European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00155.22W.0830.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
I. Das mit Beschluss vom 14. 3. 2022, 6 Ob 174/21p, unterbrochene Verfahren wird fortgesetzt.
Der Schriftsatz der klagenden Partei vom 18. 7. 2022 und der Fortsetzungsantrag der Klägerins, soweit er weitere Ausführungen enthält, werden zurückgewiesen.
II. Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
Zu I.:
[1] Mit Beschluss vom 14. 3. 2022, 6 Ob 174/21p, wurde das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über den vom Obersten Gerichtshof am 17. 3. 2020 zu 10 Ob 44/19x gestellten Antrag auf Vorabentscheidung unterbrochen. Der EuGH hat darüber mit Urteil vom 14. 7. 2022 entschieden. Das Verfahren über die Revision des Klägers ist daher fortzusetzen.
[2] Die „Bekanntgabe“ des Klägers vom 18. 7. 2022 und die im Fortsetzungsantrag über diesen hinaus enthaltenen weiteren Ausführungen (Anregung zum Auftrag eines Schriftsatzwechsels) verstoßen gegen den Grundsatz der Einmaligkeit des Rechtsmittels (RS0041666).
Zu II.:
[3] Die Klägerin kaufte am 9. 7. 2017 einen am 26. 4. 2016 erstmals zugelassenen Audi A6 Avant 3,0 TDI, 160 kW, um 48.000 EUR von einem dritten Verkäufer. In diesem Fahrzeug ist ein Dieselmotor mit der Motorkennung EA897evo mit der Motortype CZV verbaut. Unstrittig ist, dass das Fahrzeug der Abgasnorm EU6 unterliegt.
[4] Das deutsche Kraftfahrt-Bundesamt (künftig: KBA) stellte beim Motortyp CZV bislang keine unzulässige Abschalteinrichtung fest. Der Motortyp CZV, also der 160 kW EA897evo‑Motor, scheint in der Liste der vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeuge nicht auf. Die KBA‑Liste zeigt durchaus Audi A6‑Modelle (zumeist allerdings mit höherer Leistung) auf, bei denen das KBA zumindest eine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt hat, so etwa solche mit der Motorkennung „CQOB“ mit 230 kW, mit der Motorkennung „CKV“ mit 180 kW und mit der Motorkennung „CRT“ mit 155, 160 und 200 kW. Für das Fahrzeug der Klägerin gab es weder eine Rückrufaktion noch eine Aufforderung zur Durchführung eines Updates.
[5] Die Klägerin begehrt die Zahlung von 36.665 EUR an gezahltem Kaufpreis abzüglich eines Benützungsentgelts samt 4 % Zinsen ab Klagezustellung Zug um Zug gegen „Rückgabe“ des Fahrzeugs. Hilfsweise begehrt sie die Zahlung von 14.000 EUR samt Zinsen und die Feststellung der Haftung der Beklagten für jeden Schaden, der der Klägerin „aus dem Kauf“ des Fahrzeugs „und dem darin verbauten Dieselmotor“ zukünftig entstehe.
[6] Sie stützt ihre Ansprüche – soweit noch Gegenstand des Revisionsverfahrens – auf Schadenersatz aus arglistiger Irreführung (§ 874 ABGB) sowie gemäß § 1295 Abs 2 ABGB und eine in der Übereinstimmungsbescheinigung bzw dem Datenauszug zu erblickende Garantie. Der gegenständliche Motortyp sei vom „Abgasmanipulations-skandal“ betroffen und daher vom KBA und der Typengenehmigungsbehörde in Luxemburg zurückgerufen worden. Bei den Fahrzeugen der Abgasnorm EU6 werde der Ausstoß von Stickoxiden (Nox) zusätzlich durch einen SCR‑Katalysator, die sogenannte AdBlue‑Einspritzung, geregelt. Je mehr AdBlue eingespritzt werde, desto geringer sei der Nox‑Ausstoß. Bei ordnungsgemäßer Funktion der Abgasreinigung wären um 45 bis 80 % größere AdBlue‑Tanks (SCR‑Tanks) als tatsächlich verbaut erforderlich gewesen. Um den Verbrauch von AdBlue auf einen Liter pro 1.000 gefahrenen Kilometern zu begrenzen, hätten fünf deutsche Automobilhersteller, darunter die Beklagte, zwei Betriebsmodi entwickelt, die durch unzulässige Abschalteinrichtungen aktiviert würden. Im Prüfstandsmodus sei der „Speichermodus“ aktiviert, der eine hohe Effizienz in der Reduktion von Stickoxiden aufweise, außerhalb des Prüfstands der „Online-Modus“ mit geringerer Effizienz in der NOx‑Reduktion. Die der Beklagten zuzurechnenden leitenden Angestellten der Motoren- und Aggregate-Entwicklung hätten von der Entwicklung und Implementierung unzulässiger Abschalteinrichtungen gewusst.
[7] Entsprechend dem Bescheid des KBA seien beim streitgegenständlichen Fahrzeug vier unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut:
[8] Strategie A: Diese stelle eine Aufwärmstrategie dar, die über Erkennung einer Vielzahl von Parametern eine Funktion lediglich im NEFZ (Neuer Europäischer Fahrzyklus) gewährleiste, sodass jedenfalls die Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben vorgetäuscht werde; im normalen Fahrbetrieb sei es nahezu ausgeschlossen, dass diese aktiviert werde.
[9] Strategie B: Dieser Softwarealgorythmus erkenne die Vorkonditionierung eines Fahrzeugs zur Durchführung der Typ 1‑Prüfung und sorge für einen ausreichend hohen Füllstand im SCR, sodass die NOx‑Grenzwerte zumindest im NEFZ eingehalten würden.
[10] Strategie C: Diese Softwarefunktion stelle sicher, dass die unter Strategie A erklärte Funktion unter normalen Betriebsbedingungen nicht mehr ermöglicht werde.
[11] Strategie D: Diese Softwarefunktion stelle unter Anwendung zweier Betriebsarten (Speichermodus und Online-Modus) sicher, dass die Einspritzung des Reagens (AdBlue) ausreichend, jedoch unzulässig gering sei. Indikatoren für die Reduzierung der Einspritzung seien die Fahrgeschwindigkeit und die Außentemperatur. Damit werde gewährleistet, dass die unterdimensionierten AdBlue‑Tanks ausreichten.
[12] Daraus folge, dass nur im Prüfstandsbetrieb die abgasmindernden Einrichtungen voll funktionsfähig seien, weil nur für diesen Betrieb eine hohe Abgasrückführrate programmiert worden sei und die erforderliche Menge AdBlue eingespritzt werde, wodurch die Erfüllung der Nox‑Grenzwerte erreicht werde. Außerhalb des Prüfstands würden sowohl die Abgasrückführrate als auch die AdBlue‑Einspritzung erheblich reduziert.
[13] Darüber hinaus sei die Abgasrückführung nur im Temperaturbereich von 17 bis 33 Grad Celsius voll funktionsfähig; auch die AdBlue‑Einspritzung werde außerhalb dieses Temperaturbereichs und bei Geschwindigkeiten über 120 km/h unzulässig reduziert bzw abgeschalten.
[14] Darin liege ein Verstoß gegen die Verpflichtungen, gemäß Art 5 Abs 1 VO 715/2007/EG die Grenzwerte im „praktischen Betrieb“ einzuhalten, zu gewährleisten, dass die Abgasreinigung nur in Ausnahmefällen abgeschalten werde (Art 5 Abs 1 und 2 VO 715/2007/EG ), die Temperatur für die Funktionsweise der Nox‑Nachbehandlung nach einem Kaltstart von ‑7 Grad Celsius innerhalb von 400 Sekunden zu gewährleisten (Art 3 Z 9 VO 692/2008/EG ) und weiters zu gewährleisten, dass das Emissionsminderungssystem unter allen auf dem Gebiet der Europäischen Union regelmäßig anzutreffenden Umgebungsbedingungen und insbesondere bei niedrigen Umgebungstemperaturen seine Emissionsminderungsfunktion erfülle (Anhang XVI Z 10 VO 692/2008/EG ).
[15] Die Klägerin habe davon ausgehen dürfen, dass die Typengenehmigung nicht durch unzulässige Abschalteinrichtungen erschlichen worden sei. Hätte sie gewusst, dass das Fahrzeug manipuliert worden sei, deshalb repariert werden müsse und die versprochenen Eigenschaften nicht für die Lebensdauer des Fahrzeugs gewährleistet werden könnten, hätte sie das Fahrzeug nicht erworben. Die Beklagte habe zum Zweck der Absatzsteigerung bewusst unrichtige Informationen verbreitet. Der Schaden liege im Erwerb eines Fahrzeugs, das nicht den gesetzlichen Bestimmungen entspreche.
[16] Weiters erstattete die Klägerin Vorbringen zu einem allfälligen, ihr aber schon nach ihrem eigenen Vorbringen nicht tatsächlich angebotenen oder angeordneten, sondern von ihr offenbar erwarteten Software-Update. Sie bringt vor, die Frage der Verbesserung sei zwar irrelevant, weil die Beklagte auf dem Standpunkt stehe, dass gar keine unzulässige Abschalteinrichtung vorliege. Es sei aber notorisch, dass ein (allfälliges) Software-Update akzeptiert werden müsse, um nicht die Zulassung zu verlieren. Auch nach einem solchen Update bleibe der Minderwert des Fahrzeugs bestehen, funktioniere die Abgasrückführung doch nur in einem (durch das Software-Update geringfügig erweiterten) Temperaturfenster, das nicht den normalen Betriebsbedingungen entspreche, weil im deutschsprachigen Raum Umgebungstemperaturen von unter 17 Grad Celsius üblich seien, und würden die Grenzwerte im realen Fahrbetrieb überschritten. Die Beklagte könne sich (zusammengefasst) nicht auf die Motorschutzausnahme nach Art 5 Abs 2 lit a VO 715/2007/EG stützen, dies unabhängig von der Genehmigung eines allfälligen Software-Updates durch die Typengenehmigungsbehörde. Zudem sei eine Verbesserung durch die Beklagte aus in ihrer Person liegenden Gründen unzumutbar. Durch die Software-Updates entstünden zudem neue Unzukömmlichkeiten.
[17] Zum Eventualbegehren brachte die Klägerin vor, das Fahrzeug weise einen Minderwert von 30 % auf, weil es nie zulassungsfähig gewesen sei. Das Feststellungsbegehren sei berechtigt, weil ein erhöhter Verschleiß im Bereich des Abgassystems nicht ausgeschlossen sei.
[18] Die Beklagte bestritt die Ansprüche. Der gegenständliche Motor sei nicht mit der bei Motoren des Typs EA189 (EU5) vorhandenen „Umschaltlogik“ ausgestattet gewesen und unterliege keinem behördlichen Rückruf wegen seines Emissionsverhaltens. Der vorgelegte Bescheid ./K beziehe sich nicht auf das gegenständliche Fahrzeug mit einer Leistung von 160 kW und den Motorkennbuchstaben „CZV“. Das Fahrzeug verfüge auch nicht über eine unzulässige Abschalteinrichtung. Die Beklagte habe die Klägerin nicht sittenwidrig geschädigt oder getäuscht. Sie habe keinen Schaden kausal verursacht; es liege auch kein Schaden vor. Das Fahrzeug sei uneingeschränkt nutzbar. Bei dem von der Klägerin angeführten „Thermofenster“ handle es sich nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung iSd Art 5 VO 715/2007/EG . Die Abgasrückführung müsse vielmehr bei niedrigen Temperaturen zum Schutz der Bauteile des AGR‑Systems zurückgefahren werden. Ansonsten könnte eine Versottung entstehen, die zu einem Verklemmen des AGR‑Ventils und einer Beeinträchtigung des Leistungsverhaltens des Motors führe. Daher sei die Verbotsausnahme des Art 5 Abs 2 lit a VO 715/2007/EG erfüllt. Schließlich komme es nicht auf die Einhaltung der Grenzwerte im Realbetrieb, sondern nur im NEFZ an. Ein „Thermofenster“ liege nur im Zusammenhang mit der Abgasrückführung, nicht im Zusammenhang mit der AdBlue‑Einspritzung vor; allerdings werde bestritten, dass die volle Abgasrückführung nur zwischen 17 und 33 Grad Celsius gegeben sei. Welcher Temperaturbereich vom zugestandenen „Thermofenster“ umfasst ist, brachte die Beklagte nicht vor.
[19] Eine Täuschung oder sittenwidrige Schädigung könne weder aus einem Rückruf – der nicht stattgefunden habe – noch aus der Verwendung des „Thermofensters“ abgeleitet werden. Es fehle an der Sittenwidrigkeit, dem Schaden, der Kausalität und dem Verschulden. Die Beklagte sei zum Zeitpunkt des In-Verkehr-Bringens ebenso wie die zuständige Fachbehörde, das KBA, davon ausgegangen, dass „das Fahrzeug rechtlich zulässig“ sei. Eine Rückabwicklung könne nicht gegenüber der Beklagten vorgenommen werden. Für das hilfsweise erhobene Feststellungsbegehren fehle das Feststellungsinteresse.
[20] Das Erstgericht wies das Haupt- und die Eventualbegehren ab.
[21] Über den eingangs vorangestellten Sachverhalt hinaus traf es folgende Feststellungen:
„Das KBA ist für die Typengenehmigung verantwortlich, wenngleich dieser Fahrzeugtyp offenbar speziell auch in Luxemburg typengenehmigt worden sein kann. Das KBA hat sich allerdings sämtlicher Modelle des *-, [Beklagte]- und *konzerns angenommen und diese Motoren entsprechend überprüft, wobei es mehrere Überprüfungsschritte gegeben hat; und zwar den ersten nach Bekanntwerden des Abgasskandals und dann weitere Feldversuche, um sicherzustellen, dass es keine entsprechenden oft gesetzwidrigen Abschalteinrichtungen gibt. Nach Meinung des KBA sind eigene Prüfstandserkennungen, um Grenzwerte einzuhalten oder um das Emissionsverhalten im realen Fahrbetrieb gegenüber dem Prüfstandsbetrieb zu ändern, [so]dass es weniger wirksam ist, unzulässig.
[22] Betreffend Thermofenster ist auszuführen, dass diese in technischen Systemen, in denen Energie- und Stoffumwandlungsprozesse stattfinden, notwendig bzw physikalisch vorgegeben sind. Thermofenster sind Stand der Technik. Wird der Temperaturbereich des Thermofensters verlassen, finden im Motor Vorgänge statt, die einzelne Bauteile und in weiterer Folge den ganzen Motor beschädigen können. Ohne temperaturabhängige Parametrierung des AGR‑Systems ist kein sicherer und emissionskonformer Betrieb über die gesetzlich geforderte Nutzungsdauer von emissionsmindernden Bauteilen möglich. Das Thermofenster schützt vor allzu großer Versottung und Verlackung, das heißt durch das Thermofenster wird zB die Lebensdauer des AGR‑Ventils verlängert. Das Thermofenster spielt im Zusammenspiel mit der Abgasrückführung eine zentrale Rolle, was den Verschleiß dieser Bauteile anlangt. Aus Kfz-technischer Sicht ist das Thermofenster ein Bauteil- und Motorschutz. Wie das Thermofenster beim Klagsfahrzeug exakt gestaltet ist, kann nicht festgestellt werden.“
[23] Rechtlich erörterte das Erstgericht, das Fahrzeug enthalte keine unzulässige Abschalteinrichtung. Zudem sei das „Thermofenster“ zum Motorschutz erforderlich. Es lägen keine Manipulation und kein sittenwidriges Verhalten der Beklagten vor.
[24] Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge und ließ die Revision nicht zu, weil angesichts der Feststellungen nur Umstände des Einzelfalls entscheidungswesentlich seien.
[25] Es ließ die Beweisrüge hinsichtlich der Feststellung, ohne temperaturabhängige Parametrierung des AGR‑Systems sei kein sicherer und emissionskonformer Betrieb über die gesetzlich geforderte Nutzungsdauer von emissionsmindernden Bauteilen möglich, mangels Relevanz unerledigt.
[26] Rechtlich führte es aus, es lägen keine sekundären Feststellungsmängel zu den behaupteten Abgasstrategien A bis D vor, weil die Strategien A bis C nicht vorlägen und die Strategie D keine unzulässige Abschalteinrichtung iSd VO 715/2007/EG samt Durchführungsverordnungen sei. Da das Fahrzeug vom Abgasskandal nicht betroffen und kein behördlicher Rückruf ergangen sei, liege kein Geschäftsirrtum der Klägerin vor. Darauf, ob die Klägerin das Fahrzeug „in Kenntnis der unzulässigen Abschalteinrichtung und de[s] damit verbundenen nicht typengenehmigungsfähigen Zustand[s]“ gekauft hätte, komme es daher nicht an.
[27] Für die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte sei der Prüfzyklus, nicht der normale Fahrbetrieb relevant, sodass aus der Überschreitung der Grenzwerte im normalen Straßenbetrieb kein Mangel abgeleitet werden könne.
[28] Die Programmierung eines „Thermofensters“ sei erst dann ein sittenwidriger Rechtsverstoß, wenn die handelnden Personen das Bewusstsein gehabt hätten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden und den Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen hätten. Das sei hier nicht der Fall. Aus dem behaupteten Kartell betreffend die Größe der AdBlue‑Tanks könne das Bewusstsein der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung nicht abgeleitet werden. Eine unzulässige Abschalteinrichtung sei zudem nicht festgestellt.
[29] Eine auf die Verletzung eines Schutzgesetzes gestützte Haftung scheide aus, weil die VO 715/2007/EG vermögensrechtliche Dispositionen im Vertrauen auf die Erfüllung der vorgeschriebenen Emissionsgrenzwerte nicht schütze.
[30] Da weder eine verbotene Abschalteinrichtung noch eine Manipulation festgestellt seien, müssten keine Überlegungen zu einem Geschäftsirrtum angestellt werden.
Rechtliche Beurteilung
[31] Die Revision der Klägerin ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt, weil der festgestellte Sachverhalt zur Beurteilung der Rechtssache nicht ausreicht.
Zu den Grundlagen des geltend gemachten Schadenersatzanspruchs
[32] 1.1. Im Verfahren war nicht strittig, dass das Fahrzeug in den Anwendungsbereich der VO (EG) Nr 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl L 171/1 vom 29. 6. 2007; künftig: VO 715/2007/EG ) fällt.
[33] 1.2. Die Klägerin wirft der Beklagten zusammengefasst vor, im Fahrzeug unzulässige Abschalteinrichtungen implementiert zu haben, die einerseits einen in mehreren Ausprägungen ausgestalteten Prüfstandsbetrieb, der erst die Einhaltung der vorgeschriebenen Grenzwerte ermögliche, anderseits ein „Thermofenster“ beinhalte.
[34] 2.1. Eine Abschalteinrichtung ist nach der Legaldefinition des Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.
[35] 2.2. Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG normiert ein grundsätzliches, von Ausnahmen durchbrochenes Verbot von Abschalteinrichtungen. Nach Art 5 Abs 2 Satz 1 VO 715/2007/EG ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissions-kontrollsystemen verringern, unzulässig. Von diesem Verbot normiert Art 5 Abs 2 Satz 2 drei Ausnahmen. Die Beklagte nimmt für sich die Ausnahmebestimmung des Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG in Anspruch. Danach muss die Abschalteinrichtung, um zulässig zu sein, notwendig sein, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten.
[36] 2.3. Nach der Rechtsprechung des EuGH läuft eine Abschalteinrichtung, deren einziger Zweck darin besteht, die Einhaltung der in der VO 715/2007/EG vorgesehenen Grenzwerte allein während der Zulassungstests sicherzustellen, der Verpflichtung zuwider, bei normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs eine wirkungsvolle Begrenzung der Emissionen sicherzustellen (EuGH 17. 12. 2020, C‑693/18 , CLCV [Rz 98] ÖJZ 2021/38 [Kumin/Maderbacher]). Daher kann eine Abschalteinrichtung, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Emissionskontrollsystems verbessert, damit die in der VO 715/2007/EG festgelegten Emissionsgrenzwerte eingehalten werden können und so die Zulassung dieser Fahrzeuge erreicht wird, nicht unter die Ausnahmebestimmung des Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG fallen (EuGH 17. 12. 2020, C‑693/18 , CLCV [Rz 115]; vgl 10 Ob 2/23 vom 21. 2. 2023 ZVR 2023/83, 236 [Kathrein] [Rz 48]). Auf die Frage, ob die Unzulässigkeit einer Abschalteinrichtung gemäß Art 3 Nr 10 iVm Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG generell von der Einhaltung bzw Überschreitung der Emissionsgrenzwerte abhängt, ist im vorliegenden Fall, in dem die Klägerin das Überschreiten der Grenzwerte außerhalb des Prüfstandsbetriebs – unbestritten – behauptete, nicht einzugehen.
2.4. Im Hinblick auf die Zulässigkeit eines „Thermofensters“ gelten folgende Grundsätze:
[37] Ein „Thermofenster“, aufgrund dessen die volle Abgasrückführung nur innerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs erfolgt, wohingegen sie bei Temperaturen darüber oder darunter sukzessive reduziert wird, ist eine Abschalteinrichtung iSd Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG (10 Ob 2 /23a vom 21. 2. 2023 [Rz 56]).
[38] 2.5. In Anbetracht der Tatsache, dass die Ausnahme eng auszulegen ist, kann eine solche Abschalteinrichtung nur dann ausnahmsweise zulässig sein, wenn nachgewiesen ist, dass diese Einrichtung ausschließlich notwendig ist, um die durch eine Fehlfunktion eines Bauteils des Abgasrückführsystems verursachten unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall zu vermeiden, die so schwer wiegen, dass sie eine konkrete Gefahr beim Betrieb des mit dieser Einrichtung ausgestatteten Fahrzeugs darstellen (EuGH C‑145/20 , Porsche Inter Auto und Volkswagen [Rn 73]; C‑128/20 , GSMB Invest [Rn 62]; C‑134/20 , IR gegen Volkswagen [Rn 74]; C‑873/19 , Deutsche Umwelthilfe [Rn 89], ÖJZ 2023/16 [Brenn]; 10 Ob 2/23 vom 21. 2. 2023 ZVR 2023/83, 236 [Kathrein] [Rz 59]).
[39] 2.6. Dabei ist eine Abschalteinrichtung nur dann „notwendig“ iSd Art 5 Abs 2 Satz 1 lit a VO 715/2007/EG , wenn zum Zeitpunkt der EG-Typgenehmigung dieser Einrichtung oder des mit ihr ausgestatteten Fahrzeugs keine andere technische Lösung unmittelbare Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall, die beim Fahren eines Fahrzeugs eine konkrete Gefahr hervorrufen, abwenden kann (EuGH C‑873/19 , Deutsche Umwelthilfe [Rn 95]; 10 Ob 2/23 vom 21. 2. 2023 ZVR 2023/83, 236 [Kathrein] [Rz 60]).
[40] 2.7. Darüber hinaus würde das Verbot, auf das sich Art 5 Abs 2 lit a VO 715/2007/EG bezieht, ausgehöhlt und jeder praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn es zulässig wäre, dass die Hersteller Fahrzeuge allein deshalb mit solchen Abschalteinrichtungen ausstatten, um den Motor vor Verschmutzung und Verschleiß zu schützen (EuGH 17. 12. 2020, C‑693/18 , CLCV [Rn 113], ÖJZ 2021/38 [Kumin/Maderbacher]).
[41] 2.8. Der EuGH hat darüber hinaus klargestellt, dass – ungeachtet des Vorliegens der in Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG normierten Voraussetzungen – eine Abschalteinrichtung, die unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeugs gewährleistet ist, nicht unter die Verbotsausnahme des Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG fällt (EuGH C‑145/20 , Porsche Inter Auto und Volkswagen [Rn 73, 81]; C‑128/20 , GSMB Invest [Rn 65, 70]; C‑134/20 , IR gegen Volkswagen [Rn 77, 82]; C‑873/19 , Deutsche Umwelthilfe [Rn 90 f]; 10 Ob 2/23 vom 21. 2. 2023 ZVR 2023/83, 236 [Kathrein] [Rz 61]).
[42] 2.9. Unabhängig davon, ob die in Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG normierten Voraussetzungen des Motorschutzes erfüllt sind, ist eine Abschalteinrichtung somit jedenfalls unzulässig, wenn sie den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste. Es kommt für die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung daher darauf an, ob sie aufgrund der vorherrschenden Außentemperaturen im überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeugs gewährleistet ist (10 Ob 2/23 vom 21. 2. 2023 ZVR 2023/83, 236 [Kathrein] [Rz 62]).
[43] 2.10. Ausgehend von diesen Grundsätzen beurteilte der Oberste Gerichtshof ein „Thermofenster“, das so ausgestaltet war, dass die volle Abgasrückführung nur bei Außentemperaturen zwischen 15 und 33 Grad Celsius stattfand, als verbotene – und nicht von der Verbotsausnahme Art 5 Abs 2 lit a VO 715/2007/EG erfasste – Abschalteinrichtung, weil es bewirkt, dass die volle Abgasrückführung unter normalen Betriebsbedingungen nur zwischen vier und fünf Monaten im Jahr voll wirksam ist (10 Ob 2/23 vom 21. 2. 2023 ZVR 2023/83, 236 [Kathrein] [Rz 66 ff]).
3.1. Im Vertragsverhältnis ist ein Kfz, das im Zeitpunkt der bedungenen Übergabe mit einer gemäß Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG verbotenen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, nicht vertragskonform im Sinn der Verbrauchsgüterkauf-RL und mangelhaft gemäß § 922 ABGB, weil es nicht die gewöhnlich vorausgesetzten Eigenschaften aufweist (10 Ob 2/23 vom 21. 2. 2023 ZVR 2023/83, 236 [Kathrein] [Rz 49 f]).
[44] 3.2. Die Erwägung, dass ein individueller Käufer, der ein Fahrzeug erwirbt, das zur Serie eines genehmigten Fahrzeugtyps gehört und somit mit einer Übereinstimmungsbescheinigung versehen ist, vernünftigerweise erwarten kann, dass die VO 715/2007/EG und insbesondere deren Art 5 bei diesem Fahrzeug eingehalten werden, ist allerdings auch für das – auch im vorliegenden Fall zu beurteilende – außervertragliche Verhältnis zwischen einem Fahrzeugerwerber und dem Fahrzeughersteller relevant (10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 [Rz 28]). Das Vorhandensein einer verbotenen Abschalteinrichtung kann daher auch außerhalb eines Vertragsverhältnisses einen Schadenersatz-anspruch des Käufers eines Kfz gegen dessen Hersteller begründen (vgl EuGH C‑100/21 , QB gegen Mercedes-Benz Group AG; 10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023; 10 Ob 16/23k).
[45] 3.3. Die von der Beklagten auch im vorliegenden Verfahren vertretene Rechtsansicht, der Schutzzweck von (unter anderem) Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG erfasse Vermögensschäden der Fahrzeughalter nicht, kann nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C‑100/21 , QB gegen Mercedes Benz Group AG, nicht geteilt werden: Vielmehr sind Art 18 Abs 1, Art 26 Abs 1 und Art 46 der Richtlinie 2007/46/EG in Verbindung mit Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG dahin auszulegen, dass sie neben allgemeinen Rechtsgütern die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller schützen, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art 5 Abs 2 dieser Verordnung ausgestattet ist (Antwort 1).
[46] Die Mitgliedstaaten müssen daher einen Anspruch auf Schadenersatz durch den Hersteller des Fahrzeugs vorsehen, wenn dem Käufer durch diese Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden ist (C‑100/21 , QB gegen Mercedes Benz Group AG [Rn 91]).
[47] 3.4. Der Oberste Gerichtshof hat zu den Grundsätzen eines derartigen Schadenersatzanspruchs bereits ausführlich Stellung genommen (10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 [Rz 19 ff]; 10 Ob 16/23k [Rz 34 ff]):
[48] Demnach handelt es sich um einen im nationalen Recht wurzelnden Schadenersatzanspruch, der am unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz zu messen ist, also eine wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktion für den Verstoß darstellen muss (EuGH C‑100/21 , QB gegen Mercedes-Benz Group AG [Rn 90, 93]).
[49] Eine unionsrechtliche Vorgabe eines Schadenersatzanspruchs ist das Vorliegen eines Schadens: Der EuGH betont, dass dem Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs ein Schadenersatzanspruch zusteht, wenn ihm ein Schaden entstanden ist (EuGH C‑100/21 , QB gegen Mercedes-Benz Group AG [Rn 91]).
[50] Als nachteilige Folge – vor der ein Fahrzeugkäufer durch das Unionsrecht geschützt werden soll – sieht der EuGH an, dass durch die Unzulässigkeit der Abschalteinrichtung die Gültigkeit der EG‑Typen-genehmigung und daran anschließend die der Übereinstimmungsbescheinigung in Frage gestellt werden, was wiederum (unter anderem) zu einer Unsicherheit über die Nutzungsmöglichkeit (Anmeldung, Verkauf oder Inbetriebnahme des Fahrzeugs) und „letztlich“ zu einem Schaden führen kann (EuGH C‑100/21 , QB gegen Mercedes-Benz Group AG [Rn 84]). Damit stellt der EuGH klar, dass ein deliktischer Schadenersatzanspruch nicht als ein von einem Schadenseintritt losgelöster Akt der privaten Durchsetzung von Emissionsnormen zu sehen ist. Vielmehr geht es um den Ausgleich der objektiven Unsicherheit hinsichtlich der Fahrzeugnutzung, mit der der individuelle Fahrzeugerwerber konfrontiert ist.
[51] Der Schadensbegriff des ABGB wird diesen unionsrechtlichen Voraussetzungen gerecht. Als Schaden im Sinn des § 1293 ABGB ist jeder Zustand zu verstehen, der rechtlich als Nachteil aufzufassen ist, an dem also ein geringeres rechtliches Interesse als am bisherigen besteht (RS0022537). Im Fall des Erwerbs eines mit einer im Sinn des Art 5 VO 715/2007/EG unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs besteht dieses geringere rechtliche Interesse – den unionsrechtlichen Vorgaben entsprechend – in der (objektiv) eingeschränkten Nutzungsmöglichkeit.
[52] Ein Schadenseintritt wäre lediglich dann zu verneinen, wenn das den objektiven Verkehrserwartungen nicht genügende Fahrzeug dennoch konkret (vgl dazu 10 Ob 16/23k [Rz 44 f]) dem Willen des Käufers entsprach.
[53] Klargestellt wurde darüber hinaus, dass die Frage, ob aufgrund der Unzulässigkeit der Abschalteinrichtung latent die Gefahr einer Betriebsuntersagung des Fahrzeugs droht, an der objektiven Rechtslage zu messen ist (10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 [Rz 25]; 10 Ob 16/23k [Rz 41]; in diesem Sinn auch BGH 8. 12. 2021, VIII ZR 190/19 [Rz 82]).
[54] 3.5. Ausgehend von diesen Grundsätzen bejahte der Oberste Gerichtshof einen ersatzfähigen Schaden in einem Fall, in dem das Fahrzeug latent mit einer Unsicherheit hinsichtlich der rechtlichen Nutzungsmöglichkeit behaftet war, weil es mit einer nach Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet war und auch bei Installation eines (vom dortigen Kläger abgelehnten) Software-Updates eine unzulässige Abschalteinrichtung weiterhin in Form des dort festgestellten „Thermofensters“ mit einem Temperaturbereich von 15 bis 33 Grad Celsius vorliegen würde.
[55] Auch in der Implementierung eines „Thermofensters“, das in seiner konkreten Ausgestaltung nach Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG verboten ist, kann daher ein ersatzfähiger Schaden liegen.
Zur Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall
[56] 4.1. Im vorliegenden Fall kann die Berechtigung des geltend gemachten Schadenersatzanspruchs aufgrund der getroffenen Feststellungen nicht beurteilt werden.
[57] Es trifft zu – wie dies die Klägerin in ihrer Revision bemängelt –, dass der Umstand, dass die zuständige Typengenehmigungsbehörde hinsichtlich des gegenständlichen Fahrzeugtyps nicht das Vorliegen einer gemäß Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG unzulässigen Abschalteinrichtung beanstandete, nicht ausreicht, um das Vorliegen einer solchen Einrichtung oder den von der Klägerin geltend gemachten außervertraglichen Schadenersatzanspruch zu verneinen. Daher gereicht es der Klägerin auch nicht zum Nachteil, dass sich ihr Vorbringen, der hier zu beurteilende Fahrzeugtyp sei von der Typengenehmigungsbehörde zurückgerufen worden, auf Tatsachenebene als unrichtig erwiesen hat.
4.2. Die Klägerin leitet das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung aus zwei Tatsachen-komplexen ab:
[58] Einerseits bringt sie vor, dass bei Durchfahren des Prüfzyklus (NEFZ, Neuer Europäischer Fahrzyklus) eine höhere Einspritzung von AdBlue stattfinde („Speichermodus“), wohingegen außerhalb des Prüfzyklus ein Modus mit geringerer AdBlue‑Einspritzung („Online-Modus“) aktiviert sei, was eine niedrigere Effektivität der NOx‑Reduktion außerhalb des Prüfzyklus bewirke. Vorgebracht wurde überdies das Vorliegen einer Aufwärmstrategie („Strategie A“), die (gemäß der behaupteten Strategie C) nur im Prüfzyklus aktiv sei.
[59] Eine weitere unzulässige Abschalteinrichtung liegt nach dem Klagevorbringen darin, dass ein „Thermofenster“ implementiert sei, aufgrund dessen die Abgasrückführung (als maßgebliche Strategie zur Reduktion von NOx) nur bei Umgebungstemperaturen zwischen 17 und 33 Grad Celsius voll zum Einsatz komme, wohingegen außerhalb dieses Temperaturbereichs sowohl die Abgasrückführung als auch die AdBlue‑Einspritzung reduziert würden.
[60] 4.3. Zum ersten behaupteten Tatsachenkomplex – betreffend einen Prüfstandsmodus, der außerhalb des Prüfzyklus nicht zur Anwendung komme und der erst die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte ermöglicht habe – haben die Vorinstanzen bisher gar keine Tatsachenfeststellungen getroffen. Die Beurteilung, ob eine gemäß Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG verbotene Abschalteinrichtung vorliegt, weil eine Abschalteinrichtung iSd Art 3 Abs 10 VO 715/2007/EG implementiert ist, deren einziger Zweck darin besteht, allein während der Zulassungstests die Einhaltung der vorgesehenen Grenzwerte sicherzustellen (vgl oben ErwGr 2.3.), ist daher nicht möglich.
[61] Das Verfahren erweist sich daher zu diesem Tatsachenkomplex als ergänzungsbedürftig.
[62] 4.4. Auch die Feststellungen zum Tatsachenkomplex des „Thermofensters“ reichen für die Beurteilung des geltend gemachten Anspruchs nicht aus.
[63] Die Negativfeststellung, wonach nicht festgestellt werden konnte, „wie das Thermofenster beim Klagsfahrzeug exakt ausschaut“, lässt nämlich nicht erkennen, auf welche Aspekte sie sich konkret bezieht. Angesprochen waren im Verfahren in diesem Zusammenhang die Frage, welchen Temperaturbereich das „Thermofenster“ umfasst, ob neben der Abgasrückführrate auch die AdBlue‑Einspritzung von den Umgebungstemperaturen abhängig ist und darin eine Abschalteinrichtung iSd Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG liegt und ob die Voraussetzungen der sogenannten „Motorschutz-ausnahme“ gemäß Art 5 Abs 2 lit a VO 715/2007/EG erfüllt sind.
[64] 4.5. In diesem Zusammenhang ist zur – in der Revision aufgeworfenen – Frage der Behauptungs- und Beweislast der Parteien folgendes klarzustellen:
[65] Grundsätzlich hat jede Partei die für ihren Rechtsstandpunkt günstigen Tatsachen zu behaupten und zu beweisen (RS0106638; RS0037797). Die Klägerin hat den Eintritt eines Schadens infolge des Vorhandenseins einer Abschalteinrichtung behauptet. Dass eine Abschalteinrichtung in Form eines auf die Abgasrückführung einwirkenden Thermofensters vorhanden ist, steht bereits aufgrund der Außerstreitstellung durch die Beklagte fest.
[66] Nach der Grundregel des Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG sind Abschalteinrichtungen verboten. Soweit sich die Beklagte auf eine Ausnahme von diesem Verbot stützt, liegt es daher an ihr, die für die Verbotsausnahme erforderlichen Voraussetzungen zu behaupten und zu beweisen.
[67] 4.6. Wie bereits zu ErwGr 2.8. dargestellt, ist eine Abschalteinrichtung jedenfalls unzulässig, wenn sie aufgrund der klimatischen Bedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeugs gewährleistet ist. (Nur) wenn dies nicht der Fall ist, kann die Abschalteinrichtung bei Erfüllung der Voraussetzungen des Art 5 Abs 2 lit a VO 715/2007/EG zulässig sein.
[68] 4.7. Die Beklagte wird daher – soweit sie sich auf die Zulässigkeit des „Thermofensters“ stützt – ein konkretes Vorbringen zu dem davon erfassten Temperaturbereich zu erstatten haben. Gegebenenfalls (wenn die Abschalteinrichtung nicht während des überwiegenden Teils des Jahres aktiv sein müsste) ist in der Folge die Erfüllung der Voraussetzungen der Ausnahmebestimmung des Art 5 Abs 2 lit a VO 715/2007/EG im Sinn der Auslegung dieser Bestimmung durch den EuGH (C‑145/20 , Porsche Inter Auto und Volkswagen [Rn 73]; C‑128/20 , GSMB Invest [Rn 62]; C‑134/20 , IR gegen Volkswagen [Rn 74]; C‑873/19 , Deutsche Umwelthilfe [Rn 89] ÖJZ 2023/16 [Brenn]; vgl auch C‑693/18 , CLCV [Rn 113] ÖJZ 2021/38 [Kumin/Maderbacher]) einzugehen. Auch dazu reichen die bisher getroffenen, nur allgemeinen und nicht auf den konkreten Motorentyp bezogenen Feststellungen nicht aus.
[69] 4.9. Soweit die Klägerin sich zusätzlich auf das Vorliegen einer verbotenen Abschalteinrichtung stützt, die darin bestehe, dass die AdBlue‑Einspritzung in Abhängigkeit von den Außentemperaturen und der gefahrenen Geschwindigkeit zurückgenommen werde – wofür die Klägerin die Beweislast trägt –, liegen dazu gar keine Feststellungen vor.
[70] 4.10. Die dargestellten sekundären Feststellungs-mängel machen die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht erforderlich.
[71] 5.1. Soweit die Beklagte in ihrer Revisionsbeantwortung auf einen entschuldbaren Verbotsirrtum hinsichtlich der Zulässigkeit allfälliger unzulässiger Abschalteinrichtungen Bezug nimmt, weil sich das KBA nach den Feststellungen sämtlicher Modelle des Konzerns der Beklagten „angenommen und deren Motoren entsprechend überprüft habe“, führt dies nicht zur Bestätigung der klageabweisenden Urteile der Vorinstanzen.
[72] 5.2. Nach der Rechtsprechung kann ein Rechtsirrtum entschuldbar sein, wenn ein deckungsgleicher Irrtum einer Behörde vorliegt oder ein Rechtsakt einer Behörde Grundlage für den Rechtsirrtum ist (2 Ob 152/21y [Rz 56 f]). Dafür trägt die Partei, die sich auf das Vorliegen eines Rechtsirrtums und dessen mangelnde subjektive Vorwerfbarkeit stützt, nach dem allgemeinen Grundsatz, wonach jede Partei die für ihren Rechtsstandpunkt günstigen Tatsachen zu behaupten und zu beweisen hat (RS0037797 [T8]), die Behauptungs- und Beweislast (Kodek in Rummel/Lukas, ABGB4 § 2 [Rz 14]; Schauer in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.02 § 2 [Stand 1. 3. 2017, rdb.at]).
[73] 5.3. Die Beklagte hat in erster Instanz lediglich vorgebracht, sie sei zum Zeitpunkt des In-Verkehr-Bringens des Fahrzeugs ebenso wie das KBA als zuständige Fachbehörde davon ausgegangen, dass „das Fahrzeug rechtlich zulässig“ und ein Schädigungsvorsatz hinsichtlich des „Thermofensters“ nicht vorgelegen sei. Diese Behauptung lässt aber nicht ausreichend erkennen, in Kenntnis welcher Fakten die zuständige Typengenehmigungsbehörde – allenfalls rechtsirrig – welche vorhandene Einrichtung billigte und ob die Beklagte einem der Rechtsansicht der Behörde entsprechenden Rechtsirrtum unterlag.
[74] Soweit sich die Beklagte auf einen entschuldbaren Verbotsirrtum hinsichtlich allenfalls vorhandener unzulässiger Abschalteinrichtungen stützt, bedarf dies daher einer Konkretisierung ihres Vorbringens im fortzusetzenden Verfahren.
[75] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 ZPO.
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