragsabschluss des Fahrzeugkäufers kausale Täuschung liegen, wenn dieser das Fahrzeug sonst nicht erworben hätte (vgl 6 Ob 158/22m Rz 51 ff; 3 Ob 40/23p).
[44] 8.2. Ausgehend von der unrichtigen Rechtsansicht, dass sich das Fahrzeug nach der Durchführung des Software‑Updates trotz des Vorhandenseins des „Thermofensters“ in einem normkonformen Zustand befinde, wiesen die Vorinstanzen die Klage ab.
[45] 8.3. Die Rechtssache ist jedoch noch nicht entscheidungsreif, weil keine Feststellungen über ein listiges oder sittenwidriges Handeln der (Vertreter der) Beklagten getroffen wurden, die eine Beurteilung des Klagebegehrens auf den Anspruchsgrundlagen des § 874 und § 1295 Abs 2 ABGB zuließen. Es liegen auch keine konkret auf den Kläger bezogenen Feststellungen zur Motivenlage des Klägers vor, insbesondere ob das objektiven Verkehrserwartungen allenfalls nicht genügende Fahrzeug dennoch konkret seinem Willen entsprach (vgl 10 Ob 16/23k Rz 38 ff [insb Rz 42 ff]).
[46] 8.4. Zur Frage der Schadenshöhe ist im fortgesetzten Verfahren folgende Rechtslage zu beachten, mit den Parteien zu erörtern und die Sache aufgrund ergänzter Feststellungen neu zu beurteilen:
[47] 8.4.1. Bereits zu 10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 Rz 36 wurde dargelegt, dass, wenn durch das angebotene Software‑Update zwar der „Umschaltmodus“ beseitigt wird, aber infolge eines „Thermofensters“ eine unzulässige Abschalteinrichtung weiter aktiv ist, dies nicht zur Beseitigung der Unsicherheit hinsichtlich der Nutzungsmöglichkeit und des ungewollten Zustands des Vermögens des Käufers (einem Fahrzeug, bei dem die zulassungsrechtlichen Vorschriften nicht eingehalten werden) führt. Dem haben sich in der Folge bereits andere Senate des Obersten Gerichtshofs angeschlossen (9 Ob 33/23b Rz 27; 6 Ob 150/22k Rz 44): Wenn ein Software‑Update nur zum Austausch einer unzulässigen Abschalteinrichtung durch eine andere unzulässige Abschalteinrichtung führte, liegt auch nach der „Verbesserung“ durch das Software‑Update weiterhin ein Sachmangel in Form einer unzulässigen Abschalteinrichtung vor (RS0018722 [T3]).
[48] 8.4.2. In der Folge hat der Oberste Gerichtshof zu 10 Ob 31/23s (Rz 51 mwN) bereits darauf hingewiesen, dass die Schadenersatzpflicht nach § 874 ABGB auch dann Platz greift, wenn die arglistige Irreführung nicht durch den Vertragspartner, sondern durch einen Dritten erfolgt ist. Hält der Getäuschte am Vertrag fest, ist der Schaden gemäß § 874 ABGB aufgrund der relativen Berechnungsmethode zu ermitteln. Auch bei arglistiger Irreführung durch Dritte wird somit nach ständiger Rechtsprechung schadenersatzrechtlich ein Ergebnis erzielt, das dem einer Vertragsanpassung gleichkommt. Demnach ist zu fragen, welcher Vermögensstand vorhanden wäre, wenn der Vertrag mit entsprechendem Inhalt zustande gekommen wäre. Auch wenn feststeht, dass ein Fahrzeugkäufer bei ordnungsgemäßer Aufklärung das Fahrzeug nicht erworben hätte, kann er somit durch die Veranlassung der Leistung eines überhöhten Kaufpreises am Vermögen geschädigt worden sein.
[49] Der 2. Senat ist dem jüngst gefolgt und teilte die Auffassung, dass in einem Fall wie hier – in dem nicht der Fahrzeughersteller aufgrund einer Verletzung von Schutzgesetzen, sondern nach § 874 und § 1295 Abs 2 ABGB in Anspruch genommen wird – die Berechnung des Schadens nach der relativen Berechnungsmethode zu erfolgen hat (2 Ob 139/23i Pkt 3.2.2).
[50] 8.4.3. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an. Das Erstgericht wird den Schaden allgemeinen Regeln gemäß nach der relativen Berechnungsmethode zu ermitteln haben (RS0107864; RS0014750; 3 Ob 236/01d).
[51] Daraus ergibt sich auch, dass die von der Rechtsprechung für Haftung bei Schutzgesetzverletzungen entwickelte, aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben von der innerstaatlichen Systematik abweichende Methodik der Schadensberechnung (im Sinne des § 273 Abs 1 ZPO nach freier Überzeugung – selbst mit Übergehung eines von der Partei angebotenen [etwa: Sachverständigen‑]Beweises – innerhalb einer Bandbreite von 5 % und 15 % des gezahlten und dem Wert des Fahrzeugs angemessenen Kaufpreises: RS0134498; vgl auch 8 Ob 70/23m Rz 26 mwH) in einer Fallkonstellation wie hier nicht zur Anwendung kommt.
[52] 8.4.4. Aus der von der Beklagten ins Treffen geführten Entscheidung 9 Ob 33/22a ist für sie hier nichts zu gewinnen, weil sich dort der Schaden nicht beim dortigen Kläger realisiert hatte, sondern bei einem nicht am Verfahren beteiligten Dritten, dem jener das Fahrzeug bereits um einen ohne wegen der Abschalteinrichtung geminderten Preis verkauft hatte.
[53] 8.5. Insgesamt ist in Ansehung des Zahlungsbegehrens die Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen und die Zurückverweisung der Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht erforderlich.
[54] 10. Das Feststellungsbegehren wurde hingegen im Ergebnis zu Recht abgewiesen:
[55] Der Kläger stützt dessen Berechtigung im Revisionsverfahren nur noch auf einen in der Zukunft möglichen (weiteren) Vermögensschaden aufgrund des drohenden Entzugs der Zulassung.
[56] Dazu ist aber – wie die Beklagte in ihrer Revisionsbeantwortung zutreffend aufzeigt – in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung bereits geklärt (10 Ob 27/23b Rz 43 f; 8 Ob 90/22a Rz 28 f; 8 Ob 70/23m Rz 28 ff), dass Folgeschäden im Bereich des Abgasrückführungssystems die Gültigkeit der EG‑Typengenehmigung oder der Übereinstimmungsbescheinigung nicht in Frage stellen. Sie bringen keine Unsicherheit hinsichtlich der Möglichkeit der Fahrzeugnutzung mit sich und sind somit nicht vom Schutzzweck der hier gegenständlichen unionsrechtlichen Schutzgesetze erfasst. Das theoretische Risiko eines Zulassungsentzugs fließt bereits in die Bemessung des Schadenersatzes ein. Dadurch wird letztlich jener Zustand hergestellt, der bei Kenntnis vom Bestehen einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses vorliegen würde. Aufgrund der Entscheidung des Erwerbers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs, es in seinem Vermögen zu behalten und nicht die nach österreichischem Recht mögliche Zug-um-Zug-Abwicklung zu wählen, sondern den Ersatz des Minderwerts zu begehren, geht er das Risiko des Zulassungsentzugs vielmehr bewusst ein. Der Umstand, dass sich dieses Risiko in weiterer Folge verwirklicht, ist daher nicht zusätzlich zum dadurch geminderten Wert des Fahrzeugs bei Vertragsabschluss ersatzfähig (vgl 10 Ob 31/23s Rz 71 f).
[57] Die Abweisung des Feststellungsbegehrens war daher – als Teilurteil – zu bestätigen.
[58] 11. Der Kostenvorbehalt beruht hinsichtlich des Teilurteils auf § 52 Abs 4 ZPO und im Übrigen auf § 52 Abs 1 letzter Satz ZPO.
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